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Eine Frau wird in der Nähe des Rheins tot aufgefunden, am Tatort können kaum Spuren gesichert werden. Lou Vanheyden und Maline Brass nehmen die Ermittlungen auf, können aber nicht verhindern, dass weitere Morde geschehen, die dieselbe Handschrift tragen. Als schließlich eine junge Frau verschwindet, kommen die Kommissarinnen dem Täter auf die Spur - doch auch er kommt ihnen nah. Lebensgefährlich nah.
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Seitenzahl: 299
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Myriane Angelowski, geboren 1963 in Köln. Nach einem Jahr in Israel folgte ein Studium der Sozialarbeit und nach mehreren Jahren Arbeit als Referentin für Gewaltfragen 2001 die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als Coach. Sie lebt und arbeitet in Köln.
www.angelowski.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © mauritius images/Bridge Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-202-9 Köln Krimi Originalausgabe Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der Agentur Molden, Köln.
»Wenn wir einen Menschen hassen,
so sehen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt.
Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.«
Köln-Innenstadt, »Maxbar«
Küsse. Zu mehr ließ sich Karina nicht hinreißen. Nach dem zweiten Cocktail knisterte es gewaltig, und für einen Moment gefiel sie sich in der Rolle der Femme fatale. Früher hätte sie sich ihren Gefühlen ohne nachzudenken hingegeben, noch heftiger geflirtet und versucht, die schönsten Augen des Abends mit nach Hause zu nehmen.
Diese Zeiten waren definitiv vorbei.
Dumpfe Technobässe lösten den Elektrobeat ab, die Magie des Augenblicks verflog. Schlagartig überkam Karina Nüchternheit, und sie entzog sich behutsam den Händen, die ihre Hüften fordernd umschlossen. Die Luft in der »Maxbar« war zum Schneiden. Verschwitzte Körper drängten um die Theke, junge, gut aussehende Menschen in angesagten Klamotten tanzten sich auf der kleinen Tanzfläche heiß.
Karina fühlte sich fehl am Platz.
Zudem war sie nicht bereit, ihr Glück für ein kleines Abenteuer aufs Spiel zu setzen. Das Leben hatte sie gelehrt, dass es manchmal besser war, den Kopf einzuschalten. Außerdem blieben ihr schon jetzt nur fünf Stunden Schlaf. Das grelle Licht im Operationssaal kaschierte nichts. Frühdienst. Leben retten und verlieren. Volle Konzentration, vierundzwanzig Stunden.
Karina drückte sich an der Theke vorbei zu den Toiletten, wusch sich das Gesicht mit eisigem Wasser, ließ den Strahl über ihre Handgelenke laufen. Sie sah in den Spiegel. Das Neonlicht über dem Waschbecken konfrontierte sie erbarmungslos mit Krähenfüßen und verschmiertem Lippenstift. Ihre Haut wirkte fahl, die schwarzen Haare strähnig. Super. Geh nach Hause, altes Mädchen. Ein Blick auf die Armbanduhr unterstützte das Vorhaben. Karina bahnte sich einen Weg zurück zum Barhocker, griff die Handtasche und das zeitlose Jackett.
»Das waren nette After-Work-Drinks«, hauchte sie und wusste, dass der unwiederbringliche Endpunkt dieses Flirts gekommen war.
Erstaunte Augen. »Du willst schon gehen?«
»Zwei Cocktails sind genug.« Sie bestellte ein Mineralwasser und stürzte es hastig herunter.
»Soll ich dich nicht wenigstens zu deinem Wagen bringen? Es passiert so viel …«
Für Besorgtheit war Karina empfänglich, trotzdem lehnte sie ab.
Schwer fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Kühle Nachtluft verhalf zu Klarheit, den Alkohol spürte sie kaum. Sie zündete sich eine Zigarette an und widerstand dem kurzen Impuls, doch noch einmal in die Bar zu stürmen und letzte Liebkosungen abzusahnen. Sei vernünftig, du musst nach Hause. Außerdem meldete sich ein heller Pfeifton in ihren Ohren. Drei Stunden Beschallung hinterließen Spuren.
Sie atmete durch und sondierte die Lage. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite grölten Jugendliche, und ein Typ in Lederkluft versuchte sein Moped anzutreten.
Sie knöpfte die Jacke zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen, der in der Nähe der Engelbertstraße stand. Nachtschwärmer kamen ihr entgegen. Auf dem Hohenstaufenring herrschte reges Treiben. Sie fühlte sich sicher. Allerdings meldete sich ihr Gewissen.
Einen einzigen Drink hatte sie nehmen wollen. Einen und nicht zwei. Und überhaupt, was trieb sie sich schon wieder in Bars herum? Brauchte sie die Bestätigung des jungen Gemüses?
Blödsinn. Sie hatte ein Recht darauf, ihr Leben zu genießen.
Rabenmutter!, schimpfte die Stimme in ihr. Du hättest nach Hause fahren und ein langes Telefonat mit deinem Sohn führen müssen. Er macht gerade eine schwere Zeit durch. Stattdessen hast du ihm erzählt, dass du Nachtdienst hast.
Der Dienstplan hatte sich kurzfristig geändert, nur deshalb konnte sie losziehen. Außerdem war sie eine gute Mutter und eine treue Partnerin, wie sie gerade eben mal wieder bewiesen hatte.
Als sie am Café Orlando vorbeiging, klackte unmittelbar hinter ihr ein Zippo-Feuerzeug. Karina widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, beschleunigte das Tempo und verfluchte ihre hohen Pumps. Ganz ruhig. Du bist mitten in der Stadt.
Autos rasten vorbei, ein Taxi fuhr Schritttempo, ganz in der Nähe knatterte ein Zweitaktmotor. Erleichtert erkannte Karina ihren Wagen und drückte den Türöffner. Die Lichter des Toyotas blinkten zweimal auf wie zur Begrüßung. Sie umfasste den Griff der Fahrertür, ließ sich auf den Sitz fallen, verriegelte und blickte zum Innenspiegel.
Kein Mensch zu sehen. Alles okay, komm wieder runter.
Kurze Zeit später bog sie von der Moltkestraße auf die Aachener, fuhr ein kurzes Stück stadtauswärts und auf die Innere Kanalstraße. Mechanisch schob sie eine CD in den Player und drehte die Musik laut. Triggerfinger. »Oh I beg you: can I follow?« Ihre Daumen schlugen im Takt der Bässe auf das Lenkrad. Als sie an der Linksabbiegerspur stand, um auf die Niehler Straße fahren zu können, bemerkte sie das Motorrad. Der Scheinwerfer blendete. Sie verstellte den Innenspiegel und fuhr zügig los, als die Ampel umschaltete. »I follow you, deep sea baby, I follow you …«
Keine zehn Minuten später parkte sie auf dem Niehler Damm ein. Der Kradfahrer war verschwunden. Motor aus. Musik aus. Stille. Zum ersten Mal an diesem Tag.
Sie stieg aus dem Wagen. Die Nachtluft fühlte sich hier kälter an als in der Innenstadt. Der Rhein floss einen Steinwurf entfernt. Auf der gegenüberliegenden Flussseite leuchteten vereinzelte Lichter von Köln-Stammheim.
Zielstrebig überquerte sie die Straße. Bis zu ihrer Haustür waren es keine zweihundert Meter. Sie zog den Schlüsselbund aus der Jackentasche, als ihr die Tüte mit den Lebensmitteln einfiel, die noch im Auto lag. Der Einkauf musste auf jeden Fall in den Kühlschrank, er lag schon zu lange im Wagen.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging zu ihrem Auto zurück, öffnete den Kofferraum, griff die Einkaufstüte, schlug den Deckel wieder zu und drehte sich um.
Sturmmaske. Ein Augenpaar so dicht, dass die Gestalt Karina fast berührte. Es roch leicht nach Gummi. Karina blieb nur der Bruchteil einer Sekunde, um die Situation zu erfassen. Zu lang. Sie registrierte eine schnelle ruckartige Bewegung.
»Was …?« Mehr brachte sie nicht hervor.
Kaltes Metall durchstieß ihren Bauch. Die Tüte mit den Lebensmitteln rutschte ihr aus der Hand. Ein Apfel rollte über den Asphalt, kullerte, bis er am Reifen eines geparkten Autos liegen blieb. Karina heftete ihren Blick auf die Augen des Vermummten, suchte nach einem Anhaltspunkt und fand nichts.
Der Angreifer zog das Messer aus ihrem Körper.
Nein! Nicht rausziehen! Fremdkörper dürfen niemals herausgezogen werden. Karina ergriff Panik.
Zu ihrer Verwunderung spürte sie keinen Schmerz. Endorphine. Offenbar schüttete ihr Körper massenhaft körpereigenes Opium zur Schmerzunterdrückung aus. Los, du musst weg! Ein Bauchstich ist nicht unbedingt tödlich. Schrei, vielleicht hört dich jemand. Schrei, verdammt noch mal! Sie riss den Mund auf. Gurgelnde Laute. Mehr brachte sie nicht hervor.
Blut rann zwischen ihren Finger hindurch und tropfte auf die Straße. Schritte entfernten sich. Nieselregen setzte ein, leicht und nahezu lautlos. Karina behielt die Umgebung im undeutlichen Blick, drückte instinktiv eine Hand fest auf die Wunde, setzte mühsam Schritte. Zu ihrem Haus schaffte sie es nicht. Die kurze Entfernung unüberwindbar. Nachbarn. Ihr Haus stand näher. Du hast dich ihnen nie vorgestellt, wolltest ihnen immer einen Kuchen bringen und hast es nicht getan. Verdammt, was spielt das jetzt für eine Rolle?
Sie fixierte das Einfamilienhaus und bewegte sich vorwärts. Ein enormer Kraftakt, der ihr alles abverlangte. Die tiefrote Nachbarstür glich einem Schlund, der sie magisch anzog. Feuer. Lodernde Flammen. Ihr wurde entsetzlich heiß. Weiter, los. Ja. Gut so. Nicht aufgeben.
Wenn sie es bis zur Tür der Nachbarn schaffte, konnte sie weiterleben, dann musste der Tod noch warten und holte sie nicht, hier auf dieser Straße an einem stinknormalen Abend. Geschafft. Fast. Nur noch wenige Meter, dann konnte die Rettungskette greifen. Unerwartet wurde sie an den Schultern gepackt und herumgerissen. Blitzschnell fuhr das Messer erneut in ihren Körper. Diesmal in die Brust.
Blut spritzte, sie krallte sich mit ihrer rechten Hand an den Unterarm des Täters. Er riss sich los. Oh mein Gott. Aorta getroffen. Überlebenschance gleich null. Maximal drei Minuten, mehr Zeit blieb ihr nicht.
Rapide nahm der Blutdruck jetzt ab, der Pulsschlag wurde beschleunigt. Sie ermahnte sich, ruhig zu atmen, wollte verhindern, dass sie hyperventilierte. Vergeblich. Sie hechelte. Herzstillstand. Das Wort beschlagnahmte ihre Gedanken. Die Abfolge der körperlichen Reaktionen war zwangsläufig, eine kontrollierte Atmung unmöglich. Hoher Blutverlust verringerte die Sauerstoffzufuhr.
Das Rot der Tür flackerte. Mit letzter Kraft schaffte sie die einzige Stufe. Blut strömte auf helle Steinplatten. Einen Schritt vor der Tür sank sie zu Boden. Karina streckte ihre blutigen Fingerkuppen aus.
Trotz der Kraftanstrengung gelang es ihr nicht, das Holz zu berühren. Der letzte Adrenalinkick blieb aus.
Pulsflackern. Ein deutliches Zeichen für die Unterversorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff. Die Mangelversorgung des Gehirns war im vollen Gang. Blutzirkulation und Atmung würden gleich aussetzen. Trotz ihres Wissens überraschte Karina die Schnelligkeit der Vorgänge, und sie spürte kurzzeitig Wut darüber, dass sie keine Chance hatte, das Ruder zu ihren Gunsten herumzureißen. Sie musste kapitulieren, realisierte, dass keine Rettung nahte.
Anderen Menschen hatte sie hundertfach geholfen, ungezählte Male lebensrettende Maßnahmen eingeleitet. Sie selbst kam nicht in den Genuss solcher Unterstützung. Unfair. Das war das letzte Wort ihres Bewusstseins. Ihre Fassungslosigkeit über das eigene Ende stand ihr noch ins Gesicht geschrieben, als sie dem Tod entgegentrat.
Köln-Nippes, Gustav-Nachtigal-Straße
»Das Eigelb ist ja noch voll glasig.« Wilson klang so angewidert, als hätte Frieda ihm Maden serviert.
Lou triumphierte innerlich. Ja, weiter so, Junge! Das lässt sich meine Tochter nicht gefallen. Immerhin hat sie den Feminismus mit der Muttermilch aufgesogen.
Vorsichtig riskierte sie einen Blick an der Zeitung vorbei. Ihre neunzehnjährige Tochter war noch immer im Nachthemd, während Wilson geduscht und angezogen am Tisch saß, den Teller mit dem Spiegelei zur Seite schob und geistesabwesend auf seinem Smartphone herumtippte. In zwanzig Minuten klingelte die Schulglocke des nahe gelegenen Gymnasiums.
Lou bemerkte, dass Frieda zögerte, bevor sie den Teller nahm und das verschmähte Ei in den Mülleimer katapultierte. Das war nicht ganz die Reaktion, die Lou erwartet hatte. Okay, Kind, und jetzt sag ihm, dass er sich ein neues Ei in die Haare schmieren kann! Zu ihrem Entsetzen stellte sich Frieda aber erneut an den Herd. Sie machte eine Faust in der Tasche und verzog sich wieder hinter den Kölner Stadt-Anzeiger.
Der erste richtige Freund ihrer Tochter nervte.
Wilson machte sich breit, belegte stundenlang das Badezimmer, ging wie selbstverständlich an den Kühlschrank und nörgelte auch noch, wenn der Aufschnitt nicht nach seinem Geschmack war. Immerhin wagte er nicht, ihr seine Sonderwünsche anzutragen. Er schrieb sie auf gelbe Notizzettel, die er überall im Haus verteilte. Kleine Botschaften, Hinweise an Frieda, die Lou auf die Palme brachten: Mäuschen, ich mag das Shampoo von Adidas ☺. – Mäuschen, ich esse sehr gerne Leberwurst zum Frühstück ☺. Mittlerweile wurde Lou schon aggressiv, wenn sie ein gelbes Post-it sah, und warf sie ungelesen weg.
Eigentlich hatte sie sich diesen Abschnitt ihrer Mutter-Tochter-Beziehung immer als besonders schön ausgemalt. Gern hätte sie Friedas erste ernst zu nehmende Liebe mit offenen Armen in der Familie aufgenommen. Auf keinen Fall wollte sie sich wie ihre Mutter verhalten, die an jedem Jungen, den sie früher mit nach Hause gebracht hatte, rumgemeckert hatte.
Aber Wilson war wirklich eine Marke für sich. Ihr gegenüber verhielt er sich zugeknöpft und einsilbig, aber vor Frieda nahm er kein Blatt vor den Mund.
Und zu Lous Entsetzen tanzte Frieda nach seiner Pfeife. Sie erkannte ihre selbstbewusste Tochter nicht wieder, die irgendwie Spaß daran zu haben schien, einen auf gefügiges Frauchen zu machen. Am liebsten hätte Lou einige Machtwörter gesprochen. Aber Frieda musste Wilson selbst in die Schranken weisen. Also übte Lou sich in Geduld und instruierte sich positiv: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Frieda explodiert, und dann setzt sie das Jüngelchen vor die Tür. Bisher blieb dieser Knalleffekt allerdings aus. Frieda erwies sich als geduldig. Sehr geduldig.
Gerade startete sie einen erneuten Anlauf, reichte Wilson den Teller mit einem frischen Spiegelei. Er nahm es entgegen, hob den Blick vom Smartphone, lächelte und blinzelte Frieda zu. Sie küsste ihn auf die Stirn und ging aus der Küche.
Lou faltete die Zeitung zusammen. Wilson schien ein Gespür dafür zu haben, wie weit er den Bogen spannen konnte, und nicht selten zeigte er sich äußerst liebenswert, bevor eine Situation eskalierte. Frieda hatte den Zusammenhang bisher offenbar nicht erkannt, aber Lou machte Wilson nichts vor.
Jetzt aß er sein Ei und spielte nebenbei seelenruhig mit seinem Handy, obwohl er zur Arbeit musste. Wilson hatte einen Ausbildungsplatz als Industrieschlosser ergattert. Wie er das geschafft hatte, blieb Lou schleierhaft, aber sein Chef war anscheinend zufrieden mit ihm. Frieda hörte nicht auf, ihn in den höchsten Tönen zu loben.
Es war Lou, die nun unruhiger wurde und die Spannung schließlich nicht mehr aushielt.
»Musst du nicht los?«
Wilson nuschelte etwas in ihre Richtung, erhob sich aber und verschwand in der Diele. Lou hörte ihn die Treppe hinaufpoltern. Das junge Paar nahm Abschied. Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss.
Als Frieda wieder auf der Bildfläche erschien, setzte sie sich wortlos an den Tisch und aß die Reste von Wilsons Ei. Für Lous Geschmack war sie wieder übertrieben geschminkt.
»Wo bleibt denn Maline?«, fragte Frieda und nippte am Kaffee. »Ich hab sie noch gar nicht gehört.«
»Sie hat bei Charlie übernachtet.«
»Sucht sie eigentlich wirklich eine Wohnung? Ich hab ehrlich gesagt nicht den Eindruck.«
»Stört es dich, dass sie vorübergehend bei uns wohnt?«
»Nein«, sagte Frieda. »Wilson hat gefragt.«
Lou zog eine Augenbraue hoch. »Mag er Maline nicht?«
»Er findet sie irgendwie … anstrengend.«
»Inwiefern?«
Frieda zuckte lahm mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Warum fragst du denn nicht genauer nach?«
»Mensch, Mama, nerv nicht.«
Lou hob beschwichtigend die Hände. »Entschuldige, dass ich mich mit dir unterhalten möchte und wissen will, was in dir oder deinem Freund vorgeht.«
Frieda goss Kaffee nach. »Ich finde es cool, dass sie hier wohnt, auch wenn ich bestimmt nicht bei dir wohnen würde, wenn ich Geld für ein eigenes Apartment hätte.«
»Danke, sehr nett.«
»Ich meine einfach, dieses Haus ist so uncool und eng. Malines Wohnung über Hannas Backstube hat mir dagegen voll gut gefallen. Ich verstehe nicht, warum Hanna sie rausgeworfen hat, und dann so plötzlich.«
»Erstens hat Hanna Maline nicht rausgeworfen und zweitens schon gar nicht plötzlich. Die meisten ihrer Sachen stehen sogar noch auf Hannas Dachboden.«
»Okay.« Frieda stand auf, stellte ihr Geschirr in die Spülmaschine und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Trotzdem, vergraul Maline nicht, okay?«
»Wie bitte? Wenn, dann ist es Wilson mit seinen blöden Notizzetteln, der Maline vergrault …« Lou biss sich auf die Zunge.
Frieda warf ihr einen wütenden Blick zu. »Warum hackst du immer auf Wilson rum? Du kennst ihn gar nicht richtig … du bist … spießig und … ach egal!« Mit hochrotem Kopf stürmte sie aus der Küche und kurze Zeit später aus dem Haus.
Lou blieb verdutzt zurück. Spießig fand sie sich nun wirklich nicht. Und noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie jemals einen Menschen vergrault. Außer vielleicht ihren Exmann oder manchmal ihre Mutter und damals diese schrecklichen Nachbarn, wie hießen sie noch? Lou stutzte und bekam eine Ahnung, wie Frieda auf die Idee gekommen war, so einen Spruch loszulassen.
Als sie wenige Minuten später ebenfalls das Haus verließ, sog sie die kühle Morgenluft ein. In der Nacht hatte es geregnet. Köln lag unter einer grauen Dunstglocke. Im Tagesverlauf sollte es aufklaren, und ab der Wochenmitte prophezeiten die Wetterfrösche herrliches Altweiberwetter.
Lou startete ihren Citroën CX und schaltete das Radio ein.
Als sie über die Zoobrücke fuhr, ermahnte sie sich zu mehr Gelassenheit in Bezug auf Wilson. Sie vertraute Frieda und ihrer Erziehung.
Am Zubringer zum Polizeipräsidium kam sie heute zügig durch. Sie fuhr ins Parkhaus und hatte ihre guten Vorsätze schon vergessen, als sie in Gedanken an ihre aktuellen Fälle dem Fahrstuhl entgegeneilte.
Maline erschien im Türrahmen, als Lou gerade Zucker in ihren Kaffee rührte. Ihre Kollegin nahm einen Schluck aus Lous Tasse.
»Ich hab gleich eine Vernehmung und bin jetzt schon fix und fertig.«
»So siehst du aber nicht aus«, sagte Lou und holte eine zweite Tasse aus dem Schrank über der Spüle. »Was ist denn los?«
»Ich war joggen. Es waren nur fünf Kilometer, aber ich fühle mich, als wäre ich mindestens zehn gelaufen.«
»Hut ab, dass du überhaupt vor der Arbeit laufen gehst.« Lou wusste, wovon sie sprach. Sie joggte seit Ewigkeiten, schaffte es aber selten am Morgen. Maline war völlig untrainiert und lief erst seit ein paar Wochen, weil sie mit dem Rauchen aufgehört hatte. Sie füllte Malines Tasse mit frischem Kaffee. »Und vergiss nicht, wir müssen nachher zum Schießtraining. Diesmal darf uns kein aktueller Fall dazwischenkommen.«
»Keine Sorge, heute schaffen wir es bis nach Leverkusen. Das habe ich im Gefühl.«
Leverkusen, Polizeiinspektion 7, Raumschießanlage
Lou setzte den Gehörschutz sowie die Sicherheitsbrille auf und schaltete den Ton ein, damit sie den Anweisung des Trainers folgen konnte.
»Du kennst das Prozedere«, sagte Mike. »Ziel auf die Symbole. Wenn du trifft, verschwinden sie, ansonsten schieß einfach noch mal.«
Lou stand sechs Meter von der Leinwand entfernt. Obwohl sie bereits einen arbeitsreichen Vormittag hinter sich hatte, gelang es ihr, sich zu konzentrieren. Sie kam gern zum Training, auch wenn sie es nur maximal zweimal im Jahr schaffte.
Gelbe Rechtecke und Kreise wurden auf die Leinwand projiziert. Lou gab fünfzehn Schüsse ab, jedes Symbol verschwand. Sie lud nach und schoss schnell hintereinander weiter. Bei dieser Runde musste sie zweimal nachbessern.
»Immer noch gut«, lobte der Trainer, fuhr den Rollwagen mit der Munition ein paar Meter zurück und zog ein Brett zwischen den Boden und die niedrige Decke.
Lou gab neue Patronen in ihr Magazin.
»Stell dich hinter die Deckung und schieß einmal von rechts und dann von links«, sagte Mike und fuhr sich über seinen Kinnbart.
Erneut feuerte Lou Patronen auf Symbole, die willkürlich auftauchten. Sie hörte die Schüsse gedämpft. Der integrierte Tonempfang in den Kopfhörern schloss automatisch, sobald geschossen wurde.
»Sehr beachtlich«, sagte Mike mit Blick auf das Trefferbild.
Jetzt absolvierte Maline die landeseinheitliche Übung zur Überprüfung der Handhabung und Treffsicherheit, kurz L. Ü. H. T. Nach wenigen Minuten schob auch sie zufrieden ihre Waffe ins Holster.
»Jeder Schuss ein Treffer«, sagte Mike. »Mit dir sollte sich niemand anlegen.«
Gemeinsam überklebten sie die Einschusslöcher auf der Leinwand mit runden Etiketten und sammelten die Patronenhülsen vom Boden auf.
»Es duftet nach Schnitzel«, sagte Maline.
»Stimmt.« Mike lachte. »Hier kannst du riechen, was in der Kantine serviert wird.«
Lou und Maline hängten den Gehörschutz an die Haken, legten die Schutzbrillen ab und verließen die Halle. In einem kleinen Raum neben den Toiletten bauten sie ihre Waffen auseinander, um sie zu reinigen.
»Bist du heute Abend zu Hause, oder triffst du Clemens?«, fragte Maline. »Ich wollte eine Kleinigkeit kochen.«
»Du?«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Ich koche sehr gern.«
»Und gut«, beeilte sich Lou zu sagen. »Aber eher selten.«
»Ist das ein Vorwurf?«
»Quatsch.« Lou lachte und säuberte den Lauf. »Frieda ist der Meinung, dass ich alle Menschen vergraule und spießig bin. Ich glaube, sie hat Angst, dass du ausziehst.«
»Süße, früher oder später werde ich mir natürlich wieder eine eigene Wohnung suchen«, sagte Maline. »Aber im Augenblick habe ich keine Ambitionen, es sei denn, du bestehst drauf.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Lou schnell. Sie war froh, dass ihre Kollegin bei ihnen eingezogen war. Und zwar nicht nur, weil damit die laufenden Kosten für das Haus bezahlbarer wurden.
Nach der Trennung von Henry vor einigen Jahren hatte sie über einen Verkauf nachgedacht, sich überlegt, dass es vielleicht einfacher war, in einer anderen Umgebung neu anzufangen. Ihr Exmann hatte die Kurve schließlich auch gekriegt. Sein Umzug ins Parkveedel hatte ihm die Trennung erleichtert, schnell war er aufgeblüht. Eine neue Frau hatte er natürlich auch rasch präsentiert. Schwamm drüber. Lou ging es längst gut. Nach einigen Affären lernte sie gerade wieder einen interessanten Mann kennen.
Clemens. Musikproduzent. Humorvoll. Attraktiv und genügsam. Er gab sich mit dem Platz zufrieden, den Lou ihm einräumte. Aber langfristig erhoffte sie sich mehr als eine oberflächliche Geschichte.
Sie bauten die Pistolen wieder zusammen, wuschen sich die Hände mit einer Spezialpaste und gönnten sich noch einen Kaffee im Aufenthaltsraum »Was macht deine Mutter?«, fragte Maline. »Wandert sie fleißig?«
»Heute laufen die Damen von Sarria nach Potomarin. Das sind gute einundzwanzig Kilometer.«
»Respekt! Wie weit ist es noch bis Santiago de Compostela?«
»Ungefähr hundert Kilometer. Wenn alles gut geht, schaffen sie die restliche Strecke in neun Tagen, das ist jedenfalls ihr Ziel.«
Lous Mutter Helene Vanheyden befand sich mit drei Freundinnen aus ihrer Walkinggruppe auf dem Jakobsweg. Im vergangenen Jahr hatten die vier die Pilgerreise schon einmal angefangen, aber Helene hatte sich unterwegs eine Lungenentzündung zugezogen. Schweren Herzens hatte die Gruppe daraufhin die Reise etwa einhundert Kilometer vor dem Ziel abbrechen müssen. Jetzt, ein Jahr später, setzten sie die Wanderung fort. Die Damen, alle um die siebzig, marschierten eisern, und Lous Mutter schickte euphorische SMS. Anscheinend lief diesmal alles nach Plan.
»Hanna und ich wollen diese Woche einen Mädelsabend veranstalten«, sagte Lou. »Gesichtsmasken ausprobieren und schnulzige DVDs gucken. Bist du dabei?«
»Kommt drauf an, ich muss unbedingt mal wieder zu meinem Vater ins Pflegeheim. Ich sehe ihn im Augenblick viel zu selten, und dann sind Charlie und ich irgendwann zum Essen bei Freunden eingeladen. Ich klär das ab und sag dir Bescheid.«
Bevor Lou etwas erwidern konnte, öffnete Mike die Tür. »Anruf von eurer Dienststelle. Es gibt ein Tötungsdelikt in Köln-Niehl. Tom Lechner bittet euch, sofort hinzufahren.«
Köln-Niehl
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