10,99 €
Es ist ein klirrend kalter Januar. In den Sälen des Geologischen Museums trinken sich die Größen der Modewelt warm für die Copenhagen Fashion Week, als draußen im Schnee der Designer Bartholdy zusammenbricht. Jeppe Kørner und Anette Werner ermitteln in dem Fall. Und der ist besonders brisant, denn Jeppes bester Freund ist seit dem grausamen Mord an Bartholdy unauffindbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 492
Katrine Engberg
Ein Kopenhagen-Krimi
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Diogenes
Für meinen Vater, Jan Leon Katlev, den Mann im Mond.
These are grand words; we must make sure
we deserve them.
Listen to them again: »I love you.«
Julian Barnes
Delilah stützte sich mit den Händen an der rauhen Backsteinmauer des Toilettenhäuschens ab, damit der Kunde sie besser von hinten nehmen konnte. Mit ihren hochhackigen eins achtzig war sie wesentlich größer als er. Außerdem war er nicht sonderlich gut ausgestattet, er hatte keinen richtigen Steifen. Ungeduldig packte er sie im Nacken und stieß sie nach unten. Angst hatte sie nicht. Sollte er gewalttätig werden, würde ihr Zuhälter ihn aufhalten, er beobachtete sie von seinem Posten am schmiedeeisernen Zaun.
Sie fror. Wie jeden Tag, seit sie vor bald einem Jahr hierhergekommen war. Sommers wie winters. Heute war es jedoch schlimmer als sonst, der Wind strich ihr um die nackten Schenkel und drang unter die Daunenjacke. Dieser Januar war einer der kältesten seit Menschengedenken. »Eishölle« hätte sie es genannt, wenn sie gefragt worden wäre. Aber es fragte sie niemand. Die Eisschicht auf dem Gehsteig knackte bei jedem Schritt, wenn sie tagsüber auf der Skelbækgade auf und ab ging. Immerhin trieb sich bei der Kälte auch niemand in den Parks herum, und sie konnte in Ruhe ihre Kunden bedienen.
Sie beugte sich weiter vor, summte vor sich hin und überlegte, was sie ihrem Sohn zum Geburtstag schicken könnte. Vielleicht ein rotes Auto mit Fernsteuerung, das würde ihm gefallen.
Inzwischen bumste der Mann sie entschlossen und gab dazu grunzende Laute von sich.
Delilah legte den Kopf in den Nacken und sah ein Stückchen des Nachthimmels. Da war derselbe Mond, den man in Ghana sehen konnte, dieselbe Sehnsucht. Es fehlte nur noch wenig zum Vollmond.
Sie bemerkte den Penner erst, als ihr Kunde plötzlich anfing zu brüllen.
»Hau ab! Du stinkst nach Pisse!« Er schlug nach dem Mann, ohne von ihr abzulassen.
Der Obdachlose stand direkt neben ihnen und schwankte bedrohlich. Er sah ordentlicher aus als die meisten Penner, aber sogar in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass er bleich war. Drogensüchtig. Auch bei noch so großen Mengen an Alkohol bekam man nicht diesen dumpfen Blick.
»Hilfe!«
Er flüsterte das Wort so heiser, dass es beinahe im Stöhnen ihres Kunden unterging, doch wenn es ein Wort gab, das sie in allen Sprachen und Lautstärken verstand, dann dieses.
Sie sah den Obdachlosen fragend an, aber er schien sie nicht zu sehen, er öffnete nur den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Dann verdrehte er die Augen und ruderte mit den Armen, ein trockenes Röcheln entfuhr seinem weit aufgerissenen Mund.
Er würgte heftig und übergab sich.
Das Erbrochene war dunkel und stank. Zwischen zwei Krämpfen öffnete er den Mund zu einem lautlosen Schrei an den Mond. Seine Zunge war blutig, das Fleisch der Mundhöhle zerfressen. Wie geschmolzen.
Er ging in die Knie und fiel in den Schnee.
Tief unter ihnen war das elektrische Kreischen einer S-Bahn zu hören.
Ihr Kunde zog die Hose hoch und lief auf das Tor zur Nørre Voldgade zu.
»Hey, you diddan pay, man!« Delilah schrie vor allem, damit ihr Zuhälter sie hörte. Er würde schon für ihre Bezahlung sorgen, bevor der Mann mit eiskalten Hoden und brühwarmen Lügengeschichten in seinem Familienwagen in eine der Vorstädte nach Hause fuhr.
Sie fischte ein Feuchttuch aus der Packung und wischte die Gleitcreme von den Pobacken, bevor sie sich neben den Obdachlosen hockte und ihn schüttelte. »Yo! Yo, brother, are you okay?«
Bei dem Gestank und dem Anblick seines zerfetzten Mundes wurde ihr übel. »You gonna freeze to death, man.«
Keine Reaktion.
Sie sah sich um, bemerkte aber niemanden. Nicht einmal den Schatten, der wenige Meter entfernt in der Dunkelheit der Büsche stand und sie beobachtete, ohne ein Geräusch von sich zu geben.
Das Mondlicht schien klar und kalt auf den Schnee. Sie beugte sich über die Gestalt, griff zu und drehte ihn um. Hob vorsichtig einen Zipfel seiner Jacke und steckte die Hand hinein.
Eine Brieftasche. Mit einer erstaunlichen Summe an Bargeld, soweit sie es beurteilen konnte. Sie überprüfte sein Handgelenk und befreite ihn von einer überraschend eleganten Armbanduhr.
Dann schob sie die Schätze in ihr Höschen, schloss den Reißverschluss ihrer Daunenjacke und ging mit raschen Schritten auf die Straßenlaterne zu.
»Ja. Hm, hm. Ørstedspark? Okay, ich komme.«
Polizeiassistent Jeppe Kørner erwachte beim Geräusch seiner eigenen schlaftrunkenen Stimme und stand auf. Die Routineabläufe hatte er verinnerlicht, er musste keinen Gedanken daran verschwenden: eine lange kalte Dusche, lange Unterhose unter die Jeans, Notizbuch, eine warme Mütze über das frisch gefönte Haar. Schon wenige Minuten nach dem Anruf stand er im Flur und schloss den Reißverschluss seiner Fleecejacke.
Sein Blick streifte sein Spiegelbild, das ihm seltsam unscharf erschien. Er kontrollierte kurz Gesicht und Kleidung. Noch immer hatte er eine gute Farbe, obwohl er bereits vor zwei Wochen in die Dunkelheit und Kälte zurückgekommen war. Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte er sich so eine Reise gegönnt: vier Wochen Westaustralien, von Perth die Küste hinauf bis Broome. Ein erheblicher Teil seiner Ersparnisse war dabei draufgegangen, aber es hatte sich mehr als gelohnt. Er war als ausgebrannter, von Rückenschmerzen gequälter und von Medikamenten abhängiger Mann aufgebrochen. Ohne Glaube an die Liebe, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Jetzt war er wieder in der Spur.
Jeppe nahm die Autoschlüssel vom Haken, überprüfte, ob seine Polizeimarke und ein aufgeladenes Telefon in seiner Manteltasche steckten, und zog die Haustür hinter sich zu. Die Kälte schlug ihm direkt ins Gesicht. Sie kroch unter die Kleidung und unter die Haut und ließ seinen Lebensmut langsam, aber sicher wieder gefrieren.
Der Wagen startete erst beim dritten Versuch. Jeppe ließ den Motor laufen, während er rasch die Eisblumen von der Frontscheibe kratzte. Vorsichtig fuhr er durch den Schnee in Richtung Innenstadt. Es war halb vier Uhr morgens, und Kopenhagens Straßen glichen einer verlassenen Filmkulisse.
An der Kreuzung Nørre Farimagsgade und H.C. Andersens Boulevard hielt Jeppe an der Bordsteinkante vor dem Ørstedspark. Auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Gitters sah er Licht, vermutlich die Kriminaltechniker vom NKC, des Nationalen Kriminaltechnischen Centers, die bereits ihre Scheinwerfer aufgestellt hatten. Jeppe nickte den beiden Beamten an der Absperrung zu und betrat den direkt hinter dem Tor gelegenen Spielplatz.
Vor dem Toilettenhäuschen war eine Gruppe Spurensicherer in blauen Schutzanzügen zugange. Als Jeppe näher herantrat, sah er einen Schatten im Schnee. Die Leiche. Sie lag in embryonaler Haltung zusammengekrümmt auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen; der ganze Körper war um die Stelle gerollt, an der ihn eine Nabelschnur einst mit Leben versorgte – die letzte Stelle, an der die Wärme verschwindet, bevor man vor Kälte stirbt. Wir verlassen die Welt, wie wir sie betreten.
Jeppe seufzte. Was für eine Verschwendung.
Eine Gestalt kam ihm aus der Gruppe der Blaugekleideten entgegen. Jeppe erkannte ihn als Lima 11, den wachhabenden Einsatzleiter, der bei Leichenfunden immer als Erster gerufen wurde, um das weitere Vorgehen festzulegen.
»Kørner, willkommen.«
»Ja, danke. Was haben wir?« Jeppe wischte sich mit einem Handschuh diskret über die vor Kälte tränenden Augen. Diese verdammte Kälte!
»Ein Obdachloser, wie es aussieht. Todesursache: Suff und Kälte. Hat überall hingekotzt und sich dann schlafen gelegt.«
»Okay. Irgendetwas Außergewöhnliches?«
»Nicht unmittelbar. Allerdings gibt es keine Zeugen, die Todesursache ist unklar, und der Tote hat keinerlei Papiere bei sich, daher müssen wir den Todesfall bis auf weiteres als verdächtig ansehen. Die Standardprozedur.«
»Wer hat ihn gefunden?«
Der Einsatzleiter befragte seine Notizen auf einem kleinen Block. »Ein Streifenwagen des Innenstadtreviers fand ihn um 01:54 Uhr leblos, der zuständige Notarzt erklärte ihn um 02:21 Uhr offiziell für tot. Die Techniker sind kurz nach drei gekommen und haben angefangen, ihre Scheinwerfer aufzubauen. Eine verdammte Schufterei bei der Dunkelheit und Glätte.«
»Ist der Rechtsmediziner schon da?«
Der Einsatzleiter hob das Kinn zu einem bestätigenden Nicken in Richtung einer großen Gestalt am Toilettenhäuschen. Kein Geringerer als Nyboe persönlich. Eigentlich war es unter der Würde des dienstältesten Staatlichen Pathologen und Professors der Rechtsmedizin, mitten in der Nacht im Ørstedspark zu stehen.
Jeppe zog sein Notizbuch aus der Tasche und ging zu ihm.
»Hej, Nyboe, was verschafft uns die Ehre?«
Nyboe war ein hochgewachsener Mann, der sich sein ganzes Leben lang zu seinen Gesprächspartnern hatte hinunterbücken müssen. Inzwischen war sein Nacken krumm, und in den weißen, kurzgeschnittenen Haaren zeigte sich ein blanker Fleck. Seine Augen strahlten jedoch nach wie vor Autorität aus, und mangelnde Selbstsicherheit konnte man ihm gewiss nicht nachsagen.
Er drehte sich um und nickte kurz.
»Ich kann im Winter nicht schlafen. Von Oktober bis März bin ich eine Nachteule. Die Dunkelheit hält mich wach, da kann ich ebenso gut arbeiten.« Nyboe fuhr mit der Hand durch sein spärliches Haupthaar. Er sah müde aus. Verfroren. Jeppe hätte ihm gern seine Mütze angeboten, ließ es aber. Nyboe war nicht der Typ, der diese Art von Fürsorge geschätzt hätte. »Es gibt eine Menge Spuren von Schuhsohlen im Schnee. Aber nachts ist hier im Park trotz der Kälte ja einiges los, daher sollten wir nicht allzu viel erwarten.«
»Was wissen wir bisher?«
»Wir wissen nicht sehr viel, wir sind ja gerade erst gekommen. Aber ich gehe davon aus, dass wir es mit einem obdachlosen Mann zu tun haben, der sich mit billigem Fusel abgefüllt hat, bevor Väterchen Frost ihn zu Bett gebracht hat.«
Jeppe unterdrückte ein Gähnen. »Es gibt also unmittelbar keinen Grund für meine Anwesenheit?«
»Nein. Wir müssen bei der Leichenschau entscheiden, ob es nötig ist, ihn zu obduzieren, aber ich glaube es eher nicht. Wir schaffen ihn gleich weg, aber ich sehe keinen Grund, dass du mitkommen musst.«
»Sicher?«
Der Rechtsmediziner sah Jeppe an, als hätte er ihn beleidigt.
»Ich informiere die Streifenwagenbesatzung über meine Resultate, du erhältst dann ihren Bericht.«
»Gut, okay, ich sehe mich nur noch ein bisschen um.«
Nyboe nickte gnädig. »Solange du nicht im Weg stehst.« Er zog seine Handschuhe an und hockte sich neben die Leiche. Jeppe sah ihm über die Schulter.
Der Tote lag neben dem Toilettenhäuschen. Das Gesicht wurde von strähnigen dunklen Locken verborgen, die unter einer Wollmütze hervorlugten; in den Schlagschatten der blendenden Arbeitslampen waren glattrasierte Wangen und helle Haut zu erahnen. Über dem Strickpullover trug er einen dunklen Wollmantel, der durchaus einem Geschäftsmann hätte gehören können, wären da nicht diese aufgenähten Embleme und die Flecken des Erbrochenen gewesen.
So hätte es mir auch ergehen können, ging Jeppe flüchtig durch den Kopf, als er sich ein paar Schritte von der Leiche entfernte. Hätte er sich nicht erneut auf das Leben eingelassen, was wäre dann mit ihm passiert? Nachdem er an Silvester vor einem Jahr von seiner Frau verlassen worden war, hatte Jeppe die folgenden Wochen auf dem Sofa seines besten Freundes Johannes verbracht – und den Rest des Jahres in einem Dämmerschlaf aus Psychopharmaka. Es war eine finstere Zeit gewesen. Doch das Leben hatte ihn wieder. Dieses Jahr hatte er Silvester an den roten Felsen von Nature’s Window gefeiert, mit kaltem Bier auf dem Campingplatz und Sex im Zelt. Sex mit der jungen, hübschen Hannah. Endlich war er über seinen Liebeskummer hinweg und wünschte Therese und ihrem breitschultrigen Liebhaber ein gutes neues Jahr voller langer Nächte mit ihrem Säugling.
Jeppe fotografierte die Leiche und das Toilettenhäuschen, notierte sich die wichtigsten Fakten und sagte dem Team gute Nacht, bevor er dem grellen Licht den Rücken kehrte und zurück zum Auto ging. Bis zum Dienstantritt konnte er noch ein paar Stunden schlafen.
Apropos Johannes. Jeppe schrieb ihm eine SMS, um ihn an das Bier nach Feierabend zu erinnern, das sie an diesem Abend trinken wollten. Als Schauspieler war Johannes häufig bei Dreharbeiten im Ausland oder musste abends arbeiten; außerdem war er flatterhaft und vergesslich. Johannes hatte ihn mehr als einmal versetzt, doch Jeppe störte es nicht, ihn wie ein Bittsteller an die Verabredung zu erinnern. Eine fünfundzwanzigjährige Freundschaft überlebt auch kleine verletzte Eitelkeiten. Jeppe drehte die Heizung des Wagens hoch und fuhr nach Hause.
Als er die Haustür aufdrückte, hörte er, wie sein Rucksack hinter der Tür umkippte und das Campingbesteck über den Fußboden rollte. Er hatte es immer noch nicht fertiggebracht, ihn in den Keller zu bringen, es kam ihm zu endgültig vor, beinahe illoyal. Der Rucksack war immerhin vier Wochen so etwas wie ein Zuhause gewesen und hatte alles enthalten, was Jeppe brauchte, um in der Welt zurechtzukommen. In dem halbleeren Flur bedeutete der Rucksack ein Quadratmeter Leben in einem hundertvierzig Quadratmeter toten Haus. Bis vor einem Jahr war es Thereses und sein gemeinsames Heim gewesen, nun stand es zum Verkauf. Jeppe konnte es sich nicht leisten, Therese herauszukaufen, und was sollte er auch allein mit einem Haus in Valby?
Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Er hatte es mit dem Verkauf nicht eilig. Vielleicht im Frühjahr.
Que sera, sera. Whatever will be, will be …
Der Song setzte sich in seinem Hinterkopf fest, er konnte nicht einschlafen. Die rechte Seite seines Gehirns spielte zu jeder erdenklichen Tageszeit gern unfreiwillige Endlosschleifen von allen möglichen Popsongs. Die Polizeipsychologen nannten es ein Stresssyndrom. Jeppe gähnte und ließ die Musik hinter den Frontallappen spielen.
The future’s not ours to see …
»Leck mich!«
Die Polizeiassistentin Anette Werner sah auf ihre Uhr und überlegte, das Projekt zu verschieben. Es war bereits acht, und sie hasste es, zu spät zu kommen. Den ganzen Morgen war sie schon knapp dran. Sie war mit Svends insistierender Morgenerektion an ihrem Hinterteil aufgewacht und hatte kaum Zeit für eine ordentliche Dusche, geschweige denn ein Frühstück gehabt, bevor sie aus dem Haus kam. Aber sie konnte es nicht länger aufschieben. Anette stellte die Parkscheibe ein, warf die Wagentür hinter sich zu und betrat die Steno Apotheke.
Die Apotheke war ungewöhnlich leer, sie ging sofort zu einer der Kassen.
»Guten Tag, ich hätte gern ein Blutdruckmessgerät.«
»Haben Sie eine Nummer gezogen?« Die Frau hinter der Theke sah sie durch ihre kräftigen Brillengläser streng an und druckte weiter Etiketten aus.
»Aber hier ist doch sonst niemand.«
»So wird das bei uns aber gemacht.«
Anette ging zum Eingang, zog eine Nummer aus dem Apparat und ging mit dem Zettel zurück zur Kasse.
»Hier!«
»Ich muss Sie erst aufrufen. Wenn Sie bitte einen Schritt zurücktreten und auf die Nummern an der digitalen Anzeige achten würden. Danke.«
Anette spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Wenn Frau Apothekerin sie nicht bald bediente, würde sie ihr persönlich den Nummerndrucker so tief in ihren strammen Apothekerinnenarsch schieben, dass sie die ganze Woche Zettelchen schiss.
Nach einer vollen Minute drückte die Apothekerin Anettes Nummer, und sie durfte 499,95 dänische Kronen für ein vollautomatisches, elektrisches Blutdruckmessgerät mit der dazugehörigen Gebrauchsanweisung bezahlen. Die Ermahnung, ihren Hausarzt zu konsultieren, erhielt sie gratis dazu. Als Anette die Apotheke verließ, war ihr Blutdruck so hoch, dass sie im Auto fünf Minuten stillsitzen musste, bevor sie es wagte, den Apparat auszuprobieren.
Füße parallel stellen, Arm locker lassen, kein Stress. Die Manschette entleerte sich, und sie schielte auf das Display der Maschine. 172/118 mmHg. Das war eindeutig zu hoch. Ihr Hausarzt hatte sie stets mit der Versicherung nach Hause geschickt, dass sie stark wie ein Bär sei. Aber jetzt würde er sie nicht einfach mit einem Klaps auf die Schulter aus der Praxis entlassen. Anette legte das Messgerät zurück in den Kasten. Vorerst musste es im Auto bleiben, das Handschuhfach war gerade groß genug.
Außer Atem und mit hochroten Wangen stürzte sie kurz darauf in das Büro, das sie sich mit Jeppe Kørner im Polizeipräsidium teilte, und schälte sich aus Mantel und Halstuch. Der dunkle, hohe Korridor, der die Büros der Abteilung für Gewaltkriminalität, Sektion 1 – gemeinhin Mordkommission genannt –, miteinander verband, war verlassen und still. Leer wie ein russisches Winterpalais und tatsächlich auch ebenso kalt.
Zu Beginn des neuen Jahres hatte die Polizei außerordentlich viel zu tun gehabt, außerdem war die Abteilung durch Stress, Grippe und einen Berg an Überstunden, die abgebaut werden mussten, dezimiert. Darüber hinaus litt die gesamte Organisation an einer vollkommen überzogenen Normierung der Umzugsvorbereitungen in das neue Hauptquartier der Polizei auf Teglholmen. Die Abteilung für Drogen- und Bandenkriminalität war bereits umgezogen, aber durch eine fehlerhafte Kalkulation war das neue Gebäude im Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf unterdimensioniert, daher konnte die Mordkommission bis auf weiteres im Präsidium bleiben.
»Ich wusste gar nicht, dass wir erst im Laufe des Vormittags zum Dienst antreten müssen? Ist das so eine Art Schichtwechsel, von dem ich nichts mitbekommen habe?« Wenn das ein Witz sein sollte, war er nicht lustig. Nach seinem ewig langen Urlaub musste Jeppe sie jedenfalls sicher nicht maßregeln.
»Wenn du so pünktlich hier warst, hättest du uns wenigstens ein Croissant zum Frühstück mitbringen können.« Anette knöpfte ihren Cardigan auf und konstatierte dann, dass es zu kalt war, um so dazusitzen. »Ich hatte unterwegs noch etwas zu erledigen. Und ja, ich hatte einen guten Morgen – danke der Nachfrage.«
»Ich habe nicht gefragt.«
»Eben!«
Anette blickte auf das alte Quecksilberthermometer an der Wand. Fünfzehn Grad. Jeppe schien das nicht zu stören. Sie ging in die Hocke und fummelte am Heizkörper.
»Im Übrigen ist das keine gute Idee mit den Croissants, Anette. Das ist nicht gut für uns.«
»Nicht gut für mich, meinst du wohl?« Anette hob den Kopf und blickte ihren Partner mürrisch an. An manchen Tagen war sein erhobener Zeigefinger einfach unerträglich.
»Weißes Mehl ist einfach ungesund. Liest du denn keine Zeitung?« Jeppe bürstete unsichtbare Partikel von seinem Pullover und inspizierte seine Handflächen.
»Um Gottes willen! Komm mir jetzt nicht wieder mit deiner Ernährungspredigt, Jeppe, ich bitte dich! Es ist schon Strafe genug, dass ich den ganzen Tag mit dir in diesem Büro eingesperrt bin.«
Sie richtete sich wieder auf und schaltete ihren Computer ein, um POLSAS zu starten, das veraltete Berichtsystem der Polizei. »Ich gehe kurz in die Küche, ich sterbe vor Hunger.«
Anette marschierte aus dem Büro und spürte, wie Jeppes Blick ihrem inzwischen recht ansehnlichen Hinterteil folgte. Sein Kurzzeitgedächtnis war ausgesprochen löchrig, er hatte wahrlich keinen Grund, ihr etwas vorzuwerfen. Erst vor wenigen Monaten hatte er bei der geringsten Anstrengung gekeucht und seinen Hunger mit Kaffee und Schokoladenriegeln gestillt. Sie fand im Kühlschrank eine Packung Toast und Salami und schmierte sich ein paar Brote. Es war leicht, schlank zu bleiben, wenn man mit einer vierundzwanzigjährigen Veganerin in Australien herumzog und sich nur von Luft und Liebe ernährte.
Als sie zurückkam, hatte Jeppe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Unter seinen Stiefeln lag neben den Unterlagen und Notizen zu den Fällen der letzten Monate, die eigentlich als Grundlage für eine Evaluierung der Personalentwicklung dienen sollten, ein Stapel Belege, der sortiert und in die Buchhaltung gebracht werden musste. Es schien mit anderen Worten einer der Tage zu werden, an denen Anette bedauerte, nicht Zahnärztin geworden zu sein.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und balancierte dabei auf jeder Hand ein Salamibrot, eine Scheibe fiel jedoch auf den Tisch. Anette hob sie rasch auf und stopfte sie sich in den Mund.
Jeppe wandte den Blick ab.
»Da du die morgendliche Besprechung verpasst hast, weißt du vermutlich nichts über den toten Obdachlosen von heute Nacht?«
»Nein. Was ist passiert?« Anette schob ihren Bissen in die Backentasche, um artikulierter zu klingen. »Ein Samstagsopfer?« Es war zwar Donnerstag, doch sie bezog sich damit auf die Wochenendsäufer, von denen im Winter immer mal wieder einer draußen in der Kälte erfror.
»Tja, sieht so aus. Ich hab’s mir angesehen, aber Nyboe meinte, es sei nichts für uns.«
»Heute Nacht? Wo?«
»Im Ørstedspark. Auf dem Spielplatz an der Farimagsgade. Sie haben mich gegen drei angerufen.«
Anette nickte. »Du meinst den H.C. Ørstedspark.«
»Nein, du Bauerntrampel, er heißt Ørstedspark und nicht anders. Das weiß jeder echte Kopenhagener.« Jeppe verdrehte die Augen.
»Sag mal, wohnst du nicht in Valby?«
»Nur mittelfristig.«
»Hm.« Anette brummte skeptisch und überlegte, ob sie noch weiter mit ihm diskutieren wollte.
Es wurde still im Büro, mal abgesehen von Anettes Schmatzen und dem Knarren der Stühle. Jedes Blatt der Akten auf ihrem Schreibtisch würde sie ein kleines Stück ihrer Lebenszeit kosten.
Der laute Klingelton des Telefons zerriss die Stille und versetzte beiden einen Schock. Das Festnetztelefon. Es klingelte selten. Jeppe sah Anette mit hochgezogenen Brauen an, räusperte sich und nahm ab.
Sie betrachtete ihn, als er »ja« und »okay« sagte, und leckte sich dabei die Finger ab. Vielleicht war es ja etwas Interessantes, ein Grund, das Büro verlassen zu können. Jeppe legte mit einem verwirrten Blick auf.
»Das ist doch merkwürdig …«
»Was?«
»Wir müssen uns bereithalten.«
»Wozu? Was ist passiert?«
Jeppe faltete die Hände und schüttelte schockiert den Kopf. Dann sah er sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. »Im Laufe des Tages kommt jemand und kümmert sich um die Heizung. Sie wollten nur sichergehen, dass jemand da ist, der die Handwerker hereinlassen kann.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen.
Anette knüllte ihre Serviette zusammen und warf sie ihm an den Kopf.
»Verarschen kann ich mich alleine! Sehr komisch!«
»Ich find’s lustig.« Jeppe lächelte zufrieden.
Anette aß langsam ihr Brot auf, bevor sie anfing, in ihren Schubladen nach Lakritz zu suchen, um den unangenehmen Nachgeschmack der Wurst zu vertreiben. Sie hörte, wie Jeppe seine Füße vom Schreibtisch nahm, seinen Computer hochfuhr, tief seufzte und anfing zu schreiben.
Die Tür wurde geöffnet, und die Polizeikommissarin steckte ihren Kopf herein. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Ingrid Dam Jensen, aber jeder nannte sie PK. Sie hatte nichts dagegen.
»Geht es einigermaßen mit der Temperatur?«
Anette ließ ein »Brrrr« hören.
»Ja, schon ziemlich übel. Kørner, kommst du mal bitte in mein Büro?« Die Polizeikommissarin schloss die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.
Jeppe und Anette sahen sich an.
»Was sie wohl will?« Jeppe stand auf.
»Hoffentlich etwas, das uns hier rausbringt.« Anette erhob sich ebenfalls und ging auf die Tür zu. »Ich muss nur noch mal für kleine Mädchen, dann bin ich bereit, sofort loszustürmen.« Sie tat, als ziehe sie an einem Truckerhorn, und gab ein Tuten von sich. Jeppe schien sich zu überlegen, ob er die Flucht ergreifen sollte, bevor sie zurückkam.
Es machte Spaß, zarte Seelen zu ärgern.
»Au, zum Kuckuck!«
Esther de Laurenti stellte die heiße Kaffeetasse ab und wedelte mit der Hand, als könnte das den Schmerz verdrängen. Sie blickte auf ihre geröteten Fingerspitzen und zog den Ärmel über die Hand, um dann die Tasse noch mal am Henkel zu packen und zu ihrem Lieblingsplatz am Fenster zu stellen.
Einer der Gründe, warum sie sich für diese Wohnung entschieden hatte, war die tiefe Fensterbank über dem Heizkörper, auf der man warm und behaglich über das graue Wasser des Peblingesø sehen konnte. Sie hatte Sitzkissen für die Fensterbank genäht, die perfekt passten, denn hier saß sie häufiger als an jedem anderen Ort der Wohnung, inklusive ihres pfirsichfarbenen Ohrensessels und des Chesterfield-Sofas.
Allmählich gewöhnte sie sich an ihre neue Umgebung: das fremde Stadtviertel, die Geräusche der Dielen, der ungewohnte Geruch auf der Küchentreppe. Dennoch hatte sie noch immer ein wenig Sehnsucht nach der alten Wohnung in der Klosterstræde. Das Haus in der Kopenhagener Innenstadt war über siebzig Jahre im Familienbesitz gewesen und wurde nun von den beiden erwachsenen Kindern eines wohlhabenden Ziegeleibesitzers bewohnt.
Esther setzte sich mit der Kaffeetasse auf dem Knie zurecht, fuhr sich mit den Fingern durch die Pagenfrisur und schaute auf die nackten Kastanienbäume und Jogger am See. Eigentlich war alles gut. Sie freute sich über das Licht in der neuen Wohnung und dankte den höheren Mächten, dass der Verkauf des Hauses genügend Geld gebracht hatte, um eine Wohnung mit einer derartigen Aussicht zu kaufen. Diese Aussicht freute sie jeden Tag. Sie hatte wirklich Glück. Glück, dass sie es sich leisten konnte, hier zu wohnen, und Glück, dass sie überlebt hatte.
Vor sechs Monaten war sie von einem Mann halb totgeschlagen worden, der ihre junge Mieterin Julie und ihren geliebten Gesangslehrer Kristoffer ermordet hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch am Leben war; ein Wunder, für das sie dankbar war. Aber durch diese Ereignisse war ihr gewohntes Dasein aus den Fugen geraten, sie hätte unmöglich weiter in ihrem Elternhaus leben können.
Daher wohnte sie mit ihrem dreiundachtzigjährigen Mieter Gregers nun hier. Gregers hatte dankbar eingewilligt, als sie ihm anbot, mit ihr und ihren beiden Hunden Dóxa und Epistéme zusammenzuziehen. Es funktionierte gut. Sogar die Möpse hatten sich schnell eingewöhnt. Sie hoffte nur, dass ihr innerer Kompass sich bald auf die neue Wohnung einstellen würde, damit sie nicht jedes Mal automatisch in Richtung Innenstadt ging, wenn sie nach Hause wollte.
Glücklicherweise schien Gregers sich wider alle Erwartungen in der neuen Umgebung ebenfalls wohl zu fühlen, obwohl er sich einst geschworen hatte, niemals in ein Viertel außerhalb der alten Stadtwälle zu ziehen. In kurzer Zeit hatte er eine Hassliebe zu dem bunten Treiben auf der Blågårdsgade entwickelt, wo er tausend Gründe fand, um sich zu ärgern. Der Gemüsehändler, der kein ordentliches Dänisch verstand und nie Grünkohl und Petersilienwurzeln hatte, weil er den Platz für Kochbananen und Telefonkarten brauchte. Das Hippiecafé, das unverschämt teuren Kaffee in angeschlagenen Tassen ausschenkte und mit unbequemem Flohmarktmobiliar ausgestattet war. Und vor allem diese Gruppen von jungen, dunkelhäutigen Neu-Dänen, die nicht aus dem Weg gingen, sich wallah und andere unverständliche Worte zuriefen und dabei laut und spöttisch lachten.
Dennoch: Gregers gefiel es in Nørrebro. Sogar das Zusammenwohnen hatte sich als überraschend unproblematisch erwiesen. Gregers hatte zwei Zimmer mit Blick auf die Straße, Esther zwei Zimmer hinaus zum See. Die Küche und das Badezimmer in der Mitte der Wohnung teilten sie sich. Zweimal in der Woche wurde ein gemeinsamer Einkauf an die Wohnungstür geliefert, und jeden Donnerstag kam die sorgfältige Ania zum Putzen. Privilegiert und komfortabel. Gregers war ruhig und benötigte nicht viel mehr als den Kaffee, den er sich in seiner Teeküche zubereitete. Im Grunde sahen sie sich nur, wenn Esther ihn am Samstag zum Frühstück oder hin und wieder zum Abendessen einlud.
Wider Erwarten funktionierte auch alles andere reibungslos. Esthers Rippen waren ordentlich zusammengewachsen, und sie kam ihren Reha-Übungen mit einer Ausdauer nach, die sie selbst überraschte. Sie weigerte sich, mit achtundsechzig Jahren als invalid zu gelten. Im Herbst hatte sie einmal in der Woche eine Krisenpsychologin namens Alice konsultiert, inzwischen hatte sie aber das Gefühl, die entsetzlichen Ereignisse des letzten Sommers einigermaßen verarbeitet zu haben. Tatsächlich war im Moment ihr einziges Problem, dass sie nicht wusste, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Vor Julies Ermordung hatte sie geplant, nach ihrer Frühpensionierung an der Universität einen Krimi zu schreiben, doch dieses Vorhaben hatte sie ein für alle Mal aufgegeben. Allein die Vorstellung, wieder zu schreiben, versetzte sie in Angst.
Auch an lange Reisen war nicht zu denken, schließlich konnte sie einen so alten und gebrechlichen Menschen wie Gregers nicht allein lassen. Und ehrlich gesagt, fühlte auch sie sich ein wenig gebrechlich.
Sie hatte erwogen, sich einfach mit Rotwein totzusaufen, doch dieser Plan kam ihr dann doch – in Anbetracht dessen, was sie gerade überlebt hatte – einigermaßen schwachsinnig vor. Es waren genügend Leben vergeudet worden, und sie empfand eine Art Verpflichtung, das Beste aus der Zeit zu machen, die ihr noch blieb.
Die Frage war nur, was?
Vorsichtig nippte Esther an ihrem Kaffee und überflog die Vorderseite der Politiken, die Gregers ihr jeden Vormittag hinlegte, wenn er sie gelesen hatte. Sie überflog den Leitartikel und blätterte lustlos die einzelnen Teile durch. Dóxa und Epistéme lagen zusammengerollt am Boden und sahen nicht aus, als wollten sie an diesem dunklen, kühlen Morgen Gassi gehen. Vielleicht sollte sie stattdessen ein wenig Musik hören?
Im letzten Sommer hatte sie mit Kristoffer die Rolle der Nedda aus Leoncavallos Oper Pagliacci eingeübt. Die höchsten Töne der Rolle hatte sie nicht ansatzweise erreicht – ein hohes B, wenn sie sich richtig erinnerte –, auch fehlte ihr der Atem für die anspruchsvolle Arie Qual fiamma avea nel guardo, in der Nedda ihre heimliche, verbotene Liebe besingt, angstgetrieben und voller Intensität. Aber es hatte Spaß gemacht, es zu versuchen. Die Erinnerung an diese unbekümmerte Zeit schnitt ihr ins Herz. Hatte sie das Glück damals wertgeschätzt, oder war es von kleinen Alltagsproblemen überlagert gewesen?
Sie zog die Pagliacci aus den italienischen Opernplatten im Regal; noch immer Vinyl, sie hatte schon damals keine Lust gehabt umzusatteln, obwohl sie nach und nach andere Angebote der digitalen Welt genutzt hatte. Aber ein Musikträger sollte nach wie vor vorsichtig aus seiner Hülle genommen und auf den Plattenspieler gelegt werden, sich im Uhrzeigersinn drehen und mit einer Plattenbürste abgestaubt werden.
Sie musste Gregers Bescheid geben, dass sie Musik hören wollte. Für eine halbtaube Person war Gregers überraschend geräuschempfindlich, vor allem bei ihren Opern. Esther steckte die Platte zurück in die Hülle und ging über den Flur zu Gregers’ Zimmern. Seine Türen waren geschlossen. Vielleicht war er gar nicht da? Seit er hier lebte, ging er gern nach draußen, um in dem quirligen Viertel unterwegs zu sein. Die Spaziergänge taten ihm gut. Esther stellte sich dicht vor seine Wohnzimmertür. Das Radio lief. Das kleine Radio wurde morgens mit der Kaffeemaschine angestellt und lief in der Regel den ganzen Tag, bis er ins Bett ging. Sie klopfte und öffnete vorsichtig die Tür.
Gregers saß mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund in seinem Sessel. Esther wollte die Tür wieder schließen, als er den Kopf hob. »Was ist denn?«
»Ach, nichts, Gregers, ich wollte dir nur sagen, dass ich eine Platte hören will.«
»AH, WAS?«, krächzte er.
»Nur damit du Bescheid weißt …«
»Diese verdammte Leierkastenmusik, die macht mich noch verrückt.« Gregers erhob sich mühsam und drehte die Musik leiser. »Ich finde, sie sollten jeden Tag Mads & das Monopol senden. Dann würde ich meine Gebühren mit Freude bezahlen.«
»Nicht du bezahlst die Gebühren, sondern ich.«
»Jedenfalls wäre das ein guter Dienst am Kunden, wenn du mich fragst. Letzten Samstag ging es um ein Dilemma, das dich sicher auch interessiert hätte.«
»Okay, das kannst du mir ja bei Gelegenheit mal erzählen …«
»Eine ältere Dame hat ihnen geschrieben, weil ihre erwachsene Tochter nicht will, dass sie Wein trinkt, wenn sie auf die Enkelkinder aufpasst. Die Dame hat sich darüber geärgert, denn sie trinkt seit zwanzig Jahren jeden Abend eine halbe Flasche Weißwein, warum sollte sie jetzt ihre Gewohnheiten ändern, nur weil die Tochter ihre puritanische Ader entdeckt? Du weißt schon, eine von den jungen Frauen, die Coca-Cola zum Essen trinken. Ist das etwa gesünder?«
»Es ist sicher nicht unvernünftig, nüchtern zu sein, wenn man die Verantwortung für kleine Kinder trägt.« Esther wollte sich zurückziehen und die Tür schließen.
»Und das sagst du?«
»Soweit ich weiß, habe ich keine Enkelkinder. Jedenfalls muss ich auf keine aufpassen.«
»Du hast aber deine Hunde – und mich! Was ist, wenn ich hinfalle, und du bist stockbesoffen?« Gregers bekam rote Flecken am Hals.
»Ich bin nie so betrunken, dass ich nicht die Ambulanz rufen könnte.«
»Na gut, die Prominentenrunde war jedenfalls mit dir einer Meinung, dass die Großmutter verantwortungslos handelt und die Finger vom Wein lassen sollte, wenn sie auf ihre Enkel aufpasst. Aber das lässt sich ja leicht sagen, wenn man zur besten Sendezeit klug daherschwatzt.«
»Jetzt verstehe ich dich nicht: Bist du der Meinung, die Dame sollte ihren Wein trinken dürfen oder nicht?«
Gregers sah sie an, als hätte sie eine wichtige Pointe verpasst. »Es geht um die Diskussion, liebe Esther, um die Debatte. Nicht ums Resultat. – He, das ist gut!« Gregers drehte die Musik lauter. »Das ist von Cliff Richard …«
Und als Gregers wieder einmal damit anfing, dass man heute nicht mehr miteinander rede, schloss sie vorsichtig die Tür und ging hinüber zu sich. Liebevoll ließ sie ihren Blick über das Regal mit den Langspielplatten gleiten. Puccini, Verdi, Strauss, Wagner, sie hatte eine Vorliebe für das Schwülstige. Aber waren so nicht alle Opern? Der unzensierte Spielplatz der Gefühle? Sie legte Pagliacci auf, setzte den Tonarm auf die Platte und drehte den Lautstärkeregler hoch. Das knisternde Geräusch der Nadel in der Rille! Esther spürte, wie ihr etwas durch die Brust fuhr, etwas Junges und Wildes.
Sie setzte sich ans Fenster, wo der Kaffee inzwischen kalt geworden war. Ein paar Meter unter ihr lief ein Kindergarten wie eine Prozession gepolsterter Zwerge am Ufer entlang. Esther lächelte, setzte sich in ihren Kissen zurecht und gab sich den Violinen hin.
»Die Tür ist offen.« Jeppe hörte die raspelnde Stimme der Polizeikommissarin als Antwort auf sein Klopfen. »Da bist du ja, Kørner. Setz dich.«
Jeppe nickte der Polizeikommissarin zu, schloss die Tür und tat wie geheißen.
Die Polizeikommissarin schob vorsichtig einen leeren Becher mit der Aufschrift Oma beiseite und griff nach einem Stapel Papier. Seit mehr als zwanzig Jahren war sie Polizeikommissarin und galt inzwischen gleichsam als Inbegriff des Amts. Man sah ihrem aufgeräumten, aber gemütlichen Büro an, dass es ihr zu einem zweiten Zuhause geworden war. In der Ecke standen einige lange, dünne Angeln aus Bambus und kündigten ihre bevorstehende Pensionierung an.
Die Polizeikommissarin hustete hinter vorgehaltener Hand und warf Jeppe einen entschuldigenden Blick zu – es war ihr sichtlich lästig, erkältet zu sein. Obwohl sie im Augenblick eigentlich mit Nasenspray hätte im Bett liegen sollen, blickte sie ihn aufmerksam an. Im Gegensatz zu einigen Kollegen schätzte Jeppe ihren Führungsstil. In Zeiten der um sich greifenden Umarmungen war sie eine überzeugte Händeschüttlerin geblieben.
Allerdings durfte man sich nicht von ihrem sanften Aussehen, den runden Wangen und den freundlichen braunen Augen täuschen lassen – sie hatte eher etwas von einem Adler als von einem Eichhörnchen.
»Du warst heute Nacht bei dem Obdachlosen, der im Ørstedspark gefunden wurde.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Ja. Lima 11 rief mich gegen drei Uhr an, und ich bin sofort losgefahren. Vor Ort habe ich mit Nyboe gesprochen und ein paar Fotos gemacht. Es war kein Fall für uns.«
Sie griff nach einem Papiertaschentuch und tupfte sich die Nase ab. »Ich weiß. Die Streifenwagenbesatzung, die ihn fand, hat einen Bericht im POLSAS hinterlegt. Der Obdachlose wurde inzwischen in die Leichenhalle gebracht, dort haben ihn die Rechtsmediziner heute Morgen zur Leichenschau abgeholt. Alles Standardprozeduren.«
»Bis irgendetwas nicht mehr dem Standard entsprach?«
Sie tauschten einen Blick aus.
»Nyboe hat gerade angerufen. Bei der Leichenschau hat einer der Rechtsmediziner den Verunglückten erkannt. Wie du weißt, hatte er keine Papiere bei sich, aber es ist keineswegs die Rede von einem Obdachlosen.«
»Wann obduzieren sie?« Jeppe sah auf die Uhr.
»Sie sind dabei.« Die Polizeikommissarin hob eine Hand, um den zu erwartenden Protest abzuwehren. »Natürlich hätten wir zum Fest geladen werden sollen, aber sie haben ja angenommen, dass es sich um einen erfrorenen Obdachlosen handelt. Tragisch, aber nicht verdächtig.« Sie schnitt eine bedauernde Grimasse. »Professor Nyboe musste mit der Obduktion sofort beginnen, weil er den Tag bei Gericht verbringen muss. Aber er hat versprochen, euch direkt nach der Obduktion zu informieren. Ich denke, sie werden in ungefähr einer halben Stunde fertig sein.«
Jeppe schüttelte missbilligend den Kopf. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, um zu signalisieren, dass sie für seinen Ärger Verständnis hatte, aber keine weitere Zeit damit verschwenden wollte.
»Es gibt Leute, die weniger gute Entscheidungen treffen, wenn sie achtzehn Stunden hintereinander im Einsatz waren.« Sie rollte auf dem Bürostuhl zum Archivschrank hinter ihr und öffnete dessen silberfarbene Jalousie mit einem Ratschen. Dem obersten Fach entnahm sie einen dünnen, moosgrünen Aktendeckel und legte ihn vor sich auf den Tisch. Dann leckte sie an ihrem linken Daumen, öffnete die Mappe und reichte ihm einen Schwung Fotografien.
»Ich bedaure die schlechte Qualität. Ich habe die Fotos selbst ausgedruckt, die die Kriminaltechniker vom Fundort gemacht haben, sie sind nicht besonders gut. Sind deine Bilder besser?«
Jeppe schüttelte den Kopf. »Ich habe fotografiert, bevor sie ihn umgedreht haben. Schauen wir uns lieber die hier an.«
Die körnige Wiedergabe ließ den Anblick des verzerrten Männergesichts mit dem offenen blutigen Mund und den verdrehten Augen nicht weniger beunruhigend aussehen. Ein hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen, geschwungenen Augenbrauen und vollen Lippen. Soweit davon noch etwas übrig war. Jeppe sah sich eine Nahaufnahme genauer an. Es fiel ihm schwer, das Alter des Opfers zu schätzen, die Haut war glatt und faltenfrei, abgesehen von einem Netz feiner Linien um die Augen. Wangenknochen wie bei einem Teenager. Und doch wirkte das Gesicht älter.
»Wer ist es?«, erkundigte sich Jeppe.
Die Polizeikommissarin sah ihn erwartungsvoll an. »Sag mal, bist du nicht auf dem Laufenden? Na gut, zugegeben, ich habe ihn zuerst auch nicht erkannt. Zum Glück lesen Nyboes Rechtsmediziner mehr Illustrierte als wir.« Sie zog einen Wikipedia-Eintrag aus dem Aktendeckel.
»Alpha Bartholdy, geboren am 12. März 1968 in Frederikshavn. Sohn des Schlachtermeisters Jørn Bartholdy Andersen und der Kunstmalerin Marianne Bartholdy Andersen.« Sie las zögernd, als ginge sie die Speisekarte eines usbekischen Restaurants durch. »Ausgebildeter … Modedesigner an der Margrethe-Skolen 1990 … Modekommentator der Abendshow, Jurymitglied bei Modelwettbewerben … ob ich je begreifen werde, warum diese Models so dürr sein müssen … Inhaber und Kreativdirektor der Beratungsfirma Fashion Forum.«
»Sollte ich ihn kennen?«, wollte Jeppe wissen.
»Das ist der Modekönig! Er macht bei diesem Fernsehprogramm mit, in dem die Wohnungen von Prominenten gestylt werden. Nicht dass ich mir so etwas ansehe, aber in diesen Kreisen ist er eine ganz große Nummer.« Sie hob ihre breiten Augenbrauen.
»Welchen Kreisen?«
»In der Modebranche, Kørner, bei den Jungen und Hübschen.« Sie lächelte.
Jeppe sah sich die Fotos an. »Willst du mir erzählen, dass diese Person etwas mit Mode zu tun hat? Er sieht doch aus wie …«
»… ein Penner, ja! Das habt ihr ja auch alle angenommen aufgrund seines … looks.« Sie sprach den englischen Begriff mit einem etwas zu kurzen U aus, es verriet, dass sie sich im Englischen nicht wirklich heimisch fühlte. »Offenbar ist es gerade angesagt, heruntergekommen auszusehen. Abgetragen und löchrig ist das neue Schwarz.«
»Und da wir jetzt dieses Gespräch führen, gehe ich mal davon aus, dass sein Tod kein Unglücksfall war, oder?«
Jeppe gelang es nicht, die Frustration aus seiner Stimme zu verbannen. Er erinnerte sich an den Anblick des zusammengekrümmten Umrisses im Schnee. Er hätte auf Nyboes Einschätzung pfeifen sollen und es besser wissen müssen.
»Das steht natürlich noch nicht fest, wir müssen die Obduktion abwarten. Aber du hast recht, es sieht nicht so aus.« Auf der Stirn der Polizeikommissarin zeigte sich eine waagerechte Falte. »Die Angehörigen sind informiert, seine Eltern, Kollegen, eine gute Freundin. Die Mutter hat sich in Frederikshavn bereits auf den Weg gemacht, um ihn offiziell zu identifizieren. Aber wir wissen, dass er es ist. Und wir wissen, dass er gestern Abend aus Anlass der Modewoche bei einem Branchenfest war. Im Geologischen Museum.«
»Wieso dort? Passt das zum glamourösen Zirkus der Modewelt?«
»Wer weiß? Mineralien sind offenbar in. Auf jeden Fall sieht es so aus, als sei er am späten Abend von dem Fest über die Øster Voldgade zum Bahnhof Nørreport gegangen, und dann in den Ørstedspark, wo er gefunden wurde. Er wohnt am Værnedamsvej, vermutlich wollte er durch den Park nach Hause laufen.«
Jeppe fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und atmete tief durch. »Noch keine Zeugenaussagen? Von dem Fest? Nichts von den Angehörigen?«
Die Polizeikommissarin zog nur ein wenig den Mundwinkel hoch, sie musste nicht einmal den Kopf schütteln.
»Das Team. Wen schlägst du vor?«
»Werner. Saidani. Falck. Wie viele liegen denn drin?«
»Falck ist krankgeschrieben. Stress. Du kannst Larsen haben.« Sie sah ihn fragend an, wohl wissend, dass Jeppe ein gespanntes Verhältnis zu dem jungen, eifrigen Polizeiassistenten Thomas Larsen hatte. »Ein Team von vier Ermittlern ist momentan das Maximum, was du bekommen kannst.«
Er nickte.
»Schreib auf, womit sie anfangen sollen, dann berufe ich eine Besprechung ein und verteile die Aufgaben.«
Sie reichte ihm über den Schreibtisch einen Block. Während Jeppe die Aufgaben notierte, öffnete sie noch einmal die grüne Aktenmappe und zog eine graue, glänzende Karte mit einer silbernen Schrift heraus. Sie überflog den Text und hielt die Karte Jeppe hin.
»Das Einzige, was Alpha Bartholdy bei sich trug, war diese Einladung. Sie wurde von der Spurensicherung untersucht, du kannst sie ruhig anfassen.«
Jeppe sah sich die Karte an.
LE STAN
requests the pleasure of your company
for the Autumn/Winter Pre-Fashion Week Party
9 pm, Wednesday, January 27th
Geological Museum, Øster Voldgade 5
RSVP: [email protected]
»Le Stan ist das Modehaus, das die Party veranstaltet hat. Laut Alpha Bartholdys Mutter arbeitet Alphas beste Freundin – ihre Bezeichnung, nicht meine – als Pressechefin für Le Stan. Mit ihr zu reden ist sicher relevant. Sie veranstalten heute eine Modeschau im Rathaus.«
Jeppe sah sie skeptisch an. »Heute? Ich dachte, sie hätten erst gestern ein Fest gefeiert?«
»Offenbar ist das so bei einem wichtigen Modehaus, man veranstaltet ein Fest und eine Show. Na ja, was weiß ich schon davon.«
Sie hielt inne, während ihr Blick hinüber zu dem präparierten Hecht schweifte, der über der Tür angebracht war. Dann reichte sie Jeppe den Aktendeckel.
»Bitte sehr, der Fall gehört dir. Wie gesagt, der Bericht der Kollegen liegt vor. Zuallererst solltest du mit Nyboes Büro einen Termin vereinbaren, er erwartet euch.«
Jeppe nahm den Aktendeckel und erhob sich widerwillig. Die falsche Annahme zu Beginn dieses Falls hatte sie zurückgeworfen, bevor sie überhaupt angefangen hatten.
Die Polizeikommissarin zog ein weiteres Taschentuch aus der Packung und putzte sich die Nase. »Ich gebe der Presse zunächst nur die Fakten und bitte eventuelle Zeugen, sich an uns zu wenden. Gib mir heute Abend einen detaillierten Bericht, dann übernehme ich die Pressekonferenz morgen früh. Okay?«
»Vielen Dank.«
»Ebenfalls. Schließ die Tür hinter dir, hier ist es so verflucht kalt …« Sie schniefte. »Ach, und übrigens!«
Jeppe blieb an der Tür stehen.
»Wenn du irgendwo hingehst, nimm Werner mit! Sonst kommt sie nur ständig in mein Büro und stört mich. Die Frau steht unter Strom. Gute Jagd!«
Mit schweren Schritten stieg Torben Hansen die Steintreppe des Geologischen Museums hinauf, vorbei an Per Kirkebys farbexplosiven Wandgemälden. Überall lagen Flaschen, Plastikgläser und Strohhalme zwischen Pfützen von Urin. Verdammtes Modevolk und ihr angebliches Interesse an Kunst und Architektur. In Wahrheit ging es denen doch nur darum, sich um den Verstand zu saufen und auf das Kulturerbe zu pissen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Normalerweise hätte ein Arbeitstag im Januar nur aus gewöhnlichen Instandhaltungsarbeiten bestanden: Schnee räumen, fegen, kleinere Reparaturen. Aber Torben Hansen hatte nicht nur nach der Modeparty aufzuräumen, er musste auch das alte Observatorium im Gebäude nebenan vorbereiten, damit alles für die Mondfinsternis am Dienstagabend bereit war. Im Allgemeinen war das Observatorium der Öffentlichkeit nicht zugänglich – tatsächlich war es seit über sechzig Jahren nicht mehr in Betrieb –, aber die Museumsleitung war so versessen auf Events, dass inzwischen auch für astronomische Ereignisse Eintrittskarten verkauft wurden. Und das Publikum liebte es. Jedes Mal bildeten sich lange Schlangen, wenn das Observatorium geöffnet wurde.
Der neue Verwaltungsleiter des Museums hatte eine Menge guter Ideen, wie der Botanische Garten sich attraktiver und rentabler gestalten ließe. Pläne, bei denen sich den Wissenschaftlern der betroffenen Institute – unter anderem des Niels-Bohr-Instituts – die Haare sträubten; sie wollten einfach nur in Ruhe arbeiten. Allerdings musste Geld verdient werden. Daher wurden alles getan, um diejenigen zu unterhalten, die bereit waren zu zahlen.
Fluchend richtete Hansen sich von der Sauerei auf und sah aus dem Fenster. Die Aussicht über die Dächer der Stadt hatte den Ausschlag gegeben. Nach vielen Jahren in der Provinz hatte er sich deswegen im vergangenen Jahr um diesen Job beworben. Wegen dieses Ausblicks lohnte sich das Ganze. Vom Observatoriumshügel, dem höchsten Punkt der Stadt, zeigte sich Kopenhagen von seiner schönsten Seite. Bei jeder Art Wetter glänzte die Goldkugel auf Schloss Christiansborg mit dem Kreuz auf der Vor Frue Kirke um die Wette, und auf der anderen Seite grüßte ihn der märchenhafte Turm von Schloss Rosenborg. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, erschienen die Türme sogar in den dunklen Morgenstunden der Wintermonate auf seinem inneren Stadtplan.
Torben Hansen sammelte die leeren Flaschen in zwei Säcken und achtete darauf, dass keine Weinreste auf die Treppenstufen tropften, als er die Säcke in den Kellerraum mit den Müllcontainern trug. Das Licht schaltete sich im sogenannten Pistolgangen automatisch ein, und wie immer dachte Torben an die Widerstandskämpfer, die während des Krieges hier Schießen geübt hatten. Mutige Männer, die eine Aufgabe und ein Ziel, ein würdiges Leben hatten.
Die Mülltonnen im Keller stanken widerlich, er musste mit der Stadtverwaltung sprechen und um abschließbare Container bitten. Torben hielt die Luft an, als er die Säcke abstellte und die Flaschen in den Flaschencontainer warf. Dann holte er einen Wischmopp und einen Eimer aus dem Putzschrank, füllte ihn mit einem Schuss Schmierseife und heißem Wasser und schleppte ihn die Steintreppe hinauf, um sich die klebrigen Fußböden vorzunehmen. Das ganze Museum roch nach Suff und Dekadenz.
Früher hatte er selbst getrunken, allerdings nicht aus Spaß. Jetzt ekelte ihn der Gestank. Er zeugte von Leichtsinn und Schmerz. Er stellte den Eimer ab, tauchte den Mopp ins Seifenwasser und fing an, den Boden zu wischen.
Als Jeppe mit zwei Bechern Kaffee das Büro betrat, lag Anette unter dem Schreibtisch, um gegen den Heizkörper zu klopfen.
»Gib’s auf, Anette, das ist eine Zentralheizung. Es wird nicht wärmer, egal, wie lange du drauf einschlägst.«
Anette hörte auf zu klopfen und steckte den Kopf heraus. »Was wollte PK? Ging es um den Obdachlosen?«
»Der kein Obdachloser ist, sondern ein bekannter Mann aus der Modebranche.«
»Und der nicht erfroren ist?« Sie kam auf die Beine und nahm den Becher entgegen, der Kaffee war schwarz und süß.
»Vermutlich nicht. Nyboe obduziert ihn gerade, wir fahren gleich zu ihm.« Er sah sie warnend an. »Und spar dir die Mühe, dich über den Ablauf zu beschweren – es ist, wie es ist. Zumindest kommen wir hier raus.« Jeppe ignorierte den offenen Mund seiner Partnerin und setzte sich an den Schreibtisch. »Fangen wir an. Setz dich, Anette Werner, oder ich trete dir in die Kniekehle, direkt auf deine alte Hockey-Verletzung.«
Sie musste lachen, setzte sich auf die andere Seite des Schreibtischs und faltete artig die Hände. »Gut, wo fangen wir an?«
Jeppe lächelte. »PK hat das Team zusammengestellt. Wir beide, Saidani und Larsen.«
»Das sind nicht viele.«
»Es ist ein Anfang.«
»Was wissen wir über ihn?« Anette setzte ihre Lesebrille auf und nahm ihr iPad zur Hand.
»Bis auf weiteres nur, was PK über seine Mutter und einen Wikipedia-Artikel in Erfahrung gebracht hat. Der Tote heißt Alpha Bartholdy, achtundvierzig, Däne, wohnhaft am Værnedamsvej im Zentrum. Stylist, Modekommentator, Inhaber der Beratungsfirma Fashion Forum, bei der außerdem ein Assistent und ein unbezahlter Praktikant angestellt sind.«
»Dem Namen nach kenne ich ihn. Wie kam er ums Leben?«
»Er war gestern auf einem Branchenfest im Geologischen Museum. Die Party begann um 21 Uhr. Um 01:54 Uhr fand ihn die Besatzung eines Streifenwagens leblos im Ørstedspark. Was sich in der Zwischenzeit abgespielt hat, wissen wir nicht. Es gibt noch keine Zeugen für die Zeit, nachdem er das Fest verlassen hat.« Jeppe trank einen Schluck Kaffee. Sobald er etwas abgekühlt war, schmeckte man das Milchpulver. Er stellte den Becher beiseite. »Wir müssen herausfinden, was im Laufe der fünf Stunden passiert ist, und so viele Gäste des Fests wie möglich vernehmen. Wann hat er die Party verlassen? Stand er unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, als er ging? Hat ihn jemand auf dem Weg vom Geologischen Museum zum Park gesehen und so weiter.«
»Wer sind seine Angehörigen? Ist er verheiratet?« Anette machte sich lautlos auf dem Display Notizen.
»Single, lebt allein. Soweit die Mutter weiß, keine Freundin.«
»Nicht mal ein Schmusetier?« Sie blickte auf.
»Kein Schmusetier. Seine Eltern wohnen in Nordjütland, er hat keine Geschwister. Dafür aber eine Unmenge Kollegen und Bekannte, die vernommen werden müssen. Zusätzlich zu den Partygästen natürlich.«
Anette nahm die Brille ab. »Es ist vermutlich zu früh, über die Beziehung zu spekulieren, die das Opfer mit dem Täter verband? Das Motiv?« Sie schüttelte sich. »Verflucht, wieso ist es hier bloß so verdammt kalt!« Hitzig schob sie ihren Stuhl zurück, krabbelte unter den Schreibtisch und nahm ihr Klopfen gegen den Heizkörper wieder auf.
Jeppe seufzte. Es war ganz offensichtlich zwecklos, seine Partnerin von ihrem blödsinnigen Treiben abzuhalten.
»Wer übernimmt was?«, erkundigte sich Anette unter dem Schreibtisch.
»Saidani checkt Alpha Bartholdys soziale Plattformen und alles, was mit dem Fest zu tun hat. Besorgt Gästelisten und nimmt Kontakt zu möglichen Zeugen auf. Larsen untersucht sein Privatleben und seine finanziellen Verhältnisse, vernimmt die Eltern, seinen Vermieter und die Nachbarn, sieht sich die Wohnung an und so weiter.«
»Und was machen wir?« Sie klopfte weiter, so laut, dass seine Antwort unmöglich zu verstehen war. Manchmal war ein Gespräch mit Anette Werner wie ein Furz im Käseladen, die Worte verhallten unbemerkt.
Jeppe wartete, bis es still wurde und Anettes Augen am Rand des Schreibtischs auftauchten.
»Zunächst reden wir mit Nyboe und informieren uns über die vorläufigen Obduktionsergebnisse. Danach vernehmen wir die angeblich beste Freundin von Alpha Bartholdy, Maria Ringsmose, die zufällig auch die Pressechefin der Firma Le Stan ist, die das Fest gestern ausgerichtet hat. Im Augenblick bereitet sie eine Modeshow vor. Soweit ich PK verstanden habe, findet sie im Rathaus statt – kann das sein?«
»Das Rathaus ist die offizielle Showbühne der Modewoche.« Anettes Antwort kam prompt.
»Woher weißt du das?«
»Das weiß man einfach.«
Anette Werner, eine Frau voller Überraschungen.
Jeppe drückte auf einen Knopf seiner neuen Taucheruhr, so dass das Display in dem halbdunklen Büro aufleuchtete. »Danach verhören wir die Partygäste, die Saidani bis dahin hoffentlich ausfindig gemacht hat. Aber jetzt kommt zuerst die Rechtsmedizin und dann das Rathaus.«
»Einverstanden«, grinste Anette und stand auf. »Ich brauche ohnehin ein wenig Inspiration für meine Frühjahrsgarderobe.«
»Mit Mayonnaise?«
Der Verkäufer hob fragend eine Plastikflasche und sah ihn an. Mikkel Husted blickte von der Onlinezeitung auf seinem Smartphone auf und nickte zerstreut. Bei der Bewegung schwappte sein Hirn gegen den Schädel, ihm wurde wieder übel.
Gestern war es spät geworden. Die Jungs waren nach der Arbeit in der Werkstatt vorbeigekommen, und Mikkel hatte sie erst gegen vier Uhr morgens nach Unmengen von Bier und Marihuana rausgeschmissen. Er hatte bis elf geschlafen und es noch nicht mal unter die Dusche geschafft; außerdem musste er noch ein Auto reparieren, bevor er am Abend wieder die Reichen und Smarten herumzufahren hatte.
Im Moment hätte er sich am liebsten einfach hingelegt und geschlafen. Oder wäre gestorben.
»Bitte sehr. Guten Appetit!«
Mikkel nahm seinen Hotdog mit dem Anflug eines Lächelns entgegen und ging zu einem der fettigen Fensterbretter, wo man die Mahlzeit mit Blick auf die Zapfsäulen der Tankstelle einnehmen konnte. Er biss von dem Würstchen ab und kaute langsam, während sein Körper darüber nachdachte, ob er feste Nahrung akzeptieren wollte. Man hätte es beinahe als eine Art Brunch bezeichnen können. Mikkel grinste. Es schien zu gehen.
Zwei kleine Mädchen in der Schlange vor der Kasse drehten sich zu ihm um und kicherten. Sie waren höchstens sieben oder acht Jahre alt, langgliedrig und mit Lücken zwischen den Zähnen – ganz eindeutig zu klein, um in diesem Stadtteil allein an einer Tankstelle einzukaufen. Mikkel sah sich diskret um, wahrscheinlich stand irgendwo im Laden ein Vater und trank Kaffee, aber er sah niemanden. Die Mädchen warfen ihm noch immer verstohlene Blicke zu und lachten. Mikkel spürte ein wohlbekanntes Ziehen im Zwerchfell, ein kleines Glückgefühl. Er verdrehte die Augen zu einem Schielen und streckte ihnen die Zunge heraus. Sie kicherten hingerissen. Mikkel grinste, jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
Mit einem raschen Strich seines Zeigefingers zog er die Oberlippe hoch, so dass er aussah wie ein Dorftrottel mit Überbiss. Die beiden Mädchen brachen in helles Kinderlachen aus, sie konnten kaum an sich halten und füllten den Laden mit Leben und Licht.
»Was macht ihr denn hier? Papa und ich sitzen im Auto und warten. Habt ihr noch gar nichts gekauft?« Eine ungeschminkte Frau in einer olivfarbenen Daunenjacke und Teddy Boots stand plötzlich in der Tür des Ladens. Mikkel spürte ihren misstrauischen Blick, er starrte wieder auf sein Telefon.
»Kommt jetzt! Wir fahren. Los!«
Die Mädchen wurden unter lautstarken Protesten hinausgeschleppt. Mikkel widerstand dem Drang, ihnen nachzusehen, und trank stattdessen seine Limo. Er öffnete noch einmal die Onlineausgabe seiner Zeitung und blätterte beim Essen weiter. Von einem Artikel wurde er überrascht wie Passagiere von einem unerwarteten Luftloch auf einer Flugreise.
Der berühmte Modezar Alpha Bartholdy wurde in der vergangenen Nacht – nach der exklusiven Party des Modehauses Le Stan im Geologischen Museum – tot im Ørstedspark aufgefunden. Der zentrale Ermittlungsleiter kann zur Todesursache noch keine Auskunft erteilen. Die Polizei sucht momentan nach Zeugen und bittet alle Personen um Kontaktaufnahme, die sich in der Nacht von Mittwoch, 27., auf Donnerstag, 28. Januar, zwischen 21 bis 2 Uhr nachts in der Umgebung des Geologischen Museums aufgehalten haben. Hinweise nimmt die zentrale Ermittlungsleitung direkt unter der Telefonnummer 33141448 entgegen.
Mikkel spürte, wie das Brötchen in seinem Mund zu Glaswolle wurde und die Mundhöhle langsam austrocknete. Die Übelkeit kehrte wie ein Tsunami zurück. Er spuckte die Reste des Hot Dogs in den Mülleimer und zog den Rotz hoch, ohne sich um die Blicke der Umstehenden zu kümmern.
»Herein!«
Jeppe zögerte eine Sekunde an der Tür zu Professor Nyboes Büro im Rechtsmedizinischen Institut, während Anette umstandslos eintrat. Nyboe trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, um zu signalisieren, dass er nicht den ganzen Tag Zeit hatte. Seine brüske Art sollte wie gewöhnlich unterstreichen, dass er weitaus beschäftigter war als sein Besuch.
In dem Büro mit Aussicht auf den Fælledpark bogen sich lackierte Metallregale unter Zeitschriften und Fachliteratur, auf dem Fensterbrett kämpfte ein Kaktus ums Überleben. Nyboe wies mit der Hand auf die Stühle auf der anderen Seite des schweren Holzschreibtischs. Jeppe fiel auf, dass die Gästestühle niedriger waren als Nyboes Bürostuhl. Wohl kaum ein Zufall.
»Na, Nyboe, dann war es also doch kein Obdachloser, was?«
Nyboe sah Jeppe mit einer erhobenen Augenbraue an und wies noch einmal auf die Stühle. Sie setzten sich. Damit war das Thema offenbar vom Tisch.
Jeppe räusperte sich verlegen. »Na gut. Woran ist der Modemacher gestorben?«
Nyboe war sichtlich genervt. »Zweifellos wäre es einfacher gewesen, wenn ihr zur Obduktion gekommen wärt. Ich habe es eilig, in einer halben Stunde muss ich vor Gericht erscheinen. Ihr habt zehn Minuten.«
Jeppe biss sich auf die Zunge, um nichts Spöttisches zu erwidern. Es war ohnehin zu spät, und Nyboe ließ sich sowieso nicht ändern. »Du kannst die Details weglassen.«
»Der Teufel steckt aber im Detail.« Nyboe zog ein Blatt Papier aus einer Aktenmappe. »Das Opfer ist ein relativ gesunder, achtundvierzig Jahre alter Mann. Sämtliche Gliedmaßen sind vorhanden, keine sichtbaren Knochenbrüche oder Wunden am Körper; er hat noch alle Zähne, die sehr ordentlich mit teuren Porzellankronen überzogen sind. Narbengewebe am Haaransatz nach mindestens einer Gesichtsstraffung und Spuren von Botox und Restylane in der Stirn, den Wangen, den Lippen und um die Augen.«
»Mit anderen Worten: neunzig Prozent Plastik?« Anette grinste als Einzige.
Nyboe fuhr fort, ohne aufzublicken.
»Wir haben das Opfer auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Die Antworten werden die Blutproben liefern. Einiges deutet darauf hin, dass er an Hepatitis C litt, Leberentzündung, die Übertragung erfolgt typischerweise durch Sex, Bluttransfusionen oder gebrauchte Spritzen. Massive Narbengewebebildung an der Leber deutet darauf hin, dass er seit mehreren Jahren mit der Krankheit gelebt hat.«
»Drogenabhängig?«
»Er hatte keine sichtbaren Einstiche, es dürfte lange her sein, wenn überhaupt. Wir haben die Ergebnisse der Blutproben noch nicht, aber wir suchen natürlich nach allen erdenklichen Narkotika, Alkohol und so weiter.« Nyboe zog eine Schublade auf und nahm einen Müsliriegel heraus, den er aufriss und aß, während er weiterredete.
»Erst dachten wir, es handele sich um einen Obdachlosen. Seine Kleidung sah übel aus, heruntergekommen und dreckig, dazu noch die Urinflecken.«
»Urinflecken?«
»Genau, und seine Kleidung war voller Emesis. Hämatemesis. Überhaupt ist der Vomitus interessant.«
»Nyboe. Auf Dänisch, ich bitte dich!« Jeppe versuchte, mit einem kleinen Lächeln die Stimmung aufzulockern.
Nyboe bemerkte es nicht.
»Erbrechen! Das Opfer hat sich heftig auf seine Kleidung erbrochen, und das Erbrochene ist dunkel vor Blut. Das ist ungewöhnlich.«
»Blutiges Erbrochenes, was heißt das?« Jeppe hörte, wie Anette neben ihm Würgegeräusche von sich gab. So was von kindisch.
»Möglicherweise retrograde Peristaltik, also umgekehrte Peristaltik, bei der der Inhalt des obersten Teils des Dünndarms in den Magen und weiter hinauf in die Speiseröhre gedrückt wird. Und dazu innere Blutungen.« Nyboe schob den letzten Bissen seines Müsliriegels in den Mund und blickte enttäuscht auf das Verpackungspapier, bevor er es in den Papierkorb warf. »Das Opfer hatte schwere innere Läsionen in der Mundhöhle und in der Speiseröhre, die Folge waren ernste gastrointestinale Blutungen. Wir müssen den toxikologischen Bericht abwarten, bevor wir wissen, was genau diese Läsionen verursacht hat, aber er hat zweifellos irgendeine aggressiv ätzende Substanz zu sich genommen.«
»Er hat etwas Giftiges gegessen oder getrunken?«
Nyboe blickte auf.
»Ja, so könnte man es auch sagen. Aber nichts, was langsam auf die Nerven einwirkt oder Lähmungserscheinungen hervorruft. Das Opfer hat etwas so Ätzendes eingenommen, dass er kurz darauf gestorben ist.«
»Von welchem Zeitraum reden wir?« Jeppe schrieb in sein Notizbuch: ätzend, schnell wirkend.
»Maximal eine Stunde zwischen Einnahme und Tod.«
»Er hat also bei der Party etwas Giftiges getrunken oder gegessen?«
»Davon ist fast auszugehen. Die Leiche hatte Kälteflecken an den Schenkeln, der Frost hat also auch eine Rolle gespielt. Die Todesursache ist eine Mischung aus Verätzungsverletzungen und Kälte. Mal sehen, was wir über die Verätzungen erfahren, wenn wir den toxikologischen Bericht haben.«
»Wie nimmt man etwas tödlich Verätzendes auf einem Fest zu sich?«
Nyboe blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Das herauszufinden ist eure Aufgabe. Die gleichmäßige Verbreitung der Verletzungen deutet jedenfalls auf die Einnahme einer ätzenden Flüssigkeit hin.«
»Hat man ihm etwas in den Drink gekippt? Vergammelten Ananassaft in die Piña colada?« Anette sah den Rechtsmediziner erwartungsvoll an.
Nyboe schüttelte den Kopf. »Keine Ananas. Wir haben einen pH-Test an dem Erbrochenen auf seiner Kleidung vorgenommen. Der pH-Wert liegt über zehn, trotz der Magensäure. Das weist auf etwas Basisches hin. Ihr müsst verstehen, dass das Saure und das Basische sich ganz unterschiedlich auf den Körper auswirken.«
»Was könnte es also sein?« Für einen vielbeschäftigten Mann konnte Nyboe unerträglich pedantisch sein.
»Mit allen erdenklichen Vorbehalten und so weiter glaube ich, dass das Opfer etwas Hochpotentes getrunken hat, zum Beispiel Kaliumhydroxid. Das ist eine sehr stark ätzende Base.«
»Die sich worin findet?«
»Darüber reden wir, wenn wir die Substanz mit Sicherheit identifiziert haben.« Nyboe stand auf und klopfte sich in einem ungeduldigen Abschiedsgestus auf die Taschen. »So, das waren die zehn Minuten. Sogar ein bisschen mehr.«
Jeppe erhob sich zögernd. »Würde jemand etwas so Ätzendes freiwillig zu sich nehmen?«
»Hm, das würde ich als unwahrscheinlich ansehen, selbst wenn der Betreffende bereits heftig unter Alkohol oder Drogen steht. Aber bevor wir nicht wissen, um welche Substanz es sich handelt, lässt sich das unmöglich beantworten. Allerdings hat das Opfer eine ziemlich große Menge der basischen Flüssigkeit trinken müssen, um daran zu sterben. Mindestens ein kleines Glas voll.«
»Selbstmord?« Anette erhob sich ebenfalls.
Nyboe zuckte die Achseln, sah aber skeptisch aus. »Es ist euer Job, die Resultate zu interpretieren, aber ich empfehle euch, den Fall als Mord zu behandeln.«
»Wann rechnest du mit dem toxikologischen Bericht?«
Nyboe seufzte demonstrativ. »Das dauert normalerweise ein paar Tage, aber ich habe sie gebeten, die Sache mit oberster Priorität zu behandeln, also vielleicht bis zum Wochenende.«
»Okay. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast.« Jeppe streckte ihm die Hand entgegen, was Nyboe geflissentlich übersah.
Es war erst zwölf, aber es war bedeckt und deshalb beinahe dunkel, als sie das Gebäude der Rechtsmedizin verließen. Die nackten Baumkronen des Fælledparks verschmolzen mit dem Winterhimmel. Vorsichtig gingen sie auf dem vereisten Bürgersteig den Frederiks V’s Vej entlang zum Parkplatz.
Januar! Grausam mit seinem Mangel an Licht und Wärme, und immer länger als erwartet. Jeppe kam mehr und mehr zu dem Schluss, dass der Januar schlimmer war als der November. Da blieb einem zumindest die Aussicht auf die Feste im Dezember. Der Januar bot nichts anderes als Löcher im Portemonnaie und Ratenzahlungen.