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Kriminalhauptkommissarin Melanie Härter ermittelt in Mannheim. In den Quadraten, im Strandbad am Rhein und in Mannheims lebendigsten Ecken. Ob Täter aus Leidenschaft, Berechnung oder Zufall, Melanie Härter kommt allen auf die Spur. Tatkräftige Unterstützung findet sie bei ihrem Kollegen Jörg Kenner. Elf spannende Kurzkrimis, die viel über Mannheim erzählen. Mit vielen Facetten und Sehenswürdigkeiten, Theatern und Museen sind inspirierende Freizeittipps inklusive.
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Seitenzahl: 309
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Claudia Schmid
Wer mordet schon in Mannheim?
11 Krimis und 125 Freizeittipps
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von:
© eyetronic/Fotolia.com
© Dr. Jürgen Schmid
ISBN 978-3-8392-4588-0
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind kriminaltechnisch nicht nachzuweisen.
Da Freizeiteinrichtungen einem ständigen Wandel unterliegen und Irrtümer vorbehalten sind, besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben. Die Tipps sind eine persönliche Auswahl aus der Vielfalt dessen, was Mannheim zu bieten hat. Ausführliche Informationen erhalten Sie bei der Tourist-Information Mannheim im Welcome-Center am Willy-Brandt-Platz 5, www.tourist-mannheim.de.
Blinzelnd trat er vor den Mannheimer Hauptbahnhof 1. Die Sonne sandte ihre Strahlen schräg auf den Willy-Brandt-Platz, an den sich zu zwei Seiten Bürotürme schmiegten. Die Fahrt mit dem Zug war zum Glück nicht zu lange gewesen, er fühlte sich in Zügen immer beengt, erst recht, wenn sie überfüllt waren. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die ihn die meisten seiner Zeitgenossen überragen ließ, sein rötliches gelocktes Haar hielt wie meist ein Haargummi im Nacken zusammen. Gestern hatte er noch extra seine Kleidung frisch gebürstet. Sein Blick fiel auf die Schlagzeile einer Zeitung, die an einem Kiosk hing.
Noch immer keine Ermittlungserfolge im Fall der jungen Emilia G. in Weimar. Die SOKO Emilia tappt bezüglich des Mörders weiter im Dunkeln. Unsere Zeitung berichtet weiter über den Fall.
Da rechts vorne, da stand eine Gruppe von Menschen, ungefähr zwanzig. Er wollte schon ausholenden Schrittes an ihnen vorbei eilen, da rief einer aus der Menge »Da ist er doch! Wie originell, im Kostüm!«
War der nicht ganz dicht im Kopf? Kostüm? Diese Kleidung pflegte er stets zu tragen, auch wenn er anfangs dafür kämpfen musste.
»Friedrich Schiller! Genau! Unser Reiseführer trägt ein Kostüm wie Friedrich Schiller!« Eine runde Frau strahlte ihn an.
So eine Oberschlaue, hatte wohl Leistungskurs Deutsch in der Schule absolviert, mit acht Punkten im Abitur. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Und was meinte die mit wie? Er war Friedrich Schiller!
Rasch umringte ihn die kleine Gruppe. »Wir hatten sie erst in fünfzehn Minuten erwartet. Aber macht nichts, wir sind ja vollzählig. Wisset Sie, wir kommen von der Alb und haben heute Mannheim auf dem Programm stehen. Eineinhalb Stunden Stadtführung und danach noch eine Vesper. Wir sind gespannt, was uns erwartet.«
Sapperlot, eine Reisegruppe! Der Tag fing ja gut an und konnte dann beruhigt besser werden. Da er über kein Kleingeld mehr verfügte und von denen bestimmt Trinkgelder erhalten würde, kam ihm die Situation nicht ganz so ungelegen, wie sie sich zu Beginn dargestellt hatte.
»Herr von Schiller, wie lange sind Sie schon tot?« Ein Kichern folgte der originellen Frage.
»Ich fühle mich, im Gegensatz zu manch anderen derzeit, in der Tat sehr lebendig.« Das konnte heiter werden, die Leute hatten Humor, wie lustig. »Folgen Sie mir, ich geleite sie zu den wichtigsten meiner Wirkungsstätten hier in Mannheim, dem Sitz des Kurfürsten Carl Theodor, der seine erlauchten Hände über die Stadt zu halten wusste und zu unserem Wohle die Künste förderte.«
Am Tattersall 2 hielt er an dem Kiosk an der Straßenbahnhaltestelle inne. »Sehen Sie dieses moderne Bauwerk, das entstand erst nach meiner Zeit.«
»Gestatten, Hugo Laumert, Oberstudienrat im Ruhestand. Ähem, Unruhestand.« Herr Laumert, etwas schwitzend trotz seines leichten Leinenhemds, machte eine kleine Pause, die dem Gegenüber erlauben sollte, kurz zu lachen.
Doch der Mann im Kostüm lachte nicht.
Und so fuhr Hugo Laumert fort: »Das ist doch ein Gebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit. Wissen Sie, mein Fachgebiet ist nämlich die Kunst, das habe ich unterrichtet, und die Neue Sachlichkeit, wie gemeinhin bekannt ist, war in den 1920iger Jahren modern. Und die haben ja sogar in der Mannheimer Kunsthalle sogenannte Schadografien hängen, die der deutsche Maler Christian Schad, seinerzeit ein bekannter Vertreter der Neuen Sachlichkeit, wenige Jahre zuvor entwickelte. Und überhaupt gab die Mannheimer Ausstellung der Epoche im Jahre 1925 den Titel.«
»Machen Sie die Führung oder ich?« Er fixierte das wandelnde Lexikon im Unruhestand und zog die Brauen bedenklich nah zusammen.
Hugo Laumert schien kaum merklich zu schrumpfen und wirkte ein klein wenig beleidigt. »Ich will mich natürlich mit meinem Wissen nicht aufdrängen.«
Seine Ehefrau, die in einer selbstgestrickten blaubeerblauen Jacke und in dunkelroter Hose neben ihm stand, nickte bekräftigend.
»Nun denn, so lassen Sie uns fortfahren. Sie haben die kleine Wartehalle zur Genüge betrachten können. Im Übrigen stand hier ursprünglich der Mannheimer Bahnhof.« Er schritt voran, die Schöße seines Rockes wippten. Er zeigte an einem großen Hotel im historisierenden Stil vorbei in Richtung eines moderneren Baus. »Da sehen Sie die Kunsthalle Mannheim 3.« Er verschenkte einen kurzen Blick an Hugo Laumert. »Und geradeaus, das ist das Wahrzeichen dieser Stadt, der Wasserturm 4. Ebenfalls nach meiner Zeit erbaut, um genau zu sein, in den Jahren 1886 bis 1889.«
Hugo Laumert platzte heraus: »Jugendstil! Der ist im Jugendstil erbaut! Auch dazu gab es eine Ausstellung in der Kunsthalle, sogar mit einem Klimt-Saal!«
Er machte einen großen Schritt auf ihn zu, wippte auf seinen Füßen und maß ihn mit einem langen Blick. »Ich mache hier diese Führung. Sie können die Herrschaften gerne auf der Rückfahrt weiter unterhalten.«
»Aber höret Sie! Mein Mann meint es doch gar nicht böse!«
»Werte Frau, ich möchte nunmehr fortfahren und sie zu meinen eigenen Wirkungsstätten führen.« Er nahm ihre Hand und deutete formvollendet einen Handkuss an.
Ihre grauen Löckchen bebten, eine sanfte Röte breitete sich flugs von ihrem Dekolleté in Richtung Hals aus. »Was für Manieren«, sie gab ihren Mann einen Schubser in die Seite. »Irgendwie hat er schon Recht. Du unterbrichst ihn ja dauernd. Du musst endlich lernen, dass du nicht mehr vor einer Klasse stehst.«
Seine Hand wies auf die angrenzende Fläche des Wasserturms. »Hier in etwa war ein Wassertümpel.« Er verzog das Gesicht. »Ein Tummelplatz für Mücken, die Malaria übertrugen.«
»Erkrankte Friedrich Schiller nicht während seines Aufenthaltes in Mannheim?«, wandte sich eine Frau in orangefarbenen Hosen und grünem Pullover an den pensionierten Oberstudienrat. Doch dessen Frau maß ihn mit strengem Blick und so schwieg er.
»Wir gehen nun über die Planken zu meinen eigentlichen Aufenthaltsorten in Mannheim. Ich war ja auf der Flucht! Man versuchte, meinen Geist zu zwängen und daher hielt ich es nicht mehr länger aus in Stuttgart. Hier in Mannheim, wo der Intendant des Nationaltheaters Heribert von Dalberg meiner zu würdigen wusste, wurden »Die Räuber« 5 uraufgeführt.« Er streifte Hugo Laumert mit einem kurzen Blick. »Ich habe hier mit August Wilhelm Iffland gearbeitet. Wahrlich eine herausragende Person! Er spielte den Franz Moor bei meinen Räubern. Die Uraufführung war …«
»Nach Iffland heißt doch der Ring, der immer an einen Schauspieler weiter gegeben wird …« platzte Hugo heraus.
Die Falte direkt über seiner imposanten Nase vertiefte sich, sein Blick sprühte Funken. »Mäßige er sich endlich! Wie kann er nur!« Er hob die Hand und holte weit aus.
Der Arm von Hugos Ehefrau fiel dazwischen. »Herr von Schiller, wo haben Sie denn eigentlich gewohnt, damals in Mannheim?«
Seine Hand sank. Verflixt noch mal, er musste sein Gemüt im Zaume halten, er brauchte doch das Geld, das die Leute ihm am Ende der Führung zustecken würden, seine Börse war leer. Er musste die Kontrolle behalten. Die Kontrolle, genau das war es. Die Hoheit über sein Leben. Diese Kleingeister waren der Meinung, er spiele Friedrich von Schiller nur! Pah, dabei war er schließlich Friedrich von Schiller. Früh hatte er bemerkt, dass er es wirklich war. Wenn er seine Texte las, bekam er rasch das Gefühl, er habe sie selbst geschrieben, sie seien seinem eigenen Geiste entsprungen. Er war die Wiedergeburt des Genius! Im Internat galt er als Außenseiter, das Studium brach er nach kurzer Zeit schon ab, zu abwegig schien es ihm, seine Texte von Kleingeistern nachfolgender Generationen analysieren zu lassen. Was die da alles in seine Texte hinein interpretierten! Ungeheuerlich, welch eine Anmaßung! Nur allein ihm, der Reinkarnation des Autors, stand es zu, seine Texte zu deuten!
Sein nächtlicher Aufbruch war so unverhofft erfolgt, dass keine Zeit mehr gewesen war, sich mit Barem zu versorgen. Ob die sein Verschwinden bereits bemerkt hatten? Meist weckten sie ihn erst gegen Mittag mit einer leichten Mahlzeit, vermutlich war noch nicht aufgefallen, dass er einen seiner Ausflüge unternahm. Das wäre gut für ihn, denn so gewänne er Zeit für sein eigentliches Vorhaben.
Marbach. Auch drei Jahre nach dem Tod einer jungen Frau, deren Name mit Luisa M. angegeben wurde, gibt es keinerlei Erkenntnisse, die zu ihrem Mörder führen würden, geschweige denn ein Motiv für den grausamen Mord. Wie unserer Redaktion auf Nachfrage mitgeteilt wurde, gibt es keinen neuen Ermittlungsstand.
Er führte seine Gäste am Quadrat L2 6 vorbei zur Jesuitenkirche 7, nicht weit weg von der Alten Sternwarte 8. Als kleiner Junge hatte er hier, bei der Hochzeit von Studienfreunden seiner Mutter, gemeinsam mit einem Mädchen Rosenblätter vor dem Brautpaar gestreut. Beim Altar hatten sie angefangen und waren, während die Orgel jubilierte, langsam zum Ausgang geschritten. Seine evangelische Mutter war sehr stolz auf ihn gewesen. Er wischte die Erinnerung zur Seite. »Und hier, schräg gegenüber, befand sich das Nationaltheater Mannheim 9. Übrigens wird es auch Schillertheater 10 genannt. Damals war das Theater nah beim Schloss, wie Sie sehen.« Er deutete zum Schloss, das eine viel befahrene Straße von der Jesuitenkirche trennte. »So hatte es die Hofgesellschaft nicht weit. Glänzende Tage waren das, wahrlich glänzende Tage! Der Intendant Heribert von Dalberg führte meine Räuber auf, ich war selbst anwesend.«
Jemand kicherte.
Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Ja, ich war in der Tat dabei. Ich war aus Stuttgart geflohen, wo man mich in das enge Korsett eines Regimentsmedikus zu drücken versuchte. Aber es gelang ihnen nicht, meinen Genius zu unterdrücken. Denn ich war zu Höherem berufen, bereit, der Kunst zu dienen!« Stolz und Trotz schwangen in seiner Stimme mit, als er sagte: »Iffland spielte den Franz Moor.«
»Iffland schrieb aber auch selbst Theaterstücke. Er war neben August von Kotzebue der meistgespielte Autor seiner Zeit.« Das kam natürlich von Hugo Laumert.
Doch bevor er etwas erwidern konnte, fragte eine Frau dazwischen. »August von Kotzebue 11? Ist der nicht in Mannheim ermordet worden?«
»Selbstverständlich, werte Dame, das war hier ganz in Nähe, in A2. Eine Gedenk-Tafel an dem Haus, das heute an der Stelle des Wohnhauses des Dichters steht, erinnert an das Geschehen, wir gehen gleich noch daran vorbei. August von Kotzebue 12 war zwar bei den Theaterbesuchern geschätzt, seine Beliebtheit bei den fortschrittlichen Kräften der Zeit, und als die galten die Burschenschaften damals, hielt sich jedoch in engen Grenzen, um es genauer zu sagen, in äußerst engen sogar. Dem Attentäter Karl Sand wurden nicht unerhebliche Sympathien entgegen gebracht.«
»Hat man die beiden nicht sogar nebeneinander beerdigt?«
»Ihre Gräber lagen in der Tat nicht weit auseinander. Als der Friedhof von der Innenstadt außerhalb der Quadrate verlegt wurde, bettete man die Gräber um. Auf dem Mannheimer Hauptfriedhof 13 sind sie einen Steinwurf voneinander entfernt. Ein marmorner Würfel erinnert an August von Kotzebue, eine Stele aus Sandstein an Karl Sand.«
»Und der Friedhof heißt tatsächlich Wohlgelegen?«
»Der Stadtteil heißt so. Aber nicht wegen des Friedhofs, sondern weil dieser Teil ein wenig erhöht liegt und daher nicht von den Neckarhochwassern betroffen und deshalb wohl gelegen war. Doch lassen Sie uns nun zum Schillerplatz 14gehen.«
Vor seinem Denkmal blieb er stehen. Die Reisegruppe zückte ihre Fotoapparate.
»Frappierend, diese Ähnlichkeit.«
Er wunderte sich. Weshalb sollte er sich selbst nicht ähnlich sein? Diese Menschen waren doch wirklich seltsam, irgendwie nicht ganz dicht. Er nahm dieselbe Pose ein wie sein steinerner Zwilling und ließ sich bereitwillig ablichten. »Aber nun zeige ich Ihnen, wo ich gewohnt habe.«
Er schritt voran nach B5, 7. Eine schmale Tür ließ sich aufdrücken und er führte seine Gäste durch einen Gang in einen gepflasterten Innenhof, den ein Baum beschattete. Aus dem Kassenhäuschen kam eine Frau mit rotbraunem Haar, Ende Vierzig. »Ah, die heutige Reisegruppe, sehr schön. Herzlich willkommen bei uns im Museum Schillerhaus 15. Wo ist denn ihr Führer?« Ihr suchender Blick musterte jeden einzeln. »Herr Botengang ist gar nicht dabei? Der macht doch sonst immer diese Führungen. Kommt er später nach? Hat er Sie alleine voraus geschickt?«
»Wir werden von Herrn von Schiller persönlich geführt!«
»Bitte? Ich verstehe nicht …«
»Darf ich mich vorstellen, werte Dame? Friedrich von Schiller. Ich habe die Ehre, den Herrschaften meine Wirkungsstätten in Mannheim zu zeigen.«
»Ah, verstehe. Eine Führung im historischen Kostüm, sehr schön, was es nicht alles so gibt. Ist Herr Botengang erkrankt, dass er heute die Führung nicht macht? Sind Sie seine Vertretung? Mir wurde gar nichts darüber gesagt, dass heute jemand anderes die Gruppe begleitet.«
»Er ist verhindert, nicht wahr, deshalb habe ich übernommen. Es war wohl alles sehr kurzfristig. Man sah keine Möglichkeit, Sie beizeiten zu verständigen.« Er deutete eine Verbeugung an.
»Na ja, gut. Das wird dann ja schon in Ordnung sein.« Sie verschwand in ihrem Kassenhäuschen und knabberte an einem Stück Mannheimer Dreck 16.
»Sehen Sie sich ruhig um, so ähnlich habe ich damals gewohnt. Das ursprüngliche Haus ist leider, wie so vieles in Mannheim, im zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Aber ich versichere Ihnen, dass es so in etwa ausgesehen hat.«
»Wie reizend dieses kleine Barockhäuschen ist.« Eine der Damen aus der Gruppe drängte bereits hinein. »Und so romantisch!«
»Da sind ja gar keine Möbel drin.«
»Hier finden Lesungen statt. Ein wahrlich angemessener Ort für die Kraft des Wortes.«
»Entzückend! Und so hat Friedrich von Schiller in Mannheim gelebt? Alles sehr einfach, nicht wahr? Aber so idyllisch!«
»Die Druckkosten für »Die Räuber« hatten mich an den Rand des Ruins getrieben.«
»Grundgütiger, Sie haben für den Druck bezahlt? Ich dachte, der Dichter bekommt Geld vom Verlag!«
»Einen Verlag zu finden war noch nie einfach.«
»Also, meine Schwester, die wo in Stuttgart lebt, gell, die hat eine Nachbarin. Und die schreibt Liebesromane. Also, die bekommt da aber schon Geld dafür!«
Er verdrehte genervt die Augen. Die paar Euros, die sie am Ende hoffentlich für ihn locker machten, waren aber auch wirklich sauer verdient. »Ich führe sie nun ins Museum Zeughaus17, dort werden einige Originale aus meiner Zeit aufbewahrt. An der Antikensammlung18 habe ich mich des Öfteren erfreut, dort war ich immer gerne als Gast.«
Kaum hatte die Gruppe das zauberhafte barocke Kleinod verlassen, klingelte im Kassenhäuschen das Telefon.
»Museum Schillerhaus, Bergmann am Apparat.«
»Hier Botengang. Frau Bergmann, meine Reisegruppe war vorhin schon weg. Jemand sagte mir, die seien in Begleitung eines Fremden unterwegs. Stellen Sie sich das mal vor! So was habe ich ja noch nie erlebt. Ungeheuerlich!«
»Ja, ja, die waren grade da. Friedrich von Schiller führt die heute.«
»Bitte? Friedrich von Schiller? Ja sind denn heute alle verrückt geworden? Erst meine Gruppe entführen und dann noch nicht mal seinen richtigen Namen sagen? So was habe ich ja noch nie erlebt! Wo sind die denn jetzt hin?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht zeigt er denen, wo früher das Nationaltheater stand.«
»Dann gehe ich dort jetzt hin. Na, der kann was erleben.« Wutschnaubend klappte Oskar Botengang sein Mobiltelefon zu.
Ob zuhause sein Fehlen bereits bemerkt worden war? Seine Mutter saß bestimmt schon längst zu Tische, in ihrer Jugendstilvilla bei Darmstadt. Sicherlich hatte Johannes für sie den kleinen Tisch unterhalb der Rückseite des Hauses gedeckt. Johannes war, seit er denken konnte, in den Diensten seiner Mutter. Schon als Vater noch lebte, hatten sie ihn eingestellt. Anfangs war er Vaters Chauffeur, dann übernahm er nach und nach immer mehr Aufgaben auch im Haushalt und verstand es, sich unabkömmlich zu machen. Er selbst fand ihn manchmal etwas sonderbar, aber die Mutter wohl nicht, denn was gäbe es sonst für eine Erklärung dafür, dass sie ihm einiges nachsah. Johannes war unverheiratet, dabei wäre es doch eine Erleichterung für die Mutter, wenn ihr zusätzlich weibliche Hände hilfreich zur Seite gingen. Leider gehörte es auch zu Johannes Aufgaben, dass er ihn stets bei seinen Ausflügen suchte und wieder zu seiner Mutter zurück brachte. Unruhig wirkte Johannes dann immer, das gab sich dann aber nach wenigen Tagen wieder.
Da er heute so schlau eine Möglichkeit gefunden hatte, rasch an Bargeld zu kommen, würde es dies Mal vielleicht gelingen, ein Zimmer zu mieten und Johannes würde ihn nicht gleich finden können. Obwohl, Johannes brauchte eigentlich immer eine ganze Weile, wenn er in der Stadt war, in der er den Sohn seiner Chefin suchte, bis er ihn aufgespürt hatte. Er hätte zu gerne gewusst, was er in dieser Zeit machte.
Mutter saß gerne mit einer Decke im Garten, mit Blick auf den gegenüberliegenden Wald. Sie liebte es, wenn er ihr im Garten vorlas. Vorzugsweise gab er die Werke Friedrich Schillers zum Besten, er hatte sich mit der Zeit eine gewisse Fertigkeit in der Kunst des Vortrags erworben. Mutter lauschte ihm gerne, lobte seine Stimme und vor allem seine Intonation.
Aber natürlich las er auch alles über Friedrich Schiller, was er bekommen konnte. Er kannte ihn in- und auswendig und wusste auch alles über die Orte, an denen er gelebt hatte und über seine Gedenkstätten, die für ihn eingerichtet waren. Seine Bibliothek war ganz ordentlich angewachsen in den letzten Jahren. Sogar der Mann, zu dem seine Mutter immer ehrfurchtsvoll »Herr Doktor« sagte und der ihn regelmäßig besuchte und Rezepte für Tabletten zurückließ, war beeindruckt von seinem Wissen.
Frau Laumert riss ihn aus seinen Gedanken. »Wann wurde denn das Zeughaus erbaut?«
»Ende des achtzehnten Jahrhunderts, werte Dame. Es diente als Waffenarsenal des Kurfürsten. Lassen Sie uns am besten gleich hineingehen. Und wir gehen dann nach oben, in die Theatersammlung. Dort erfahren Sie selbstverständlich sehr Vieles über meine Räuber.«
»Und gegenüber, der moderne Bau?«
»Das ist das Museum der Weltkulturen 19.«
»Können wir jetzt vielleicht mal was essen? Mein Magen knurrt!« Eine Dame im hellgrünen Häkelkleid fasste sich theatralisch an ihren Oberbauch. »Und danach können wir doch in die Museen hineingehen.«
»Wenn Sie mögen, können Sie im Restaurant im Hof des Zeughauses etwas zu sich nehmen, während ich Ihnen die Schillerroute erläutere 20.«
Kaum hatte er mit seiner Gruppe Platz genommen, entdeckte er ihn durch den Zaun, der den Hof begrenzte. Das war doch Johannes! War er ihm also schon auf der Spur. Sapperlot, das ging aber wirklich schnell, er brauchte doch sonst immer länger, um ihn zu finden. Der würde ihn wieder in die Villa seiner Mutter zurück bringen. Beim letzten Mal hatte sie traurig gesagt, wenn er seine Ausflüge nicht unterließe, könne er vielleicht bald nicht mehr bei ihr wohnen. Aber wo sollte er denn sonst hin? In ein Heim, wie der Doktor seiner Mutter seit langem anbot, würde er sich weigern, zu gehen. Alleine der Platz, den er für seine umfangreiche Bibliothek brauchte! Undenkbar, dass er sich den Regeln eines Heimes unterwarf. Doch nicht er, der Dichter der Freiheit!
Doch Johannes schien ihn nicht bemerkt zu haben, ganz im Gegenteil, er strebte in die entgegen gesetzte Richtung. Der ging ja in Richtung Bassermannhaus 21. Was wollte er da? Sollte er ihm hinterher schleichen? Es wäre eine gute Möglichkeit, heraus zu finden, was er trieb.
Johannes sah ihn nicht und schlug nach einer Weile den Weg in Richtung des Schlossgartens ein. Dachte er, er säße lesend im Park? Er schlich hinter ihm her, er wollte unbedingt herausfinden, was Johannes vorhatte. Plötzlich drängte sich eine Gruppe Jugendlicher zwischen sie beide und er verlor den Blick auf Johannes. Am besten zog er sich wieder zurück, bevor der ihn entdeckte.
So ein Mist, nun hatte er die Führung nicht zu Ende und sich selbst um sein Trinkgeld gebracht. Eine Übernachtung in einem Hotel kam nicht mehr in Frage. Die wollten eine Kreditkartennummer als Sicherheit oder am liebsten gleich Bargeld. Und er hatte doch noch nicht mal ein eigenes Konto. Was sollte er bloß tun, ohne Geld in Mannheim? Das mit der Reisegruppe war so eine geniale Idee gewesen! Hätte er sie bloß nicht verlassen, um Johannes hinterher zu eilen. Wie ungeschickt von ihm. Was blieb ihm jetzt noch übrig? Er könnte mit dem Zug heimfahren. Mit etwas Glück würde er nicht kontrolliert werden.
Langsam machte er sich auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof. Bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Ein kleiner Junge kam ihm auf dem Gehweg entgegen und zupfte keck an seiner Jacke. Eine Frau, offenbar seine Mutter, eilte ihm hinterher und zog ihn weg. Wehmütig sah er ihnen nach. Der Junge hatte so etwas Frisches an sich. Irgendwie fühlte er sich nicht am rechten Ort in dieser Welt. Eine junge blonde Frau ging vor ihm die Treppen zur Borelli-Grotte hinunter. Mit ihren hellblonden Haaren, dem langen Rock und dem brombeerfarbenen Mieder hätte sie gut das Gretchen in Faust spielen können. Aber was dachte er denn da, dieses Stück war ja gar nicht von ihm! Er hielt ein wenig inne, bevor er sich ebenfalls auf den Weg in den Untergrund begab. Doch was war das? Da schrie jemand um Hilfe, es drang aus der Borelli-Grotte nach oben. Sollte Gretchen etwas zugestoßen sein? Rasch sprang er die Treppen hinunter. Da brauchte jemand seine Hilfe! Unten war es dämmrig. Eilig sah er sich um. Verschlossene Ladengeschäfte, Kneipen, die wohl erst später öffneten. Ein unangenehmer Geruch, so als ob jemand die Unterführung als Ort der Erleichterung gewählt hätte. Der Gang machte eine Biegung, der folgte er nun. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Das war doch Johannes! Der begrapschte Gretchen mit der einen Hand, mit der anderen hielt er ihr grob den Mund zu. Ihre Blicke trafen sich.
Johannes ließ von dem Mädchen ab, hastete zur Treppe und rannte nach oben.
Was sollte er jetzt tun? Sich um das Mädchen kümmern oder Johannes nachlaufen?
Grete rief: »Hinterher! Halten Sie das Schwein fest!«
Als er selbst oben ankam, stürzte plötzlich jemand auf ihn zu und packte ihn am Arm. »Da sind Sie ja! Was fällt Ihnen ein! Das war meine Gruppe! Wo sind die jetzt überhaupt? Die Führung ist doch noch gar nicht zu Ende!«
»Lassen Sie mich los! Ich muss ihn fassen?«
»Wen? Der, der soeben vor Ihnen hier raus kam? Spielen Sie hier fangen, oder was?«
»Fangen, genau, wir müssen ihn fangen. Da unten ist Grete.«
»Sie sind ja noch bekloppter, als ich dachte. Und Grete kommt bei Goethe vor, das weiß doch jeder.«
Er riss sich los und schaute sich um. Wo war Johannes bloß? Er hatte unnütz Zeit verloren. Hinter ihm kam die junge Frau nun ebenfalls die Treppen hoch. Sie fasste sich an den Hals. »Gut, dass Sie gekommen sind. Der hätte mich umgebracht! Wo ist das Schwein? Haben Sie ihn laufen lassen?«
Oskar Botengang sagte »Sie sind tatsächlich überfallen worden? Und der Herr wollte Ihnen helfen?«
»Was heißt hier wollte! Er hat mir das Leben gerettet. Das Schwein hätte mich da unten umgebracht. Der war zu allem entschlossen.«
»Ein feiger Mörder, vergreift sich an wehrlosen Frauen …,« stieß er angewidert hervor.
»Wir müssen die Polizei rufen und eine genaue Täterbeschreibung angeben.« Oskar Botengang musterte Grete. »Können Sie ihn beschreiben?«
»Ich weiß nicht, das ging alles so schnell. Es war so dämmriges Licht. So richtig kann ich ihn nicht beschreiben.«
»Ich kenne ihn. Ich weiß wie er heißt und wo er wohnt.«
Oskar Botengang zückte sein Handy. »Alles klar, das erzählen Sie jetzt mal hübsch der Polizei.«
Die Kommissarin Melanie Härter schaute aufmerksam auf die bunte Truppe, die da vor ihr saß. Ein groß gewachsener Herr mit rötlichen Locken, in der Physiognomie und im Anzug Friedrich Schiller sehr ähnlich, ein aufgeregter Oskar Botengang, seinen Angaben nach Fremdenführer in der Quadratestadt und eine junge Frau, die angab, an einem der freien Theater in Mannheim zu spielen und sich auf dem Heimweg von einer Probe befunden zu haben.
Sie veranlasste eine Fahndung nach dem Flüchtigen, der noch am selben Tag in einem Regionalzug in Richtung Bergstraße gefasst wurde. Noch während der Untersuchungshaft im Café Landes, wie Mannheims Justizvollzugsanstalt im Volksmund hieß, gestand er zwei Morde an Frauen in Weimar und Marbach.
Und unser Friedrich Schiller? Seine Mutter fand mit Hilfe einer Zeitungs-Annonce ein Ehepaar aus Lettland, das die Hausmeisterwohnung in ihrer Villa bezog und sie beide betreute. Die Ehefrau war ausgebildete Musikpädagogin und nahm sich des jungen Mannes an. Sie erkannte rasch sein Talent. Mehrmals in der Woche fuhren sie nach Mannheim, wo sie beide in derselben Truppe wie Gretchen bei dem freien Theater arbeiteten. Faust gelangte allerdings nicht zur Aufführung. Unter ihrem neuen Dramaturgen, der sich als ausgezeichnet erwies, erarbeiteten sie eine Aufführung von Wilhelm Tell. Die Berichterstattung im Feuilleton des Mannheimer Morgens war voll des Lobes.
1 Der Mannheimer Hauptbahnhof wird von einer beeindruckenden Glaskuppel gekrönt. Die Läden in den zwei Etagen haben auch an Sonntagen geöffnet. Mannheim ist begünstigt durch seine zentrale und verkehrsgünstige Lage, es ist leicht per Zug, Flugzeug und Auto erreichbar.
2 Am Platz des früheren Hauptbahnhofs von Mannheim und heutigem Straßenbahnhaltepunkt steht seit 1928 eine Wartehalle im Stil der Neuen Sachlichkeit.
3 Zur Moltkestraße hin zeigt sich die Kunsthalle Mannheim in wunderschöner Jugendstilfassade. Der vor über dreißig Jahren errichtete Mitzlaff-Bau, der direkt daran angrenzte und damit verbunden war, wird durch einen Neubau ersetzt. Die Kunsthalle Mannheim zeichnet sich durch einen beachtlichen Sammlungsbestand aus, es finden sehenswerte Sonderausstellungen statt.
www.kunsthalle-mannheim.eu
4 Das Wahrzeichen der Stadt und Heimatgefühle auslösendes Industriedenkmal für alle aus dem Urlaub heimkehrenden Mannheimer.
5 Nach Schillers Drama benennt sich eine Mannheimer Literatengruppe, »Die Räuber77«. Die Zahl steht für das Gründungsjahr. Zu den Treffen und Lesungen des Literarischen Zentrums Rhein-Neckar e. V. sind Gäste willkommen.
Termine: www.raeuber77.de
6 In L2, 1 wohnte Friedrich Schiller zu Beginn seiner Mannheimer Zeit. Eine Tafel erinnert daran: »An dieser Stelle stand das Hubertus-Haus, in dem Friedrich Schiller im Jahre 1783 gewohnt hat.«
7 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Jesuitenkirche in der Nähe des Schlosses erbaut. Die zu großen Teilen zerstörte Kirche wurde nach dem Krieg wieder aufgebaut und erstrahlt in neuen barocken Glanz. Sehr sehenswert!
8 Die barocke Silhouette Mannheims wird durch die Sternwarte verstärkt. Kurfürst Carl Theodor ließ sie 1772 bauen. Der Hofastronom Christian Mayer betrachtete von ihr aus den Himmel. Sie ist nur von außen zu besichtigen und steht in A4.
9 Nachdem das ursprüngliche Gebäude im zweiten Weltkrieg zerstört wurde, wählte man für den Neubau des Nationaltheaters Mannheim einen neuen Ort. Das neue Haus steht am Goetheplatz und umfasst die drei Sparten Oper, Schauspiel und Ballett, sowie das Kinder- und Jugendtheater Schnawwl. Die Mannheimer lieben ihr Theater!
10 Friedrich Schiller war Hausautor am Nationaltheater. Die Institution Hausautor wurde vor einigen Jahren wiederbelebt und einige Autoren übten diese aus, darunter auch sehr bekannte. Alle zwei Jahre finden die »Internationalen Schillertage« in Mannheim statt, dabei reisen auch immer Ensembles anderer Bühnen für Gastspiele an. Zum nächsten Mal sind sie im Jahre 2015, das Programm wird aufwww.schillertage.deveröffentlicht. Absolut empfehlenswert!
11 Nachdem August von Kotzebue der Boden in Weimar zu heiß geworden war, ließ er sich in Mannheim nieder. Wilde Gerüchte kursierten über ihn, so wurde er sogar verdächtigt, ein russischer Spion zu sein. Nur eine kurze Zeit lebte er mit seiner Familie in Mannheim, bis er einem Attentat zum Opfer fiel. Sein Grab mit dem markanten Marmorwürfel, in dessen eine Seite ein Gesicht eingeschnitten ist, befindet sich auf dem Mannheimer Hauptfriedhof. Ursprünglich lag der Friedhof in der Innenstadt. Selbst nach der Verlegung der Gräber auf den neuen Hauptfriedhof außerhalb der Stadtmauern fanden das Opfer und sein Mörder Karl Sand unweit voneinander ihre letzten Ruhestätten. An den Studenten Karl Sand erinnert eine Sandsteinsäule.
12 Die historische Geschichte »Linas Trost« über den Mord an Kotzebue aus der Feder von Claudia Schmid findet sich beiwww.jokers.deunter Extra, Gratisdownloads, Historica. Historische Fakten aus der Stadtgeschichte Mannheims wurden mit Fiktion verwoben.
13 In der Nähe zu den historischen Grabstätten von August von Kotzebue und seinem Mörder Karl Sand findet sich auch die letzte Ruhestätte Heribert von Dalbergs, dem langjährigen Theaterintendanten Mannheims. Ein Rundgang auf dem Hauptfriedhof ist auch ein Spaziergang durch Mannheims Geschichte. Der Haupteingang zum baumbestandenen Friedhof führt durch Arkaden. Direkt daneben liegt der jüdische Friedhof.
14 An die Lage des ursprünglichen Nationaltheaters erinnert noch der Schillerplatz in B3. Das Denkmal des Dichters steht hier und es wurde ein Kinderspielplatz angelegt.
15 Das zauberhafte Barockensemble in B5, 7 ist ein wahres Kleinod. Der malerische Innenhof ist gepflastert, ein großer Baum spendet im Sommer Schatten. Das Veranstaltungsprogramm ist auf www.rem-mannheim.de zu finden.
16 Noch zu Schillers Zeiten und einige Jahre später war es in Mannheim wie in anderen Städten auch üblich, seinen Unrat einfach auf die Straße zu kippen. Höhergestellte Herrschaften trugen kleine Holzklötzchen unter ihren Schuhen, damit sie diese nicht mit Morast beschmutzten. Als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Mannheimer Bürgern verboten wurde, den Inhalt des Nachttopfes auf die Gass’ zu kippen, soll das einen Bäcker derart verärgert haben, dass er ein kleines Häufchen kreierte, dieses mit Schokoguss veredelte und in seinem Schaufenster ausstellte. Mannheimer Dreck wird von mehreren Bäckereien angeboten. Es ist ein lebkuchenähnliches Gebäck und ein beliebtes Mitbringsel aus der Quadratestadt.
17 Eine beachtliche Sammlung zum Nationaltheater, die Antikensammlung und ein umfassender, lebendiger Einblick in die Geschichte der (Erfinder-)Stadt werden hier gezeigt, natürlich ist auch eine Laufmaschine dabei. Friedrich Schiller hielt sich gerne in der Antikensammlung auf. Mehr dazu in der Publikation von Liselotte Homering und Dr. Claudia Braun: Friedrich Schiller im Antikensaal zu Mannheim, Verlag der Quadrate-Buchhandlung Mannheim.
Nachts wird das Zeughaus mit einer interessanten Lichtinstallation belebt: auf den Betrachter blicken zwei überdimensionierte Augen.
www.rem-mannheim.de
18 Im Keller des Zeughauses wurden die wuchtigen Sandsteine des Fundamentes freigelegt, auch der Boden ist aus dem für die Gegend typischen Sandstein. Im Verschaffelt-Gewölbe wird die Antikensammlung gezeigt. Carl Theodor legte den Grundstock für die Sammlung. Der Kurfürst gründete die Akademie der Wissenschaften, die Mitglieder der Akademie sammelten auf ihren Reisen Sammlungsstücke. Diese war von Anfang an der Öffentlichkeit zugänglich. Carl Theodor finanzierte auch Ausgrabungen in der Umgebung. Im Verschaffelt-Gewölbe steht Mobiliar aus dem Mannheimer Schloss: ein Ausstellungsschrank und eine Vitrine, von einem Schreiner Zeller gefertigt. Das ist so besonders, weil kaum etwas aus dem Schloss den Zweiten Weltkrieg überdauerte. Ausführliche Informationen zu den Exponaten erhält man an den Medienstationen. Vorgestellt werden in anschaulichen Darstellungen, die auch in den jeweiligen Lebensalltag einführen, Griechen, Etrusker und Römer.
19 Hier finden die gut besuchten Sonderausstellungen der Reiss-Engelhorn-Museen statt, zum Beispiel über die machtvollen Medici oder über die prunkvollen Wittelsbacher. Und es wird dauerhaft eine Steinzeit-Ausstellung gezeigt.
20 Eine Radtour, die, beginnend am Mannheimer Schloss, zu den Wirkungsstätten Friedrich von Schillers führt, bis nach Oggersheim, wo er während seiner Mannheimer Zeit zuletzt lebte. Dort erinnert ebenfalls ein Schillerhaus an den Dichter.
21 Das Museum Bassermannhaus in C4, 9 zeigt Dauer- und Sonderausstellungen rund um Musik und Kunst. Beeindruckend ist die Sammlung von Musikinstrumenten mit Hörproben aus aller Welt. Und ein komplettes Tonstudio wurde aufgebaut.
Gisela würde am liebsten heulen. Kein einziges Foto von ihr scheint richtig gelungen zu sein, keines gefällt ihr. Auf dem vom letzten Geburtstag bei Arnie sind ihre Augen geschlossen. Und bei der vorjährigen Weihnachtsparty trägt sie ein T-Shirt mit einem bescheuerten Werbeaufdruck. Sämtliche Fotos, die sie in Erwägung zieht, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als denkbar ungeeignet, im Portal der Round-Community hochgeladen zu werden. Sie arbeitet ziemlich verbissen an ihrem Profil und es ist beinahe fertig, nur noch dieses vermaledeite Foto fehlt. Dabei weiß sie ganz genau, dass ein richtig tolles Profilfoto die Wahrscheinlichkeit erhöht, angeklickt zu werden. Dann könnte sie die Leute als Kontakt einladen und sie würden auf ihrer Profilseite angezeigt werden. Oder sie schrieben mit etwas Glück sogar in ihr Gästebuch. Das brächte dann noch mehr Klicks für sie, ein wundervoller Kreislauf.
Gisela holt sich damit ihre Gäste ins Haus, ohne hinterher ihre schmutzigen Fußabdrücke wegwischen zu müssen. Es roch auch nicht nach Zigarettenqualm, wenn sie ihre Wohnung verließen und sie hinterließen kein schmutziges Geschirr, das sich in ihrer Küche stapelte.
Mit viel Mühe hat sie ein wirklich gelungenes Profil kreiert. »Besondere Interessen« waren schnell erfunden, auch bei »Länder, die ich bereist habe« ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf. Viel Zeit wendete sie allerdings auf für die Suche nach einem wirklich gut klingenden Zitat, denn sie fand, das gab ihr einen intellektuellen Touch. Und dann kam noch ein Hund dazu. Mittelgroß, langes Fell und sehr anhänglich. Ein Tier macht doch den Menschen erst so richtig sympathisch.
Obwohl, wenn sie ehrlich war, so einen Hund hätte sie schon wirklich gerne. Das wäre ein wirklich guter Freund und der würde auf sie warten, wenn sie von der Arbeit nach Hause käme. Richtig treue Seelen waren Hunde. Und Tierhaltung war in dem Haus, in dem sie zur Miete wohnte, erlaubt, das wusste sie. Denn die alte Dame in der Etage unter ihr hatte einen Hund, einen kleinen Whiteterrier namens Lilli. Aber dann wäre die Wohnung immer voller Hundehaare und das würde sie ganz verrückt machen.
Dieses verflixte Foto! Von den zur Verfügung stehenden Avataren sagt ihr auch keiner zu. Damit unterschied sie sich doch überhaupt nicht von den anderen! Schließlich ist sie doch ein ganz besonderes Individuum! Es ärgert sie ganz außerordentlich, kein passendes Foto zu finden. Kurz zieht sie in Erwägung, zu einem Fotografen zu gehen. Aber irgendwie findet sie das auch blöd. Sieht so gestelzt aus. Vielleicht könnte sie ihre Nachbarin auf der Etage bitten, ein Foto von ihr zu machen? Die ist doch eigentlich ganz nett. Ein wenig älter als sie. Gisela glaubt, die lebt mit ihrem Sohn. Wo die Nachbarin wohl arbeitet? Melanie Härter steht auf dem Klingelschild. Aber konnte man wirklich fremde Leute einfach so bitten, mal eben ein Foto von sich zu machen? Wer weiß, was die dann von ihr denkt. Es war bestimmt besser, sie ließ das bleiben.
Plötzlich hat Gisela eine geniale Idee. Ihr fällt ihre Lieblingsblume ein, die elegante Strelitzie. Sie nimmt ganz einfach ein Foto der Paradiesblume als Profilbild!
Am nächsten Tag fährt sie wie üblich mit der Straßenbahn zur Arbeit, durch die Innenstadt und dann über die Kurpfalzbrücke in die Neckarstadt.
Am alten Messplatz, vor der Alten Feuerwache, steigt sie aus. Als sie am Capitol 22 vorbei geht, weckt ein Plakat ihre Aufmerksamkeit. Eine Band, die sie schon mal gehört und die ihr ganz gut gefallen hatte, spielt in zwei Wochen. Vielleicht würde sie zu dem Konzert gehen. Wenige Straßenecken weiter, kurz vor dem umhäkelten Tor zur Neckarstadt, erreicht sie ihren Arbeitsplatz. Dort hat sie in letzter Zeit ziemlichen Ärger. Seit die junge Kollegin auf dem Platz neben ihr sitzt, erledigt sie nur noch ihr Pflichtpensum und wirklich keinen Handschlag zuviel. Die Neue sieht verboten gut aus, das muss sie neidvoll zugeben. Eine Figur, für die man eigentlich einen Waffenschein braucht. Ihre Kleider sind immer ein bisschen zu eng und der Abteilungsleiter hat mehr als nur ein Auge auf sie geworfen. Das sieht ein Blinder, dass der scharf auf die ist, rattenscharf um genau zu sein. Dabei hat der doch eine Frau und zwei kleine Kinder zuhause!
Gisela hätte nicht gedacht, dass er neben seiner Hauptbeschäftigung, nämlich sie zu piesacken, noch etwas anderes im Auge haben könnte. Aber offenbar ist ihm wohl ziemlich langweilig. Es sind diese scheinbaren Kleinigkeiten, die er sich für sie ausdenkt und mit denen er ihr zusetzt. Dass er Anna-Maria neben sie platziert hat, empfindet Gisela als persönlichen Angriff. Es nervt sie unbeschreiblich, neben einer derart attraktiven Frau zu sitzen. Und dann auch noch ihre Stimme! Rauchig und vielversprechend. Die beiden arbeiten an der Beratungshotline einer Krankenversicherungsanstalt. Die Versicherten rufen an, wenn sie glauben, ein Problem zu haben. Beispielsweise wenn ihr Arzt ihnen nicht das verschrieb, was sie auf Rezept haben wollten. Oder sie bekommen überhaupt kein Rezept, weil etwa Arzneien gegen Erkältung schon lange nicht mehr verordnet sondern selbst bezahlt werden müssen. Die Anrufer werden oft aggressiv und fühlen sich ungerecht behandelt. Bei Gisela lassen sie ihren Dampf ab. Sie empfindet es zunehmend mehr als Last, den ganzen Tag über Beschwerden entgegen zu nehmen. Anna-Maria hingegen scheint das alles locker wegzustecken, an der perlt alles ab und auch am Ende des Arbeitstages sieht sie noch ziemlich frisch aus. Heute erzählt sie ausgiebig von einem Theaterabend im Oliv 23.
Gisela fühlt sich abends nur noch müde und ausgelaugt. Heute schleppt sie sich auf die Neckarwiese 24, bevor sie sich auf den Weg nach Hause macht. Ihr graut vor ihrer leeren Wohnung, davor, die Geräusche aus den Wohnungen der Nachbarn zu hören, die anzeigen, dass diese ein Leben haben, das wesentlich ausgefüllter zu sein schien als ihr eigenes.
Eine junge Frau in einem bunten Sommerkleid kommt auf sie zu. Als sie direkt vor Gisela steht, fischt sie einen Flyer aus ihrer Stofftasche. »Wollen Sie eine Grillkarte 25 haben?«
»Eine Grillkarte, was ist das denn?«
Die Frau setzt sich neben sie. »Da sind alle öffentlichen Plätze darauf verzeichnet, wo Sie hier in Mannheim grillen dürfen.«
»Aha.« Gisela ist interessiert und hat gleich eine Frage. »Gibt es da vielleicht auch so eine Art Kontaktstelle, wo man sich mit jemand verabreden kann, zum Grillen?«
»Nein, leider nicht. Leute mitbringen müssen Sie schon selber.«
»Schade, dann ist das wohl nichts für mich. Alleine Grillen macht keinen Spaß.«