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Spurlos verschwunden in Köln Der vierzehnjährige Lenni ist spurlos verschwunden. Mitten in Köln, genau an dem Tag, an dem er vom geheimen Doppelleben seines Vaters erfahren hat. Lennis Mutter Katharina ist sich sicher, dass ihrem Sohn etwas zugestoßen ist. Denn Lenni ist besonders – er polarisiert, eckt an und kämpft an vielen Fronten. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn der Junge hat auch eine Seite, von der Katharina nichts ahnt. Mit katastrophalen Folgen ...
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Seitenzahl: 401
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Myriane Angelowski, in Köln geboren und im Bergischen Land aufgewachsen, studierte Sozialarbeit und arbeitete als Referentin für Gewaltfragen bei der Kölner Stadtverwaltung. Neben ihrer Arbeit als Autorin leitet sie Krimi-Seminare und Schreibworkshops. »Jenseits des Rheins« ist der sechste Fall der Kölner Kommissarinnen Maline Brass und Lou Vanheyden.
www.angelowski.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/horstgerlach
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-700-2
Köln Krimi
Originalausgabe
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Köln-Poll, Dienstag
Heile, heile Gänschen. Mutter, Vater, Kind, von wegen. Waghalsig brettert Lenni mit dem Bike über die Kreuzung am Heumarkt, obwohl die Ampel Rot zeigt, und überquert kurz darauf den Rhein. Klitzeklein findet er die Probleme, mit denen sich seine Eltern herumschlagen. Sie haben keinen Schimmer von den Katastrophen, die ihm die Luft abschnüren. Dabei könnte Lenni ihnen zugutehalten, dass er den Mund bei den schwierigen Themen ja kaum aufkriegt. Nur, der Gedanke passt ihm nicht in den Kram.
Die Wut, die er verspürt, ist zu groß für seinen Körper. Sie rinnt ihm aus der Nase und füllt den Mund mit bitterem Schaum. Selbst die Haare, die ihm mittlerweile bis auf die Schultern fallen, wippen wütend im Rhythmus des Fahrstils. Ruhiger atmen wäre hilfreich. Doch jedes Fitzelchen Beruhigung oder beschwichtigende Sichtweise flutscht ihm sofort davon. Wie einst die Erbsen, die ihm vom Teller hüpften, als wären es kleine Gummigeschosse, sobald seine speckigen Kinderhände versuchten, sie mit der Gabel aufzuspießen.
Lenni biegt auf die Deutzer Werft ab, überquert die Drehbrücke, fährt auf die Alfred-Schütte-Allee und rast den Radweg parallel zu den Poller Wiesen entlang. Fahrend tritt er gegen einen städtischen Mülleimer und erwischt bei einem rasanten Überholmanöver fast ein Kleinkind, das sich von der Hand eines Mannes losreißt. Ohne auf die Zurechtweisungen des Fußgängers zu reagieren, braust er mit Affenzahn weiter. In Höhe des Schrottplatzes springt er vom Rad und lässt es achtlos fallen. Er plumpst ins Gras, lehnt sich an den Stamm einer Kastanie und schert sich nicht darum, dass der Rucksack, den er auf dem Rücken trägt, eine komfortable Sitzposition verhindert. Wie eingesperrt in einer Wolke, aus der es sauer regnet, kauert Lenni mit angezogenen Beinen da, nur einen Steinwurf vom Rhein entfernt. Rechts liegen die Kranhäuser, bei deren Anblick die Tränen nur so aus ihm herausschießen. Es stört ihn nicht, dass der Mascara verschmiert, und es ist ihm gleichgültig, was die Passanten denken. Die Welt gerät aus den Fugen, und grässliche Dinge geschehen. Er versucht gleichmäßiger zu atmen, schließt die Augen und denkt an Jon Snow.
Die US-Serie »Game of Thrones« begeistert ihn. Besonders fasziniert Lenni der Handlungsstrang um die Männer der Nachtwache. Bei den sogenannten Krähen, die so heißen, weil sie lange schwarze Mäntel tragen, handelt es sich überwiegend um Verbrecher, Bastarde und Außenseiter. Mit solchen Charakteren identifiziert sich Lenni total. Er liebt es, bequem auf dem Sofa zu liegen, tafelweise Schokolade zu verdrücken und sich vorzustellen, wie es wäre, als Krähe unter Krähen zu leben, hoch oben im tief verschneiten Norden. Lenni würde alles dafür geben, von der unüberwindbaren Mauer der schwarzen Festung beschützt gegen das Böse sein Dasein zu fristen. Gleichzeitig abgeschottet, ohne jede Möglichkeit, persönlich Unheil über die Welt zu bringen.
Wenn er »GoT« schaut, mutiert Lenni unter den Augen des charismatischen Lordkommandanten Snow zu einem noblen Geist und zeigt dem scheußlichen Nachtkönig, samt dem Heer der Weißen Wanderer, den Stinkefinger.
In der Realität besteht Lennis Leben überwiegend aus Furcht. Die Lage ist hoffnungslos, und die Schuldigen sind rasch ausgemacht. Nur wenn er sich im Spiegel betrachtet, genau hinsieht, und nicht nur oberflächlich, dann muss sich Lenni eingestehen, dass es ebenso die eigenen Fehler sind, die ihm zum Verhängnis werden. Nichts, nicht das Geringste geschieht automatisch. Er hat schlicht und ergreifend die falschen Dinge getan. Zu Untaten hat er sich hinreißen lassen, feige ist er gewesen und naiv. Punkt. Darum entwickelt alles diese verheerende Dynamik.
Er schiebt den Pony beiseite. Auf den Wiesen sitzen Menschen in kleinen Grüppchen, lachen, schwatzen und genießen den Feierabend. Hundebesitzer lassen Vierbeiner laufen. In Sichtweite hat ein junges Paar einen Grill aufgestellt, anscheinend tropft Fett auf die Kohle. Dünne Rauchschwaden ziehen in Lennis Richtung. Ein tonnenschwerer Lkw rast durch das Tor des Metallgroßhandels, vermutlich hat der Laster Schrott abgeladen.
Der Lärm des Fahrzeugs, der heftiger werdende Qualm und die beginnende Abenddämmerung setzen Lenni in Bewegung. Dass ihm das Smartphone aus der Gesäßtasche rutscht und am Stamm der Kastanie zurückbleibt, bemerkt er nicht. Ebenso wenig ahnt er etwas von der Person, die ihm an den Fersen klebt und das Handy einsteckt. Er strampelt unwillig los und hängt sofort wieder in den verflixten Endlosschleifen seiner Gedanken.
Es wäre beruhigend, wenn sich die Sache mit dem Foto als Bluff herausstellt. Apps, mit denen sich Bilder manipulieren lassen, sind kinderleicht in der Handhabung. Leider Gottes ist diese minimale Hoffnung abwegig, und ob es Foto-Apps gibt oder nicht, spielt hier überhaupt keine Rolle, das weiß Lenni, aber er klammert sich an den Strohhalm.
Er erreicht die Straße, an der er links abbiegen müsste, um nach Hause zu fahren. Prompt gerät seine Entschlossenheit schon wieder ins Wanken. Lennis Rucksack wiegt auf einmal Tonnen, nichts fühlt sich so easy an, wie er es gern hätte. Drückeberger, Memme. Prinz Hasenherz, so hat sein Opa ihn früher genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Jon Snow würde Verantwortung übernehmen. Prinz Hasenherz umfasst Lennis Hals fest mit beiden Händen und schnürt ihm die Luft ab.
Die Angst sitzt tief, aber das Foto, das ihm zugesendet wurde, zwingt ihn, sich an Ort und Stelle ein Bild zu machen. Der Gedanke an Jon verleiht Lenni Zuversicht. Er gibt sich einen Ruck. Irgendwie erleichtert, schwingt er jetzt geschmeidiger im Takt der Pedale dahin und bildet sich ein, dass ihn der Lordkommandant eskortiert.
Lenni lässt das Haus der DLRG rechts liegen. Fast menschenleer zieht sich der Radweg hier an den entlegeneren Rheinwiesen vorbei, von Trubel keine Spur. Mit gehörigem Tempo rollt er vorwärts. Abgesehen von dem Geräusch, das die Fahrradreifen auf dem Plattenweg verursachen, ist es außergewöhnlich still. Noch ein kurzes Stück, dann ist er am Ziel. Es beginnt leicht zu regnen.
Er schiebt das Rad in dichtes Gestrüpp und vergewissert sich, dass es nicht zu sehen ist. In geduckter Haltung nähert er sich der nahe gelegenen hüfthohen Mauer. Es wäre unkomplizierter, durchs Tor zu laufen, aber Lenni ist zu oft blindlings in Fallen gerannt. Mühelos überwindet er den Steinwall, verschanzt sich hinter einer Hecke und sondiert die Lage. Im Haus kann er keine Bewegung ausmachen, das Grundstück liegt wie ausgestorben vor ihm. Auf den ersten Blick stört keine Unstimmigkeit die Harmonie.
Intuitiv bleibt Lenni wachsam, lauscht in alle Richtungen wie eine Antilope in der Savanne, die den Geparden nicht sieht, aber wittert. Die Umrisse des geräumigen Schuppens heben sich im Zwielicht ab. Lennis Position ermöglicht ihm nur, die von dichtem Buschwerk bewachsene Seite des Gebäudes in den Blick zu nehmen. Um die Front und damit den entscheidenden Part auskundschaften zu können, muss er den Standort wechseln. Notgedrungen verlässt er seinen Posten und huscht unter die Trauerweide. Er nimmt den Rucksack vom Rücken und öffnet gerade den Reißverschluss, als er einen tiefen Seufzer vernimmt. Auf der Stelle erstarrt er zur Salzsäule, und der Rucksack gleitet ihm aus der Hand.
Es vergehen einige Sekunden, bis Lenni wagt, vorsichtig zwischen den bodentiefen Zweigen hervorzulugen. Schon auf die Distanz ist der aufgesprayte Schriftzug nicht zu übersehen, der quer über das gesamte Schuppentor reicht, das an Rollen oben in einer Schiene hängt. Lenni spürt, wie ihm das Blut beim Anblick der gesprühten Botschaft förmlich in die Beine sackt. Er klammert sich an die Zweige der Weide, ringt um Fassung und kann nicht länger beiseiteschieben, dass das Gift definitiv in dieses Terrain geschwappt ist. Die Frage nach dem Wie stellt er sich in diesem Moment nicht. Es ist vor allem Wut, die ihn in Gang setzt, und der unbedingte Wille, die Schmiererei zu entfernen. Aufgebracht schnellt er hoch und wirft sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über den Haufen.
Lenni befindet sich geschätzt auf halber Strecke zum Schuppen, als er ein grummelndes Geräusch wahrnimmt. Schlagartig riecht es nach Kälte und Schnee. Er stoppt und schielt ungläubig zum Himmel. Es ist Mai, bald Juni. Komplett irrelevant, schreit Lennis Angst. Jetzt mach bloß keinen Rückzieher und such nicht nach Ausflüchten, fordert Lennis Courage. Verängstigt starrt er zum Holzschuppen. Das Tor wird wie von Geisterhand aufgeschoben. Milchiger Dunst wabert direkt auf ihn zu und entpuppt sich als Kältewand, die Lennis Körper in Sekundenschnelle mit einer dünnen Eisschicht überzieht. Der Garten versinkt in gleißendem Licht. Alles, alles scheint zu vereisen. Der Schuppen, Sträucher, selbst eine Fledermaus gefriert mit gespannten Schwingen in der Flugbewegung. Lenni bibbert noch, als er die Gestalt wahrnimmt, die sich aus dem Eisnebel schält und gemächlich auf ihn zuschreitet.
Hau ab!, befiehlt sein Verstand.
Aber Lenni steht wie schockgefroren und stiert in eisblaue Augen, die ihn buchstäblich hypnotisieren. Kein Zweifel. Da kommt er. Der leibhaftige Nachtkönig. Er fixiert Lenni einzig durch seine Aura, steuert auf ihn zu und ruft ihn beim Namen.
Köln-Nippes, Dienstag
Lou Vanheyden späht durch das Schaufenster ins Ladenlokal der Bäckerei Morgenroth. Eine Verkäuferin kehrt den Boden, die Brotkörbe wurden schon geleert, und die Scheiben der Glasvitrine, in denen zu Geschäftszeiten Torten und Quiches präsentiert werden, sind gewienert.
Lou öffnet ein unscheinbares Tor, durchquert den übersichtlichen Innenhof und gelangt über einen engen Flur in die Backstube. Schon als Mädchen ist sie diesen Weg entlanggehüpft, um ihre Freundin Hanna abzuholen. Zur Schule, zum Spielen, später, um Jungs zu treffen oder im Nippeser Tälchen zu paffen. Unzählige Butterbrote, die Hannas Mutter dick mit Marmelade bestrich, hat Lou an diesem Ort gefuttert. Der Geruch von frischem Brot gehört untrennbar zu ihrer Kindheit, wie das Hänneschen Theater und der Wind, der immerfort um den Kölner Dom fegt.
Lou Vanheyden und Hanna Morgenroth verloren sich weder durch Lous polizeiliche Grundausbildung in Selm-Bork noch durch Hannas Geschichtsstudium aus den Augen. Als Hannas Vater an Alzheimer erkrankte und das Geschäft auf einmal vor dem Aus stand, sattelte die Historikerin um und übernahm den Betrieb. Längst schreibt die Bäckerei Morgenroth wieder schwarze Zahlen.
Lou schneit fast täglich herein, meistens morgens auf ihrer Joggingrunde, bevor sie ins Polizeipräsidium fährt. Heute hat sie ab mittags Überstunden abgebaut, um zusammen mit Henry, ihrem Exmann, alles für die anstehenden Baumaßnahmen in ihrem Haus vorzubereiten.
»Habt ihr deinen Dachboden ausgeräumt?«, fragt Hanna, die mit beiden Händen in einer großen Plastikschüssel verschiedene Samen und Trockenfrüchte miteinander vermengt.
»Ja, besenrein, und Tessas Zimmer ist auch leer, ihre Sachen und das Kinderbett stehen für den Übergang in Friedas Zimmer. Das ist gerade die reinste Rumpelkammer.«
»Ist nett, dass Henry dir hilft.«
»Ja, bei solchen Sachen kann ich mich auf meinen Ex verlassen.«
»Wann kommen die Handwerker?«
»Morgen früh um sieben, ich habe mir extra freigenommen, um ein Auge auf die Arbeit zu haben, so etwas wie letztes Mal darf nicht wieder vorkommen. Als damals die Fenstersimse erneuert wurden, haben die Experten doch auch an die Küchenfenster frischen Beton gegossen, obwohl Terrassentüren eingesetzt werden sollten.«
Hanna lacht. »Ich erinnere mich.«
»Ich bin im Baumarkt gewesen, damit ich die Tür- und Fensterrahmen in Tessas altem Kinderzimmer schon mal abschleifen und lackieren kann. Die Tapeten mache ich wahrscheinlich ab und verputze die Wände einfach neu.«
»Morgen Nachmittag kann ich dir helfen, aber du weißt ja, ich habe bei so etwas zwei linke Hände. Magst du ein Zimtweckchen?«
»Klar.« Lou setzt sich auf den Holzschemel, ihrem Lieblingsplatz in der Backstube, und gießt Kaffee in zwei Tassen, während Hanna dem Lehrling kurz zeigt, wie er die Samenmischung abwiegen muss.
Mit einem Flyer, der Hannas Sonderangebote im Mai präsentiert, fächert Lou sich Luft zu. Sie spürt deutlich, dass sich auf der Stirn und im Nacken Schweißperlen bilden. Mit diesen Hitzewallungen sieht sie sich seit einigen Monaten konfrontiert. Bisher hatte Lou »nur« damit gekämpft, dass sich die Pfunde nicht mehr so leicht im Zaum halten lassen, jedenfalls reichten einfache Joggingeinheiten dazu nicht mehr aus.
Innerlich hatte sie die leise Hoffnung gehegt, glimpflich durch die Menopause zu kommen, so wie ihre Mutter. Aber nun, wo Lou glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, macht ihr die Schwitzerei einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Nachts schläft sie kaum noch durch, wechselt mindestens einmal Bettlaken und Schlafshirt. Manche Frauen schlagen sich noch über das siebzigste Lebensjahr hinaus mit Beschwerden herum, hat Lous Frauenärztin neulich gesagt und ihr mit dieser Prognose einen gehörigen Dämpfer verpasst. Die Einnahme von Hormonen lehnt Lou ab.
Hanna legt Weckchen auf den Tisch, gesellt sich zu ihrer Freundin und schiebt widerspenstige Haarsträhnen unter das karierte Kopftuch. Die Bäckerjacke ist lupenrein.
»Noch«, lacht Hanna, als Lou sie drauf anspricht.
»Mir ist tierisch heiß«, sagt Lou und zieht die Lederjacke aus. »Meinen Fächer vergesse ich andauernd.«
»Hast du heute Yoga gemacht?«
»Keine Zeit.«
»Warst du am Morgen joggen?«
»Wann denn?«
»Und die Wechselduschen?«
Lou winkt ab.
»Zieh es durch, wie Zähne putzen, das hinterfragst du ja auch nicht täglich. Mit geht es jedenfalls blendend, seitdem ich das konsequent mache.«
»Du hast ja kaum Symptome.«
Hanna steht auf, kommt mit einem kleinen Tischventilator zurück und schaltet ihn ein. Das Gerät schwingt leise, die Rotorblätter verwirbeln die Luft und erzeugen einen wohltuenden Wind.
»Wie lange soll denn der Rummel bei dir zu Hause dauern?«, wechselt Hanna das Thema.
»Höchstens eine Woche, schätzt der Meister. Ich bin froh, wenn das Bad und die Zimmer im Dachgeschoss fertig sind. Erstens ist es eng in meiner Wellnessoase, seitdem Frieda und Tessa sich ausbreiten, und zweitens haben die beiden da oben dann ihr eigenes kleines Reich.«
»Herrlich, drei Generationen unter einem Dach, du hast ein Glück.«
Dessen ist sich Lou bewusst. Sie ist ganz verrückt nach ihrer kleinen Enkelin. Aber sie freut sich auch auf mehr Privatsphäre, wenn der Dachboden für ihre Tochter und Tessa erst ausgebaut und modernisiert ist.
»Wie packt Frieda die ganze Belastung denn so?«
»Ich sag mal, ohne die Hilfe von mir, Henry und ihrer Oma hätte sie große Probleme, die Vorlesungen zu besuchen. Morgen absolviert Tessa endlich die Probestunde bei einer Tagesmutter, ob es mit dem Platz dann funktioniert, ist aber immer noch in der Schwebe.«
»Das gibt es doch gar nicht!«
»Die Nachfrage ist einfach extrem.«
»Ich denke, jedes Kind hat Anspruch auf einen Kindergartenplatz?«
»Grundsätzlich ja, aber für die Betreuung der unter Dreijährigen gleicht die Suche nach einer Krabbelgruppe einem Lotteriespiel.«
»So viel zur Vereinbarung von Familie und Beruf«, sagt Hanna. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir noch immer in den sechziger Jahren stehen geblieben sind.«
»Ich bin jetzt erst mal froh, wenn der Umbau über die Bühne ist.« Lou beißt ins Zimtweckchen und nippt am Kaffee.
»Wie geht es Henry?«, fragt Hanna.
»Er und Anne fahren heute Nacht nach Frankreich.«
»Die Glückspilze. Sie sind jetzt auch schon eine Weile zusammen, oder?«
»Zwei Jahre. Aber es kriselt offenbar …« Lou gießt Kaffee nach und seufzt. »Ich würde mich gern mal wieder verlieben, so mit allem, was dazugehört, aber weit und breit ist kein passender Mann in Sicht.«
»Vielleicht sollten wir dir ein Profil bei einer Datingplattform erstellen«, sagt Hanna.
»Gott bewahre!«
»Ich höre immer wieder von Paaren, die sich darüber gefunden haben.«
»Ach ja? Und warum bist du dann nicht in den entsprechenden Datingbörsen aktiv?«
»Vielleicht bin ich es ja längst«, lacht Hanna.
»Quatsch, das wüsste ich doch.«
»Tja, ich bin ein Buch mit sieben Siegeln.« Hanna springt auf, stellt den Timer eines Backautomaten ein und kommt zum Tisch zurück. »Nein, im Ernst. Ich habe seit drei Monaten ein Profil und mich schon zwei Mal verabredet.«
»Du spinnst.« Lou greift sich ein weiteres Zimtweckchen und beißt hinein. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich weiß, dass du der ganzen Online-Partnersuche skeptisch gegenüberstehst.«
»Das stimmt gar –«
»Doch!«
»Mir ist kalt«, sagt Lou, schaltet den Tischventilator aus und zieht ihre Jacke wieder an.
»Wir erstellen dir ein Profil auf einer seriösen Plattform und schauen einfach, was passiert«, schlägt Hanna vor. »Du hast ja nichts zu verlieren. Okay?«
»Meinetwegen, aber ein Kölner Polizeibeamter kommt nicht in Frage«, brummt Lou. »Wenn die Sache schiefgeht, rennen wir uns im Präsidium immer wieder über den Weg, das nervt mich bei Henry manchmal total.«
»Kein Polizist, alles klar«, strahlt Hanna. »Wir setzen so bald wie möglich ein Profil auf, am besten bei Sekt und Häppchen. Und du kannst mir schon mal ein tolles Foto von dir schicken, irgendwas ganz Natürliches, am besten aus dem Urlaub oder ein Bild von dir unter Wasser. Männer stehen auf interessante Frauen mit ausgefallen Hobbys.«
»Ach ja?«
»Klar, du wirst sehen, die Typen reißen sich um dich. Ganz bestimmt!«
»Das wäre mal eine ganz neue Erfahrung«, lacht Lou.
Hanna holt sich Bleistift und Papier. »Taucherin, Mitte fünfzig …«
»Ich bin näher an der sechzig.«
»… sucht sportlichen Mann für gemeinsame Abenteuer. Ich bin ein Familienmensch mit dem Anspruch auf Freiheit in der Verbundenheit und …«
»Ach ja?«
»… sportlich, lässig, kulturinteressiert, humorvoll und …«
»Berufstätig«, sagt Lou trocken. »Ich muss aufbrechen, der Sondereinsatz geht gleich los. Die Razzia dauert wahrscheinlich bis in die Nacht.«
»Ich werde natürlich noch am Text feilen, dann können wir ihn zusammen durchgehen«, sagt Hanna und schiebt das Blatt zur Seite. »Wo ist der Einsatzort?«
»Erfahre ich gleich.«
»Üblicherweise finden solche Aktionen doch eher in aller Herrgottsfrühe statt, wenn die Chance groß ist, die Leute zu Hause anzutreffen.«
»Diesmal läuft es anders.«
»Blöd, dass du jetzt zum Dienst musst! Ausgerechnet nach einem freien Nachmittag.«
»Ich bin froh, dass ich überhaupt ein paar Überstunden abbauen konnte zwischen den Diensten. Bei uns ist nämlich mal wieder Land unter. Wir haben einige Todesfälle zu bearbeiten. Heute Morgen bin ich mit Ben rausgefahren. Ein alter Mann ist in einem Supermarkt tot umgefallen, nachdem er an der Kasse bezahlt hatte. Kerzengerade, wie ein Baum, ist er nach hinten auf den Hinterkopf geschlagen. Kunden und Personal haben vorbildlich reagiert. Jedoch konnten die Rettungssanitäter nur noch den Tod des Rentners feststellen.«
»Wie schrecklich! Herzversagen?«
»Ja. Ben und ich sind zur Ehefrau des Verstorbenen gefahren, um ihr die Nachricht zu überbringen, und dabei habe ich der armen Frau den Einkauf ausgehändigt. Beim Anblick von Pumpernickel und einer Packung Sahnehering ist sie zusammengebrochen.«
»Schlimm, so ein plötzlicher Verlust ist für Angehörige der blanke Horror.«
»Für den Mann war es sozusagen ein guter Tod, aber klar, die Frau kann einem nur leidtun. An das Überbringen von Todesnachrichten werde ich mich niemals gewöhnen.«
»Und Routine wird es sicher auch nicht.«
»Augen auf bei der Berufswahl«, sagt Lou und zuckt mit den Schultern. »Ich hätte gern noch eine Mütze Schlaf, bevor Morgen der Radau im Haus losgeht, also wünsch mir Glück für die Durchsuchung.«
Hanna packt zwei Amerikaner in eine Tüte. Ein Alarmton schrillt los, und sie verschwindet hinter einem Backautomat. Kurz drauf verstummt das penetrante Geräusch.
»Wie geht es denn Maline auf der Vermisstenstelle?«, fragt Hanna, als sie wieder auftaucht.
»Bescheiden.« Lou nickt dem Lehrling zu und geht zur Tür. »Ich glaube, sie ist froh, wenn sie wieder im KK 11 ist.«
»Du doch auch, sei ehrlich.«
»Es ist komisch ohne sie, auf der Dienststelle und auch bei den Einsätzen, wir sind bekanntlich ein eingespieltes Team.« Lou lacht. »Maline wurde übrigens befördert, sie ist jetzt Hauptkommissarin!«
»Wenn das nicht ein Grund zum Feiern ist! Was hältst du davon, wenn wir alle zum Hitdorfer See fahren? Diesen Sommer müssen Maline und ich endlich unsere Schnuppertauchgänge angehen. Wir könnten schwimmen, grillen, Champagner mitnehmen und im Fackellicht auf Malines Beförderung trinken.«
»Super Idee.« Lou sieht auf die Uhr. »Jetzt muss ich aber wirklich aufbrechen.«
»Okay, gebongt!« Hanna drückt Lou einen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf.«
»Ich spiele eine Nebenrolle bei dieser Razzia.«
»Ins Schussfeld kannst du trotzdem geraten, du weißt nie, wer oder was sich hinter der Tür verbirgt.«
»Ich bin vorsichtig!«
»Und wenn du heute Nacht nach Hause kommst und nicht schlafen kannst, ich bin bis mindestens sieben Uhr hier beschäftigt.«
Köln-Poll, Dienstag
Dienstags schließt Katharina Faßbender ihre kleine Kinderboutique immer um siebzehn Uhr. Aus unerklärlichen Gründen gehören Dienstage zu den umsatzschwächsten Tagen. Über den gesamten Nachmittag hat sie bloß ein T-Shirt verkauft. Die wenige Kundschaft kam ihr heute ganz recht, eine verheulte Ladenbesitzerin ist mies fürs Geschäft. Nach dem selbst gewählten Feierabend ist sie zum Arzt gefahren, danach einkaufen und hat anschließend Gemüselasagne zubereitet. Zweimal hat sie das Essen schon warm gemacht. Ihr Sohn hätte längst eintrudeln müssen, sein Training ist zu Ende. Katharina stellt die Mahlzeit in den Kühlschrank. Pünktlich zur Wetterkarte sind die Spuren des Abendessens beseitigt und die Küche blitzblank. Wenn Lenni später wieder Unordnung anrichtet, gibt es Ärger.
Katharina wickelt sich in eine Decke aufs Sofa und schaut die Tagesschau. Das aktuelle Weltgeschehen fesselt sie jedoch nicht, und von Entspannung kann keine Rede sein. Unablässig klebt ihr Blick am Display ihres Smartphones. Es bleibt schwarz. Wieder einmal drückt sie die Wahlwiederholung. »Hier ist die Mailbox von Jo Kalenborn, hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe zurück.« Katharina zögert, stammelt dann aber doch auf Jos Mailbox, obwohl klar ist, dass er die Mitteilung so schnell nicht abhört. Worum es geht, sagt sie nicht, bittet ihn nur umständlich um Rückruf.
Er hat versucht, sie zu erreichen. Leider genau in dem Moment, als Katharina mit der Nachbarin an der Tür stand, natürlich zappelig, weil sich die Weltenbummlerin weitschweifig bedankte, fürs Blumengießen und überhaupt. Im Anschluss blinkte Katharinas Handy. Echt ärgerlich, aber immerhin hatte Jo es probiert, obwohl besprochen war, dass er sich erst morgen wieder melden würde. Wegen Verpflichtungen, an denen es nichts zu rütteln gibt. Ja und Amen. Mehr sagt Katharina nicht mehr dazu und kämpft ausschließlich an Fronten, die sich lohnen.
Dummerweise hat sie heute wirklich eine Bombe platzen lassen und Jo damit hintergangen. Es macht sie kirre, dass sie die Sache nicht mit ihm klären kann.
Katharina stopft sich ein weiteres Kissen unter den Kopf und spürt die Gewissenbisse regelrecht physisch. Gedankenstopp, auf diesem Pfad driftet sie sonst in bedrohliches Gewässer. Katharina landet unweigerlich wieder bei ihrem Bekleidungsgeschäft. Wenn die »Rasselbande« weiter so bescheiden läuft, muss sie die Notbremse ziehen. All ihre Ersparnisse stecken in dem Laden.
Sofort meldet sich der Tinnitus. Auf der Gedankenschiene ist auch keine Atempause zu erwarten.
Lenni wird Hunger haben, wenn er nach Hause kommt. Ist es zu viel verlangt, das Essen länger warm zu halten? Der Junge kann nichts für die ganze Misere.
Katharina kaut an den Fingernägeln. Mit Sicherheit hat Lenni das Gespräch am Nachmittag aufgewühlt. Sie hätte behutsamer vorgehen müssen. Nein, am besten hätte sie einfach die Klappe gehalten. Ihre Zweifel türmen sich haushoch, jetzt, wo sie endlich runterkommt. Einhundertmal haben sie und Jo über den Tag X philosophiert, sich Szenarien ausgedacht, in denen sie Lenni schonend gestehen, in welchen realen Familienverhältnissen sie leben. Bei einem Spaghettieis in der Gelateria oder im Grünen, während einer Wanderung. Du, wir müssen etwas mit dir besprechen. Alles für die Katz. Heute ist Katharina im Alleingang vorgeprescht. Das Leben hält sich nun einmal nicht an Spielregeln, davon kann Katharina gleich mehrere Lieder singen.
Erneut greift sie nach ihrem Smartphone. »Hier ist die Mailbox von Jo Kalenborn …« Sie feuert das Handy ans Fußende, schnappt sich die Fernbedienung und schaltet um. Tele5 wiederholt »Der Swimmingpool« mit Romy Schneider und Alain Delon. Marianne und Jean-Paul verbringen ihren Sommerurlaub an der Côte d’Azur. Mit der Ankunft eines alten Freunds samt Tochter eskaliert die Situation zusehends in der Hitze am Mittelmeer.
Fünf Minuten. Länger konzentriert sich Katharina nicht auf den alten Schinken. Jo ist einfach nie da, wenn sie ihn braucht. Er macht sich aus dem Staub und überholt seinen eigenen Schatten, wenn Probleme auftauchen. Katharinas Blick bleibt an der Gitarre hängen. Es ist eine Lefthand-Hanika mit Ebenholzgriffbrett. Boden und Zargen bestehen aus Mahagoni. Ein kleines Vermögen hat Katharina für Jos Traum hingeblättert. Lenni klimpert neuerdings darauf herum, ansonsten verstaubt das teure Stück in der Ecke. Jo wollte sie unbedingt besitzen und verlor das Interesse, sobald er sie ausgepackt hatte, damals zu seinem Vierzigsten. Manchmal fühlt sich Katharina wie das Instrument.
Wo der Junge nur bleibt? Lennis Handy ist wahrscheinlich wieder stumm geschaltet. So regelt er das, wenn er nicht erreichbar sein möchte. Den Stress, den er deswegen bekommt, nimmt er in Kauf. Katharina schaut zur Uhr. Ihr Sohn verspätet sich bisweilen, so unnormal ist das nicht. Nur, jetzt ist er fast neunzig Minuten überfällig, und das sieht ihm gar nicht ähnlich. Katharina beschließt, zum Sportplatz zu fahren, schält sich aus der Kuscheldecke und eilt die Treppe hinauf.
Lennis Zimmertür ist angelehnt, ein schmaler Lichtstreifen erhellt die Diele. Katharina stößt die Tür auf. Lennis Leselampe ist eingeschaltet. Katharina geht um das Bett, um das Licht auszuknipsen, als ihr das Smartphone ins Auge fällt. Es liegt auf dem Holzboden, halb unter der Kommode, und ist an ein Ladekabel angeschlossen. Katharina ist erleichtert. Lenni hat sein Handy vergessen, kein Wunder, dass sie ihn nicht erreichen kann. Der Junge ist nachlässig. Auch mit Jacken und Haustürschlüsseln. Letzten Sommer hat er sogar seine Shorts sowie das funkelnagelneue Trekkinghemd am Rhein liegen lassen, kam lediglich in Boxershorts nach Hause und hat das angeblich überhaupt nicht mitgekriegt. Er bringt es auch fertig, kostspielige Turnschuhe nach dem Sport in der Schule stehen zu lassen. Natürlich waren sie aus der Umkleide verschwunden, als Lenni der Verlust auffiel.
Katharina geht in die Hocke, nimmt das Gerät in die Hand und betrachtet es von allen Seiten. Lenni hat eine Vorliebe für weiße Handys, die er in transparente Silikoncases steckt. Sein aktueller Favorit ist mit auffälligen Glitzerstrasssteinen beklebt. Aber dieses Modell ist zierlicher, das Display deutlich zerkratzt und in der rechten Ecke gesplittert. Insgesamt macht das ehemals hochpreisige Gerät einen gammeligen Eindruck.
Katharina versucht es einzuschalten und wird aufgefordert, den PIN-Code einzugeben. Sie tippt Lennis Geburtsdatum ein, alle Geräte ihres Sohnes lassen sich so entsperren. Dieses nicht. Sie legt es auf den Boden zurück, zieht irritiert ihr eigenes Handy hervor, probiert es noch einmal bei Jo und scheitert.
Ihr Blick bleibt am Billie-Eilish-Poster hängen, das den Teeniestar mit langen silbergrauen Haaren und einer Spinne auf der Stirn zeigt. Billie guckt ernst oder sogar gelangweilt in die Kamera. »1 by 1Tour« steht oben fett gedruckt auf dem Plakat. Lenni ist ein Riesenfan. Zum dreizehnten Geburtstag hatte er sich Konzertkarten für den Auftritt in Glasgow gewünscht. Obwohl Billie eher griesgrämig von der Wand ins Zimmer schaut, hat Katharina das Gefühl, dass die Sängerin Optimismus ausstrahlt. Bleib cool, konzentriere dich und denk logisch. Katharina schaudert und reibt sich mit beiden Händen über die Oberarme.
Vielleicht ist Lenni spät dran, weil der Coach ein spezielles Torwarttraining anberaumt hat, oder die Kids müssen eine Extrarunde auf der Aschenbahn drehen. Es könnte auch sein, dass sich der Junge an seinem Lieblingsplatz am Rhein aufhält. Bestenfalls hockt er mit dem Team bei einer Cola, wozu Katharina ihn gebetsmühlenartig ermuntert. Lenni klinkt sich bei teambildenden Aktionen zu gern aus. Katharina zwinkert Billie zu. Wie auch immer, womöglich besteht kein Grund zur Sorge.
Beim Ausschalten der Leselampe berührt Katharinas Fuß das rätselhafte Smartphone unter der Kommode erneut und verscheucht den Anflug von Optimismus. »Sorry, Billie, aber irgendetwas stimmt nicht«, sagt Katharina laut, »dafür haben Mütter eine Antenne.«
Rasch läuft sie in ihr Schlafzimmer, zieht Jeans und einen dickeren Pulli über. Nur Sekunden später rast Katharina mit dem Auto Richtung Poller Wiesen. Ihre Gedanken kreisen um Lenni und degradieren alles, was mit Jo zusammenhängt, im Handumdrehen zur Lappalie.
Köln-Innenstadt, Dienstag
Das Handyverbot gilt für die gesamte Familie. Bei Tisch haben die Dinger nichts verloren. Natürlich nörgelten die Kinder anfangs, aber letztlich hat sich die Regel etabliert, zumindest bei Pauline und Amelie. Der Einzige, der nicht klarkommt, ist Hannes. Ihm verlangen die handyfreien Zeiten enorme Selbstbeherrschung ab. Er ist immer erreichbar, aus beruflichen Gründen, wie er betont. Raffaela hat sich durchgesetzt und wenigstens für die Mahlzeiten an seine Vorbildfunktion appelliert.
Francos Pizzeria ist gut besucht. Laufkundschaft hat kaum eine Chance, einen der begehrten Tische zu ergattern. Raffaela sitzt mit Mann und Kindern in einer Ecke, dem Stammplatz der Familie. Ins Restaurant nehmen Amelie und Pauline ihre Telefone erst gar nicht mehr mit, und Raffaela steckt ihres in die Handtasche. Aus den Augen, aus dem Sinn. Hannes’ Handy ist stumm geschaltet und liegt, wie beiläufig, neben ihm auf der Sitzbank. Man könnte meinen, dass er es nicht beachtet, aber Raffaela weiß es besser, auch wenn Hannes es diesmal unvorteilhaft platziert hat. Er kann nicht aufs Display schauen, ohne den Kopf nach links zu drehen. Ein Anfängerfehler, untypisch für ihn, den Profi. Raffaela hat dagegen freie Sicht und mitgezählt. In der letzten halben Stunde sind etliche Benachrichtigungen eingetrudelt. Die grüne Signallampe blinkt im Sekundentakt.
Raffaela denkt an den Film mit Karoline Herfurth und Elyas M’Barek, in dem die beiden Freunde zum Essen einladen. Aus einer Laune heraus verpflichten sich alle, Nachrichten, die über den gesamten Abend eingehen, offen mit der Gruppe zu teilen. Während die Frauen Feuer und Flamme sind, zögern die Männer, bevor sie sich dem Druck beugen und einwilligen. Hannes hätte sich genauso gewunden. Noch im Kino hatte sich Raffaela vorgenommen, das Experiment mit ihrem Ehemann nachzuspielen, und sie wartet auf eine passende Gelegenheit.
Hannes mimt den heiteren Familienvater und bedankt sich langatmig bei Franco. Weil er den Tisch frei gehalten und die Bestellung von vier Pizzen, allesamt mit Extrawünschen, gleichbleibend freundlich notiert hat, obwohl die Familie fast vierzig Minuten zu spät kam. Raffaela hält Hannes’ Dankbarkeitsbekundungen für übertrieben, schließlich gehören sie zu den Gästen, die laufend Geld in dieses Geschäft tragen und üppiges Trinkgeld drauflegen.
»Wir sind so spät gekommen, weil Pauline nach dem Musikunterricht am See geknutscht hat«, kräht Amelie.
»Das Fräulein Tochter hat einen Verehrer?«, fragt Franco, zwinkert Pauline zu und bewirkt mit seiner Bemerkung, dass die Achtzehnjährige rot anläuft.
Wie aus heiterem Himmel interessiert sich Pauline für Max. Der Angebetete lernt auch Geige. Allem Anschein nach sind sie nach dem Unterricht zu einer Bank am Escher See geradelt, haben sich verquatscht, was dazu führte, dass Pauline, schweißgebadet und mit glühenden Wangen, mehr als eine Stunde später nach Hause kam als gewöhnlich. Zwei Dinge findet Raffaela daran suspekt. Zum einen, dass ihre Älteste ausgerechnet am Geburtstag der Mama querschießt, und zum anderen waren Pauline Jungs oder Mädels bisher wurscht, wenn überhaupt schwärmt sie für Anne-Sophie Mutter. Die plötzliche Verliebtheitsnummer kommt Raffaela spanisch vor.
Während sie ihrer Tochter also gehörig den Marsch blies, nachdem sie sich bequemt hatte, die Familie mit ihrer Anwesenheit zu beehren, kommentierte Hannes das Zuspätkommen mit einem Daumen nach oben und den Worten »Du hast einen Freund? Cool!«.
Typisch Hannes. Den unangenehmen Part überlässt er seiner Frau. Nun scherzt er mit den Kindern und gibt den Clown. Raffaela ist gespannt, unter welchem Vorwand er gleich das Smartphone in die Hosentasche schiebt und auf die Toilette verschwindet.
»Wie war’s in der Schule?«, fragt Raffaela, um sich abzulenken.
Pauline hat eine Zwei in Englisch und Amelies Klasse Besuch von zwei Polizistinnen.
»Es gibt Typen im Internet, die geben sich als Gleichaltrige aus und freunden sich mit Kindern an«, sagt die Zwölfjährige und reißt die blauen Augen weit auf. »Das sind Männer, die Mädchen nackig sehen wollen!«
»Es geht um Sex und betrifft auch Jungs!«, sagt Pauline und kratzt mit den Zacken ihrer Gabel über die karierte Tischdecke.
»Pauline!«, sagt Hannes und schüttelt den Kopf.
»Männer haben doch keinen … äh … mit Jungen«, staunt Amelie flüsternd und wendet sich an ihren Vater. »Stimmt doch, Papa, oder?«
»Wir sprechen zu Hause darüber«, beteuert Hannes.
Raffaela hofft, dass ihre Tochter den Gesprächsfaden heute nicht mehr aufnimmt. Sie ist sich mit Hannes einig, dass sie die Mädchen über heikle Themen aufklären und unverkrampft auch schwierige Inhalte besprechen. Aber Amelie ist Mamas Schmetterling, der noch so unbekümmert umherflattert, und das soll sich das Kind so lange wie möglich bewahren.
»Solche Typen sind meist alte Säcke!« Pauline klingt gereizt und schaut Amelie an. »Das mit den Arschlöchern im Netz haben Mama und Papa uns längst erklärt.«
Amelie verzieht das Gesicht. Zurzeit verstehen sich die Geschwister überhaupt nicht.
»Was ist denn das für eine Wortwahl!«, echauffiert sich Hannes.
»Eine passende«, bemerkt Raffaela.
Hannes hüstelt, erhebt sich, gesellt sich zu Franco an die Theke und flüstert mit dem Inhaber des Restaurants. Raffaela nimmt zur Kenntnis, dass sein Handy auf der Bank liegt.
»Was hat Papa dir zum Geburtstag geschenkt?«, fragt Pauline, weniger muffelig.
»Ein Wochenende in Oslo.«
»Wie romantisch!«, lacht Amelie und klatscht in die Hände.
»Du weißt ja gar nicht, was Romantik ist«, stichelt Pauline.
»Weiß ich wohl!«
»Blödi.«
»Mama!«
Raffaela müsste Pauline zurechtweisen, aber sie hängt bei Hannes’ Geschenk, mit dem er sie am Morgen überrascht hat. In den letzten Jahren hatten seine Bemühungen deutlich nachgelassen. Den traurigen Höhepunkt bildete ein Strauß Gerbera von der Tankstelle. Am liebsten hätte Raffaela ihm die Blumen damals um die Ohren gehauen. Der Oslotrip ist dagegen ein erheblicher Fortschritt nach jahrelanger Phantasielosigkeit und Grund zur Freude, eigentlich.
Die Kinder streiten immer noch, als Hannes zum Tisch zurückkommt. Sofort beschwert sich Amelie über Pauline. Bevor Hannes Stellung beziehen kann, kommt Franco in Begleitung seiner Frau aus der Küche marschiert. Rosaria balanciert eine Amarettotorte durchs Restaurant. Auf dem Kuchen brennt eine Kerze. Singend steuern die Besitzer der Pizzeria auf das Geburtstagskind zu. »Tanti auguri a te …«
Raffaela ist ehrlich ergriffen, denn auch wildfremde Gäste stimmen ein. Sie bläst die Flamme aus und bemerkt nebenbei, dass Hannes aufsteht, um Fotos zu schießen. Von der Familie, Franco, Rosaria und der Torte. Danach verschwindet er plus Handy aufs WC, und Raffaelas gute Laune versiegt. Am liebsten würde sie die Herrentoilette stürmen.
»Pauline nennt mich Dumpfbacke«, beschwert sich Amelie.
»Pauline, lass deine Schwester in Ruhe«, leiert Raffaela herunter und stiert auf das ovale Edelstahlschild mit der Aufschrift »Gentlemen«.
»Pauline trinkt einfach von meiner Limo«, schimpft Amelie, nun lauter.
»Hört auf zu streiten, alle beide!«
»Das ist unfair«, heult Amelie, drückt ein paar Tränen ab, sitzt mit gesenktem Kopf am Tisch und versprüht wie auf Knopfdruck die Aura eines ungerecht behandelten Wesens.
Gegen ihren Willen muss Raffaela lächeln und trocknet Amelies Tränen mit ihrer Serviette. Dabei fällt ihr auf, dass sich vorn auf ihrem babyblauen Hello-Kitty-Shirt ein hässlicher Fleck befindet. »Du hast den Pulli eben erst übergezogen«, tadelt sie.
»Ach Mama«, sagt Amelie nur.
»Meine Brille rutscht andauernd«, mault Pauline, nimmt das brandneue Gestell von der Nase und betrachtet die pink akzentuierten Bügel.
»Dann geh zum Optiker«, blafft Raffaela sie an. »Lieber Himmel, du bist achtzehn. Als ich in deinem Alter war –«
»… habe ich schon zwei Jobs gehabt, meinen kranken Vater versorgt und meiner Mutter den Haushalt abgenommen«, stöhnt Pauline.
»Ganz genau«, sagt Raffaela. »Da wirst du es ja wohl allein zum Optiker schaffen.«
Pauline zieht einen Flunsch. Raffaelas Blick verfängt sich im lila-schwarz karierten Hemd ihrer Ältesten. Neuerdings trägt sie meist übergroße Sweatshirts oder Herrenhemden zu unmöglichen Jeanshosen, solchen, die über die Taille reichen. Die Mode fand Raffaela schon in den Achtzigern scheußlich. Paulines geflochtene Zöpfe findet sie allerdings niedlich, behält diese Ansicht aber für sich.
»Darf ich ein Stück vom Kuchen haben?«, fragt Amelie und bohrt einen Finger in eine der kunstvoll gespritzten Sahnehauben, die die Geburtstagstorte verzieren.
Raffaela lässt sie gewähren und starrt geistesabwesend auf die verschiedenen Schichten der Amarettotorte.
»Mama«, flüstert Pauline, setzt die Brille wieder auf und lehnt sich zu ihrer Mutter. »Ich muss dir dringend etwas sagen.«
»Jetzt nicht.«
»Es geht um Papa.«
Pauline gewinnt für einen Wimpernschlag Raffaelas Aufmerksamkeit. »Ich höre.«
»Äh, ich weiß nicht, wie –«
»Liebes Kind«, fährt Raffaela ihre Tochter an, »ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du dir genau überlegen sollst, was du zu sagen hast.«
Pauline setzt noch einmal an, überlegt es sich dann offenbar anders, lehnt sich zurück und schmollt.
Raffaela seufzt. Sie hasst sich, wenn sie so unwirsch reagiert. Aber Hannes befindet sich zu diesem Zeitpunkt schon eine gefühlte Ewigkeit auf der Toilette. Raffaela ist auf hundertachtzig und klebt am Schriftzug »Gentlemen«. Dem Wort, in dem sich Adjektive wie »gütig« oder »liebenswert« verbergen und »eine ehrliche Haut«. Eigenschaften, die Raffaela ihrem Ehemann seit einer ganzen Weile abspricht.
Sie lauert mit Tunnelblick auf die Tür, die höchstens vier Meter entfernt ist. Aus Boxen, die überall im Gastraum hängen, ertönt leise, aber eindringlich Adriano Celentanos »Azzurro« in einer Version von Paolo Conte. Der italienische Chansonnier begleitet sich ausschließlich auf dem Klavier, was dem Song einen dramatischeren Touch gibt. Raffaela schlägt ungewollt den Takt mit.
Als die WC-Tür endlich auffliegt und Hannes die Arena betritt, hält Raffaela die Torte bereits in der Hand, holt stehend aus und schleudert ihrem Ehemann den Sahne-Amaretto-Berg entgegen. Durch den Teller entwickelt das Geschoss ordentlich Speed, verfehlt nur knapp Hannes’ Kinn, kommt in der Höhe des oberen Brustbeins auf und klatscht mit einem Schmatzer auf sein gelbes Oberhemd.
Amelie und Pauline kreischen markerschütternd durcheinander, stürzen auf Hannes zu, bleiben aber unschlüssig eine Handbreit vor ihm stehen. Über sich selbst erschrocken, beobachtet Raffaela, wie die Sahnemasse im Zeitlupentempo am Oberkörper ihres Mannes ein Stück abwärtsrutscht. Bis die durchsichtige Kuchenplatte ungefähr auf Hosenbundhöhe zu Boden fällt und in mehrere Teile zerspringt. Der Kladderadatsch spielt sich innerhalb von Sekunden ab.
In der Wurfbewegung verharrt, spürt Raffaela die Blicke der Gäste, während in ihrer Wahrnehmung die Szenerie gleichzeitig einfriert. Es ist, als hätte Raffaela quer durch die Osteria gebrüllt: eins, zwei, drei, vier, Ochs am Berg. Wie bei dem Laufspiel, bei dem sich die Kinder, sobald sich der »Ochs« umdreht, nicht mehr bewegen dürfen. Genauso reagieren die Restaurantbesucher und auch der Aushilfskellner, der mit drei Pizzen beladen aus der Küche kommt. Hannes steht mit offenem Mund im Raum und stiert Raffaela ungläubig entgegen. Niemand sagt einen Ton. Auch Amelie und Pauline verstummen. Nur Paolo Conte dröhnt übertrieben theatralisch in Raffaelas Ohren. … troppo azzurro e lungo per me … Kann bitte irgendjemand Paolo den Saft abdrehen, denkt Raffaela.
Amelie und Pauline starren von der Mutter zum Vater und wissen anscheinend nicht, wie sie sich verhalten sollen. Azzurro … Raffaela rafft die Handtasche von der Rückenlehne des Stuhls und schnappt sich ihren Blazer. … troppo azzurro e lungo per me … Raffaela hält sich die Ohren zu und stelzt aus dem Lokal. Vorbei an den perplexen Blicken, Franco, den Mädchen und Hannes.
Im Nieselregen stöckelt sie, so schnell es ihre hochhackigen Schuhe erlauben, über die Straße zur Familienkutsche. Als sie sich hinters Lenkrad schwingen will, hört sie Reifen quietschen und einen dumpfen Knall. Reflexartig schaut sie über die Schulter zurück.
Zuerst bemerkt sie Pauline. Ihre Älteste steht in der offenen Tür der Pizzeria, schreit wie am Spieß und deutet mit einer Hand zur Straße. Raffaela registriert den schwarzen VW-Bus, der quer auf der Fahrbahn steht, und erfasst die beiden Männer, die zu dem seltsam verdrehten Körper eilen, der auf dem feuchten Asphalt liegt, in einem himmelblauen Shirt. Azzurro. Warnlichter blinken, verdoppeln sich im Widerschein auf dem nassen Untergrund. Raffaelas Verstand weigert sich, eins und eins zusammenzuzählen. Amelie trägt heute auch ein blaues Shirt, das ist alles, was sie zulässt.
Hannes läuft ins Bild und fällt neben dem regungslosen kleinen Körper auf die Knie. Durch das gelbe Hemd ist er leicht zu sehen, am Unfallort, im Abendlicht. Das beruhigt Raffaela, und sie weiß, dass sich das Opfer, wer immer es ist, in fähigen Händen befindet. Hannes mag ein lausiger Ehemann sein, aber er ist ein phantastischer Ersthelfer.
Raffaela konzentriert sich wieder auf Pauline, die im Eingang der Pizzeria verharrt. Franco hat seine Hände auf ihre Schultern gelegt. Pauline schreit nicht mehr, hat die Fäuste in die Taschen ihrer Jeans geschoben und schaut ins Kobaltblau des Firmaments. Azzurro. Ein Flugzeug schwebt in großer Höhe, die Tragflächenbeleuchtung blinkt rhythmisch. Wohin es auch fliegt, Raffaela wünscht sich an Bord, zusammen mit den Mädchen und Hannes, die Augen starr auf den Familienfilm gerichtet. »Ratatouille« oder, wenn es denn sein muss, zum x-ten Mal »Findet Nemo«. Raffaela ist kein gläubiger Mensch, aber in dieser Situation formen ihre Lippen automatisch die Worte, die in ihrem Gedächtnis schlummern. Gegrüßet seist du, Maria.
»RAFFAELA!«
Hannes schreit, kommandiert Befehle, gestikuliert frenetisch und deutet auf die Gestalt am Boden, die ein himmelblaues Hello-Kitty-Shirt trägt. Azzurro … e vengo, vengo da te. Raffaela setzt sich widerwillig in Bewegung. Viel lieber würde sie unter der Glocke verweilen, das kobaltblaue Vakuum erhalten. Aber Hannes zitiert sie unüberhörbar an seine Seite und zwingt sie zu erfassen, was sie nicht realisieren will.
Köln-Poll, Dienstag
Katharina Faßbender erreicht die Fußballwiese am Rheinufer, parkt vor dem Zaun, hinter dem sich Schrebergärten befinden, vis-à-vis des Vereinsheims der Raderthal Kickers. Die Poller Fußballteens dürfen das Gebäude vor und nach ihrem Training nutzen. Sie schaltet den Motor aus und entdeckt die Trainerin, die mit einem Netz voller Bälle in der Hand in ein Fahrzeug einsteigen will. Schleunigst lässt Katharina die Seitenscheibe herunter.
»Hey, ist Lenni mit dem Team Pizza essen?«
»Keine Ahnung.«
»Wann ist er denn los?«
Die Trainerin legt die Bälle ab, stemmt eine Hand in die Hüfte und kommt ein paar Schritte näher. »Die richtige Frage müsste lauten, wann Ihr Sohn mal wieder regelmäßig zum Training erscheint.«
»Wieso?«
»Mal kommt er, mal nicht, jetzt ist er schon wieder drei Wochen nicht da gewesen.«
»Wie bitte?« Katharina glaubt, sich verhört zu haben. »Und warum rufen Sie dann nicht mal an und erkundigen sich nach Lenni oder informieren uns?«
»Weil die Jungs mir gesagt haben, dass er krank ist. Weiß ich, wie lange er braucht, um gesund zu werden? Ich bin Lennis Coach und nicht seine Tagesmutter.«
»Aber –«
»Und außerdem hat mir sein Vater zu verstehen gegeben, dass ich meine Nase nicht in Lennis Angelegenheiten stecken soll, damals, als ich bei Ihnen erschienen bin, weil der Junge beim Training regelmäßig patzte.«
Katharina erinnert sich. Meyer hat eines Tages vor der Tür gestanden und Kritik an Lennis Verhalten geübt. Jo hatte die Trainerin in die Schranken gewiesen und sich jede Einmischung verbeten. Brüskiert war Meyer abgezogen. Lenni hatte seinen Vater angemotzt, denn der Junge hielt große Stücke auf die Trainerin. So wie der komplette Stadtteil. Coach Meyer gehört zu Poll wie das berühmte Aurora-Logo im Deutzer Hafen, an der Fassade des einst großen Mühlenimperiums der Familie Auer. Zur Blütezeit des Unternehmens waren hier bis zu dreitausend Sack feinstes Mehl am Tag gemahlen worden. Katharina schweift gedanklich ab, im Nu dreht Coach Meyer ihr den Rücken zu und stapft davon.
»Das war damals doch eine völlig andere Situation«, ruft Katharina ihr hinterher und lehnt sich aus dem Fenster. »In Zukunft möchten wir informiert werden, wenn Lenni das Training verpasst!«
»Mal so, dann wieder so«, schimpft Meyer und klettert in ihre antiquierte Karre. »Helikoptermutter.« Sie gibt Gas und verschwindet.
Katharina schluckt den Kraftausdruck herunter, der ihr auf der Zunge liegt. Sie angelt das Smartphone hervor und will es gerade noch einmal bei Jo versuchen, da sieht sie den jungen Mann, der die Trainerin unterstützt, aus dem Vereinsheim der Kickers kommen.
Katharina steigt aus dem Wagen. »Hallo! Ich suche Lenni!«
Der Assistent vergräbt die Hände in den Taschen der Jogginghose. »Ich bin wie diese Affen. Blind, taub und stumm.«
»Was soll das denn heißen?«, fragt Katharina.
Er bleibt eine Antwort schuldig und fährt mit einem Klapprad davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Leichter Nieselregen setzt ein. Katharina setzt die Kapuze ihres Parkas auf, drückt Jos Nummer und landet wieder bei der Mailbox. Resigniert lässt sie das Mobiltelefon in die Jackentasche gleiten. Sie ist auf sich gestellt, völlig allein. Nicht gerade eine neue Erkenntnis, aber diesmal trifft sie die Realität brutal. All die Jahre hat sie nach Jos Pfeife getanzt, sich arrangiert und zufriedengegeben.
»Halten Sie sich für einen wertvollen Menschen?«, hat der Psychologe gefragt, bei dem sie ein paar Sitzungen absolvierte. Anstelle einer Antwort fing Katharina an zu weinen und schaffte es während des gesamten Termins hindurch nicht, sich wieder zu beruhigen. Eine irritierende Stunde. Und anstatt den emotionalen Ausbruch als Alarmsignal zu deuten, hatte sie die Behandlung unter einem Vorwand abgebrochen.
Katharina ruft Cleo an. Leider klingt das, was Lennis beste Freundin sagt, eher beunruhigend.
»Lenni und ich haben uns gefetzt und gehen uns seit Wochen aus dem Weg.«
Katharina ist von dieser Nachricht völlig überrumpelt. Aber wenn sie so darüber nachdenkt, hat Lenni Cleo ewig nicht erwähnt.
»Nur damit ich dich richtig verstehe«, sagt sie. »Zwischen euch herrscht Funkstille?«
»Yep und sorry, ich will nicht drüber reden.«
Katharina hat tausend Fragen, schiebt ihr Befremden aber zusammen mit dem mulmigen Gefühl beiseite. »Okay, hängt Lenni mit Emil ab?«
»Mit wem?«
»Na Emil!«
»Hm?«
»Cleo, nun hör mir mal genau zu. Ich mache mir wirklich Sorgen. Lenni ist extrem überfällig, und ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun. Also, wenn du irgendetwas weißt, dann sag es mir bitte.«
»Ich schwöre, ich kenne keinen Emil! Aber hey, heute ist Training, Lenni könnte mit dem Team –«
»Er war wochenlang nicht beim Sport.«
Schweigen.
»Wusstest du davon?«
»Äh …«
»Cleo, raus mit der Sprache!«
»Ich habe doch gesagt, dass wir uns gestritten haben. Ich krieg nix mehr von Lenni mit!«
»Magst du mir nicht doch sagen, was vorgefallen ist?«
»Nein.«
Katharina ist überrascht, wie kategorisch Cleo klingt, und beendet das Gespräch. Sie fröstelt, und das liegt nicht an den Temperaturen. Cleos schroffe Art und die Ungereimtheit in Bezug auf Emil steigern ihre Sorge. Wieso behauptet sie, Lennis Freund nicht zu kennen? Ist da Eifersüchtelei im Spiel? Lenni hat neulich so eine Andeutung gemacht, aber jetzt geht es nicht um solchen Kinderkram.
Katharina hätte Cleo reifer eingeschätzt und ihr zugetraut, dass sie den Ernst der Lage begreift. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten. Kein Blatt passte früher zwischen sie, auch in den Ferien waren sie stets ein Herz und eine Seele. Mal reiste Lenni mit Cleos Familie auf einen Campingplatz am Edersee, oder die Kleine flog mit nach Mallorca.
Der Regen lässt nach. Katharina steckt ihr Mobiltelefon ein und steigt in den Wagen. Jugendliche zanken sich, um dann wieder aneinanderzuhängen wie Kletten. Wer sich einmischt, kann nur verlieren. Davon abgesehen dividieren sich einst innige Kontakte in der Pubertät manchmal auseinander. Solche Sachen liest Katharina in Erziehungsratgebern, die sie regelmäßig verschlingt. Ganz zur Belustigung von Jo, den derartige Anleitungen amüsieren. Er hält Katharina für eine Glucke und schätzt sie als hyperbesorgt ein, wenn es um Lenni geht. Zum Teufel mit Jo. Wer durch Abwesenheit glänzt, verliert jedes Mitspracherecht. Katharina startet den Motor. Sie weiß, was sie zu tun hat. Das Polizeipräsidium liegt ganz in der Nähe.
Köln-Stammheim, Dienstag
Hauptkommissarin Lou Vanheyden begleitet Frau Erkrath nach nebenan. Dort ist das Licht warm, jemand hat ein Tuch über den Lampenschirm geworfen. Ein Mädchen mit Lockenkopf kniet auf der unteren Matratze eines Etagenbetts, das in der Ecke steht, brüllt sich die Seele aus dem Leib und streckt die Arme nach der Mutter aus. Sie ist höchstens fünf Jahre alt. Auf ihrem verwaschenen Nachthemd verblassen aufgedruckte Sterne. Direkt neben der Kleinen befindet sich ein Kinderwagen, in dem ein Baby schläft. Kaum zu glauben bei dem Krach.
»Sofia, hör auf zu heulen.« Frau Erkrath verfrachtet das brüllende Kind etwas ruppig unter die Decke, postwendend klagt es noch lauter. »Pssst! Du weckst noch deine Schwester!«
Lou scannt die wenigen Quadratmeter. Der Raum wartet mit Mängeln auf, die in Altbauwohnungen leider häufig zu finden sind. Einfach verglaste Scheiben, marode Holzrahmen an den Fenstern, Schimmelflecken in den Ecken. Drei vollgestopfte Schränke, deren Türen halb offen stehen, nehmen den meisten Platz ein. Überall sind bunte Plastikkisten verteilt, gefüllt mit Krimskrams oder Spielzeug. Ein Schreibtisch dient als Aufbewahrungsort für unsortierte Kleidungsstücke und Handtücher. Staubsauger und Bügelbrett werden hinter der Tür verwahrt. Stimmen dringen durch die dünne Wand, in der Küche wird es laut.
»Mein Mann macht keine krummen Sachen mehr, seitdem die Kinder da sind«, schimpft Frau Erkrath und lässt die Rollläden herunter.
Ihre füllige Figur steckt in einem dunkelbraunen Hausanzug. Unten den Augen zeichnen sich dunkle Ränder ab, und die schwarzen Haare sind am Ansatz grau nachgewachsen. »Ihr stellt einfach Behauptungen auf, stürmt zur Schlafenszeit die Wohnung anständiger Leute und verbreitet Angst.«
Lou betrachtet das schlummernde Baby im Wagen. Das Kind hat die rosigen Fäuste geballt und wirkt zerbrechlich.
»Ist doch wahr!«, fährt Frau Erkrath fort. »Jeder weiß doch, dass ihr euch andauernd in den Türen vertut! Unbescholtene Bürger plattmachen, das ist alles, was ihr draufhabt! Kümmert euch lieber um die richtigen Verbrecher, die verdammten Kinderschänder zum Beispiel, da habt ihr genug zu tun!«