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Katrine Engberg

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Drei Tote – ein Geheimnis Der Selbstmord eines Häftlings auf Freigang, der Tod einer Museumsangestellten und ein dreieinhalb Jahre zurückliegender Mord an einem Journalisten – diese Fälle können keine Gemeinsamkeit haben. Oder doch? Die ehemalige Polizistin Liv Jensen, die sich gerade als Privatdetektivin in Kopenhagen selbstständig gemacht hat, versucht genau das herauszufinden. Unterstützung erhält sie dabei von Hannah Leon, einer Krisenpsychologin, die gerade selbst einen Schicksalsschlag erlitten hat, und Nima Ansari, einem iranischen Automechaniker, der in einem der Fälle unter Mordverdacht gerät. Gemeinsam stoßen sie auf eine dunkle Vergangenheit, die jemand unbedingt geheim halten will. Mit allen Mitteln … 

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Für Jakob, der mir zeigt, dass der Tropfen der Liebe im Meer der Einsamkeit nicht verloren geht.

 

Aus dem Dänischen von Hanne Hammer

 

Zitate stammen aus:

Søren Ulrik Thomsen, »Anheimgefallen«. Aus dem Dänischen von Ursula Schmalbruch. Kleinheinrich, Münster 1993

 

© Katrine Engberg, 2022

Titel der dänischen Originalausgabe: »Det brændende Blad« bei Alpha Forlag, Kopenhagen 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Daniel Leon, 11. Februar

DIE ERSTE VISION

Montag, 19. September

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Ebba Leon, Juni 1943

DIE ZWEITE VISION

Dienstag, 20. September

Kapitel 4

Kapitel 5

DIE DRITTE VISION

Mittwoch, 21. September

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Mendel Leon, August 1943

DIE VIERTE VISION

Donnerstag, 22. September

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

DIE FÜNFTE VISION

Freitag, 23. September

Kapitel 12

Kapitel 13

Mendel Leon, September 1943

DIE SECHSTE VISION

Samstag, 24. September

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

DIE SIEBTE VISION

Sonntag, 25. September

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Ebba Leon, Oktober 1943

DIE ACHTE VISION

Montag, 26. September

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

DIE NEUNTE VISION

Dienstag, 27. September

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Ebba Leon, Oktober 1943

DIE ZEHNTE VISION

Mittwoch, 28. September

Kapitel 26

Kapitel 27

DIE ELFTE VISION

Donnerstag, 29. September

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Mendel Leon, Oktober 1943

DIE ZWÖLFTE VISION

Freitag, 30. September

Kapitel 32

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Daniel Leon, 11. Februar

Daniel sieht auf die trockenen Blätter hinunter, die unter seinen Schuhen knistern. Dem einzigen guten Paar, das er besitzt. Er hat immer gewusst, dass er vor seiner Zeit sterben wird, nur nicht wie. Der morgendliche Regen fällt leicht durch die nackten Baumkronen und trifft in kleinen, vorsichtigen Tropfen auf den Boden. Der Klang ist beruhigend, wie ein Stück klassischer Musik, das man kennt, ohne sagen zu können, was es ist. Die Dunkelheit lockert nur langsam ihren Griff, und beim Gehen stoßen seine Füße gegen Baumstümpfe und heruntergefallene Äste. Aber das hat nichts zu bedeuten. Er geht dem Licht entgegen.

Es ist kalt. Er hat gegen einen umgefallenen Baumstamm gelehnt geschlafen, in seinem alten Anzug, den Wintermantel bis zum Kinn hochgezogen, die Kapuze über dem Gesicht. Die Decke aus Ästen und verwelkten Blättern spendete nur notdürftig Schutz vor dem Nachtfrost. Aber die Kälte, der Durst und die Müdigkeit sind ihm gleichgültig. Nichts hat mehr eine Bedeutung.

Er kommt zu einem kleinen See und bleibt einen Augenblick stehen, zieht die Packung mit den Zigaretten und das Feuerzeug aus der Tasche und zündet sich mit kalten Fingern eine an. Man könnte fast meinen, ich hätte das Ganze geplant. Er lächelt vor sich hin, inhaliert und stößt warmen Rauch aus. Legt den Kopf in den Nacken und blickt in den Himmel und zu den Baumkronen hoch. Die Äste hängen vom Winter schlaff herunter und haben ihre Geschmeidigkeit noch nicht wiedergewonnen. Am Ende eines Astes schimmert ein Regentropfen, der überlegt, ob er seinen Griff lockern soll.

Er wartet und beobachtet, wie der Tropfen von hoch oben herunterfällt, wie ein Gruß von einem Gott, an den er nicht glaubt. Eine perfekte kleine Einheit im freien Fall. Fast zu schön, um zufällig zu sein. Vielleicht sitzt doch jemand da oben und weint um ihn?

Daniel zieht die Kapuze herunter und spürt, wie ihm die Kälte in die Ohren beißt und die Zigarette die Lippen wärmt. Wie ein Hundekuss. Er denkt an Homer, den er als Kind hatte, die Promenadenmischung. Sein Fell war struppig und seine Hüften waren steif, doch er hat sein sanftes Wesen und seine klugen Augen geliebt. Als Homer starb, trauerte er monatelang. Sein Körper konnte das Gefühl nicht verarbeiten, und er ist abgehauen und hat sich in einem Gebüsch auf dem Spielplatz versteckt. Seine Eltern haben ihn erst spätabends gefunden.

Heute finden sie ihn nicht.

Er spürt dem Gedanken nach, doch keine der üblichen Angstreaktionen taucht auf. Keine Unruhe. Der Waldsee liegt spiegelblank im Morgennebel vor ihm.

Er dreht sich um und betrachtet den Wald, fühlt sich unerwartet sicher zwischen den hohen Stämmen, die ihn umarmen wie die Mauern, die er gerade verlassen hat. Er geht weiter und zählt seine Schritte. Als er bei einhundertzweiundfünfzig ist, hat er die Lichtung erreicht.

Er braucht Zeit, den Reißverschluss mit den gefühllosen Fingern aufzuziehen. Er zieht den Mantel aus, faltet ihn über dem Arm und legt ihn behutsam auf die Erde. Löst die Krawatte, die er sich geliehen hat. Sie ist schwarz und aus Synthetik und rutscht unangenehm durch die Finger, in jeder Beziehung ein lächerliches Kleidungsstück. Er steckt sie in die Tasche des Jacketts. Der Stoff ist an den Ärmeln abgewetzt, aber er liebt diesen Anzug noch immer, den er sich damals zur Hochzeit gekauft hat. Das Hemd ist neu und steif, und er muss die letzten beiden Knöpfe mit ungeschickten Fingern abreißen. Die Schuhe, die Socken und die Unterhose faltet er sorgfältig zusammen und legt alles auf einen Stapel.

Sie sollen nichts an ihm auszusetzen haben.

Er bückt sich nach einem welken Blatt, das rot im Moos leuchtet, und hält es gegen das Licht. Die Adern sind deutlich wie Venen, ausgetrocknete Lebensbahnen im trockenen Laub. Die Seele auf einem brennenden Blatt zur Ruhe legen, denkt er und lässt es fallen.

Nackt tritt er vom Waldrand auf die Lichtung. Lauscht dem Geräusch der bloßen Fußsohlen auf Moos und Gras und Steinen und spürt die Gänsehaut auf dem Rücken.

Da ist keine Wut mehr, nicht mehr. Nur Seligkeit und Leere. Die Schuld hat er losgelassen.

Er geht, bis die großen Zehen auf die kalten Schienen treffen, die am Waldrand entlangführen, atmet tief ein und spürt nach. Das Metall vibriert. Er schließt die Augen und lauscht dem rhythmischen Donnern. Es kommt näher.

Die Erde unter ihm zittert, aber der Waldsee ist noch immer glatt. Nicht einmal der Lärm des Zugs kann die Oberfläche zum Beben bringen.

Er lächelt zum Himmel hoch und tritt auf die Schienen.

DIE ERSTE VISION

Im gleichen Augenblick gingen hervor

Finger wie von einer Menschenhand,

die schrieben gegenüber dem Leuchter

auf die getünchte Wand im Königspalast.

Und der König erblickte die Hand, die da schrieb.

Da entfärbte sich der König,

und seine Gedanken erschreckten ihn.

Die Hand schrieb davon, was war,

und davon, was kommt.

Ich schreibe das, obwohl niemand mir glauben wird.

Montag, 19. September

Kapitel 1

Die Dächer von Kopenhagen lagen wie Silhouetten in der frühen Morgenstunde, das Tageslicht hatte sie noch nicht geküsst. Ein schöner Anblick, und trotzdem gab er Liv Jensen das Gefühl, fremd in der Welt zu sein. Nirgendwo mehr hinzugehören. Nicht nach Rødovre, nicht nach Nordjütland und schon gar nicht hier in die Hauptstadt mit ihrem Asphalt und ihrer Geschäftigkeit und ihrer selbstverliebten Arroganz. Die Glaswand vor ihr präsentierte die Postkartenversion der Stadt. War man nur auf der Durchreise, konnte das idyllische Bild durchaus noch intakt sein, wenn man Kopenhagen wieder verließ. Aber Liv war nicht verzückt, sie war nicht einmal neugierig.

Sie sah ihr eigenes Gesicht im Glas und zog den Hotelbademantel fester um sich. Hinter ihr lagen geschlossene Türen und vor ihr Ungewissheit und halbherzige Pläne. Wenn man seine Träume verliert, verblasst das Leben zu nichts.

»Kommst du nicht zurück ins Bett?«

Thereses Stimme war sanft und ohne jeden Vorwurf. Liv drehte sich um und versuchte, die Konturen ihres nackten Körpers unter der Bettdecke auszumachen. Die glatte Haut und die runden Formen würde sie vermissen. Therese verkörperte all die Schönheit, der sie selbst nicht einmal nahekam. Aber es war mehr als das. Sie kannten sich erst fünf Monate, doch Liv wusste genau, was sie so anziehend an ihr fand. Therese war gut im Leben. Gesund. Ihre Lebensentscheidung frei und ohne Scham. Die Fehler, die andere Menschen eifrig zu verbergen suchten, teilte sie freudig mit anderen. Lachend erzählte sie, wie ihre Mutter sie einmal erwischt hatte, als sie ihr Geld aus der Geldbörse stehlen wollte, und wie sie zur Strafe die Gartenhecke hatte schneiden müssen.

Liv hatte nie etwas gestohlen, aber es gab so viel anderes, für das sie sich schämte. Das sie für sich behielt. Trotz Thereses Toleranz war sie ziemlich sicher, dass sie die Lasten nicht verstehen würde, die sie mit sich herumtrug. Vielleicht war es nur gut, sie jetzt zu enttäuschen, dann blieb sie auf lange Sicht verschont. Liv zog den Bademantel aus und kroch unter die kühle Bettwäsche zu Thereses Wärme.

»Kannst du nicht schlafen?«

»Nein.«

Sie lagen im Dunkeln, ohne etwas zu sagen. So lange kannten sie sich auch noch nicht, erinnerte sich Liv, sie schuldete niemandem eine Erklärung.

Therese beugte sich vor und küsste sie mit weichen Lippen, öffnete den Mund und ließ die Zungenspitze den Kuss vertiefen.

Liv wich ein wenig zurück, nur einen Millimeter.

»Es ist okay, wir können uns auch nur küssen, wenn du noch nicht so weit bist.« Therese strich ihr über die Haare.

»Das ist es nicht. Ich muss dir etwas sagen.«

»Okay …?«

Therese zog sich zurück und stützte sich auf den Ellenbogen. Wie sie in ihrem Körper ruhte, war beneidenswert. Die Seele so ganz im Einklang mit dem Körper. Selbst wenn sie wütend war, wirkte sie harmonisch. Keine toten Winkel, war das wirklich so? Liv deckte sich zu und schaute in die Dunkelheit. Der rote Lichtfleck des Flachbildschirms leuchtete einige Meter entfernt, und sie fokussierte den Blick darauf. »Ich komme nicht nach Aalborg zurück.«

»Wie meinst du das?«

»Das hier ist kein Urlaub. Ich habe vor drei Monaten gekündigt und meine Wohnung ausgeräumt. Ich hätte es dir schon früher gesagt, aber …«

Aber was eigentlich? Es war so schnell gegangen, war das ihre Entschuldigung? Sie hatte es zu eilig gehabt wegzukommen, um Rücksicht zu nehmen?

»Ich dachte, du liebst deinen Job?«

Liv lächelte im Dunkeln, doch das Lächeln fühlte sich steif an. »Ich brauchte etwas Neues. Aalborg ist zu klein, ich brauche neue Herausforderungen!«

Die Worte klangen so hohl, wie sie waren. Sie fühlte sich durchschaut wie ein dilettantischer Schauspieler, der sich an Hamlets Monolog versucht.

»Ich habe eine Wohnung in Vesterbro gefunden und hole morgen die Schlüssel ab.«

»Und was ist mit uns?«

Therese klang traurig.

»Wir können uns doch besuchen. Wie jetzt.«

Therese schloss die Augen, als täten Livs Worte ihr weh. Dann schüttelte sie den Kopf. »So funktioniert das nicht, Liv.«

»Was?«

»Die Liebe, verdammt!«

Therese schlug die Decke zur Seite und stand auf. Sammelte ihre Sachen zusammen, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Liv blieb liegen. Sie sollte Therese nachgehen, sie in den Arm nehmen und ihr die Wahrheit sagen, aber das konnte sie nicht. Sie konnte sich kaum selbst in die Augen sehen, wie sollte ein anderer Mensch sie je wieder respektieren, sie sogar lieben? Sie musste sich hier hindurcharbeiten und auf der anderen Seite herauskommen, gestärkt hoffentlich. Sich ein neues Leben in der Hauptstadt aufbauen. Eine neue Liv. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Sie konzentrierte sich wieder auf den roten Lichtfleck. Er verlieh ihr einen Hauch von Sicherheit, das Gefühl eines Ankers mitten im Chaos.

*

An ihrem einundvierzigsten Geburtstag erwachte Hannah Leon früh am Morgen und sah zur Decke ihres alten Kinderzimmers hoch. Ihr erster Gedanke galt ihrem Bruder, wie er das seit dem 11. Februar jeden Morgen tat. Aber vor allem heute, dem ersten Geburtstag ohne ihn. Sie streckte sich und setzte die Füße auf den rauen Holzboden, von dem man Splitter in die Zehen bekam, wenn man nicht daran dachte, über die Flickenteppiche zu gehen. Einen blauen, einen grünen und einen violetten. Sie hatte sie zu ihrem zwölften Geburtstag bekommen und bei derselben Gelegenheit die Teddybären rausgeworfen, um die letzten Spuren von Kinderzimmer zu beseitigen. Mit der Zeit hatte die Sonne die Teppiche so ausgebleicht, dass man die Farben kaum noch unterscheiden konnte, aber sie bildeten weiter einen Weg vom Bett zu Kleiderschrank und Tür.

Das Handy auf dem Nachttisch piepte, und sie beugte sich vor, um einen Blick aufs Display zu werfen. Schloss das Candy-Crush-Spiel, über dem sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Keine Nachricht von Rune, vielleicht hatte er es vergessen. Sie legte das Telefon zurück. Der heutige Tag musste einfach überstanden werden.

Als sie am Schlafzimmer ihres Vaters vorbeikam, blieb sie einen Moment stehen und lauschte. Es war still. Kein Grund, ihn jetzt schon zu wecken.

Die Kupferrohre im Badezimmer dröhnten, während Hannah unter den wechselnden Temperaturen der Dusche herumtrippelte. Ihre Eltern hatten davon gesprochen, die Rohre auszuwechseln, es aber nie umgesetzt. Der Spiegel über dem Waschbecken offenbarte die Lachfältchen um ihre dunklen Augen und ein paar graue Haare, die wieder am Scheitel aufgetaucht waren. Hannah zupfte sie mit einer Pinzette aus, nahm die Haare schnell zu einem Knoten zusammen und zog Jeans und einen Pullover an, bevor sie die geschwungene Treppe in die Diele hinunterging.

Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und sammelte ihren ganzen Mut, um die Kellertreppe hinunterzusteigen. Daniel war vor fünf Jahren eingezogen, damals, als er von Penelope geschieden worden war und einen sicheren Ort gebraucht hatte, während es ihm am schlechtesten ging. Sie mochte nicht an diese Zeit erinnert werden und vermied es, in den Keller zu gehen. Sie vermied überhaupt vieles seit Daniels Selbstmord im Februar. Sich mit Leuten zu treffen zum Beispiel und zur Arbeit und zu ihren Tangostunden zu gehen, ja, generell das Haus zu verlassen.

Sie ertrug die Neugier der Menschen nicht. Sie ertrug auch ihr Mitleid nicht.

Ihre Finger ertasteten den Schalter, er hatte sich leicht vom Putz gelöst und hing an den Kabeln. Die Liste, was alles in dem alten Haus repariert werden musste, erinnerte an die Köpfe des Seeungeheuers Hydra. Jedes Mal, wenn man einen abschlug, wuchsen zwei neue nach.

Sie zog das Handy aus der Hosentasche. Der Lichtschein ihrer Handytaschenlampe fegte über die alten Möbel ihres Bruders – das schmale Bett, den Schreibtisch und das volle Bücherregal –, bevor er bei zwei Umzugskartons haltmachte. Sie enthielten die Fallakten von Daniels Prozess und Tod und die wenigen Besitztümer, die er mit im Gefängnis gehabt hatte.

Hannah legte eine Hand auf den obersten Karton. Er war eingestaubt, und die Ecken waren nach innen eingebeult. Der Name der Spedition stand schwarz auf der Seite. Sie öffnete ihn und leuchtete hinein. Plastikmappen in Grün und Rot, Eckspannmappen, ein Stapel LPs und eine Tasse, an die sie sich nicht erinnerte. Ein Schuhkarton mit den Disketten und den Notizbüchern, die er periodenweise mit Texten gefüllt hatte, die wie Kauderwelsch anmuteten. Tausende Seiten unzusammenhängender Gedanken, wie sich die Klimakatastrophe abwenden ließe, das war sein Ding, wenn er manisch war. Seine Mission.

Die Texte waren ihm oft in Träumen von einem Adler oder einem Wal übermittelt worden, deren Botschaft die Welt retten könne. Das war so verrückt, dass Hannah den Gedanken daran fast nicht ertrug. Sie strich über einen dunkelblauen Pullover mit einem kleinen roten Herzen auf der Brust, den sie ihm zu einem ihrer früheren gemeinsamen Geburtstage geschenkt hatte.

Verliert man jemanden, den man liebt, verliert man etwas von sich selbst, heißt es. Die Trauer über einen Todesfall ist ein statischer Zustand, ein Lebensumstand ohne ein Versprechen auf Veränderung. Doch bei Selbstmord beschwert ein dröhnendes Warum? die Trauer und blockiert den Heilungsprozess. Es war ein Schock für sie zu erleben, wie wenig ihr Fachwissen ihr nutzte, sich selbst zu helfen. Daniels Psychiater im Maßregelvollzug, Mikkel Felding, den sie aus Studientagen kannte, hatte ihr ein Gespräch über Daniels letzte Lebenszeit angeboten. Vielleicht war es nun an der Zeit, das Angebot anzunehmen und zu sehen, ob ihr das etwas Erleichterung verschaffte.

Mit einer Energie, die sie nicht spürte, nahm sie den obersten Karton, trug ihn zur Kellertreppe und brachte ihn hoch in die Diele, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Lief wieder hinunter, holte den anderen und stellte ihn auf dem schwarz-weiß karierten Boden ab. Eine Wolke aus Staubpartikeln tanzte im Sonnenlicht. Hier, im Tageslicht der Diele, sahen die Kartons unschuldig aus und hätten ebenso gut Winterstiefel enthalten können wie die letzten Besitztümer eines Menschen.

Hannahs Handy meldete sich. Sie zog es heraus und sah auf das Display. Eine unterdrückte Nummer. Sie nahm den Anruf zögernd an. »Hallo?«

»Guten Tag, hier spricht Sanne Jørgensen vom Sekretariat des Gefängnisses in Nykøbing. Ich rufe wegen eines früheren Insassen an. Spreche ich mit einer Angehörigen von Daniel Leon?«

»Ja, ich bin seine Schwester, Hannah Leon.«

»Mein Beileid.«

»Danke.« Hannah räusperte sich unsicher. »Um was geht es denn?«

»Ich rufe an, weil wir – in Verbindung mit der Ausquartierung des Maßregelvollzugs nach Slagelse – die alte Abteilung renovieren und teilweise abreißen. Als wir die Möbel aus der Zelle ihres Bruders geschafft haben, haben wir etwas gefunden …« Es rauschte in der Leitung, als läge das Gefängnissekretariat in Alaska und nicht knapp hundert Kilometer entfernt. »Hinter einem Schrank. Er hat die Rückwand abgenommen und an die Wand geschrieben, mit Permanentmarker und einem Kugelschreiber aus der Kreativwerkstatt.«

»Was hat er geschrieben?«

»Er hat nicht mit richtigen Buchstaben geschrieben, sodass niemand von uns es lesen kann. Vielleicht ist es nur Gekritzel. Aber falls Sie es sehen wollen, bevor die Wand eingerissen wird, können wir das gerne arrangieren.«

»Äh, ich weiß nicht.« Hannahs Magen schlug einen langsamen Purzelbaum bei der Vorstellung, das Gefängnis noch einmal zu betreten. Bei dem Gedanken an die lange Zugfahrt auf denselben Schienen, auf denen Daniel sich das Leben genommen hatte. »Können Sie uns ein Foto schicken?«

Ein Prusten war im Hörer zu hören, als lachte und schnaubte die Sekretärin gleichzeitig. »Ich kann natürlich mit dem Handy ein Foto von der Wand machen und es Ihnen schicken, wenn Sie meinen, Sie können das lesen?«

Hannah zögerte, offenbar lange genug, dass die Gefängnissekretärin die Geduld verlor. »Wir unterrichten Sie nur der Ordnung halber. Sie können anrufen und einen Termin vereinbaren, wenn Sie das wollen.«

»Okay, danke.«

Hannah legte auf.

Vielleicht hatte Rune recht, vielleicht war sie gefühlsarm. In einer Familie von sensiblen, introvertierten Gemütern war sie sich oft wie eine Fremde vorgekommen. Als Kind hatte man ihr immer wieder gesagt, dass sie sich mäßigen, herunterkommen und um Gottes willen versuchen solle, ein bisschen zu entspannen. Daniel konnte stundenlang dasitzen und zeichnen oder lesen, während sie die erste Etage in eine Reitbahn verwandelte und mit ihrem Steckenpferd Springturniere ritt. Meine kleine Pippi Langstrumpf hatte ihre Mutter sie genannt, und obwohl sie es lieb gemeint hatte, war Hannah der Hauch von Missbilligung nicht entgangen, der sich hinter den Worten verbarg.

Mit der Stimme ihrer Mutter im Ohr stieg sie die Kellertreppe hinunter. Die Zeit nach der Verurteilung war verschwommen, nach dem Gerichtsverfahren, in dem Daniel für den Mord an seiner Ex-Frau verurteilt worden war, hatte Rose Leon sich in ihr Bett gelegt und war nicht wieder aufgestanden. Die Blutkrebsdiagnose war ein Schock gewesen, doch laut der Ärzte handelte es sich um eine Krankheit, mit der und nicht an der sie sterben würde. Sie irrten sich. In der Nacht zum 7. Februar dieses Jahres tat Rose Leon ihren letzten Atemzug und verließ im Alter von vierundsiebzig Jahren diese Welt, als könne sie es nicht erwarten wegzukommen.

*

»Entschuldigung … hallo!«

In dem Versuch, mit ihren hundertzweiundsechzig Zentimetern etwas größer auszusehen, stellte sich Liv unauffällig auf die Zehenspitzen. Die Beine taten weh, aber sie streckte sich trotzdem und hob das Kinn. Leider schien das den Mann hinter der Bar nicht zu interessieren, der selbstsicher zwischen Kaffeemaschine und Kasse hin und her lief und über ihren Kopf hinwegsah. Kopenhagener Cafés, murmelte sie vor sich hin und dachte sehnsüchtig an ihre Kaffeebar in Aalborg. Dort ließ man die Kunden nicht warten und bekam noch ein Lächeln dazu, wenn man sein Geld auf die Theke legte.

»Ich hätte gerne eine Cola und ein Milchbrötchen mit Butter.« Diesmal sprach sie etwas lauter.

Der Barkeeper lächelte, ohne die Kanne mit der Milch abzustellen, die er gerade aufschäumte, und rief demonstrativ zurück. »Setzen Sie sich schon mal hin, wir kommen an den Tisch!« Er wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu.

Liv kannte das. Wenn man klein und dünn ist, wird man übersehen, besonders von überheblichen Männern hinter Schaltern. Das war einer der Gründe, aus denen sie ihre Polizeiuniform so geliebt hatte. Deren Embleme und der Gürtel mit Knüppel und Dienstwaffe forderten Respekt, selbst von Arschlöchern wie ihm. Sie vermisste sie, die Uniform. Vermisste den Job, die Identität.

Aber jetzt bist du hier, rief sie sich in Erinnerung und suchte sich einen freien Tisch zwischen den Zeitung lesenden Morgengästen des Cafés. Sie stellte die Sporttasche auf den Boden und setzte sich, schaltete ihren Laptop an und loggte sich ins Internet ein. Thereses Duft haftete noch auf ihrer Haut, was ziemlich ablenkend war. Sie hatte ihr keine Nachricht zukommen lassen, nachdem Liv ohne Abschied das Hotelzimmer verlassen hatte. Wahrscheinlich war sie mit dem Schnellzug auf dem Heimweg. Vielleicht würde sie sich beruhigen und später schreiben.

Liv öffnete die Website der Polizei und überflog die Stellenangebote, ohne etwas Interessantes zu entdecken. Sie schloss die Seite wieder, rief ihre Statistik bei Google Ads auf – nicht imponierend – und überflog anschließend den Wortlaut eines unaufgefordert gesandten Angebots zum Abschluss von Renten- und anderen Versicherungen. Sie biss sich in die Lippe, während sie Buchstabendreher berichtigte und Kommata setzte. Vor drei Monaten hatte sie noch einen festen Job als Ermittlerin und eine Wohnung mit Blick auf den Himmel über dem Limfjord. Jetzt saß sie hier und bot ihre Dienste unter dem Namen LJ Privatdetektive an. Im Plural, so fühlten die Kunden sich besser aufgehoben, obwohl es niemanden außer ihr gab.

Sie öffnete ihre neu eingerichtete Firmenmail und antwortete einem Klienten, einer Versicherungsgesellschaft, die Ergebnisse anmahnte. Ein bei ihnen versicherter Patient mit Rückenschmerzen war angeblich gesünder, als er die Versicherungsgesellschaft glauben ließ. Liv versprach, so schnell wie möglich zu liefern. Es gab zwei neue Anfragen, beide von anderen Versicherungsgesellschaften, die ähnliche Aufgaben zu vergeben hatten. Liv schickte ihnen ein Angebot und mailte die Referenz mit, die Petter Bohm, Ermittler der Mordkommission Kopenhagen, ihr vor drei Jahren für ihre Bewerbung bei der nordjütländischen Polizei geschrieben hatte.

Während Livs Ausbildung auf der Polizeischule hatte dieser einen Kurs in Verhörtechniken geleitet, der in ihrer Erinnerung zum Besten gehörte, was sie in dieser Zeit gelernt hatte. Als sie später bei der Bereitschaftspolizei arbeitete, hatte sie ihn bei einem Fall von häuslicher Gewalt wiedergetroffen, der in einem Mord geendet hatte. Ein betrunkener Mann hatte behauptet, der Treppensturz seiner übel zugerichteten Frau wäre ein Unfall gewesen, die Würgemale an ihrem Hals hätten nichts mit ihm zu tun.

Trotz ihres jungen Alters hatte Petter sich entschlossen, sie in die Ermittlungen einzubeziehen. Sie war bei Verhören dabei gewesen, hatte Zeugen aufgesucht und genug Beweise gesammelt, dass es für eine Anklage reichte. Sie war sogar dabei gewesen, als der Täter schließlich einknickte und ein tränenreiches Geständnis ablegte.

Petter fand, dass sie tüchtig war. Speziell. Bei dem Gedanken wuchs sie um einige Zentimeter. Seine Töchter, die in Livs Alter waren, hatten sich für andere Berufswege entschieden – Gott sei Dank, sagte er oft, ohne es zu meinen. Einige Kollegen runzelten die Brauen ob ihrer Vertrautheit und verbreiteten hinter ihren Rücken boshafte Gerüchte. Das hatte Liv zu spüren bekommen, als sie mit erst fünfundzwanzig Jahren die Stelle in Aalborg bekam und anderen Bewerbern mit einem höheren Dienstalter und mehreren Skalps im Rucksack vorgezogen wurde. Die Ermittler vor Ort hatten sie Kaffee holen lassen, als wäre sie ihre Sekretärin. Sie hatte sie ignoriert und nach einigen Monaten erste Verbündete unter den Kollegen gefunden. Johan. Michala. Per Anders. Sie machten den Alltag auf der Wache erträglich, aber die Frotzeleien hatten nie ganz aufgehört, und die Stimmung war angespannt geblieben.

Liv warf einen Blick über ihre Schulter, schaltete den Laptop aus und steckte ihn in die Sporttasche. Der Barkeeper hatte ihre Bestellung offenbar vergessen, und das war okay für sie. Kopenhagen war teuer, und der Verdienst als Privatdetektivin warf bisher nicht viel ab. Die kleinen Beträge, die sie mit Fällen von Versicherungsbetrug und dem Bruch von Konkurrenzklauseln verdiente, waren ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist nur vorübergehend, sagte sie sich, sie würde schon noch einen Job als Ermittlerin bekommen.

Gerade als sie aufstehen wollte, kam der Barkeeper mit ihrer Cola und dem Milchbrötchen und legte die Rechnung daneben. Der Betrag entsprach dem, was sie für einen Sonntagsbrunch in Aalborg bezahlt hätte.

*

Nima Ansari nahm die Zigarette aus dem Mund und ging um den Holley 670-Vergaser herum, der auf zwei Europaletten vor der Werkstatt aufgebockt war. Eine Corvette C3 von 1974, älter als er selbst. Der Besitzer hatte das Auto nach diversen, allerdings vergeblichen Besuchen in autorisierten Werkstätten gestern hier abgeliefert, weil es weiter im Leerlauf absoff.

Nima hatte bereits die Düse im Schwimmergehäuse überprüft, die Zündkerzen und den Benzinfilter vor dem Vergaser, ohne die Ursache für das Problem zu finden. Jetzt wartete eine Detektivarbeit auf ihn. Ventile und Schläuche mussten überprüft, gereinigt und ausgewechselt werden, der Fehler konnte in den beweglichen Teilen liegen oder vielleicht in einer Undichte im Vakuumsystem. Das war eine Herausforderung, doch er liebte Herausforderungen, zumindest die der konkreten, analogen Art. Die sich mit Zeit und Sorgfalt lösen ließen.

Er wischte sich die Finger an seinem Blaumann ab und sah zu dem hinteren Haus hinüber. Eine alte, herrschaftliche Villa, vergessen in einem Hinterhof zwischen Vesterbro und Fredriksberg. Sie war ganz offensichtlich einmal stattlich gewesen, doch jetzt bedurfte sie dringend der Renovierung. Hin und wieder trank Nima mit dem alten Mann, Jan, der in dem Haus wohnte, einen Kaffee und tauschte Bücher aus. Seit dem Tod seiner Frau war er allein.

Es juckte Nima in den Fingern, den losen Putz der Villa abzuschlagen, die Böden aufzuarbeiten und die morschen Fensterrahmen abzuschleifen. Doch er hatte mit den Autos reichlich zu tun und brauchte keine zusätzliche Arbeit. Und jetzt, da Jans Tochter eingezogen war, hielt Nima respektvoll Abstand. Er hatte sie nach Ostern Kartons hereintragen sehen. Wahrscheinlich eine Scheidung, sie war im richtigen Alter dafür, dachte er und griff nach einem Rollgabelschlüssel.

Er löste den Bolzen, mit dem der Schlauch an dem Auspuffkrümmer befestigt war, und untersuchte ihn minutiös auf undichte Stellen. Löste den Stutzen. Vielleicht sollte er bald einmal bei seiner Mutter vorbeischauen. Ihre Gürtelrose war wieder ausgebrochen, und ihr ging es zu schlecht, als dass sie das Haus verlassen konnte, woran sie ihn täglich erinnerte.

Nima war klar, dass es primär um etwas anderes ging. Er wusste auch, dass seine Schwester Daria gestern mit zwei vollen Einkaufstüten bei ihr vorbeigeschaut hatte, doch das erleichterte nicht sein schlechtes Gewissen. Es spannte wie eine Nabelschnur. Ein Flüchtling kann sich zeitweilig frei fühlen, aber ganz frei wird er nie sein.

Er trocknete den Stutzen mit einem Lappen ab, beschloss, einen Zentimeter des Schlauchs abzuschneiden und ihn mit einer neuen Schlauchklemme zu versehen. Auf der Suche nach der richtigen Kiste ging er in die Werkstatt. Das Handy in seiner Tasche brummte. Er holte es heraus, sah auf das Display und lächelte. Marianne.

In der alten Autowerkstatt hing der Geruch nach Öl und Rauch unter der Decke. Sie war nicht größer als fünf mal sechs Meter, und die Wände waren mit Masonit-Platten verkleidet, auf denen Werkzeuge abgebildet waren. Rundherum waren Regale angebracht. Hier hatten die Dinge ihren festen Platz. Kisten mit Bolzen und Schrauben, Notizen und Gummis, Seite an Seite, klar gekennzeichnet. Das ordentliche, wenn auch altmodische Lager war Teil des Handels gewesen.

Nima liebte die Stofflichkeit des Systems. Es erinnerte ihn an den Kaufmannsladen, den er damals, als die Familie noch in Qaem-Schahr im nördlichen Iran wohnte, zum Spielen bekommen hatte. Bestimmt ein Erbstück von einer seiner Tanten väterlicherseits und ursprünglich für Daria gedacht, die jedoch nicht damit hatte spielen wollen. Der Laden bestand aus drei Vitrinenschränken in Kindergröße und einer niedrigen Theke mit einer Kasse aus glänzendem Messing, die ding sagen konnte. Es gab Holzschubladen für Mehl und Reis, die knirschten, wenn man sie herauszog. Eine kleine Welt aus Ordnung und Qualität.

Die Werkstatt hatte er seinerzeit von Metall-Robert übernommen, einem eingefleischten Vesterbro-Mechaniker, der in Rente gegangen war. Sie hatten weder einen Vertrag aufgesetzt noch die Bank in ihren Handel involviert, sondern einfach alles mit Handschlag besiegelt und die Umschläge ausgetauscht. Die Werkstatt war klein und hatte ihre Grenzen. Wenn er eine Grube oder einen Hebelzug brauchte, musste er sich an die nächste autorisierte Werkstatt wenden, aber das war selten der Fall. Oldtimer ließen sich meist mit einem Amateurwerkzeugkasten und einer guten Portion Geduld hier im Hof reparieren.

Es hätte so anders werden können. Er hatte den größten Teil eines Ingenieurstudiums abgeschlossen und wusste, dass seine Eltern sich einmal mehr erwartet hatten. Ihre Ambitionen hatten ihm viele Jahre Spannungskopfschmerzen verursacht. Mit der Werkstatt waren sie verschwunden.

In der Ecke, die der Tür am nächsten war, stand ein Sessel neben einer Kaffeemaschine und einem Spülbecken, einer Musikanlage und einem Geheimfach für Bargeld und die Joints, die er ab und zu rauchte. An der Wand hinter der Anlage hing ein Ausdruck des Lieblingsgedichts seines Vaters von Forugh Farrochzad, der viel geliebten iranischen Dichterin. Das, in dem sie sich weigert zu bereuen.

 

Ich bereue nicht,

wenn ich an diese Resignation denke,

diese schmerzliche Kapitulation.

Ich habe das Kreuz meines Lebens geküsst

auf den Hügeln meiner Hinrichtung.

 

In den kalten Straßen der Nacht

trennen die Paare sich immer zögernd.

In den kalten Straßen der Nacht

gibt es keine Laute, nur Stimmen,

die auf Wiedersehn, auf Wiedersehn rufen.

 

Auf der Flucht über die türkischen Berge, wo sie im Schneetreiben durch die Nacht gelaufen waren, hatte er dieses Gedicht jeden Abend für seine Mutter und seine Schwester aufgesagt. Anfangs, um sich zu erinnern, woher sie kamen, später, um zu vergessen, was er getan hatte, um anzukommen.

Kapitel 2

Liv schaltete das Gebläse des Fiat an und hielt den Kopf vor das Gitter in dem Versuch, nicht einzuschlafen. Auf dem Sitz neben ihr stand eine Papiertüte mit einer fettigen Verpackung eines Egg McMuffins. Sie bedauerte es nicht, noch einen gekauft zu haben. Die vormittägliche Überwachung zog sich in die Länge, und ihr Magen fing langsam wieder an zu knurren. Der Parkplatz um sie herum füllte sich still und ruhig mit Autos, die warm wie Treibhäuser in der Sonne standen. Mitunter strömten Kinder und Erwachsene heraus, und sie sah sie mit großen Sporttaschen an sich vorbeikommen und im Grøndalscenter verschwinden.

Ihr Auftraggeber wollte Beweise, dass sein Klient jeden Montagvormittag mit seinen Kumpeln Tennis spielte und deshalb nicht so von einer Spinalstenose und einem Bandscheibenvorfall geplagt sein konnte, wie er behauptete. Liv hatte den Mann fotografiert, als er mit einer Schlägertasche über der Schulter in die Sporthalle gegangen war, und jetzt wartete sie noch, um auch zu dokumentieren, wie er verschwitzt wieder herauskam. Ein Kindergartenkind könnte meine Arbeit machen, dachte sie grimmig und schaltete erneut an dem Gebläse, das die Luft im Auto zirkulieren ließ. Sie gähnte und lehnte die Stirn gegen den Lenker. Nur einen Moment.

Liv liebte es, Rätsel zu lösen, das war schon immer so gewesen. In den unteren Klassen hatte sie mit zwei Klassenkameradinnen ein Detektivbüro gegründet und die langen Nachmittage damit verbracht, verdächtige Dinge in Rødovre zu untersuchen: ein verlassenes Fahrzeug mit einer zerbrochenen Scheibe, ein merkwürdiges Haus, das dunkel mit schmutzigen Fensterscheiben dalag, eine verlorene Geldbörse mit nur einem Passfoto darin. In der fünften Klasse waren die Klassenkameradinnen des Spiels müde gewesen, und das Büro hatte sich aufgelöst. Liv hatte so getan, als würde sie auch lieber Musik hören und Rollschuh fahren.

Jetzt hatte sie längst ihre Liebe zur Detektivarbeit zu ihrem Beruf gemacht. Das prickelnde Gefühl im Bauch, wenn ein Steinchen an seinen Platz fiel und das Rätsel plötzlich aufging. Der Sherlock-Holmes-Effekt. Andere Ermittler würden unter Umständen die Befriedigung anführen, einen Schuldigen zu stellen und den Hinterbliebenen Frieden zu geben, würde man sie nach ihrer Motivation fragen. Die Wächter der Gerechtigkeit. Für Liv war die Ermittlung als solche der Reiz. Der Prozess an sich. Vielleicht machte sie das zu einer weniger moralischen und menschenfreundlichen Ermittlerin, vielleicht machte es sie aber auch effektiver.

Sie hob den Kopf und blickte durch die Frontscheibe. Die Tür der Sporthalle ging auf, und eine Gruppe mittelalter Männer mit nassen Haaren und in kurzen Hosen kam heraus. Sie erkannte ihre Zielperson und griff nach der Kamera, die mit Teleobjektiv auf dem Beifahrersitz neben der McDonald’s-Tüte lag.

Sie fotografierte. Es sprach schon einiges dafür, dass der Rückenpatient in besserer Form war, als er behauptete. Ärgerlich, dass er wie eine kleine Mücke erschlagen werden sollte, dachte sie, während die Fotos sich auf der Speicherkarte mehrten. Vielleicht hatte er wirklich Rückenschmerzen und wollte lediglich seinen Körper und sein Netzwerk intakt halten. Vielleicht war er ein gemeiner Schwindler, der versuchte, das System zu betrügen.

Was auch immer zutraf, sein Untergang bezahlte ihre Rechnungen.

*

Das Röhren der Badezimmerrohre sagte Hannah, dass ihr Vater wach war. Sie ging aus dem Keller nach oben, mahlte Bohnen und setzte Kaffee auf. Die Küche war klein, aber gemütlich und hatte noch immer die originalen Schubladen aus Massivholz, die nie eine Schraube gesehen hatten. Sie schob Brötchen in den Ofen und deckte den Tisch mit dem Goldrandgeschirr ihrer Mutter. Es wäre seltsam, den Tag nicht festlich zu begehen.

»Guten Morgen.«

Ihr Vater tauchte in einem karierten Blazer, mit rasierten Wangen und zurückgekämmten Haaren in der Tür auf. Jan Leon stützte sich mit beiden Händen auf einen Stock. Wenn man nicht genau hinsah, fiel einem nicht auf, wie dünn er unter den Schulterpolstern geworden war.

»Hallo, Vater, hast du gut geschlafen?«

Er zog minimal eine Schulter hoch, was, wie sie wusste, nein bedeutete. In den letzten Jahren hatte die Krankheit langsam seinen ehemals so guten Schlaf ruiniert. Jetzt brachte sie ihn in der Regel dazu, bis spät in den Vormittag hinein liegen zu bleiben, um sich zumindest auszuruhen.

»Ich habe kein Geschenk für dich, das hat Mutter immer …«

Hannah unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Das Letzte, was sie wollte, war, daran erinnert zu werden, wie es immer gewesen war.

»Mach dir darüber keine Gedanken, Vater. Das Frühstück ist fast fertig. Ich habe gewartet, bis du auf bist.«

Er lehnte den Stock gegen die Wand und setzte sich auf die Klappbank an den rustikalen Esstisch in der Küche. Aprikosen- und Erdbeermarmelade, beides musste auf dem Tisch stehen. So ist das mit Zwillingen, Sonne und Wind müssen zu gleichen Teilen aufgeteilt werden.

Normalerweise hatte ihre Mutter Marmelade aus den Aprikosen im Garten gekocht, doch der Baum hatte in den letzten Jahren keine Früchte getragen. Und Mutter war tot. Also kaufte Hannah die Marmelade jetzt einfach im Supermarkt.

Sie beschloss, noch etwas zu warten, bevor sie ihrem Vater von dem Anruf aus dem Gefängnis erzählte. Daniel jetzt zu erwähnen, würde garantiert die Stimmung verderben.

Jan griff nach der feinen Silberkanne, die nur bei festlichen Gelegenheiten auf den Tisch kam. Er war immer derjenige, der eingoss, selbst jetzt, wo ihm die Finger nicht mehr richtig gehorchten. Hannah widerstand dem Drang, ihm zu helfen – er würde es hassen –, und setzte sich. »Erinnerst du dich an den Aushang bezüglich der Kellerwohnung? Den ich vor ein paar Wochen auf Facebook gestellt habe?«

Sie hatte ihm nichts von der Mahnung erzählt, die Ende August in ihrem Posteingang aufgetaucht war. Sie war zu erwarten gewesen, natürlich konnte das Krankenhaus keine Krankmeldung tolerieren, die sich bis ins Unendliche hinzog. Sie musste bald wieder zur Arbeit gehen, wenn sie keine Kündigung riskieren wollte. Und sie konnte auch nicht ewig hier wohnen bleiben und sich um ihren Vater kümmern, sie musste an die Zukunft denken, um ihrer beider willen. Von seiner Rente allein konnte er nicht leben.

»Rate mal, wer sich darauf gemeldet hat!«

Jan sah sie mit leeren Augen an.

»Carls Enkelin, Liv Jensen. Sie hat mir geschrieben, vielmehr ihre Mutter, Merete. Sie musst du doch kennen?«

Jan nickte besonnen. »Ich glaube, ich habe Carls Tochter nicht mehr gesehen, seit sie geheiratet hat. Das muss dreißig Jahre her sein, wenn nicht länger.«

»Bist du Liv mal begegnet?«

Er lächelte. »Ja, sicher! Sie war Carls Augenstern. Hat er sie nicht einmal auf ein Fest mit hierher gebracht? Zu Mutters Sechzigstem vielleicht. Wie alt kann sie jetzt sein? Vierzehn, fünfzehn?«

»Sie ist neunundzwanzig, Vater! Die Zeit vergeht.« Hannah konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Und sie ist gerade von Nordjütland nach Kopenhagen gezogen und braucht eine Wohnung. Merete hat gesagt, dass sie nett und ordentlich ist, nicht raucht und pünktlich ihre Miete zahlt. Sie kommt morgen mit ihren Sachen.«

»Morgen?« Jan sah sie bekümmert an. »Ist die Kellerwohnung denn überhaupt bezugsfertig?«

»Ich bin dabei, und so viel ist da nicht zu tun.« Sie tätschelte ihm die Hand und spürte die Knochen unter der dünnen Haut. »Du weißt doch, dass ich gerne aufräume und Ordnung mache. Ich mag das.«

Er rührte mit einem klirrenden Kaffeelöffel den Kaffee um und saß eine Weile in seine eigenen Gedanken versunken da.

»Entspann dich, Vater, wir sitzen einander ja nicht auf der Pelle.«

»Das weiß ich wohl.«

Er klang gereizt, das hatte sie auch erwartet. Jan Leon hatte das Heim der Familie all die Jahre verteidigt wie ein Ritter sein Schloss. Der Gedanke an eine Mieterin gefiel ihm nicht. Nicht einmal, wenn es sich um die Enkelin eines alten Freundes handelte.

»Vater, wir haben das doch besprochen.«

Einen Moment blieb er mit auf die Tasse gerichtetem Blick sitzen, dann hob er den Kopf und nickte ihr zu. »Das weiß ich doch, Schatz.«

Sie erwiderte sein Lächeln und schnitt ihnen beiden ein Brötchen auf. Schmierte Butter darauf und griff nach der Marmelade. Aprikose für sie.

»Wie wäre es, wenn wir Rune heute Abend zu uns einladen?« Er fragte beiläufig, doch sie wusste, dass er seinen selbst erklärten Schwiegersohn vermisste.

»Ich hatte eigentlich überlegt, zum Tangotanzen zu gehen, aber wir beide können auch einfach zusammen essen?« Hannah brachte es nicht übers Herz, ihrem Vater zu sagen, dass Rune sich vermutlich lieber einen ganzen Tag bei IKEA aufhalten würde, als den Abend mit ihr zu verbringen. »Dann mache ich uns Ravioli, die mit einem ganzen Eigelb und vielleicht ein paar Trüffeln, wenn ich welche bekomme.«

Er zuckte mit den Schultern und hob die Kaffeetasse zu einem resignierten Prost. »Ja gut, dann herzlichen Glückwunsch.«

*

Liv parkte das Auto am Rigshospital und ging an den Seen entlang bis zum Ende des Sortedamssøen. Die kleinen Kaffeehaustische standen dicht vor dem Franske Café, und Wärmelampen bemühten sich, die Sommersaison für die Rosétrinker zu verlängern, die gerne zum Wein eine Zigarette rauchten und nichts dagegen hatten, mit dem Nachbartisch Ellenbogen an Ellenbogen zu sitzen. Liv trat unter die großen Kastanienbäume und ließ den Blick über die Gäste unter der Tricolore-Markise schweifen.

Petter hatte einen Tisch in der Ecke ergattert und saß hinter einer aufgeschlagenen Zeitung. Er hatte einen halben Liter Fassbier vor sich, wie er ihn hin und wieder zum Feierabend trank. Nie mehr. Eine angezündete Zigarette qualmte vor ihm im Aschenbecher vor sich hin, auch die rationierte er.

Sie blieb einen Augenblick stehen und musterte ihn; den grauen Haarkranz um die Glatze und die kräftigen Schultern unter dem Blazer, der an der einen Seite durch die Brieftasche in der Innentasche tiefer hing. Ein wohlbekanntes Gefühl der Sicherheit breitete sich in ihr aus. Petter hatte eine große Familie und war vor Kurzem zum vierten Mal Großvater geworden, aber ein bisschen war er das auch für sie. Mittlerweile bezeichneten sie ihn als ihren Mentor.

»Ist hier noch Platz für eine Person?« Er schlug die Zeitung zu und sah mit einem schroffen Blick auf, der milder wurde, als er sah, wer vor ihm stand.

»Nur wenn die Person interessanter ist als die heutigen Nachrichten. Schaffst du das?«

»Ich tue mein Bestes.« Liv setzte sich, und er faltete die Zeitung zusammen. Eine Cola stand schon für sie auf dem Tisch. Sie lächelte ihn an.

»Ich gehe nicht davon aus, dass dein Geschmack sich seit unserem letzten Treffen geändert hat?«

»Danke, hat er nicht. Wie geht es Susanne? Und den Kindern?«

»Denen geht es gut. Die Schar wächst und mein Bauch auch. Alles ist so, wie es soll. Ich soll übrigens grüßen und dich in der Großstadt willkommen heißen. Ich habe versprochen, dafür zu sorgen, dass du an einem Tag in der Woche zum Essen zu uns herauskommst.« Er zog an der Zigarette und drückte sie aus. »Hat es mit der Wohnung geklappt?«

»Ich ziehe morgen ein.«

»In Vesterbro, nicht?«

Liv nickte. »Es ist eine Kellerwohnung, aber in einer schönen, alten Villa. Und es ist gut, etwas Eigenes zu haben.«

»Bist du deiner Eltern müde?«

Sie verdrehte zur Antwort die Augen, und Petter gluckste.

»Womit verbringst du deine Zeit, Liv?«

Sie schwankte einen Moment zwischen dem Drang, ihm zu imponieren oder ehrlich zu antworten, entschloss sich dann zu Letzterem.

»Ich versuche, meine Detektei zu etablieren, aber das braucht Zeit. Die Konkurrenz ist groß. Ich hoffe ja, dass sich bald bei euch etwas ergibt …« Sie ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen.

Er ging nicht darauf ein.

»Außerdem halte ich mich in Form und lerne die Stadt kennen.«

»Davon kann man nicht leben.«

»Dann ist es ja gut, dass ich dich habe und du mich mit Getränken versorgst.« Sie hob ihr Glas zu einem stummen Prost.

Petter schaute über den See. »Ich hab was für dich. Eine Aufgabe.«

Liv zog die Brauen hoch.

»Vielleicht sollte ich es lieber eine Gefälligkeit nennen, denn ich kann dich nicht bezahlen, ich kann nur für deine Ausgaben aufkommen.«

Sie stellte das Glas ab. Petter war eigentlich nicht der Typ, der um Hilfe bat. Genau genommen konnte sie sich nicht erinnern, das überhaupt schon einmal erlebt zu haben.

»Lass hören.«

»Erinnerst du dich an den Mordfall, in dem ich vor drei Jahren die Ermittlungen geleitet habe? Der in den Medien so viel Aufmerksamkeit bekommen hat?«

»Der Journalist?«

Er nickte. »Erwürgt in seiner eigenen Wohnung in Østerbro. Du kannst das Gebäude von hier aus sehen. Das Haus neben dem Friedhof.« Er zeigte in die Richtung. »Seine Frau ist nach Hause gekommen und hat ihn mit Schaum vor dem Mund in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden gefunden.«

»Keine Zeugen?«

»Nur eine ältere Dame, die nichts gesehen hat. Außer ihr waren zum Tatzeitpunkt – der bei der Obduktion auf vormittags festgesetzt wurde – keine Nachbarn zu Hause. Niemand hat etwas beobachtet.« Er trank einen Schluck von seinem Bier und faltete die Arme vor der Brust, sodass sie auf seinem Bauch ruhten. »Es war, als wäre es nie geschehen.«

Petter fischte eine Packung Zigaretten aus der Tasche, sah sie jedoch nur an und steckte sie wieder ein.

»Wir haben den Fall gerade geschlossen, und das macht mir zu schaffen. Du weißt, dass ich nicht dazu neige, große Worte zu machen, aber das hält mich ehrlich gesagt nachts wach. Ich habe das unangenehme Gefühl, dass wir etwas übersehen haben, das für den Fall wichtig gewesen wäre. Vielleicht ist es auch nur mein Gewissen, das mir einen Streich spielt.«

Er sah sie ernst an, und ihr fiel auf, wie müde er wirkte. Erschöpft. In seinem Blick lag eine Verletzlichkeit, die ihr unbekannt an ihm war und die sie verlegen und gleichzeitig fest entschlossen machte, ihm zu helfen.

Er lächelte, auch ihn schien die Situation verlegen zu machen.

»Also, du kannst dir den Fall ja mal ansehen, wenn dir etwas richtige Polizeiarbeit fehlt?«

Liv nickte. »Sehr gerne. Aber wie?«

Petter biss sich in die Lippe. Dann beugte er sich diskret hinunter und öffnete mit einer Hand seine Tasche. »Ich hab eine Kopie der Akte mitgebracht.« Er fischte einen blauen Aktendeckel heraus und legte ihn auf den Tisch. »Wirf einen Blick hinein, und lass mich wissen, was du davon hältst.«

Kapitel 3

Die Klingel der Werkstatt schellte schrill. Nima legte den Steckschlüssel weg und ging durch den Hof zum Tor, hob den Sperrhaken an und öffnete beide Flügel weit. Draußen auf der Straße lud ein Abschleppwagen ein Auto ab. Einen gut erhaltenen Morris 1000 von 1970, der hellblau lackiert war und nicht einen Kratzer aufwies.

Er nickte dem Abschleppwagenfahrer zu. »Der muss hier in den Hof, schieben Sie mal mit?«

»Dann mal los. Aber der Taxameter läuft weiter.«

Sie bekamen das Auto vor die Werkstatt geschoben, und Nima quittierte den Erhalt. Als der Abschleppwagen sich in Bewegung setzte und um die Ecke verschwand, kam eine Frau auf ihn zu.

Sein Herz setzte einen Schlag aus.

»Hei, Nima.« Marianne lächelte, sie hatte sich fast nicht verändert. Schön und schlank, blaue Augen unter schweren Lidern, das braune Haar im Nacken zusammengebunden, lange Beine, die sich unter einer losen Herrenhose versteckten. Sie hatte nur abgenommen, was ihr nicht stand. »Entschuldige, wenn ich zu spät bin. Es war unmöglich, einen Parkplatz zu finden.«

»Wo stehst du?«

»Um die Ecke.«

Sie blieb vor ihm stehen, und er küsste sie auf die Wange, war sich jedoch nicht sicher, ob das angebracht war. Das letzte Mal hatte er sie vor knapp fünf Jahren gesehen, und da hatte sie ihn mit einem unterdrückten Weinen in der Stimme gebeten, sich nicht mehr bei ihr zu melden. Irgendwo hatte er immer noch eine Sonnenbrille von ihr. Er hatte ihren Wunsch respektiert, und auch sie hatte ihn nicht kontaktiert. Bis jetzt. Angeblich, weil er sich den Oldtimer der Familie ansehen sollte.

»Wie geht es dir?«

Sie erwiderte den Wangenkuss.

»Danke, gut. Das Leben geht gnadenlos weiter, du kennst das.« Sie sah zur Seite, als fiele es ihr schwer, ihm in die Augen zu sehen. »Und dir?«

»Alles gut.« Er wollte sich im Nacken kratzen, ließ es aber. Irgendwann ist man zu erwachsen, um den Schüchternen zu spielen. »Sollen wir ihn uns mal ansehen?«

Er machte eine ausladende Handbewegung zu dem offenen Tor hin und ließ ihr den Vortritt. Sie ging mit einem unergründlichen Blick an ihm vorbei, und er schloss mit klopfendem Herzen das Tor hinter ihnen.

»Danke, dass du mich so kurzfristig dazwischengeschoben hast. Es ist nicht so, dass es eilt, aber wir würden ihn gerne fahren können.« Sie legte eine Hand auf das Auto und lächelte ihn vorsichtig an.

»Das ist okay.« Er ging um den alten Morris herum und nickte anerkennend. »Ein schönes Stück, wo ist er her?«

Sie zögerte. »Adam hat ihn bei einem Händler in Hamburg entdeckt.«

Er sah sie an und versuchte, ihr zu signalisieren, dass es okay war, ihren Mann zu erwähnen, dass er ihr nichts nachtrug. Nicht mehr. Man konnte ja ohnehin kaum eine Zeitung aufschlagen oder den Fernseher einschalten, ohne dass er auftauchte. Doch sie sah weg und spielte nervös an ihrem Pferdeschwanz herum.

Nima öffnete die Kühlerhaube, sodass er einen Blick in den Motorraum werfen konnte. »Wo liegt das Problem?«

»Er bleibt stehen, wenn wir längere Strecken fahren. Es passiert gewöhnlich erst, wenn er warm ist oder wir auf der Autobahn sind.«

»Ist euch aufgefallen, wo die Temperaturanzeige steht, wenn das passiert?«

»Ganz oben bei H.« Sie stellte sich neben ihn. Die physische Nähe ließ eine gewisse Verlegenheit aufkommen.

Nima versuchte sich an einem kleinen Lächeln. »Nur die wenigsten Oldtimerbesitzer sind qualifiziert, das Auto zu besitzen, das sie gekauft haben.«

Sie lächelte nicht zurück, sondern hielt seinen Blick fest. Ihre Augen waren groß und ernst, und es versetzte ihm einen Stich. Er räusperte sich und sah wieder in den Motorraum.

»Das kann alles sein, von einem Leck im Kühlsystem bis hin zu mechanischen Problemen des Motors. Hm, der sitzt fest, vielleicht ist da etwas Rost. Versuch mal gegenzuhalten.« Er zeigte ihr, wo, und wartete, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte, bevor er den Deckel des Wasserkühlers abschraubte und ihn ins Licht hielt.

»Da ist Rost im Gewinde. In der Werkstatt habe ich etwas, womit ich das reinigen kann, komm mit rein.« Nima schloss die Motorhaube mit einem kleinen Knall und ging voran.

Drinnen war es dunkel und stickig, und er stellte zu seinem Ärger fest, dass es nach Öl und altem Hasch roch. Der kleine transportable Lautsprecher spielte nur leise, aber sie hörte es.

»Chopin?«

Er wandte sich ab. Sie hatte ihn mit klassischer Musik bekannt gemacht. Das war ihr Ding.

Sie sah sich um. »Das ist sehr … authentisch hier. Eine echte Kopenhagener Werkstatt.«

Nima ging zum Waschbecken. Damals war sie nie mit in der Werkstatt gewesen, hatte alle Einladungen ausgeschlagen, und er hatte gewusst, dass sie es nicht wagte, zusammen mit ihm gesehen zu werden.

»Es ist vielleicht nicht so komfortabel hier, aber der Kaffee ist frisch aufgebrüht. Möchtest du einen?« Er schenkte Kaffee in zwei Becher und gab Marianne einen. Sie setzte sich in den Sessel, den einzigen richtigen Sitzplatz in der Werkstatt. Er selbst drehte einen Bierkasten um und setzte sich darauf.

»Du liest noch immer, wie ich sehe.« Sie lächelte über sein mitgenommenes Exemplar von Paris – Ein Fest fürs Leben, das in einem Regal lag.

Er nickte und versuchte, die Schmetterlinge in seinem Bauch zu ignorieren. Sieben Monate hatte ihre Beziehung gedauert, sich jedoch wie eine Ewigkeit angefühlt. Epochal, jedenfalls für ihn. Vielleicht einfach Liebe. Sie hatte versprochen, ihren Mann zu verlassen. Das war nie passiert. Jetzt stand sie hier, fünf Jahre später. Es konnte doch wohl nicht nur um das Auto gehen? Er zermarterte sich das Gehirn nach etwas Neutralem, das er sagen konnte.

»Arbeitest du noch mit Lisa zusammen?«

Er fragte nach seiner ehemaligen Nachbarin, die sie damals auf einer Party in ihrer Wohnung in Nørrebro miteinander bekannt gemacht hatte.

»Ja, wir arbeiten immer noch beide im Museum.«

»Geht es ihr gut?«

Marianne nickte. »Sie hat geheiratet und wohnt jetzt in Christianshavn.«

»Schön.« Nima trank einen Schluck Kaffee und erhaschte einen Blick auf seine Finger. Die Nägel waren schwarz von Öl.

»Nima …?«

Er begegnete ihrem Blick und war betroffen, wie traurig er war. »Ja?«

Sie blinzelte zweimal und schlug den Blick nieder. »Bis wann kannst du das Auto fertig haben?«

Er wartete, um zu sehen, ob sie wirklich danach hatte fragen wollen, aber es kam nichts mehr.

»Ich werde ihn mir morgen gründlich ansehen. Wenn ich weiß, was das Problem ist, schicke ich dir eine SMS.«

Sie stellte die Tasse auf den Boden und stand auf. Er erinnerte sich, wie sie aus dem Bett aufgestanden war, nackt und verletzlich und mit dem gleichen Blick. Er erinnerte sich an die langen, einsamen Tage und Nächte, nachdem sie aus seinem Leben gegangen war.

Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, und sie strich sie hinter das Ohr. »Ich will dich nicht länger aufhalten.«

Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter, stumm und zögerlich. Holte Luft und biss sich nervös auf die Lippe. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Mit drei schnellen Schritten war Nima bei ihr und hielt sie mit einem starken Arm fest. Er kannte diese Stummheit, spürte die Messer in ihren unausgesprochenen Worten. Fünf Jahre, nachdem sie verschwunden war, tauchte sie wie aus dem Nichts auf, und jetzt wollte sie wieder verschwinden, ohne jede Erklärung.

Er griff nach ihren Schultern und drehte sie zu sich herum. Ein bisschen zu hart, das sah er an ihrer Reaktion, aber er konnte nicht anders.

»Marianne, warum bist du wirklich hier?«

*

»Den Abendkaffee trinken wir im Wintergarten. Kommst du und setzt dich ein bisschen zu uns?«

Merete Jensen warf einen Blick auf Livs Schuhe, sagte aber nichts, sodass Liv sie anbehielt und ihrer Mutter durch das Reihenhaus in den neuen Wintergarten folgte. Viele Jahre war er ein häufiges Gesprächsthema gewesen, und jetzt war der Traum mit einem Darlehen auf den unbelasteten Teil des Hauses endlich realisiert worden. Sie hatten zum Garten hin ein Loch in die Wand schlagen und einen Wintergarten mit einem Laminatboden und Thermofenstern bauen lassen. Ähnlich dem des Nachbarn.

Im Wintergarten saß Livs Vater auf einem weichen Stuhl, die Krücken gegen den Sofatisch gelehnt, der mit Kaffeetassen, einer Thermoskanne und Keksen gedeckt war.

»Hattest du einen guten Tag, Vater?«

»Ja, geht so.« Erik Jensen lächelte seiner Tochter flüchtig zu und griff nach der Thermoskanne. »Ich habe angefangen, dieses neue Nebennierenhormon zu nehmen, von dem ich dir erzählt habe. Jetzt müssen wir sehen.«

»Ich möchte nur Wasser, Vater.«

»Ach?« Merete setzte sich und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

Liv goss sich ein Glas Leitungswasser ein, klopfte ihrem Vater auf die Schulter und ließ sich auf das Børge-Mogensen-Sofa fallen.

»Vater ist bald zwei Wochen krankgeschrieben. Er kann absolut nichts tun, der Schwächling.« Merete lachte und kniff ihren Mann in die Wange, als wäre er ein unartiges Kind.

Seit vor nunmehr fast zehn Jahren eine viszerale Gicht bei ihm diagnostiziert worden war, pflegte sie ihn jedes Mal, wenn er einen Anfall hatte, während sie gleichzeitig mit ihm schimpfte.

»Ich habe gesagt, dass er aufhören soll, Limonade zu trinken, Zucker ist das Schlimmste, haben sie gesagt.«

»Ich trinke keine Limonade«, protestierte Erik.

»Wenn du das sagst.« Merete setzte sich, schlug die Beine übereinander und sah Liv auffordernd an. »Wie läuft die Jobsuche, Schatz? Hier, nimm einen Keks.«

Liv nahm sich einen Keks aus der blauen Royal-Danish-Dose. Ihre Eltern kauften jedes Neujahr eine, dann wurde den Rest des Jahres daraus angeboten. So war es, seit sie zurückdenken konnte.

»Gut«, log Liv. Ihre Eltern betrachteten die Detektei als nichts anderes als ein vorübergehendes Übel, bis sie eine richtige Arbeit gefunden hatte.

»Das ist schön zu hören.« Merete goss sich Kaffeesahne in den Kaffee und rührte um, dass es klirrte. »Jetzt, wo es mit der Polizei nicht geklappt hat, wäre es vielleicht einen Gedanken wert, Neues in Erwägung zu ziehen. Etwas nicht so Gefährliches. Denk daran, wie es Großvater ergangen ist.«