Blutgrund - Peter Glanninger - E-Book

Blutgrund E-Book

Peter Glanninger

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Beschreibung

In St. Pölten wird ein Wanderarbeiter von drei Unbekannten niedergeschlagen und schwer verletzt. Ein Raub? Ein fremdenfeindliches Motiv? Die Ermittlungen von Thomas Radek, Kriminalbeamter im LKA, laufen ins Leere. Doch als ein junger Reporter ermordet wird, stößt er schnell auf einen Zusammenhang. Gemeinsam mit der Schwester des Toten sucht Radek nach dem Täter. Dabei entdecken sie Unglaubliches. Und als sie tiefer graben, werden sie selbst zur Zielscheibe.

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Peter Glanninger

Blutgrund

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fotomek / pixabay

und anzeletti / istockphoto

ISBN 978-3-8392-7058-5

 

 

1.

Man musste kämpfen, wenn man nicht ewig am unteren Ende der Leiter stehen und zu den Mächtigen hinaufsehen wollte. Man musste gegen die Mächtigen kämpfen. Und er würde es tun. Er würde nicht klein beigeben. Davon war er überzeugt. Jetzt, nach dem Gespräch mit dem jungen Mann, noch mehr als zuvor. Er hatte bereits zu viel geopfert, stand zu lange schon unten, geduckt und geprügelt, immer mit der Angst im Nacken, dass es irgendwann einmal nicht mehr weitergehen würde.

Es wurde Zeit aufzustehen.

Radu Tirla war müde. Er hatte einen langen Tag hinter sich. Bereits um halb sieben war er auf der Baustelle gewesen. So vieles musste noch fertig gemacht werden. Sie waren in Verzug. Sie mussten schneller arbeiten, sonst würde man ihnen Geld vom Lohn abziehen. Es war ein harter Job.

Bis nach 20 Uhr war er auf dem Bau geblieben, dann in die Heßstraße, in das Büro dieser kleinen Partei, gefahren, um sich wieder mit dem jungen Mann zu treffen. Dort hatten sie ein langes Gespräch geführt. Radu war schon vorher davon überzeugt gewesen, dass man etwas unternehmen musste, sich nicht nur ducken durfte, doch jetzt hatten sie einen Weg gefunden, um sich zu wehren.

Der junge Mann war eifrig, wie die Jugend so ist, begeistert und voller Feuer für seine Sache. Radu wusste nicht, ob er am Ende einen Vorteil davon haben würde, aber der junge Mann hatte recht: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Jetzt war es 22.30 Uhr. Er spürte die Müdigkeit wie eine zähe Flüssigkeit, die ihn umhüllte. Seine Beine waren schwer, als er kraftlos nach Hause marschierte.

Radu Tirla stammte aus Vorniceni, einer Kleinstadt mit rund 4.000 Einwohnern im Kreis Botoșani im letzten Winkel der Region Moldau, dem Osten Rumäniens, der als ärmste Gegend des Landes galt. Sein 16-jähriger Sohn Dumitru sagte, Vorniceni sei ein so unbedeutendes Nest, dass man nicht einmal auf Wikipedia einen Eintrag darüber finden würde. Das stimmte nicht ganz, Radu hatte das nachgeprüft. Zwei Sätze gab es dort über seinen Heimatort. Sein Sohn wollte ihm damit klarmachen, wo sie lebten und vor allem wie und welche Chancen sie hatten, jemals da rauszukommen – nämlich keine.

Die nächste größere Stadt, Săveni, war etwa 20 Kilometer entfernt, die Kreishauptstadt Botoşani 30. Arbeit gab es in keinem der beiden Orte für Radu. Selbst wenn er eine gefunden hätte, wäre das Gehalt so niedrig gewesen, dass er seine Familie damit nicht durchgebracht hätte. Bei seinem letzten Job in Rumänien hatte er umgerechnet 250 Euro im Monat verdient. Das bekam er hier pro Woche.

Von Vorniceni nach Bukarest waren es beinahe 500 Kilometer. Zu weit weg, um zu Hause zu leben. Da konnte er genauso gut in Ungarn, Österreich oder Deutschland arbeiten.

Im Dezember 1989, als die Revolution ausbrach, war Radu 14 Jahre alt gewesen. Politik hatte ihn damals nicht interessiert, die Mädchen waren wichtiger gewesen. Die Kämpfe in Timișoara und Bukarest, die Flucht von Ceaușescu, dessen Festnahme, der Schauprozess und seine Hinrichtung, all das hatte er im Fernsehen gesehen. Es war für ihn so weit weg gewesen, als wäre es in einem fernen Land geschehen. Damals war er als Maurerlehrling bei einer großen staatsnahen Baufirma in Botoșani angestellt gewesen. Man konnte über Ceaușescu schimpfen, so viel man wollte, aber zumindest hatte es damals Arbeit gegeben.

Ein Jahr später wurde er entlassen. Keine Aufträge mehr, die Firma musste sparen. Viele im Betrieb erhielten in dieser Zeit ihre Kündigung. Nach einem weiteren Jahr wurde die Firma geschlossen.

Radu ging nach Ungarn. Illegal. Nachdem die Grenzzäune abgebaut worden waren, stellte das kein Problem dar. Blieb einige Monate in Budapest. Dann fuhr er weiter nach Österreich und nach Deutschland. Immer illegal. Jedes Mal erwischten sie ihn nach einiger Zeit, und er versuchte, ins nächste Land zu kommen.

Fünf Jahre lang schlug er sich so durch. Er verdiente gutes Geld, schickte viel davon seinen Eltern nach Hause. Dann lernte er Felicia kennen, blieb in Rumänien und sie heirateten bald. Felicia arbeitete in einer großen Möbelfabrik in Botoşani, nähte Bezüge für Polstermöbel, die nach Westeuropa verkauft wurden. Als sie mit ihrer Tochter Mirela schwanger war, verlor sie ihre Stelle und fand keine neue mehr. Drei Jahre später kam Dumitru zur Welt.

Lange Zeit war es Radu gelungen, seine Familie zu ernähren. Er hatte einige Ersparnisse und Arbeit in einer Fabrik für Betonguss in Dorohoi, eine halbe Autostunde von Vorniceni entfernt. Sie wohnten in einem kleinen Haus in der Nähe von Felicias Eltern. Alles lief gut. Doch dann kaufte ein englischer Investor die Firma, und Teile der Produktion wurden nach China verlegt. Dort könne man billiger herstellen, hieß es. 200 Arbeiter wurden entlassen, darunter auch Radu. Mehrere Monate bemühte er sich vergeblich, eine neue Stelle zu finden. Er hätte alles gemacht. Aber es gab nichts. 43 Prozent Arbeitslosigkeit in der Region.

Das war die Zeit, in der sein Sohn geboren wurde.

Deshalb entschloss er sich, wieder nach Westeuropa zu gehen. Zuerst nach Deutschland, illegal. Immer mit der Angst, erwischt zu werden. Zwei Jahre ging es gut, dann wurde er geschnappt. Zurückgeschickt. Das Ganze wiederholte sich zweimal, dann ein Einreiseverbot.

Am 1. Januar 2007 traten Rumänien und Bulgarien der EU bei. Es gab strenge Auflagen, was die Beschäftigung betraf, aber keine Einschränkungen mehr im Reiseverkehr.

Ein Onkel gab Radu eine Adresse von einem Arbeitsvermittler in Bukarest, und dort wurde ihm eine legale Arbeitserlaubnis für Österreich besorgt. So kam er in dieses Land. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren durfte er offiziell in Westeuropa Geld verdienen. Er arbeitete viel und wurde gut bezahlt – für rumänische Verhältnisse.

In den letzten Jahren war es jedoch schwieriger geworden. Immer härter die Arbeit, immer geringer der Lohn. Doch auch das hatte er ertragen. Bis vor einigen Wochen, als der Bauherr ihm und seinen Kollegen das Geld für eine ganze Woche verweigert hatte, weil sie angeblich schlechte Arbeit abgeliefert hätten. In Wirklichkeit wollte der Kerl sie um ihren Lohn betrügen. Da hatte es ihm gereicht.

Aber sie waren machtlos. Was hätten sie auch tun sollen? Wohl oder übel hatten sie es akzeptiert. Doch Radu hatte es nicht vergessen. Seine Wut war groß.

Ein Glück, dass er dem jungen Mann begegnet war, sich mit ihm unterhalten und ihn heute erneut getroffen hatte.

Es war Zeit, aufzustehen! Es war Zeit, sich zu wehren!

Obwohl Radu Tirla von dem langen Tag sehr müde war, ging er zu Fuß zurück. Er schätzte, dass er etwa eine Viertelstunde brauchen würde, und ging absichtlich langsam. Er musste nachdenken, das konnte er nicht in seinem Zimmer, weil er es mit mehreren Kollegen teilte. Außerdem war die Nacht angenehm, die Sommerhitze der vergangenen Tage vorüber. Jetzt, Anfang September, war es kühler geworden.

Er bemerkte nicht, dass ihm drei Männer folgten, in einiger Entfernung und getrennt voneinander, auf derselben Straßenseite und auf der gegenüberliegenden, aber so, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren. Jetzt schlossen die drei zu ihm auf, einer von ihnen überholte ihn und stellte sich ihm in den Weg. Es war ein großer Kerl, Mitte 30, kräftig gebaut, mit einem runden Gesicht und einer Glatze. Er trug eine kurze Jacke und Jeans, alles in Schwarz.

Radu erstarrte. Hätte er an ihm hinuntergesehen, wären ihm die schweren Stiefel aufgefallen.

»He, du Scheißzigeuner«, zischte der Mann vor ihm. Leise und gefährlich klang es, und der Mann grinste, aber das Lächeln war nicht freundlich, sondern böse und gemein.

Radu war ein Rom, so wie die meisten Leute in Vorniceni. Er wunderte sich, woher der Mann das wusste.

»Wir brauchen hier keine Zigeuner.« Der Typ gab ihm einen Stoß, drängte ihn von der Straße auf einen kleinen Parkplatz. Die zwei anderen traten hinter Radu.

Radu wollte keinen Streit. Er lebte lange genug in diesem Land, um die Ausländerfeindlichkeit der Leute zu kennen. Sie wurde nicht immer offen zur Schau gestellt, brodelte meist unter der Oberfläche der Menschen. Doch wenn sich eine Gelegenheit bot, sprudelte sie hervor wie die Unheil bringende Lava eines heimtückischen Vulkans. Er wollte einfach weitergehen, versuchte, an dem Mann vorbeizukommen, aber der stellte sich ihm erneut in den Weg.

Bevor Radu ein Wort sagen konnte, spürte er einen heftigen Schlag im Rücken, genau an der Niere. Eine Welle des Schmerzes packte ihn. Der nächste Hieb, diesmal in den Magen. Die Luft blieb ihm weg, helle Punkte tanzten vor seinen Augen. Er krümmte sich nach vorne. Noch einmal wurde zugeschlagen, in die Rippen. Er hörte, wie sie knackten, und ein heftiger Stich durchfuhr seinen Oberkörper. Er rang nach Atem. Doch da wurde er erneut getroffen, jetzt in die Seite. Er schrie vor Schmerz, ging in die Knie. Unfähig, zu denken. Er hatte Panik. Wollten die ihn totprügeln?

Er wurde an den Haaren gepackt und hochgezogen. Der Mann vor ihm schlug ihm die Faust ins Gesicht. Sofort spürte er Blut im Mund. Der Mann schlug noch einmal zu und noch einmal. Radu war benommen, sah den Kerl vor sich nur mehr verschwommen.

Der Kerl beugte sich über ihn und flüsterte: »Wir brauchen dich hier nicht. Also verschwinde dahin, wo du hergekommen bist.« Er richtete sich auf, griff in seine Jackentasche und zog einen Schlagring heraus. Langsam schob er ihn über seine Hand.

Der erste Schlag traf Radu an der Schulter. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, zerschmetterte der zweite Hieb sein Gesicht.

Dann wurde alles schwarz.

2.

Das Gespräch war ihm unangenehm. Obwohl Armin Sulzer und Harald Jungmann Geschäftspartner waren, sich gut verstanden, sogar gemeinsam Golf spielten, hatte Sulzer das Gefühl, wie ein kleiner Arbeiter, der vor seinem Chef eine Untat beichten musste, in Jungmanns Büro zu sitzen. Vielleicht lag es daran, dass Harald, der Inhaber von Jungmann Bau, zehn Jahre älter, erfolgreicher und wohlhabender war.

Die Sekretärin brachte ihnen Kaffee. Sie war ein junges Ding, lange Beine, enge Bluse, kurzer Rock, schulterlange schwarze Haare, hübsches Gesicht mit vollen Lippen und einem Lächeln, das zu sagen schien: Du kannst mich angaffen, so lange du willst, ich gehöre trotzdem nur dem Chef.

Sulzer trank einen Schluck Kaffee. Er wusste, dass Jungmann etwas mit der Kleinen hatte, auch wenn der das nie zugeben würde. Was für ein Klischee! Der alte Bauunternehmer und die junge Sekretärin. Jungmann war verheiratet, hatte zwei Kinder, und Sulzer glaubte ihm sogar, wenn er behauptete, seine Familie zu lieben. Dennoch, Jungmann war Ende 40 und die Midlife-Crisis hatte ihn gepackt. Deshalb suchte er sich etwas Junges fürs Bett. Die Kleine war noch keine 30. Lange Zeit hatte Sulzer den Verdacht gehabt, dass Jungmann seine Sekretärin vor drei Jahren nur deshalb eingestellt hatte, um sie bumsen zu können. Na ja – auch egal, es ging ihn nichts an. Er hatte andere Sorgen. Deswegen war er hier.

»Wir haben ein Problem in der Kerensstraße«, sagte er vorsichtig.

»Welches Problem?« Jungmann wurde hellhörig.

Sulzer hatte sich auf dem Weg hierher sein Vorgehen zwar zurechtgelegt, trotzdem musste er kurz überlegen, wie er seinem Geschäftspartner die schlechte Neuigkeit am besten verkaufen konnte. »Es gibt Unruhe unter den Arbeitern«, erklärte er. »Sie mucken auf, sie murren wegen der Miete und der Bezahlung und anderer Dinge. Sie stacheln sich gegenseitig an, sie streiten untereinander.«

Jungmann blickte ihn unverwandt an. Er war Geschäftsmann. Er wollte, dass die Dinge funktionieren. Sulzer wusste das. Er kannte Teile der Lebensgeschichte Jungmanns: ein eiskalter Unternehmer, der keine Stümpereien duldete. Wahrscheinlich das Rezept, um in dieser Branche erfolgreich zu sein und zu bleiben, dachte Sulzer und griff neuerlich zur Kaffeetasse.

»Dann kümmere dich darum. Wir können uns keine Schwierigkeiten leisten«, verlangte Jungmann kalt. Sie konnten derartige Probleme nicht brauchen, und Sulzer war dafür da, um genau solche Sachen zu verhindern.

»Ich bin dabei.« Sulzer kam sich vor wie ein Polier, der von seinem Chef Arbeitsaufträge entgegennimmt.

»Das Projekt Theresienhofgasse ist angelaufen. Ich vermute, dass es dort bald mit den ersten Arbeiten losgeht. Dann haben wir einen engen Zeitplan. Bis dahin müssen diese Streitereien beendet sein. Wir brauchen Arbeiter, die sich reinknien und nicht anfangen, über ihre Befindlichkeiten zu diskutieren. Hast du verstanden?«

Sulzer nickte. »Es wird alles rechtzeitig wieder laufen.«

»Das hoffe ich für dich und unsere Zusammenarbeit«, sagte Jungmann und schaute ihn mit einer Strenge an, die Sulzer so an ihm noch nie wahrgenommen hatte. Gut, es war auch das erste Mal, dass er Jungmann von Problemen berichten musste. Bisher hatte er Konflikte unter den Arbeitern schnell geregelt. Doch diesmal war es anders, gefährlicher. Ihm war klar, dass dadurch ihre Geschäfte empfindlich gestört werden konnten. Deshalb wollte er Jungmann vorwarnen und saß nun hier wie ein kleiner Bittsteller, der von seinem Geldgeber einen Zahlungsaufschub erhoffte.

»Sonst noch was?«, fragte Jungmann. »Ich möchte dich nicht rausschmeißen, aber ich habe heute einen dichten Terminkalender und muss mich mit anderen Dingen beschäftigen als mit deinen Arbeitern.«

Es war ein Rauswurf, auch wenn Jungmann etwas anderes behauptete, das wusste Sulzer. »Nein, sonst gibt es nichts mehr, ich wollte dir das nur sagen.«

»Okay, jetzt weiß ich es. Ich verlasse mich darauf, dass du die Sache in Ordnung bringst!«

»Selbstverständlich«, sagte er, stand auf und verließ das Büro. Die Tasse Kaffee war noch halb voll.

Die Sekretärin blickte ihm spöttisch nach, als er an ihr vorbeiging.

3.

»Mordkommission« nannte sie nur der Volksmund. Die fachlich richtige Bezeichnung lautete: Einsatzbereich 1, Leib und Leben, im Landeskriminalamt. Und im polizeiinternen Jargon hießen sie kurz »Leib und Leben« oder »EB 1«. Oder »Gewaltgruppe«, weil sie nicht nur Morde und andere Tötungsdelikte bearbeiteten, sondern auch Formen schwerer Körperverletzung, was ihr Hauptgeschäft ausmachte, und alle Fälle, die mit Erpressung, Entführung oder Geiselnahme zusammenhingen. Im EB 1 gab es zwei Gruppen mit jeweils sechs Mitarbeitern. Ihr Gruppenführer war Chefinspektor Andreas Pirker, ein griesgrämiger Kriminalbeamter Anfang 50.

Der kam gerade mit einem jovialen »Hallo, Burschen« ins Büro. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er hielt einige Blätter Papier in der Hand.

Sieht nach Arbeit aus, dachte Thomas Radek, einer der beiden Beamten im Raum, und wechselte einen schnellen Blick mit seinem Kollegen Bernd Neumann, der ihm gegenübersaß und dessen Gesichtsausdruck signalisierte, dass er ähnliche Befürchtungen hegte.

Pirker reichte Radek die Papiere und erklärte: »Schaut euch das mal an. Ein Ausländer wurde im Glasscherbenviertel niedergeschlagen. Liegt im Krankenhaus. Die uniformierten Kollegen haben einen Mordversuch geschrieben. Warum, weiß ich nicht. Ist alles ein bisschen unklar, könnte auch ein Raub sein. Den Rest findet ihr im Computer.« Als Radek die Papiere an sich genommen hatte, fügte der Gruppenführer hinzu: »Haltet mich auf dem Laufenden.« Einer seiner Standardsprüche. Und schon war er verschwunden.

Dass er die Unterlagen Radek gegeben hatte und nicht Neumann, lag daran, dass Radek an Lebensjahren zwar jünger, aber länger im EB 1 war und damit automatisch eine Art Führungsfunktion im Duo Radek/Neumann einnahm, was ihm nicht immer behagte.

Radek hatte die Gruppe gewechselt, weil er mit seinem früheren Chef nicht zurechtgekommen und hier bei Pirker ein Platz frei geworden war. Die Stelle war auch besser bewertet, sodass er zum Bezirksinspektor aufgestiegen war. Neumann war ein halbes Jahr nach ihm gekommen.

»And the winner is …«, feixte Neumann und grinste zu Radek hinüber.

»Du kannst mich mal«, antwortete Radek und unterdrückte einen Fluch. So schnell hatte man einen neuen Fall. Bei der Morgenbesprechung war davon noch keine Rede gewesen, doch jetzt, zwei Stunden später, schien es plötzlich dringend zu sein. Messerstechereien, Schießereien, und Ehemänner, die ihren Frauen drohten, sie umzubringen, wanderten ständig über ihre Schreibtische. Und nun ein verprügelter Ausländer. Was würde als Nächstes kommen?

Radek überflog den Ausdruck der Anzeige. Der Sachverhalt war dürftig: Am Vorabend um 22.34 Uhr war eine Funkstreife in die Kremser Landstraße auf den Kundenparkplatz einer Supermarktfiliale gerufen worden, weil dort ein Mann auf dem Gehsteig lag. Die Beamten fanden einen bewusstlosen 49-jährigen Rumänen namens Radu Tirla. Sie kümmerten sich um die Erstversorgung. Die Rettung brachte den Mann ins Krankenhaus. Was genau geschehen war, konnte vor Ort nicht geklärt werden. Der Rettungsarzt vermutete aufgrund der Verletzungen, dass der Mann zusammengeschlagen worden war. Außerdem bestand akute Lebensgefahr. Diese beiden Faktoren führten bei den uniformierten Polizisten zu der Annahme, dass es sich um einen Mordversuch handelte. Zeugen gab es keine. Das war’s. Radek erklärte Neumann mit wenigen Sätzen, worum es ging.

Der verdrehte die Augen. »Verdammt, müssen wir uns denn um jeden Scheiß kümmern? Mordversuch. Dass ich nicht lache! Warum macht das nicht die zuständige PI oder das Kriminalreferat? Die wollen die Arbeit abschieben, so sieht’s aus! Mach den Akt zum Wanderer, dann kriegt ihn ein anderer. Das ist was für die Kollegen im Stadtpolizeikommando, nicht für uns.«

»Das sieht Pirker offensichtlich anders«, antwortete Radek, gab Neumann insgeheim aber recht. Er öffnete den Akt im Computer, fand dort jedoch nichts, was ihm weitergeholfen hätte. »Ich fürchte, wir werden nicht umhinkommen, im Spital vorbeizuschauen und mit diesem Tirla zu reden.«

»Dann sollten wir das möglichst schnell hinter uns bringen«, seufzte Neumann.

Radek nickte und stand auf. »Los geht’s!«

*

Es war nicht einfach, im Universitätsklinikum St. Pölten, das beständig wuchs und sich ausbreitete wie ein Krebsgeschwür, einen Patienten zu finden.

Von der Kanzlei im Eingangsbereich des Krankenhauses wurden sie zur Intensivstation geschickt. Nach einem längeren Irrweg durch verschiedene Gänge und Stockwerke des Gebäudes standen sie schließlich vor einer Glastür mit der Aufschrift »Anästhesie und allgemeine Intensivmedizin«.

Dahinter befand sich ein halbrundes, hüfthohes Pult, darunter eine Reihe von Computermonitoren mit unterschiedlichen Anzeigen, die von einer stattlichen Krankenschwester bewacht wurden. Die Schwester reagierte zunächst ungehalten, wurde aber um einiges freundlicher, nachdem Neumann ihr seine Dienstmarke gezeigt und den Grund ihres Auftauchens erklärt hatte. Der Besuch der Polizisten schien ihr eine willkommene Abwechslung im Routinealltag.

»Herr Tirla befindet sich derzeit in künstlichem Tiefschlaf«, lautete die ernüchternde Auskunft der Krankenschwester.

»Kann uns jemand mehr über seinen Zustand sagen?«, fragte Radek, und sofort griff sie zum Telefon.

Wenige Minuten später schlenderte ein Arzt heran, die Hände tief in den Taschen seines weißen Mantels vergraben. Er stellte sich als Doktor Mahler vor, war um die 40, machte einen übernächtigten Eindruck und wirkte genervt, als er erfuhr, worum es ging. Die Schwester machte ihm Platz, und er suchte die elektronische Patientenakte von Tirla.

»Radu Tirla liegt derzeit im künstlichen Koma«, erklärte Doktor Mahler. »Er hat schwere Kopfverletzungen. Fraktur des linken Os zygomaticums sowie der … Moment …«

»Können Sie uns die medizinischen Dinge bitte so erklären, dass sie auch für einen Laien verständlich sind?« Radek nutzte die kurze Pause, die der Arzt benötigte, um die nächsten Details zu suchen.

Mahler blickte ihn mit hochgezogenen Brauen an, schien eine Entgegnung auf den Lippen zu haben, schluckte sie aber hinunter und murmelte: »Ja, klar, das lässt sich machen. Also, Bruch des Jochbeins und des Nasenbeins sowie des rechten Schlüsselbeins. Zwei gebrochene Rippen auf der linken Seite, vier angeknackte auf der rechten. Zeigefinger und Ringfinger der rechten Hand gebrochen, Nierenquetschung rechts und ein Schädel-Hirn-Trauma. Dazu jede Menge Prellungen. Dabei hatte er Glück im Unglück. Der Jochbeinbruch ist nicht disloziert, das bedeutet, es gab keine Verschiebung der Knochen, was ihm eine Operation erspart hat. Auch an der Nase ist es nur ein Knorpelbruch. Das Schlüsselbein und die Rippen sind ebenfalls an ihrem Platz geblieben.« Er grinste über seinen Witz, den wohl nur ein Arzt verstand.

»Können wir ihn sehen?«, fragte Radek.

»Das wird Ihnen nichts nützen. Wie gesagt: künstlicher Tiefschlaf, Intensivpflege. Aber wenn Sie unbedingt wollen …«

Er führte sie zu einem Raum, in dem drei Krankenbetten mit Patienten standen, jedes umgeben von einer Vielzahl an Geräten und Monitoren. Eine Beatmungsmaschine lief mit dumpfem Röcheln, begleitet vom Piepsen und Summen der Geräte rund um die Betten. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln stieg Radek in die Nase.

»Ich würde Sie ersuchen, hier draußen zu bleiben«, mahnte der Arzt. »Tirla ist der Patient im mittleren Bett.«

Dort lag ein Mann in einem Krankenhaushemd, den Kopf einbandagiert. Die wenigen Stellen, die vom Gesicht noch zu sehen waren, waren blau und violett verfärbt, Schläuche steckten in Mund und Nase. Unter dem Hemd zeichnete sich ein Verband um den Oberkörper ab, die linke Hand war eingegipst, in den Venen der Unterarme steckten Infusionsnadeln.

Radek spürte, wie ein Gefühl des Unbehagens seinen Rücken hinaufkroch. »Wann holen Sie ihn aus dem künstlichen Koma?«, fragte er flüsternd, als wolle er die Patienten nicht wecken.

Mahler zuckte die Schultern. »Schwer zu sagen. In einem oder zwei Tagen, frühestens. Derzeit besteht zwar keine unmittelbare Lebensgefahr mehr, aber wir müssen ihn ruhigstellen, bis die Schwellung in seinem Gehirn zurückgeht. War’s das? Dann folgen Sie mir bitte zurück.« Er drehte sich um und verließ die Station.

Radek und Neumann folgten ihm.

Draußen bei der Leitstelle erklärte der Arzt: »Tja, tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Wenn Sie eine Telefonnummer hierlassen, werden wir Sie verständigen, sobald es Herrn Tirla besser geht und wir ihn auf eine normale Station verlegen können.«

»Das wäre sehr freundlich.« Radek gab dem Arzt seine Visitenkarte, der sie mit einer kurzen Anweisung der Schwester hinter den Monitoren weiterreichte.

»Eins noch, Doktor Mahler. Hat Herr Tirla persönliche Sachen bei seiner Aufnahme dabeigehabt?«, fragte Neumann.

Der zuckte mit den Schultern. Die Schwester jedoch nickte, stand auf und brachte ihnen aus einem Nebenraum eine blaue Plastikbox. »Das ist alles«, sagte sie. »Abgesehen von seiner Kleidung.«

»Ich nehme an, mich brauchen Sie hier nicht mehr.« Der Arzt verabschiedete sich.

In der Box lag nicht viel: ein rumänischer Reisepass, ein Wohnungsschlüssel mit einem kleinen Anhänger, Papiertaschentücher und eine Geldbörse. Radek nahm sie heraus und durchsuchte sie. Kein Geld, weder Scheine noch Münzen. Rumänischer Führerschein, Sozialversicherungskarte, eine Meldebestätigung und eine Visitenkarte. Auf deren linken oberen Ecke ein Logo: »PNL – Partei der Neuen Linken. Büro Niederösterreich.« Darunter eine Adresse und in der Mitte der Name Klaus Winkler.

»Sagt dir das was?«, fragte Radek und reichte seinem Kollegen die Visitenkarte.

Der las sie und schüttelte den Kopf. »Nein, nie gehört.« Er wendete sich an die Schwester. »War das wirklich alles?«

Die Schwester bestätigte es.

»Gab es kein Handy?«, wollte Neumann wissen und erntete ein Kopfschütteln. Er konnte nicht glauben, dass Radu Tirla ohne Handy unterwegs gewesen war.

Radek fragte, ob es hier einen Kopierer gäbe, und sie brachte ihn zu einem Gerät. Er kopierte alles, was er gefunden hatte, und machte mit seinem Handy ein Bild des Passfotos. Anschließend versuchten sie den Rückweg zu finden, ohne sich dabei zu verirren.

»Das sieht nach einem Raubüberfall aus, wenn du mich fragst. Kein Geld, kein Handy«, bemerkte Neumann, als sie mit dem Lift nach unten fuhren, und sprach damit aus, was beide dachten. »Vielleicht wollte er sein Handy nicht freiwillig hergeben, und die Täter haben ihn deshalb so zugerichtet. Du weißt ja, wie das läuft: eine Bande Jugendlicher, ein leichtes Opfer, und schon geht’s dahin. Da soll sich die EB 2 drum kümmern, Raub ist deren Angelegenheit.«

Radek nickte. »Du hast recht. Das sollten wir mit Pirker klären.«

4.

Als sie von der Straße in das Halbdunkel des Flurs traten, empfing sie ein undefinierbarer Gestank nach Müll, vollgepissten Klos und der Küche eines grindigen Beisls.

»Das ist ja zum Kotzen«, murrte Klemens Engelmeier. Er bemühte sich, nirgends anzustreifen, weil er Angst hatte, sich Jeans oder Sakko zu ruinieren.

»Mach dir nicht ins Hemd«, antwortete sein Begleiter Viktor Gsida. »Du tust, als wärst du das erste Mal hier.«

»Aber das wird immer schlimmer! Scheiße«, fluchte Engelmeier und stieg über eine mit Abfällen vollgestopfte Einkaufstasche aus Plastik neben dem Treppenaufgang, der in einen Gang und zu den Wohnungen führte.

»Das ist Teil des Plans«, antwortete Gsida und folgte seinem Begleiter die Treppe hoch.

»Wo fangen wir an?«, wollte Engelmeier wissen.

»Wie immer bei Tür eins«, sagte Gsida.

Vor einer braunen schäbigen Wohnungstür blieben sie stehen und Gsida klopfte an. Mit der Faust und so stark, dass sich die Türfüllung bedenklich nach innen bog und es drinnen unmöglich zu überhören war.

Beide waren kräftig gebaute Männer, Bodybuilder und, obwohl nicht mehr die jüngsten, Respekt einflößend.

Die Tür wurde geöffnet und ein junger Mann erschien. Als er sie erkannte, bekam sein zunächst fragender Blick etwas Furchtsames.

Engelmeier drängte ihn beiseite und schob sich in die Wohnung. »Zahltag«, brüllte er. »350 Euro Miete pro Nase, bitte.«

Gsida folgte ihm. Die Wohnung war klein. Eine schmale Küche mit einer nachträglich eingebauten Duschzelle und einer Waschmaschine daneben, die mit bedenklichem Kratzen der Trommel vor sich hin ratterte. Ein alter Gasherd und eine winzige Kochzeile. Auf dem Herd brodelte in einem uralten Topf eine Flüssigkeit, die nach Suppe aussah, aber für Gsida roch, als würden darin alte Socken ausgekocht.

Hinter der Küche lag ein Wohnraum, etwa 20 Quadratmeter groß. Jeweils zwei metallene Stockbetten an den Wänden links und rechts, dazwischen schmale Spinde. In der Mitte ein länglicher Tisch mit acht Stühlen. Drei Männer saßen am Tisch, drei weitere lagen in den Betten und dösten vor sich hin.

»Zahltag!«, schrie Engelmeier erneut, und die drei Männer krochen träge aus den Betten und kamen an den Tisch.

Es stank nach Schweiß, alter Schmutzwäsche, gebratenem Fleisch und der Brühe, die auf dem Ofen köchelte. Über und zwischen den Betten waren Leinen gespannt, auf denen vereinzelt Wäschestücke hingen. Mehrere Unterhosen, T-Shirts, zwei Hemden, eine alte Jeans.

Heute war der erste Dienstag im Monat – und jeder im Raum wusste, dass am ersten Dienstag im Monat die Miete im Voraus kassiert wurde. 350 Euro für ein Bett, einen Kasten, das Benutzen von Dusche, Waschmaschine, Küche und dem Klo auf dem Gang.

Gsida suchte einen sauberen Stuhl, setzte sich an den Tisch, öffnete seine Schreibmappe und holte eine Liste heraus, in der die aktuelle Belegung der Wohnungen in diesem Haus aufgeführt war. Wohnung 1: sieben vermietete Plätze, ein Bett frei.

Der junge Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, war der Erste, der seine Miete bezahlte. Er schob das Geld herüber, nannte seinen Namen und Gsida hakte ihn in der Liste ab. So kam einer nach dem anderen dran.

Die Männer waren dünn und abgezehrt, sahen müde aus, erschöpft, trugen Unterleibchen oder T-Shirts, Jeans oder lediglich Unterhosen. Die meisten von ihnen hatten Flip-Flops an den Füßen, einige standen barfuß im Zimmer. Es war heiß und stickig in der Wohnung, obwohl das einzige Fenster weit offen stand.

»Anjo Parvanov«, sagte Gsida so laut, dass ihn niemand überhören konnte. »Wo ist Anjo Parvanov? Der hat noch nicht bezahlt.«

Niemand rührte sich.

Gsida blickte in die Runde der Arbeiter. Keine Reaktion. Schnell zählte er sie durch, sieben Mann, und versuchte sich zu erinnern, wer ihm das Geld bereits hingelegt hatte. Der Typ, der sich an eines der Stockbetten drückte und so tat, als würde ihn das alles nichts angehen, war noch nicht bei ihm am Tisch gewesen, da war er sich ziemlich sicher. »Du, komm her!«

Der Mann folgte der Aufforderung zögerlich. Er war um die 30, trug ein dunkles, fleckiges T-Shirt und roch, als wäre er seit Tagen nicht mehr unter einer Dusche gewesen.

»Du bist Anjo Parvanov«, sagte Gsida, und es klang nicht wie eine Frage.

Der Mann nickte zögerlich. Offensichtlich hatte er erkannt, dass es sinnlos war, seine Identität zu leugnen.

»Woher kommst du?«

»Zhedna, Bulgarien«, antwortete Anjo Parvanov.

»Wo ist deine Miete?«

»Ich haben nix bekommen Geld«, stammelte er, strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte schuldbewusst zu Boden. »Können nix zahlen.«

»Was heißt, du hast kein Geld bekommen?«, fauchte ihn Engelmeier an, der sich neben den Mann gestellt hatte. »Wo arbeitest du?«

»Bei Firma Jungmann.«

»Die zahlt immer, wenn die Arbeit passt. Und wenn sie nicht passt und es kein Geld gibt, seid ihr selber schuld«, sagte Gsida. Er war ruhig und es war ihm völlig egal, dass sich der junge Bulgare wand wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er hatte kein Mitleid. Er hatte einen Job zu erledigen, und der bestand darin, die Miete einzukassieren. Alles andere interessierte ihn nicht. »Abgesehen davon ist es mir scheißegal, wo du dein Geld herbekommst. Du schuldest uns 350.« Gsida hob ihm die Hand entgegen als Zeichen, dass er erwartete, jetzt die Miete zu kassieren.

»Aber ich nix kann zahlen«, sagte der Bulgare mit einem unübersehbaren Anflug der Verzweiflung, der ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb.

Gsida blickte Engelmeier nur kurz an. Der verstand und schlug sofort zu. Er gab dem Bulgaren eine so kräftige Ohrfeige, dass dieser zur Seite taumelte, dann setzte er einen Schlag in den Magen nach, der dem jungen Mann die Beine einknicken ließ.

Sofort rumorte es in der Gruppe der Männer, die rund um sie herum im Raum standen.

»Du nix schlagen Anjo«, hörte Gsida einen der Arbeiter sagen. Ein anderer schrie: »Hey, was du machen?«, und ein Dritter: »Hören auf!« Sie rückten bedrohlich nahe an Engelmeier und Gsida heran. Als einer Klemens Engelmeier an die Schulter fasste, um ihn zurückzuziehen, schlug dieser ihm die Hand weg. Mit einer flüssigen Bewegung griff seine Rechte unter das Sakko und tauchte eine Sekunde später mit einer Pistole wieder auf. Der Lauf zeigte direkt auf das linke Auge des Mannes, der vor ihm stand.

»Greif mich nie wieder an«, zischte Engelmeier, »sonst mach ich dich kalt!«

Der Mann wich erschrocken einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

Engelmeier zielte drohend mit der Waffe auf jeden einzelnen der anwesenden Männer.

Gsida strich sich mit der Hand über seine Glatze, auf der sich ein feiner Schweißfilm gebildet hatte. Nicht aus Angst, sondern weil es im Raum so heiß war. Dann wandte er sich erneut an Parvanov, der sich langsam und mit zittrigen Knien erhob. »Wenn du nicht bezahlst, brechen wir dir die Nase oder schlagen dir ein paar Zähne aus. Mir fallen bestimmt noch mehr schöne Sachen ein, die wehtun, aber deine Arbeitsfähigkeit nicht einschränken. Oder wir schmeißen dich raus. Hast du das verstanden?«

Parvanov nickte. Sein Gesicht war blass, er blickte ängstlich auf die Waffe in Engelmeiers Hand.

»Fein, dann werden wir morgen wiederkommen und die Miete kassieren.«

»Und lass dir nicht einfallen, uns zu bescheißen, das haben schon andere versucht, und es hat ihnen nicht gutgetan. Legt euch nicht mit den falschen Leuten an, sonst geht es euch wie eurem Freund«, fügte Engelmeier hinzu.

Parvanov buckelte unterwürfig. »Ich bezahlen morgen«, versprach er mit leiser Stimme.

»Das ist gut.« Engelmeier klopfte ihm väterlich auf die Schulter, trat zwei Schritte zurück und senkte die Waffe.

Gsida und Engelmeier verließen die Wohnung im Rückwärtsgang. Draußen steckte Engelmeier die Waffe weg. Keiner von ihnen gab einen Kommentar zu dem ab, was gerade geschehen war. Es stellte für sie nichts Ungewöhnliches dar. Sie waren ein eingespieltes Team, und es war nicht das erste Mal, dass es beim Kassieren Schwierigkeiten gab. Davon ließen sie sich nicht abhalten, denn dafür waren sie angestellt worden. Sie waren schließlich keine Buchhalter in einem Scheißbüro!

Sie gingen zur nächsten Wohnung.

5.

»Hallo, wie geht’s?« Der Anrufer sprach mit der gekünstelten Umgänglichkeit eines Vertreters, der ihm übers Telefon eine Versicherung aufschwatzen wollte. Und er hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen, offenbar ging er davon aus, dass er wusste, wer sich am anderen Ende der Leitung befand. Zumindest damit hatte er recht.

»Mir geht’s gut«, antwortete er gereizt. »Aber das interessiert dich wohl kaum. Was willst du?« Sein Gesprächspartner rief nie an, um übers Wetter oder andere Nebensächlichkeiten zu plaudern. Es war unter seiner Würde, mit ihm zu reden. Vielleicht fühlte er sich dadurch schmutzig. Oder er hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht fühlte sein Gesprächspartner im Innersten, dass er sich nicht mit ihm abgeben durfte.

Der andere zögerte. Überlegte vermutlich, was er ihm sagen sollte. »Da läuft ein Typ rum und stellt blöde Fragen.«

Die Stimme seines Gesprächspartners wirkte plötzlich unsicher und zittrig. Das entsprach nicht dem Bild, das er in der Öffentlichkeit vermittelte. Dort trat er souverän auf, ganz der Mann von Welt, wie man es von ihm erwartete. Aber jetzt, wo es um seinen Hals ging, oder wo er glaubte, dass es darum ging, gab er die erbärmliche Karikatur eines Mächtigen ab, der Angst um seine Zukunft hatte.

Er hasste es, wenn sein Gesprächspartner sich so kryptisch äußerte. »Und welche blöden Fragen sind das?«

»Er wollte etwas über das Projekt Wiesengasse wissen«, kam eine leise Antwort, »und über die Theresienhofgasse.«

Das war nicht gut. Er konnte sich gut vorstellen, was genau diesen Typen an den beiden Projekten interessierte. Aber das jetzt zu besprechen, hielt er für keine gute Idee. Er hasste es, solche Gespräche am Telefon zu führen. Er hatte zwar keine Angst davor, abgehört zu werden, dafür nahm er sich nicht wichtig genug, trotzdem konnte man nie wissen. Möglicherweise war die Korruptionsstaatsanwaltschaft oder das Bundesamt zur Korruptionsbekämpfung an seinem Gesprächspartner dran und hörte diesen ab. Immerhin war der um einiges exponierter als er selbst. Und wenn dann am Telefon Dinge besprochen wurden, die als Beitrag zu einer Straftat gewertet werden könnten, hätte das ungute Folgen für ihn.

»Ist der Typ ein Reporter?«, fragte er nach.

»Ich weiß es nicht. Er hat mit meiner Assistentin wegen eines Termins gesprochen. Und mit dem Bauamt. Dort wollte er sich ebenfalls mit einem Verantwortlichen unterhalten. Aber er hat nicht gesagt, ob er von der Presse kommt.«

Natürlich nicht. Es war jedoch ziemlich wahrscheinlich. Wäre der Typ ein Polizist gewesen, hätte er sich legitimiert. Oder es war jemand von der Konkurrenz, auch das wäre möglich.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er. Er hatte gute Lust hinzuzufügen: Soll ich ihm die Beine brechen oder soll ich ihn umlegen? Er wusste, dass diese Äußerung den anderen schockieren würde. Sein Gesprächspartner war ein Schwächling. Er ließ sich zwar bereitwillig schmieren, hatte aber keine Nerven. Und er brauchte jemanden, der für ihn die Drecksarbeit erledigte, wenn etwas schiefging. Sich nur nicht selber die Finger schmutzig machen. Nach außen immer sauber bleiben. Dafür verachtete er ihn. Doch er verbiss sich eine Bemerkung. »Hast du nähere Informationen über den Kerl? Name, Adresse oder so?«

»Ja, habe ich.«

Er überlegte. Zuerst musste er wissen, woher dieser Typ kam und was er wollte. Dann konnte man geeignete Maßnahmen ergreifen. Vielleicht war die Sache ganz einfach aus der Welt zu schaffen. Ohne viel Aufsehen. Solche Probleme waren schon öfters aufgetaucht. Bisher hatten sie jedes Mal eine brauchbare Lösung gefunden. Auch wenn die nicht immer astrein war. Dieses Risiko brachten ihre Geschäfte mit sich. Da konnte man nicht immer den geraden, ehrlichen Weg gehen. »Ich kümmere mich darum«, sagte er. »Schick mir die Informationen, die du hast.«

»Mach ich.« Der andere klang erleichtert und fügte fast unterwürfig hinzu: »Danke für deine Hilfe.«

»Ich tu das nicht nur für dich«, brummte er. Wie er diesen Schleimer hasste! »Wir hängen da alle mit drin.«

6.

»Irgendwann kommen die große Abrissbirne und die Bagger, und dann werden hier bald schöne Neubauten mit tollen Wohnungen für unsere jungen Familien stehen«, merkte Radek an, als sie vor dem Haus an der Ecke Kerensstraße/Maximilianstraße standen.

Das Gebäude war das einzige verbliebene auf einer großen Fläche Brachland. Rundum war bereits alles abgerissen worden. Wie ein einsamer letzter Zahn in einem verfaulten Gebiss. Ein dreistöckiges Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, und es schien, als würde es von innen heraus verrotten. Radek und Neumann hatten das Gefühl, gegen eine Wand aus purem Gestank zu laufen, die unmittelbar hinter dem Haustor lauerte.

»Suchen wir hier nach einer Leiche, oder was?«, fragte Neumann und verzog das Gesicht.

»Keine Ahnung«, antwortete Radek verunsichert. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in diesem Drecksloch jemand wohnte. Aber aus dem ersten Stock kam Lärm, laute Männerstimmen. Er holte die Kopie des Meldezettels aus seiner Tasche und überprüfte die Adresse. Sie stimmte.

Neumann ging vor und betrat als Erster den Innenhof. Dort standen zwei große Mülltonnen, die bis zum Überlaufen gefüllt waren, dazwischen und daneben riesige Berge aus Müllsäcken, zum Teil aufgeplatzt, umgefallen und halb entleert. Er fluchte leise. »Das erinnert mich an die Hausräumungen in Wagram vor einigen Jahren«, sagte er. »Aber das waren Abbruchhäuser, die besetzt worden sind und bei denen es keine Infrastruktur mehr gegeben hat. Das hier ist ein normales Wohnhaus.«

»Oder sollte es sein«, ätzte Radek.

»Schauen wir mal nach der Wohnung von diesem Tirla«, schlug Neumann vor und ging voran, rechts über einige Stufen in einen Gang, von dem aus das Treppenhaus hochführte. Der Lärm von oben wurde lauter.

Sie hatten am Morgen mit Pirker gesprochen. Solange Tirla nicht vernehmungsfähig und der Tathergang nicht geklärt sei, bleibe der Fall in ihrer Zuständigkeit, hatte ihr Gruppenführer entschieden. Enttäuscht hatten Radek und Neumann anschließend in ihrem Büro besprochen, wo sie anfangen wollten. Der Bericht der Streifenpolizisten enthielt nichts, was die Tat erklärte. Außer Radu Tirla gab es daher niemanden, der ihnen weiterhelfen konnte. Die beiden hatten keine Ahnung, was passiert war und wo sie mit ihrer Ermittlung beginnen sollten. Letztendlich hatten sie sich für drei erste Schritte entschieden: Tirlas Wohnadresse aufzusuchen und dort mit Nachbarn zu reden, sich den Tatort anzusehen und schließlich mit Klaus Winkler zu sprechen, dessen Visitenkarte sie bei Tirlas Sachen gefunden hatten. Das waren ihre einzigen drei Ansatzpunkte.

Vom Treppenabsatz im ersten Stock aus sahen sie auf dem Gang mehrere Männer stehen und rauchen. Sie waren in eine aufgeregte Diskussion verstrickt. Radek verstand nicht, was sie sagten. Sie redeten in einer slawischen Sprache. Scheinbar waren hier ausländische Arbeiter untergebracht. Als die Männer sie bemerkten, verstummte das Gespräch für einen Moment und die Beamten wurden misstrauisch gemustert. Radek und Neumann gingen weiter, und die Unterhaltung setzte unvermittelt in gleicher Lautstärke wieder ein.

Tirlas Wohnung befand sich im zweiten Stock. Dort lag zwar kein Müll auf dem Gang, dennoch war der Geruch nicht viel besser, trotz eines geöffneten Fensters. Wahrscheinlich zog er vom Innenhof herein.

»Hier.« Radek deutete auf die Türnummer und Neumann klopfte kräftig. Sie machten sich nicht viel Hoffnung, dass jemand zu Hause war. Tirla lag im Krankenhaus, und wenn er die Wohnung mit jemandem teilte, waren die Mitbewohner um diese Zeit am späten Vormittag vermutlich bei der Arbeit.

Doch die Tür wurde geöffnet und ein etwa 50-jähriger Mann in schmutzigem T-Shirt und Jogginghose öffnete ihnen. Er hustete in ein Taschentuch und schaute sie fragend an.

»Polizei«, sagte Radek und zeigte dem Mann seine Marke. »Wohnt hier Radu Tirla?«

Der Blick des Mannes hing wie gebannt am Dienstabzeichen und wurde ängstlich. »Nix verstehen«, antwortete er zögerlich.

Radek zeigte dem Mann das Bild auf seinem Handy, das er von Tirlas Passfoto gemacht hatte. »Das Radu Tirla.« Er deutete auf das Foto. »Er hier wohnen?«

»Ah, Radu«, sagte der Mann und verfiel dann in seine Muttersprache.

»Deutsch«, bat ihn Neumann. »Sprechen Sie Deutsch?«

»Nix gut Deutsch«, antwortete der Mann.

»Radu Tirla – hier wohnen?«, versuchte es Radek noch einmal.

Der Mann nickte. »Ja, Radu hier wohnen. Kommen.« Er bat sie mit einer ausladenden Geste in die Wohnung und hustete wieder ins Taschentuch, während die beiden Polizisten eintraten.

Es stank nach Schweiß, alter Wäsche und Essen. Der Mann führte sie durch eine vollgeräumte Küche in einen Wohnraum, der kaum Platz zum Umdrehen bot. Vier Stockbetten standen an den Wänden, dazwischen schmale Blechspinde und ein Tisch mit Stühlen. Über den Betten waren Wäscheleinen gespannt, auf denen einzelne Kleidungsstücke hingen. Er deutete auf die Stühle, woraufhin sich alle drei an den Tisch setzten.

»Alle Arbeit«, sagte er und zeigte auf die leeren Betten. »Nur ich da. Ich krank. Heute nix Arbeit. Morgen wieder, wenn besser.« Wie zur Bestätigung hustete er neuerlich.

Wir machen keine Krankenstandskontrolle, wollte Radek erwidern, unterließ es aber.

»Woher kommen Sie?«, fragte Neumann langsam.

Der Mann hörte aufmerksam zu und antwortete voller Freude: »Rumänien. Alle in Wohnung kommen Rumänien.« Er ging zu seinem Bett, kramte aus dem Spind daneben einen Zettel und reichte ihn den Polizisten. Es war eine Meldebestätigung.

Neumann notierte die Daten des Mannes. Sein Name war Mitica Vladescu. »Alles in Ordnung«, sagte er lächelnd.

»Nix illegal. Ich ordentlich arbeiten. Alle ordentlich arbeiten. Auch Radu.« Er zeigte auf das Handy, das Radek noch in der Hand hielt. »Aber Radu nix da. Nix kommen gestern. Ich nix wissen, wo ist. Keiner wissen, wo ist.«

Radek erklärte dem Mann in kurzen und, wie er hoffte, verständlichen Sätzen, was geschehen war.

Vladescu setzte sich wieder, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schaute Radek anschließend ungläubig an. »Radu kaputt? Große Unglück!«

»Wieso?«

»Radu immer helfen uns.«

»Helfen wobei?«

Vladescu suchte nach den richtigen Worten. »Bei Arbeit, bei bekommen Geld, bei Chef. Wenn Chef böse und Streit mit Chef, Radu helfen.«

Neumann warf Radek einen fragenden Blick zu und zuckte unmerklich mit den Schultern. Er wurde aus dem, was der Mann erzählte, genauso wenig schlau wie Radek.

»Wann haben Sie Radu Tirla zum letzten Mal gesehen?«, fragte Radek langsam und jedes Wort betonend. Vielleicht konnten sie noch mehr von dem Mann erfahren, auch wenn die Verständigung sehr schwierig war.

Vladescu dachte nach. »Montag, wenn gehen in Arbeit«, antwortete er. »Dann Radu nix mehr kommen.«

»Wissen Sie, wo Radu arbeitet?«

Eifrig nickte der Mann. »Ja, bei Firma Jungmann. Baufirma. Radu machen Maurer. Ich auch arbeiten da. Auf Baustelle. Auch Maurer.«

»Wo sind Radus Sachen?«, fragte Neumann.

Vladescu zeigte ihnen das Bett, es war halbwegs ordentlich gemacht. Daneben ein Kasten, allerdings mit einem Vorhängeschloss abgesperrt.

Radek verfluchte sich im Stillen. Warum hatten sie die Schlüssel von Tirlas Kram im Krankenhaus nicht mitgenommen? »Hatte Radu in den letzten Tagen mit jemandem Streit? Bei der Arbeit oder hier im Haus?«

Wieder dachte der Mann lange nach, bevor er antwortete. »Nein, nix Streit. Nur mit Bulgaren manchmal viel Problem. Wegen Arbeit. Sonst nix Streit.«

»Wo sind diese Bulgaren?«, hakte Neumann sofort nach.

»Erste Stock und Gang am Boden. Da Bulgaren. Hier und oben Rumänen.« Er deutete an die Decke.

Ethnisch streng getrennt, dachte Radek. »Wohnen im ganzen Haus Arbeiter wie Sie?«

»Ja, alles wohnen Arbeiter. Alles machen gute Arbeit.«

»Bei Jungmann?«

»Ja, bei Jungmann und andere Firma.«

Mehr fiel Radek nicht mehr ein. Alle anderen Fragen waren schwieriger. Für die müssten sie mit einem Dolmetscher anrücken, um brauchbare Antworten zu bekommen. Einen Moment lang überlegte er, ob er das dem Mann ankündigen sollte, ließ es aber bleiben. Er würde seine Mitbewohner ohnehin über ihren Besuch informieren, und ihnen allen würde schnell klar sein, dass die Polizisten sicher noch einmal auftauchten.

Sie verabschiedeten sich und der Rumäne brachte sie bis zur Tür.

Im ersten Stock diskutierten die Männer von vorhin noch immer.

»Das müssen ein paar der Bulgaren sein, von denen der Rumäne gesprochen hat«, merkte Neumann an. »Ob die auch krank sind?«

»Vielleicht haben sie einen freien Tag oder arbeiten in der Spätschicht. Kann uns doch egal sein«, erwiderte Radek. »Fragen wir sie nach Tirla.«

Sie steuerten auf die Gruppe zu. Es waren fünf Männer. Radek schätzte ihr Alter von Mitte 20 bis Ende 40.

Als Neumann ihnen seine Kokarde zeigte, die ihn als Polizisten auswies, wurden ihre Blicke misstrauisch.

Radek hatte keine Lust, lange um den heißen Brei herumzureden. Außerdem wollte er das Überraschungsmoment ausnutzen. Er zeigte ihnen das Handyfoto von Tirla.

Sofort sagten die Männer etwas in ihrer Muttersprache, alle gleichzeitig.

»Kennen Sie diesen Mann?«, fragte Neumann streng.

»Radu«, antwortete einer von ihnen und fügte etwas auf Bulgarisch hinzu, das nicht wie ein Kompliment klang.

»Können Sie uns etwas über Radu erzählen?«

Einer der Umstehenden drängte sich vor, es war ein jüngerer Mann in schwarzem T-Shirt und einer verschlissenen, um gut eine Nummer zu großen Jeans.

»Radu Arschloch-Rumäne. Immer machen Streit. In Arbeit und in Haus. Nix gut, diese Radu. War nix zufrieden, mit was hatte. Arschloch-Rom, immer wollen mehr.«

Wieder sprachen alle auf Bulgarisch durcheinander, offensichtlich schimpften sie auf Radu Tirla, bis Neumann sie energisch aufforderte, deutsch zu reden.

»Nur Probleme mit Radu. Sollen gehen heim nach Rumänien. Nix brauchen hier Radu«, sagte ein älterer Arbeiter und fluchte erneut im Chor mit den anderen.

»Hatten Sie Streit mit Radu?«, fragte Radek.

»Immer Streit. Radu nix zufrieden mit Arbeit, mit Wohnung, mit zahlen. Immer sagen, Geld zu wenig, nix gut. Wir arbeiten und bekommen Geld und zufrieden, und Radu nix zufrieden. Immer machen Streit auf Baustelle und in Haus.«

Dann sagte er etwas zu den anderen. Vermutlich übersetzte er, was gerade gesprochen worden war, und die übrigen Männer fielen in seine Unmutsäußerungen ein.

»Warum genau hattet ihr Streit?«, hakte Radek nach. »Und welche Probleme machte er?«

»Ja, immer machen Probleme. Radu nix gut. Nix zufrieden«, wiederholte der Bulgare. Offenbar konnte oder wollte er Radeks Fragen nicht beantworten.

»Hauen wir ab, das bringt nichts«, sagte Neumann. »So kommen wir keinen Schritt weiter.«

Gerade als sie sich zum Gehen wandten, hielt sie der junge Bulgare zurück. »Warum du fragen über Radu? Er machen Probleme mit Polizei? Dann schicken heim. Schnell.«

»Er liegt im Krankenhaus«, antwortete Radek, weil er die Reaktion der Männer sehen wollte. »Er wurde überfallen und schwer verletzt.«

Es dauerte einen Moment, bis der Junge begriff. Er zuckte nur mit den Schultern. »Auch gut. Wichtig, Radu nicht mehr kommen und machen Probleme.«

Radek und Neumann gingen.

»Viel schlauer sind wir nicht. Aber zumindest ist klar, warum es hier so aussieht«, sagte Radek, als sie die Treppe hinunterstiegen. »Das ist eine Massenunterkunft. Überbelegte Wohnungen, viel zu viele Leute für die Infrastruktur des Hauses. Deshalb der ganze Müll im Innenhof.«

»Und die verheerenden Zustände und der Gestank. Wir sollten eine Meldung wegen sanitärer Übelstände machen«, schlug Neumann vor.

Auf der Straße zündete sich Radek eine Zigarette an. Langsam schlenderten sie zu ihrem Dienstwagen.

»Hey Alder, wenn du machen Probleme, wir dich machen Krankenhaus.« Neumann schüttelte den Kopf. »So sieht’s aus, Fall gelöst. Gibt’s mit einem Schwierigkeiten, bekommt er Prügel.«

»Glaubst du im Ernst, dass ihn die Bulgaren so zugerichtet haben?«

»Warum nicht? Wir sollten alle vorladen und mit einem Dolmetscher vernünftig befragen.«

Radek wusste, was das bedeutete. Wenn in dem Haus geschätzt 20 Wohnungen mit jeweils acht Gastarbeitern angefüllt waren, mussten sie 160 Leute mit einem Übersetzer einvernehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas Brauchbares herauskam, ging nahezu gegen null. Sie würden eine Menge Zeit und Dolmetscherhonorar verschwenden und möglicherweise keinen einzigen verwertbaren Hinweis bekommen. »Nein, das wird so nicht funktionieren«, erwiderte er. »Wir sollten die Mitbewohner von Tirla mit einem Dolmetscher befragen, damit wir mehr Einblick in die Hintergründe bekommen. Dann können wir immer noch gezielt einzelne Leute holen und einvernehmen.«

7.

Radek und Neumann wurden sich schnell einig, dass sie dem Vermieter einen Besuch abstatten sollten. Nicht, weil sie vermuteten, dass der mit der ganzen Sache etwas zu tun haben könnte, sondern weil sie neugierig darauf waren, wer Häuser so verkommen ließ und trotzdem Menschen darin unterbrachte. Auf der Meldebestätigung, die sich unter Tirlas Sachen befunden und die Radek kopiert hatte, war als Vermieter die »Sulzer Arbeitsvermittlung und Immobilienverwaltung GmbH« angeführt. Im Internet fanden sie rasch die dazugehörige Adresse.

Auf der Fahrt dorthin fragten sie sich, welche Tatbestände mit dieser Massenunterkunft erfüllt wurden, kamen aber auf keine brauchbaren Ergebnisse. Außer, dass die üblen hygienischen Zustände einen Anlass für behördliches Einschreiten boten.

Die beiden Polizisten waren nicht zum ersten Mal mit solchen Unterkünften konfrontiert. Während ihrer Zeit als Streifenpolizisten hatten beide mit solchen Dingen zu tun gehabt. Das System war einfach. Ein windiger Hausbesitzer vermietete Schlafplätze in überfüllten Wohnräumen an ausländische Arbeiter und machte damit eine Menge Geld. Die Arbeiter bezahlten für ein Bett überteuerte Preise. Meist waren es illegale Ausländer ohne Arbeitserlaubnis. Sie schufteten als Tagelöhner, boten sich auf mehreren Arbeiterstrichen an und wurden von Firmen oder Privatleuten als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Auf dem Bau, als Erntehelfer, wo auch immer.

Soweit Radek sich erinnern konnte, waren zumeist die fremdenrechtlichen Bestimmungen und Verstöße gegen das Meldegesetz Anlass für das Einschreiten der Polizei gewesen. Aber wie er die Lage in der Kerensstraße einschätzte, schien die Situation dort anders zu sein. Rumänen und Bulgaren waren Angehörige der EU, genossen dadurch Reisefreiheit und durften sich problemlos und ganz legal in Österreich aufhalten. Sie waren ordnungsgemäß gemeldet, und offensichtlich war ihnen eingetrichtert worden, auf ihre Meldebestätigungen achtzugeben und sie bei Kontrollen artig vorzuweisen. Damit konnte ihnen die Polizei nichts anhaben. Für alle anderen Dinge waren die Stadt, die Arbeitsinspektorate, Finanzbehörden oder die Sozialversicherungen zuständig. Bei diesem Kompetenzgewirr konnte man leicht auf der illegalen Seite des Arbeitsmarktes existieren, ohne großartig aufzufallen.

Die Sulzer Arbeitsvermittlung GmbH befand sich in der Josefstraße. Der Eingangsbereich war unscheinbar, nur ein dezentes Firmenschild wies auf das Unternehmen hin.

Der Empfang sah aus wie in einer Arztpraxis. Links und rechts an den Wänden standen kurze Sesselreihen für die Wartenden, dazwischen befand sich ein brusthohes Pult, hinter dem zwei Damen regierten. Die eine war um die 30, die andere deutlich älter. Beide vermittelten den Eindruck geschäftiger Beflissenheit, obwohl Radek und Neumann im Moment die einzigen Anwesenden waren. Nachdem die Frauen sie bemerkt hatten, warfen ihnen beide einen abschätzenden Blick zu. Vermutlich fragten sie sich, ob die beiden Männer erwarteten, hier eine Arbeit zu finden.

»Was können wir für Sie tun?«, wandte sich die Jüngere an sie.

Sie hatte einen schiefen Mund, trotzdem war sie nicht unhübsch. Schwarzes Haar in einem strengen Pagenschnitt rahmte ihr Gesicht ein.

Ich kommen, suchen Arbeit, nix können, nur Polizei, wollte Radek sagen, verkniff es sich aber, zog die Dienstmarke aus der Tasche und stellte sich und Neumann brav als Polizeibeamte vor.

Nun wurde auch die Ältere aufmerksam und betrachtete die Ankömmlinge misstrauisch. Die Polizei war hier wohl nicht gerne gesehen.

Das geschäftsmäßige Lächeln der Schwarzhaarigen fror ein. »Was führt Sie zu uns?«, fragte sie.

»Wir würden gerne Ihren Chef oder die Chefin sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«, fragte die Schwarzhaarige schnippisch.

»In geschäftlicher«, entgegnete Neumann im gleichen Tonfall.

»Ich weiß nicht, ob Herr Sulzer Zeit hat«, versuchte die ältere Frau sie abzuwiegeln.

»Dann soll er sie sich nehmen«, mischte Radek sich ein.

Die Schwarzhaarige griff zum Telefon, drückte eine Kurzwahltaste und sagte nach einem Moment des Wartens: »Herr Sulzer, hier sind zwei Herren von der Polizei, die Sie gerne sprechen wollen … Nein, sie haben nicht gesagt, weswegen … Ja, das mache ich.«

Sie legte auf, lächelte eisig und wies Radek und Neumann in einen Gang auf der linken Seite. »Bitte, dort entlang, dritte Tür rechts.«

Die beiden Polizisten murmelten ein »Danke« und folgten ihrer Wegbeschreibung. Durch die Milchglasfenster fiel von der Straße her trübes Licht. Die Wände waren weiß gestrichen, ein weicher, dunkelblauer Teppichboden dämpfte dezent ihre Schritte. Radek las neben den ersten beiden Türen auf Schildern »Buchhaltung« und »Hausverwaltung«. An der dritten Tür stand »Geschäftsleitung, Armin Sulzer«.

Neumann klopfte und trat ein, ohne auf ein »Herein« zu warten.

Zwei Männer befanden sich im Büro und verabschiedeten sich gerade voneinander.

»Wir telefonieren in dieser Sache noch«, sagte der eine hinter dem Schreibtisch, und der andere antwortete mit einem dumpfen »Okay«, drehte sich um, grüßte die Ankömmlinge mit einem kurzen Nicken und einem schnell hingeworfenen »Guten Tag« und zwängte sich an ihnen vorbei aus dem Büro. Er war groß, kräftig gebaut und sah aus wie eine kahl geschorene Version des Terminators, den man in einen schlecht sitzenden Anzug gezwängt hatte.

Vielleicht gibt es für Leute mit dieser Figur keinen Anzug von der Stange, dachte Radek.

Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte sie freundlich an. »Bitte, meine Herren, nehmen Sie Platz.« Er wies auf die zwei Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Mein Name ist Armin Sulzer«, stellte er sich vor, fand es aber nicht der Mühe wert, ihnen die Hand zu geben, bevor er sich setzte. »Was kann ich für Sie tun?«

Sulzer war von ähnlicher Gestalt wie der Besucher vorhin, nicht so austrainiert, dennoch groß und kräftig. Sein Sakko spannte deutlich um die Schultern. Er trug keine Krawatte, dafür glitzerte an seinem Hals eine breite Goldkette. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar war gegelt und in kunstvolle Unordnung gebracht, was ihm einen jugendlichen Anstrich verlieh. Radek schätzte Sulzer auf Ende 30.

»Es geht um eine Ihrer Liegenschaften«, begann Radek. »Um das Haus in der Kerensstraße.«

Sulzer beobachtete sie aufmerksam. Dessen Freundlichkeit konnte Radek nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dahinter eine große Portion Argwohn verbarg.

»Was ist damit? Gibt es dort Probleme, die die Polizei interessieren?«, fragte Sulzer vorsichtig.

Radek ignorierte die Frage. »Können Sie mir etwas über dieses Haus erzählen? Über seine Verwendung zum Beispiel und in wessen Besitz es sich befindet?«

»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«, wich Sulzer aus.

»Ja, den gibt es«, antwortete Neumann streng. »Würden Sie bitte unsere Fragen beantworten?«

Sulzer überlegte und versuchte die Situation einzuschätzen. Wahrscheinlich fragte er sich, ob es Sinn machte, mit den beiden Polizisten einen Streit anzufangen. »Einen Moment bitte«, sagte er dann, wandte sich dem Computer zu, klickte und tippte herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Das Haus in der Kerensstraße gehört einer Investmentgruppe. Es wird derzeit an ausländische Arbeitskräfte vermietet.«

»Welcher Investmentgruppe?«, bohrte Radek nach.

»Austria-Invest«, lautete die knappe Antwort.

»Können Sie uns dazu Details geben?«

Sulzer blickte ihn missfällig an und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber Kundendaten gebe ich Ihnen nur mit einem Beschluss vom Gericht.«

Sulzer war also nicht unerfahren, was diese Dinge betraf, dachte Radek.

»Vermieten Sie alle Häuser, die Sie verwalten, als Massenunterkünfte?«, fragte Neumann trocken und wechselte damit das Thema.

»›Massenunterkünfte‹ scheint mir etwas übertrieben zu sein«, entgegnete Sulzer. »Die Mieter leben in Wohngemeinschaften. In billigen Quartieren. Es sind ausländische Arbeitskräfte aus dem EU-Raum. Sie wollen hier Geld verdienen und möglichst viel davon für ihre Familien in den Herkunftsländern sparen. Deswegen suchen sie preisgünstige Unterkünfte. Und die stellen wir ihnen zur Verfügung.«

»Ich vermute, dass Sie Ihren Mietern auch gleich die Arbeit dazu vermitteln?« Radek konnte seinen Sarkasmus nicht verbergen.

Sulzer ließ sich davon nicht irritieren. »Wenn es geht, ja. Hören Sie, diese Leute sind alle legal im Land, haben ein ordnungsgemäßes Mietverhältnis und sind aufrecht gemeldet. Da stecken keine krummen Geschäfte dahinter, falls Sie das vermuten. Und dass ich den Leuten Arbeit vermittle, ist Teil meines Geschäfts. Spricht etwas dagegen?«

Radek schüttelte den Kopf. »Nein. Können Sie uns dieses Geschäft näher erklären?«

Sulzer fasste sich kurz. »Es ist ganz einfach. Ich vermiete preisgünstige Unterkünfte in verschiedenen Liegenschaften an ausländische Arbeiter. Gleichzeit vermittle ich vielen dieser Mieter Arbeit auf dem österreichischen Arbeitsmarkt.«

»Und Arbeitsbewilligungen?«

»Sofern sie welche brauchen, müssen sie sich selbst darum kümmern. Aber wir beraten sie dabei.«

»Gegen Gebühr?«

»Wenn sie eine Beschäftigung finden, kassieren wir natürlich eine Provision. Wir sind nicht das Arbeitsmarktservice oder die Caritas. Wir müssen ja unsere Unkosten hereinbringen.«

»Selbstverständlich.«

»Kennen Sie die Zustände in Ihren Häusern?«

»Teilweise.«

»In der Kerensstraße grenzen sie unseres Erachtens an einen sanitären Übelstand. Wir haben beim Herfahren überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, eine entsprechende Meldung an die zuständige Magistratsabteilung zu machen.«

Sulzer blickte zwar überrascht, ließ sich von Radeks Androhung jedoch nicht weiter beeindrucken. »Davon weiß ich nichts. Woher denn? Ich kümmere mich nicht um solche Details.«

Natürlich nicht, dachte Radek, du kümmerst dich nur ums Geld.

»Aber danke für den Hinweis. Ich werde sofort veranlassen, dass jemand hinfährt und sich die Sache vor Ort ansieht. Sollten in dem Haus wirklich solche Zustände herrschen, wie Sie sagen, werden wir das schnellstens beheben. Wir legen Wert darauf, dass bei uns alles tadellos ist. Doch manchmal haben unsere ausländischen Mieter … wie soll ich sagen … eine andere Auffassung von Ordnung und Reinlichkeit, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Selbstverständlich, wir haben nichts anderes vermutet.« Auch Neumann konnte eine sarkastische Bemerkung nicht unterdrücken.

»Leben in diesen Häusern nur Ausländer?«, fragte Radek.

»Nein, auch österreichische Mieter.«

»Gibt es da keine Nutzerkonflikte?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Und zwischen den ausländischen Mietern? Immerhin leben sie in sehr beengten Verhältnissen. Kommt es manchmal zu Streitereien?«

Sulzer zuckte die Schultern. »Ja, das passiert schon mal. Aber das sind eher Kleinigkeiten. Nichts, worum sich die Polizei kümmern müsste.«

Radek zog sein Handy aus der Tasche und zeigte Sulzer das Foto von Tirla. »Kennen Sie diesen Mann?«

Sulzer betrachtete das Foto kurz und schüttelte den Kopf. »Nein. Sollte ich?«

»Das ist einer Ihrer Mieter: Radu Tirla.«

»Sie erwarten nicht ernsthaft, dass ich jeden unserer Mieter persönlich kenne.« Sein Spott tropfte förmlich aus dieser Feststellung.

»Das wäre zumindest hilfreich«, antwortete Neumann.

»Radu Tirla wurde vorgestern Abend auf offener Straße überfallen und übel zusammengeschlagen. Derzeit befindet er sich auf der Intensivstation im LKH im künstlichen Koma«, erklärte Radek.

Sulzer schien diese Neuigkeit nicht zu erschüttern. »Und was hat das mit mir zu tun?«

Darauf wusste Radek keine plausible Antwort. »Wir dachten, dass Sie uns als Hausverwaltung vielleicht weiterhelfen könnten.«

Sulzer verschränkte die Hände und beugte sich über den Schreibtisch. »Hören Sie, Herr Bezirksinspektor. Wir verwalten ungefähr 50 Objekte von unterschiedlicher Größe und Art für unterschiedliche Kunden in dieser Stadt. Das beginnt bei Zinshäusern mit billigem Wohnraum und geht bis zu hochpreisigen Anlageobjekten für Investoren. Vorsorgewohnungen, wenn Sie so möchten. Ich kenne nicht jedes Haus und seine Bewohner. Unabhängig davon gibt es auf dem Sektor des günstigen Wohnraums eine hohe Mieterfluktuation, wie Sie sich vorstellen können. Also, wenn Sie bestimmte Details brauchen, muss ich Sie an meine Mitarbeiter verweisen, die die Hausverwaltung erledigen. Da kann ich Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen.«

»Es geht uns nicht um Details«, entgegnete Radek. »Soweit wir gesehen haben, herrschen in der Kerensstraße sehr beengte Wohnverhältnisse, dazu beschränkte Ressourcen. Wir würden gerne Ihre persönliche Einschätzung zum möglichen Konfliktpotenzial in Ihren Mietobjekten hören.«

»Wie gesagt, manchmal gibt es Probleme zwischen den Arbeitern. Jedoch nicht wegen der Wohnsituation, darüber hat sich noch nie jemand beschwert. Es sind Konflikte ethnischer Natur, Bulgaren gegen Rumänen, Slowaken gegen Ungarn, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Radek nickte.

»Außerdem spielt Konkurrenz eine Rolle. Die Leute arbeiten häufig im Baugewerbe und auf den gleichen Baustellen, jedoch in unterschiedlichen Berufen. Maurer, Zimmerer, Eisenbieger, Fliesenleger und was weiß ich, als was. Wenn bestimmte Berufsgruppen bevorzugt und besser bezahlt werden, steigt der Neid, und das führt manchmal auch zu Auseinandersetzungen.«

»Zu gewaltsamen?«

Sulzer nickte. »Ja, auch. Wir hatten bereits mehrere Raufereien zwischen Bulgaren und Rumänen, bei denen wir Polizei und Rettung brauchten.«

»In der Kerensstraße?«, fragte Neumann.

»Nein, in anderen Objekten.«

»Können Sie sich vorstellen, dass hinter dem Überfall auf Radu Tirla ein solches Motiv steckt?«

Sulzer zuckte die Schultern. »Möglich wäre es, sogar wahrscheinlich. Wo ist das passiert? Im Haus?«

»Nein, in der Nähe.«

»Dann scheint es mir sogar sehr wahrscheinlich. Keiner will die Polizei im Haus haben. Wenn sie diesem – wie hieß er, Tirla? – eine Abreibung verpassen wollten, haben sie das sicher auf offener Straße getan. So gesehen könnte es sich durchaus um eine Sache zwischen Bulgaren und Rumänen handeln.«

Radek hatte den Eindruck, als wollte Sulzer nur das bestätigen, was sie ihm vorschlugen. In Wirklichkeit war es ihm scheißegal, was passiert war. Hätten sie die Vermutung geäußert, dass es sich um ein postkommunistisches Attentat handelte, hätte Sulzer vermutlich ebenfalls Gründe gefunden, um einen solchen Verdacht zu bestätigten.

»Haben Sie sonst noch Fragen an mich? Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen in dieser Angelegenheit weiterhelfen kann.«

Radek hätte zwar gerne noch nach dem Charakter der GmbH gefragt, nach den anderen Gesellschaftern und weiteren Details der Unternehmenskonstruktion, doch er wusste, dass er darauf nicht mehr Antworten bekommen würde, als er im Firmenbuch finden konnte, deshalb ließ er es bleiben. Dass die Art von Sulzers Geschäften ihm moralisch miserabel erschien, war kein Anhaltspunkt. Auch die Geschäfte vieler Bankkonzerne waren fragwürdig und niemand kümmerte sich darum. »Sie haben uns schon weitergeholfen, danke«, sagte er.

Zumindest hatten sie ihre Neugierde befriedigt und denjenigen kennengelernt, der mit Billigschlafplätzen für ausländische Arbeiter gute Geschäfte machte.

8.

Die Leute am Tisch waren in eine mühsame Diskussion verstrickt, bei der er nicht mehr nachvollziehen konnte, warum sie so kompliziert geworden war. Eigentlich ging es nur um die Route und die Örtlichkeit einer Demonstration, die sie gegen die Beteiligung der Landesregierung an der bundesweiten Asylpolitik abhalten wollten. Mittlerweile gab es dazu mehrere Varianten.

Vom Hauptbahnhof durch die Fußgängerzone in der Kremser Gasse und die Wiener Straße weiter bis zum Regierungsviertel, wo die Abschlusskundgebung stattfinden sollte. Oder eine Standkundgebung im Regierungsviertel, am Franz-Schubert-Platz oder direkt in der Neuen Herrengasse. Oder, und das war sein Vorschlag gewesen, weil er bezweifelte, dass die Polizei die Demonstranten bis ins Regierungsviertel lassen würde, eine Rundwanderung. Zuerst über den Niederösterreichring, dann auf die Franz-Josef-Promenade und an der Traisen entlang, schließlich über die B1 zum Ausgangspunkt zurück. Zehnmal das Regierungsviertel auf dieser Route umkreisen, die Demonstrationskette würde sich, je nach Teilnehmerzahl, in die Länge ziehen und vielleicht einen Kreis bilden, der den Verkehr in diesem Bereich lahmlegen würde.