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Aron Fischer und seine Kollegen vom Kommissariat Meran stehen unter Druck: Ein schockierendes Video im Darknet zeigt die grausame Hinrichtung eines Mädchens, inszeniert mit erschreckender Präzision. Die Leiche der jungen Frau wird in der Umgebung der Stadt gefunden. Im Darknet wird der Mörder als Künstler gefeiert und seine Anhängerschaft wächst rasant. Als die Opferzahl steigt und die Videos brutaler werden, gerät sogar Fischer selbst unter Verdacht und verschwindet spurlos.
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Seitenzahl: 435
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Benno Pamer
Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur.
1. Auflage
© Retina, Bozen 2024
Umschlag: Benno Pamer
Umschlagbild: Hanna Pauli
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Lektorat: Senta Wagner
Korrektur: Alexandra Dostal
Printed in Europe
ISBN 978-88-99834-30-2
ISBN E-Book 978-88-99834-32-6
Retina ist ein Imprint der Edition Raetia
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Erste Grazie
1
2
3
Zweite Grazie
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6
7
8
9
10
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Dritte Grazie
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Vierte Grazie
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Fünfte Grazie
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34
35
Epilog
DER PANTHER
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
(Rainer Maria Rilke)
Der Beifahrersitz des Oldtimers war übersät mit Plastikbechern und alten Papierstücken, in denen sich, zumindest den Flecken nach, bis vor Kurzem Essensreste befunden haben mussten. Ein ranziger, leicht fauliger Geruch hing wie Spinnweben in der Luft und unter dem ganzen Müll lag eine alte, braune Aktenmappe, aus der die Ecke eines Polaroids hervorragte.
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält …
Starr schaute der Fahrer durch die Windschutzscheibe und beobachtete die vorbeihuschenden Bäume, die von den Scheinwerfern kurz erhellt wurden, bevor sie wieder im Nichts der Dunkelheit verschwanden.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.
Die Stimme des Mannes war unwirklich leise, hörte sich entfernt an wie das kehlige Bellen eines Hundes. Seine Miene blieb versteinert, während er den alten Wagen in gemächlichem Tempo über die Serpentinen lenkte, die den dichten Wald durchzogen.
Plötzlich ertönte vom Kofferraum ein dumpfes Klopfen und erstickte Hilferufe drangen ins Wageninnere. Sie waren gedämpft und dennoch voll eindringlicher Verzweiflung.
Der Mann riss sich von seinen wirren Gedanken los und blickte in den Rückspiegel. Jetzt war seine Stimme lauter, der gespenstisch metallische Klang wurde dadurch verstärkt:
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, …
Die Hilferufe ertönten ebenfalls stärker und auch das Klopfen wurde intensiver. Der Mann fuhr in eine Haltebucht, die mit losem Kies bedeckt war, und er brachte den Wagen ruckartig zum Stehen. Einem dumpfen Aufprall aus dem Kofferraum folgten ein Schmerzensschrei und leises Wimmern, was dem Mann ein hämisches Grinsen auf die schmalen Lippen zauberte.
Ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht …
Langsam zog er die Mappe unter dem Müllberg hervor, öffnete die Autotür, stieg aus und legte sie auf die Motorhaube. Im Licht der Scheinwerfer zog er das Polaroid hervor und strich mit seinen schmalen, knochigen, leicht verdreckten Fingern über die vollen Lippen der jungen Frau, die darauf zu sehen war.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf – …
Noch lauter als vorher klang nun die geisterhafte Stimme und die Worte hallten durch den einsamen, nächtlichen Wald. Wie hypnotisiert betrachtete er das Porträt der überaus attraktiven, jungen Frau und seine Finger erkundeten die Kontur ihres Gesichts. Plötzlich vernahm er wieder das Klopfen und die flehenden Hilferufe, worauf er das Polaroid in die Mappe steckte und diese auf den Beifahrersitz warf. Aus dem Handschuhfach zog er eine kleine Tasche, der er eine Spritze und eine Ampulle entnahm. Er zog eine weißliche Flüssigkeit auf, ging nach hinter den Wagen und öffnete den Kofferraum.
Vor ihm lag ein Mädchen im Teenageralter, nur mit einem Top und Hotpants bekleidet, die ihn mit von Tränen aufgequollenen Augen panisch anblickte. Es handelte sich um das Mädchen, das auf dem Foto abgebildet war. Ihre Knöchel und Handgelenke waren mit grauem Klebeband gefesselt und auch über dem Mund klebte ein Streifen, der aber an einer Seite lose herunterhing. Offensichtlich war es ihr gelungen, ihn zu lockern, was die Hilferufe erst möglich machte.
„Nein! Was machst du mit mir! Lass mich gehen! Du Schwein! Bitte, lass mich gehen! Bitte! Tu mir nichts! Bitte!“
Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – …
Diese Worte deklamierte der Mann und rammte dem Mädchen die Spritze in den Arm. Sie wollte schreien, doch er hatte blitzartig das Klebeband wieder über ihre Lippen gedrückt, weshalb nur noch ein Wimmern zu hören war. Wenige Sekunden später wurde der Blick der jungen Gefangenen starr und sie schlief ein. Der Mann schloss den Kofferraum, stieg wieder in das Auto und startete den Motor.
Und hört im Herzen auf zu sein.
Kaum waren die letzten Worte verhallt, begann er erst leise, dann immer lauter wie ein Verrückter zu lachen und lenkte den Wagen zurück auf die Straße.
Aron saß gelangweilt an seinem Schreibtisch. Es war einer jener heißen Julitage, an denen die veraltete Klimaanlage es nicht schaffte, das Kommissariat auf eine halbwegs erträgliche Temperatur herunterzukühlen. Die Kleidervorschrift war zwar nicht offiziell gelockert worden, doch niemand wagte sich angesichts der Schwüle in den Büros, die Flut an Bermudahosen und kurzen Kleidern zu beanstanden. Im Morddezernat trugen sie keine Uniform wie ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Drogenfahndung oder der Straßenpolizei, und doch waren sie eine Abteilung des Heeres und mussten bei offiziellen Anlässen in Schmuck und Ornat an den verschiedensten Veranstaltungen teilnehmen.
Aron unterschied sich hier von vielen seiner Kollegen, denn er liebte das Tragen der Uniform. Sie verlieh ihm Würde und Stärke und die bewundernden Blicke, die ihnen bei solchen Paraden von den Passanten zugeworfen wurden, gaben ihm das Gefühl, etwas im Leben erreicht zu haben. Diese Momente der Anerkennung wurden allerding zusehends seltener. Ansonsten konnte man ihn getrost einen Verlierer oder, wie seine fünfzehnjährige Tochter sagen würde, einen Looser nennen. Nach einem kurzen, schnellen Aufstieg in die Funktion eines leitenden Ermittlers im Fall eines lokalen Serienmörders am Beginn seiner Karriere war er nicht mehr weitergekommen. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren saß er im selben Büro auf dem Kornplatz in Meran, einem zentralen Platz am Rennweg, gegenüber dem Ende der bekannten Lauben, einer touristisch bestens vermarkteten historischen Einkaufsstraße der Kurstadt, kämpfte im Sommer gegen die Hitze, im Winter gegen die Kälte, meist jedoch gegen die Langeweile und die aufkommende Trostlosigkeit. Meran war nicht unbedingt ein Hotspot für Kriminalität und Mordfälle passierten sehr selten, wenn überhaupt, und nach seinen Ermittlungserfolgen hatte man seine Karriere von höherer Stelle schlicht und einfach vergessen.
„He, ich habe dich was gefragt. Könntest du dich ein wenig konzentrieren?“
Die Stimme Maries, seiner Bürokollegin, riss ihn aus seinen öden Gedanken. Wie fast jeden Tag war sie der Lichtblick in seinem Berufsalltag.
„Sorry, ich habe gerade an etwas gedacht. Was soll ich machen?“
Sie sah ihn kurz fragend an, brach dann in ein lautes und ansteckendes Gelächter aus.
„Oh Mann, ich glaube, die Hitze tut dir echt nicht gut. Wir sollten die Untersuchung besser unterbrechen und morgen weitermachen. Ich denke, das bringt heute nichts mehr und es ist schon fast Feierabend. Was hältst du davon, wenn wir Schluss machen und einen Aperitif nehmen, bevor ich dich in deinen trauten Familienalltag entlasse?“
Sie blickte ihn mit ihren unschuldig verführerischen, türkisblauen Augen an und fegte gleichzeitig die Unterlagen vom Tisch, die sie in den letzten Stunden gemeinsam durchgegangen waren. Da es keine Mordfälle zu bearbeiten gab, und die Personaldecke bei der Polizei immer knapper wurde, betraute man sie mit allen möglichen und unmöglichen Banalitäten von Wirtschaftskriminalität bis zu stupiden Verwaltungsaufgaben. Weder dem einen noch dem anderen Thema konnte er etwas abgewinnen, im Gegensatz zu Marie, die vor vier Jahren in sein Leben getreten war und ihm von da an einen Grund gegeben hatte, sich auf die tägliche Arbeit zu freuen.
Allein schon ihr Anblick war es wert, sein häusliches Umfeld mit dem der Arbeit zu tauschen. Ihre sportliche Figur steckte sie meistens in körperbetonte Hosen oder kurze Kleider, die mehr verrieten als verbargen, die Sommersprossen, die über Nase, Wangen bis auf die Schultern liefen, entsprachen zwar nicht unbedingt dem Schönheitsideal, in Kombination mit ihrer makellosen Haut verliehen sie ihr aber eine Anziehungskraft, der er sich Tag für Tag weniger entziehen konnte.
„Klingt nach einer guten Idee. Geben wir den Schwarzgeldkönigen noch ein wenig Verschnaufpause.“
Er grinste so gewinnend wie möglich, während er den PC herunterfuhr und ein paar unwichtige Post-its in den Müll warf. Einen USB-Stick mit Fotos einer Ermittlung legte er in einen metallenen Aktenschrank, den er mit einem Schlüssel absperrte. Diesen Schlüssel trug er immer an einer Kette um den Hals. Seine Kollegen hänselten ihn für diese Vorsichtsmaßnahme und nannten ihn den Architekten, in Anlehnung an eine Figur aus dem Film Matrix, den er liebte.
Er stand auf, nahm seine Umhängetasche und schaltete den Computer aus.
„Na los, im Seven ist sicher ein Plätzchen frei.“
Marie nickte, schnappte ihre Tasche, schaltete ebenfalls den Computer aus und folgte ihm durch die Tür. Sie befanden sich bereits auf den Treppen vor dem Ausgang zum Kornplatz. Aron hielt Marie die Tür auf und verbeugte sich lächelnd.
„Bitte Mylady, die Hitze erwartet Sie.“
„Danke.“
Marie schritt majestätisch nach draußen und versetzte Aron im Vorbeigehen einen neckischen Hieb in die Rippen. In dem Moment als Aron die Tür loslassen und durchschlüpfen wollte, ertönte hinter ihm eine Stimme.
„Aron, wo willst du hin? Der Chef möchte dich sprechen!“
Er hielt in der Bewegung inne und schaute sich verärgert nach dem Störenfried um, der ihm seinen Aperitif mit Marie zunichtemachen wollte. Das gelangweilte Gesicht des diensthabenden Pförtners zeigte keine Regung, doch hielt er immer noch den Telefonhörer in der Hand, aus dem er die Befehle erhalten hatte, Aron über die Anweisung seines Chefs zu informieren.
„Kann das nicht bis morgen warten? Ich bin eigentlich schon auf dem Sprung!“
Der Pförtner hob einen Finger als Zeichen, dass Aron warten sollte, und sprach in den Hörer. Da er sich hinter dickem Panzerglas befand und die Gegensprechfunktion nicht aktiviert hatte, konnte Aron dem Verlauf des Gesprächs nicht folgen. Nach wenigen Augenblicken ertönte wieder die metallisch verzerrte Stimme des Pförtners.
„Es scheint wichtig zu sein. Commissario Brugnato möchte Sie unbedingt heute noch sprechen.“
„Was ist los, kommst du?“
Marie war zurückgekommen und sah Aron fragend an.
Er seufzte und nickte dem Pförtner zu.
„Sagen Sie dem Commissario, dass ich gleich bei ihm bin.“ Er drehte sich zu Marie. „Es scheint so, als ob du auf meine Begleitung verzichten müsstest. Der Chef möchte mich sehen. Du weißt, dass man ihn besser nicht versetzen sollte.“
Er hob entschuldigend die Schultern, doch Marie schien nicht verärgert zu sein. Unverändert fröhlich lächelte sie ihn an.
„Kein Problem, es wird sich schon ein anderer Kavalier finden, der mir meinen Spritz bezahlt. Mach’s gut, wir sehen uns morgen.“
Sie hauchte ihm einen Kussmund zu und verließ das Gebäude. Im Gegensatz zu Marie war Aron sehr verärgert. Nicht über die unerwartete Anordnung seines Chefs, sondern über die fast gleichgültige Reaktion seiner Kollegin auf seine Absage.
„Commissario Brugnato ist im Meetingraum der Postpolizei. Sie sollen ihn dort aufsuchen.“
Jetzt war Aron überrascht. Er hatte erwartet, in das spartanische Büro seines Chefs im zweiten Stock gehen zu müssen, um dort über seine Fälle oder sonstige unwichtige Details zu sprechen. Die Zusammenkunft bei der Postpolizei war jedoch ein Indiz, dass es sich um eine neue Angelegenheit handelte. Eine der Haupttätigkeiten der Postpolizei in Italien war die Verfolgung von Internetkriminalität und keiner seiner aktuellen Fälle hatte etwas damit zu tun.
„Danke, machen Sie es gut.“
Er drehte sich um und ging über die Treppe in das erste Untergeschoss, wo sich die Räume der Postpolizei befanden. Er war noch nicht oft hier gewesen, um an den obligatorischen Informationsveranstaltungen zum Thema digitale Kriminalität und Datensicherheit im Staatsbetrieb teilzunehmen, doch kam es ihm jedes Mal vor, als beträte er eine neue Welt. Zwar waren auch die Büros der Beamtinnen und Beamten dieser Abteilung nüchtern und funktional, die Gerätschaften aber, die sich darin befanden, alles andere als Standard. Neueste Computertechnologie, die besten Rechner, Unmengen an verschiedensten Smartphones, Tablets und anderen elektronischen Geräten, die er teils nicht einmal kannte, türmten sich neben altmodischen Aktenordnern, die es, trotz einer Weisung zur Digitalisierung des öffentlichen Dienstes, auch in dieser zukunftsorientierten Sektion immer noch gab.
Um in den Besprechungsraum zu gelangen, musste er an allen Schreibtischen vorbei, eine Tatsache, die ihm schon bei seinem ersten Besuch wenig praktisch erschienen war.
„Hey Aron, lange nicht gesehen.“
Maresciallo Thomas Müller war der Leiter der Abteilung und ein pingeliger, aber höchst fähiger Datenanalyst. Bei einer Größe von über 1,90 Meter, aber kaum 70 Kilo war es nicht möglich, eine Uniform zu finden, die ihm passte. So trug er entweder Hosen mit der richtigen Länge, die ihn um den Bauch aber zweimal umfangen hätten, oder sie passten am Bauch, endeten dann aber bereits ein gutes Stück oberhalb der Knöchel, beides kein imposanter Anblick.
„Uniformen schmücken doch nicht jeden“, dachte Aron.
Müller war ihm aber trotz oder vielleicht auch gerade wegen seines Erscheinungsbildes sympathisch, da er nicht zu der Sorte von Offizieren gehörte, die andere wegen ihres militärischen Ranges wie Untergebene behandelte. Sein struppiges blondes Haar und die Brille, die ihm stets von der Nase rutschte und die er, besonders bei Vorträgen, immer wieder nervös nach oben drückte, verliehen ihm eher das Aussehen eines zerstreuten Professors als das eines Soldaten.
„Hallo Tom, wie geht’s? Letztes Wochenende kein Tor geschossen?“
Wie viele seiner Kollegen zog er Müller mit der Namensgleichheit zu dem berühmten Spieler von Bayern München auf und Müller ließ sich in der Regel gerne auf diese Spielerei ein.
„Nein Aron, ich war zu viel mit meinen Pferden beschäftigt.“
Im Gegensatz zu anderen Tagen, an denen diese künstlichen Dialoge über mehrere Minuten bis zur Taktik der nächsten Heimspiele fortgeführt wurden, setzte Müller heute sofort einen offiziellen Gesichtsausdruck auf.
„Du solltest schnell in den Besprechungsraum gehen, ich denke, es geht um eine größere Geschichte. Commissario Brugnato ist in Begleitung eines Tenentes aus Verona. Du solltest sie nicht warten lassen.“
Aron runzelte die Stirn. Die Polizei in Meran fiel nicht unter die Zuständigkeit von Verona und er kannte nur eine Abteilung, die dort ihren Sitz hatte, das Morddezernat, dem auch er angehörte. Ein Adrenalinstoß durchzog seinen Körper.
„Hast du eine Ahnung, um was es genau geht?“
Müller schüttelte den Kopf.
„Nein, ich weiß nur, dass sie sich etwas im Darknet anschauen wollten. Ich musste den Herren ein paar Zugänge freischalten, ansonsten wurde ich nicht informiert. Los, mach, dass du da reinkommst, sie warten schon auf dich.“
Aron salutierte förmlich und brachte die letzten Meter bis zum Besprechungsraum hinter sich. Als er eintrat, sah er Commissario Brugnato im Gespräch mit einem Mann über einen Laptop gebeugt und in ein aufgeregtes Gespräch vertieft. Beide wandten ihm den Rücken zu und hatten sein Eintreten nicht bemerkt.
„Commissario, Sie wollten mich sprechen?“
Der weißhaarige, füllige Offizier fuhr hoch und drehte sich zum Neuankömmling um.
„Ah, Fischer, gut, dass Sie hier sind. Ich denke, wir haben hier endlich mal wieder etwas, bei dem Sie Ihre schlafenden Fähigkeiten einsetzen können. Kennen Sie Tenente Aquilani aus Verona? Ich glaube, er gehörte zum Team Ihrer Ausbildner, wenn ich nicht irre.“
Aron musterte den Unteroffizier, der sich ebenfalls zu ihm umgedreht hatte. Der Mann war um die sechzig, hatte dunkles, kurzes Haar, das akkurat geschnitten war und nur von einzelnen grauen Strähnen an den Schläfen durchzogen war. Im Gegensatz zum Commissario sah er trainiert aus und trug eine Uniform, die so sauber war, dass sich die Lichter des Raumes auf jedem Knopf spiegelten.
„Natürlich, Commissario, wie könnte ich mich nicht an Tenente Aquilani erinnern. Er war mein Ausbildner in der Grundausbildung in Verona. Tenente, die Zeit ist spurlos an Ihnen vorübergegangen.“
Tenente Aquilani schritt mit gewinnendem Lächeln auf Aron zu und streckte ihm die Hand entgegen.
„Fischer, es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen. Auch mit Ihnen hat es die Zeit gut gemeint. Sie sind zu einem Mann geworden, bei uns waren Sie doch noch ein wenig grün hinter den Ohren.“
Aron errötete. Die Ausbildung hatte er im Rahmen seines Pflichtmilitärdienstes mit neunzehn Jahren erhalten und als Spätentwickler hatte man ihn immer jünger geschätzt, als er war. Seine Kameraden hatten ihn damals stets nur il bambino, das Kind, genannt, eine Tatsache, die er bewusst verdrängt hatte.
„Ja, Tenente, ich bin auch mehr als doppelt so alt wie damals.“
Die Männer schüttelten sich die Hände. Schnell ergriff der Commissario das Wort: „Tenente Aquilani ist heute hier, um uns über einen Fall zu informieren, der sich in unserem Zuständigkeitsbereich zugetragen hat. Tenente, könnten Sie mit Fischer die Informationen teilen, die Sie mit mir bereits besprochen haben?“
„Natürlich, Commissario. Fischer, kommen Sie her, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Aber Vorsicht, ich hoffe, Sie haben keinen nervösen Magen.“
Aron folgte Aquilani an den Tisch und bemerkte jetzt, dass auf dem Bildschirm mehrere Fotos zu sehen waren.
„Wir haben diese Bilder im Rahmen einer Routineuntersuchung im Darknet gefunden. Das, was sie hier sehen, ist einmal eine Frau gewesen.“
Aquilani hatte eines der Bilder vergrößert. Zuerst konnte Aron nichts erkennen, erst als er genauer hinsah, konnte er die verschiedenen Elemente des Fotos zuordnen und erschauderte. Das Foto war in einem dunklen Raum aufgenommen worden, dessen Wände aus Sichtbeton bestanden. Wahrscheinlich der Keller eines Hauses oder eine Garage. An der Wand waren mehrere Fleischstücke aufgehängt, von unterschiedlicher Größe, doch alle noch identifizierbar. Es waren kein Blut und auch keine Anzeichen von Verwesung zu sehen, weswegen er davon ausging, dass die Fleischstücke gereinigt und präpariert worden waren, ehe sie an der Wand installiert wurden. Ja genau, installiert war das passende Wort, das ihm hierzu einfiel.
„Sind das echte Fleischstücke oder handelt es sich um Kunststoff?“
Aron stellte die Frage zwar, hatte sie für sich aber schon beantwortet. Als Spezialist für Morde holte man ihn wohl kaum zu einem Fall, bei dem mit falschen Fleischstücken Kunstinstallationen arrangiert wurden. Aquilani übersprang deswegen auch die Antwort und klickte auf ein weiteres Bild, das einen anderen Ausschnitt des Raumes zeigte. Aron zuckte zusammen. Inmitten mehrerer Blutspritzer war ein menschlicher Kopf an der Wand befestigt. Es handelte sich um ein Frauenhaupt und anstelle der Augen saßen zwei Fremdkörper aus Kunststoff und Glas. Die Frau war jung, er schätzte um die 25, und sie hatte volles blondes Haar. Sie war wahrscheinlich hübsch gewesen, hatte sicher nicht als blendende Schönheit gegolten, auch wenn sich das ohne den restlichen Körper und mit den offensichtlichen Spuren einer langwierigen Folter nur teilweise nachvollziehen ließ.
„Was ist das in ihren Augenhöhlen?“
Aquilani vergrößerte das Bild und Aron erkannte, dass es sich um zwei kleine Webcams handelte, die anstelle der Augäpfel handwerklich präzise eingesetzt worden waren.
„Wir gehen davon aus, dass die Augen vom noch lebenden Körper entfernt worden sind.“
Wieder schauderte es Aron, doch er konnte kein Indiz finden, das Aquilanis Vermutung stützte.
„Wie kommen Sie darauf? Ich kann hier keine Hinweise entdecken, die für Ihre These sprechen.“
Statt einer Antwort tippte Aquilani auf ein Fenster im Hintergrund und ein Video erschien. Er startete es und Aron erkannte sofort den Raum auf dem Foto. Allerdings waren alle Wände noch leer und die Stimme eines Mannes aus dem Off war zu hören.
Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.
Jetzt erschien der Mann, zu dem die Stimme gehörte, im Blickfeld. Er war groß, aber kaum zu erkennen, da er einen Umhang über seinen Körper geworfen hatte. Langsam näherte sich sein Gesicht im Video den Kameras und plötzlich zuckte ein Messer durch das Bild. Ein markerschütternder Schrei einer Frau ertönte und die Kameras fielen zu Boden und zeigten ab dem Moment das Standbild einer Plastikplane. Ein Arm ragte ins Bild, oder besser gesagt ein Armstumpf, aus dem sich ein starker Blutstrahl ergoss, denn die Hand war abgetrennt worden.
Der Mann im Umhang kam ins Bild und hielt ein glühendes Eisenstück in der Hand. Er ergriff den Stumpf und drückte das heiße Eisen auf die Wunde. Das Bild der Kameras wackelte kurz, erneut ertönte ein kurzer, markerschütternder Frauenschrei, ehe es wieder still wurde und das Bild der Plane wieder einfror.
Dad, was machst du so lange da drinnen, ich muss auch ins Bad!“
Die gestresste Stimme seiner pubertierenden Tochter Maddlen holte Aron ins Leben zurück. Er hatte die Zeit vergessen und erst jetzt bemerkte er, dass der Wasserstrahl, der über seinen Körper rann, eiskalt geworden war. Schnell drehte er das Wasser ab und stieg aus der erhöhten Duschtasse, die er schon seit Jahren gegen eine moderne, bodenbündige hatte austauschen wollen. Doch mit zunehmendem Abflachen seiner Gefühle für seine Familie war auch die Bereitschaft, im Haus noch etwas zu ändern, von Monat zu Monat geringer geworden.
„Ja, sorry, nur noch ein paar Minuten.“
„Mann, Dad, ich komm wegen dir zu spät zur Schule!“
Aus dem Spiegel blickte ihm ein müdes, wenig ausgeschlafenes Gesicht entgegen. Die ganze Nacht über waren ihm die Bilder nicht aus dem Kopf gegangen. Immer und immer wieder erklang die Stimme des bestialischen Mörders und die letzte Zeile aus dem rezitierten Gedicht, das er als heimlicher Literaturliebhaber sofort Rilke zuordnete, gefolgt von unterschiedlichen Körperteilen, die vom Körper junger, meist unbekleideter Mädchen abgetrennt wurden. Ungefähr zehn Mal war er aus solchen Albträumen hochgeschreckt und hatte versucht, sich an ihre Gesichter zu erinnern, und er war sich nicht mehr sicher, wie oft es das Gesicht seiner Tochter, seiner Frau oder auch von Marie gewesen war. Die lange, normalerweise erfrischende Dusche hatte heute komplett versagt. Er fühlte sich noch müder und das kalte Wasser hatte ihm den letzten Rest an Energie aus dem Körper gezogen.
Er rasierte sich oberflächlich, brachte sein dichtes, schwarzes Haar in Ordnung und schloss schließlich die Badezimmertür auf. Wie ein Sturmwind fegte seine schlecht gelaunte Tochter an ihm vorbei und warf ihm noch ein paar unfreundliche Worte zu, die er aber nicht genau verstand, da sie noch den letzten Bissen des Frühstücksbrotes zwischen den Zähnen hatte.
„Guten Morgen!“
Ein zorniger Blick schoss ihm entgegen und er zog sich schnell aus dem Bad zurück, gerade schnell genug, um nicht die Tür ins Gesicht geknallt zu bekommen. Warum war sie nicht einfach der süße kleine Engel mit unschuldigem Lächeln geblieben, den alle so vergöttert hatten. Damals war er noch ihr Held gewesen, jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war, erwartete sie ihn mit Ungeduld und flog ihm förmlich entgegen, sobald er die Haustür öffnete. Auch vor wenigen Jahren noch, in der Grundschule, war ihr Verhältnis sehr gut und er wurde zumindest für Hausaufgaben immer wieder gerne zurate gezogen. Seit dieser verdammten Entwicklung in ihrem Leben, der Pubertät, hatte er jedoch jeglichen Zugang zu ihr verloren und fühlte sich in seinem eigenen Haus mehr und mehr wie ein Fremder.
„Guten Morgen, Schatz!“
Seine Frau Helene stand in der Küche und bereitete Frühstück zu. Die Küche war klein, aber funktional, und die 110-m2-Wohnung, in der sie wohnten, war für die Einkommensklasse eines Polizisten eine Spur zu teuer. Die Einrichtung war modern und stylish, ausgesucht von seiner Frau, die in solchen Dingen ein besseres Händchen hatte als er. Sie lebten seit der Geburt von Maddlen in dieser Wohnung, ihrem Nest, ihrem Paradies, wie sie es nannten, als zwischen ihnen noch die Leidenschaft herrschte, die ihre anfängliche Beziehung begleitet hatte.
Inzwischen war das Feuer erloschen und die Gleichgültigkeit, mit der ihn seine Frau behandelte, trug noch mehr dazu bei, dass er sich von seiner Familie zusehends entfremdete. Er fragte sich oft, warum er nicht den nächsten Schritt machte und sich scheiden ließ, aber dazu fehlte ihm einerseits der Mut, andererseits war es auch bequem, sich zumindest um keinen Haushalt kümmern zu müssen und jeden Tag frisch gewaschene Wäsche, warmes Essen und eine penibel geputzte Wohnung vorzufinden.
Als er keine Antwort auf seinen Gruß erhielt, setzte er sich an den Küchentisch und trank einen Schluck aus der Espressotasse, die Helene ihm bereits auf den Tisch gestellt hatte. Lustlos griff er nach einem Brötchen und belegte es mit einer Scheibe Käse.
„Ich habe heute extrem intensiv geträumt. Habe ich mich wieder wie üblich hin- und hergeworfen, Helene?“
Sie antwortete nicht und er biss in sein Brötchen und kaute langsam und nachdenklich.
„Hast du mich nicht gehört? Was war los heute Nacht? Warum antwortest du mir nicht? Hast du mal wieder Stress bei der Arbeit oder bist du einfach nur so einsilbig, weil du mich nicht leiden kannst?“
Sein Ton war zu scharf und seine Frau drehte sich sofort verärgert um und begann, die Küchenzeile abzuwischen, obwohl sich nach Arons Meinung darauf kaum ein Stäubchen befand. Das machte sie immer, wenn sie einem Streit mit ihm aus dem Weg gehen wollte.
Der Rest des Frühstücks verlief in eisiger Stille, was ihm nicht ganz unrecht war, und nach kurzer Zeit erhob er sich, nahm seine Tasche und hauchte einen Kuss auf Helenes Wange. Er verließ wenige Augenblicke vor seiner Tochter das Haus.
„He, soll das ein Kleid sein? Ich glaube, du hast deinen Rock vergessen!“
„Lass es Dad, dafür bin ich zu alt.“
Er würde sich nie daran gewöhnen, dass seine Kleine jetzt den Körper einer Erwachsenen hatte und ihn so freizügig zeigte. Ihr Kleidungsstil und die Länge oder besser gesagt Kürze ihrer Röcke unterschied sich nur gering von denen Maries, doch was ihm auf der einen Seite gefiel und ihn reizte, schockierte ihn bei seinem eigenen Kind.
„Lass dich nicht anquatschen!“
„Jaja, bis heute Abend, Dad!“
Vor ihrem Haus wartete bereits eine Gruppe von Mädchen in Maddlens Alter, ihre Clique, und nahm sie kreischend in Empfang. Als er an ihnen vorbeiging, beachteten sie ihn nicht und keine hielt es für angemessen, ihn zu grüßen, zu tief waren sie in die Gespräche über all die weltbewegenden Dinge eingetaucht, die im Leben von 15-Jährigen seit ihren letzten Nachrichten über Whatsapp, Snapchat und TikTok vor wenigen Stunden passiert waren.
Der Weg zum Kommissariat betrug knapp einen Kilometer und er nutzte die Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Aquilani hatte ihm nach ihrer gestrigen Besprechung noch einen Auftrag zum Abschied mitgegeben: „Finden Sie heraus, wie das Material in die Öffentlichkeit gelangt ist. Suchen Sie die Server, auf denen es gespeichert wurde. Wir haben nichts, nur eine Adresse aus dem Darknet, ich kenne mich da zu wenig aus. Wir müssen diesen verdammten Verbrecher finden.“
„Ich kenne mich leider überhaupt nicht mit diesen Dingen aus.“
Aron hatte hier nur leicht gelogen, er war zwar in der Vergangenheit des Öfteren im Darknet gewesen und hatte sich über die verschiedensten Themen informiert, aber mehr, um seine Neugier zu stillen und um die Abgründe der menschlichen Grausamkeit besser kennenzulernen. Doch das musste sein Vorgesetzter nicht wissen. Die Einzige, mit der er sein Interesse geteilt hatte, war Marie, die ihm daraufhin gebeichtet hatte, dass auch sie sich regelmäßig im Darknet aufhielt, um, wie sie sagte, ihre dunkle Seite auszuleben. Auf seine Nachfrage, was denn ihre dunkle Seite sei, hatte sie ihm bis heute keine Antwort gegeben, eine Tatsache, die seine Neugier anfachte.
„Na dann verschaffen Sie sich mal Einblick in diese Welt. Wir müssen alles wissen, was uns weiterhelfen kann. Ich will keinen wahnsinnigen Massenmörder in unserer Gegend haben.“
Danach hatte er ihn noch gebeten, sofort am nächsten Morgen mit ihm die weiteren Erkenntnisse des Spezialteams der Postpolizei zu besprechen, die sich auch nächste Nacht damit beschäftigen würden.
Als er das Büro seines Vorgesetzten betrat, herrschte dort spürbare Aufregung.
„Ah Fischer, gut dass Sie da sind. Wir haben bereits etwas gefunden.“
Neugierig trat Aron an den Besprechungstisch, auf dem sich eine Unmenge an Ausdrucken mit seltsamen Schriftzeichen und mehrere Tablets befanden. Auf allen liefen die Videos des grausamen Mordes, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
„Kommen Sie, sehen Sie sich das an.“
Aquilani nahm ein Tablet und hielt es Aron unter die Nase.
„Wir haben insgesamt weitere fünfzig Minuten Videomaterial gefunden, das die Zerstückelung des bemitleidenswerten Opfers, garniert mit immer derselben Zeile aus dem Rilke Gedicht wiedergibt. Aber das Erschreckendste kommt zum Schluss. Offensichtlich ist der Mörder tatsächlich aus unserer Gegend.“
„Woher wissen Sie das? Der Keller könnte sich in jeder Stadt der Welt befinden.“
„Könnte ja, aber leider haben wir das hier am Ende des Videos gesehen.“
Anstelle einer Antwort hatte ihm Aquilani ein Standbild der letzten Sekunden gezeigt. Ein Text im Schriftbild Calibri war den Bruchteil einer Sequenz über die grausame Szene gelegt.
Am Ende ist alles voll Stille: 46,648025; 11,154201
„Nach einiger Überlegung sind wir dem Hinweis eines Kollegen nachgegangen, dass die Zahlen Geokoordinaten ähneln. Wir haben sie eingegeben und sie verweisen auf ein Stück Land in der Nähe eines Bauernhofs in Sinich. Schnappen Sie sich ein Team und überprüfen Sie das gleich.“
Die Worte hallten noch in ihm nach, als sich Aron in sein Büro gesetzt hatte und aus dem vergitterten Fenster auf den belebten Kornplatz blickte, auf dem sich gerade ein Gemüsehändler daranmachte, seinen Stand aufzubauen. Die angeforderten Spezialisten der Spurensicherung müssten jeden Moment eintreffen und sie konnten sich zu dem Ort begeben, der den Koordinaten des Videos entsprach. Es klang immer noch surreal, dass sich dieser grausame Mörder mitten in ihrem friedlichen Heimatort befinden sollte.
„Guten Morgen, hat es sich ausgezahlt mich gestern zu versetzen?“
Bei Maries Worten schrak er aus seinen Gedanken hoch und genoss im selben Moment den Anblick, den sie ihm bei ihrem Eintreten bot. Er hatte sich bezüglich der Kleiderlänge im Vergleich zu jener seiner Tochter getäuscht. Auch wenn er es nicht für möglich gehalten hätte, war Maries Kleid, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte, noch kürzer und reichte ihr kaum über den Hintern.
„Mann, wie soll man sich da auf die Arbeit konzentrieren“, meinte er grinsend, doch Marie ging nicht auf den Einwand ein, sondern setzte sich direkt vor ihn auf den Schreibtisch. Die langen, nackten Beine pendelten dabei leicht und Aron hatte den Eindruck, als ob es auf der Stelle noch heißer im Büro geworden wäre.
„Ich habe dich was gefragt, alter Mann.“
„Wir haben wieder einen Mordfall.“
Marie blickte ihn neugierig an, in Erwartung weiterer Details.
„Du bist doch eine Spezialistin für das Darknet, wenn ich mich richtig erinnere?“
Wenn er sich nicht täuschte, huschte der ansonsten so coolen Marie etwas Röte über die Wangen, ehe sie sich wieder fing.
„Na ja, Spezialistin ist etwas übertrieben. Aber ich weiß, was da alles so abläuft.“
„Okay. Dann willkommen im Team. Du bist gerade zur stellvertretenden Ermittlerin im neu benannten Fall des ‚Gedichtkillers‘ ernannt worden. Nimm deinen Kram, wir müssen einem Hinweis nachgehen.“
Die Sonne brannte heiß auf das Kopfsteinpflaster des Kornplatzes, auf dem sich wie immer in den Sommermonaten eine große Menge Touristinnen und Touristen versammelt hatte. Ohne sie zu beachten, überquerte Aron an der Seite von Marie den Platz und stellte sich vor, wie es sein würde, mit dieser Frau über die Flaniermeile von Meran zu schlendern und ihr dabei zuzusehen, wie sie in den vielen Boutiquen stilvolle Kleidung anprobierte und vielleicht die passende Unterwäsche dazu.
„Hat uns der Killer einen Hinweis hinterlassen? Wo müssen wir hin?“
Maries Frage holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er klärte sie kurz über die Fakten auf, die ihm Aquilani mitgeteilt hatte, und beschrieb ihr das grausame Video. Marie wurde von Satz zu Satz bleicher.
„Der Hinweis verweist auf Meran, das ist nicht dein Ernst!“
„Doch, es sieht leider so aus. Die Koordinaten führen nach Sinich, auf ein Grundstück hinter einem alten Bauernhof. Bin gespannt, was uns da erwartet.“
„Nun, wenn das Video echt ist, dann weiß ich nicht, ob ich da wirklich etwas finden will. Ich habe gerade erst gefrühstückt.“
Wenn er Marie nicht schon länger gekannt hätte, wäre er über diesen letzten Satz in Gelächter ausgebrochen. Sie hatte zwar große Brüste, aber ansonsten die Figur eines Fitnessmodels, und allein der Gedanke, sie könnte so ausgiebig frühstücken, dass ihr Magen gegen solche Bilder rebellieren könnte, schien mehr als unglaubwürdig. Aron jedoch hatte sie öfters beim Essen erlebt und es kam nicht selten vor, dass sie die doppelte Menge an Speisen wie er zu sich nahm.
„Was meinst du damit, ob das Video echt ist?“
Aron schaute sie von der Seite an und bemerkte gleichzeitig den schwachen Duft des Parfüms, das sie in diesem Sommer trug. Ein unkonventioneller Mix aus Orange, Vanille und einem Hauch von Kaffeebohnen. Es hieß Black Opium und war ein angesagter, neuer Duft von Yves Saint Laurent, wie sie ihm vor wenigen Tagen auf seine Frage nach der Kreation erzählt hatte, – „für die rebellische, unabhängige Frau“. Und es mache sofort süchtig, hatte sie mit einem Augenzwinkern angefügt und ihn mit einem koketten Lächeln beglückt. Oh ja, dachte er, wenn sie wüsste, wie recht sie damit doch hatte.
„Gut, ihr seid ja alle keine Spezialisten und ich weiß nicht, ob sich jemand von euch die Zeit genommen hat, das Video analysieren zu lassen. Aber was mit heutigen Special Effects alles möglich ist, sollte auch euch Dinosauriern klar sein. Die meisten Filme werden heute zu fünfzig Prozent mit Computertechnik erstellt und kein Schwein merkt was davon, nimm noch ein wenig KI dazu, dann erkennen auch Profis nur schwer, dass getrickst worden ist.“
Daran hatte er gar nicht gedacht. Es gab ja viele Verrückte auf der Welt und warum sollte es nicht einen geben, dem es Spaß machte, im Netz andere Menschen und die Polizei an der Nase herumzuführen. Ein Hoffnungsschimmer an seinem finsteren Horizont und er dankte Marie für diesen Einwand.
„Wir werden es herausfinden. Je eher wir da sind, desto früher wissen wir, was Sache ist.“
Gemeinsam mit zwei Spezialisten der Spurensicherung stiegen sie in ein Zivilfahrzeug und fädelten sich in den Urlauberverkehr ein, für die fünf Kilometer Strecke bis zu dem kleinen Vorort Merans. Sinich war in Südtirol bekannt als ehemalige Arbeitersiedlung während der Faschistenzeit, als eine große Fläche Obstanbaugebiet einer für die damalige Zeit hochmodernen Fabrik für Kunstdüngerproduktion aus Florenz weichen musste. Im Zuge der Italianisierung durch Mussolinis Anhänger zogen Tausende italienische Arbeiter in die vormals deutschsprachige Region und errichteten eine Siedlung, die architektonisch mehr an die Emilia-Romagna angelehnt war und im starken Kontrast zur alpinen Architektur der umliegenden Dörfer stand. Dieser Unterschied ist teils heute noch zu erkennen, auch wenn sich die Bevölkerung in der Zusammensetzung der Sprachgruppen kaum mehr von der in Meran unterscheidet.
Nach fünfzehn Minuten Fahrt erreichten sie die Zufahrt zum Grundstück, auf der sich die Stelle befand, auf die die Koordinaten hinwiesen. Die Zufahrt war mit einem Baustahlgitter verschlossen und mit einer Fahrradkette an einem der Begrenzungspfähle gesichert. Das Grundstück lag hinter dem Bauernhof, der direkt an der viel befahrenen Staatsstraße lag. Wie mehrere andere Gebäude in Sinich war er im typisch norditalienischen Architekturstil gebaut, mit dem in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts von den Faschisten versucht wurde, der Gegend ein italienisches Flair zu verleihen.
Aron schaute sich um. Typisch Einöde, keiner da, nichts bewegte sich.
„Schneidet die Kette durch“, befahl er und einer ihrer Begleiter durchtrennte sie mit einem Bolzenschneider. Sie hoben das Gitter zur Seite und Aron schritt, ausgestattet mit einem GPS-Ortungsgerät, auf das Grundstück.
Im selben Moment sprang ein wütend bellender Schäferhund hinter dem Zaun hervor und warf ihn zu Boden. Marie schrie auf und auch die Leute von der Spurensicherung flüchteten rückwärts in Richtung Fahrzeug. Aron versuchte den Hund von seinem Gesicht fernzuhalten, doch die Schnauze des Tieres näherte sich ihm mehr und mehr, so fest er ihn auch zurückdrückte.
„Rocco, aus!“
Sofort sprang der Hund von Arons Brust und zog sich ein paar Meter von ihm zurück. Ein alter Mann kam hinter dem angrenzenden Bauernhaus auf sie zu und funkelte sie zornig an.
„Was machen Sie auf meinem Grundstück? Das ist Privatbesitz. Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht sofort verschwinden!“
Aron rappelte sich auf, klopfte Spuren von Staub und Erde von seinen Kleidern und ging ein paar Schritte auf den Mann zu. Er zog seine Dienstmarke aus der Jacke und hielt sie dem verdutzten Bauern unter die Nase.
„Wir sind die Polizei. Wir haben den Hinweis erhalten, dass es hier möglicherweise zu einem Verbrechen gekommen sein könnte. Sind Sie der Besitzer dieses Hofes und der dahinterliegenden Felder? Und halten Sie uns diesen verdammten Köter vom Leib!“
Der Mann wurde bleich und sackte förmlich in sich zusammen. Nichts von seiner stolzen Haltung war mehr übrig und in seinen schlichten, etwas schmutzigen Kleidern und den Gummistiefeln, die er für die Feldarbeit angezogen haben musste, sah er plötzlich bemitleidenswert aus. Er winkte den Hund zu sich und wies ihn an, still zu sein. Der Hund gehorchte aufs Wort und verzog sich hinter sein Herrchen.
„Ja, ich bin der Besitzer. Mein Name ist Alberto Urzolini. Aber von was für einem Verbrechen sprechen Sie? Ich habe seit Wochen niemanden mehr auf meinem Grundstück gesehen. Wie sie festgestellt haben, ist es abgesperrt. Ich bin allein, meine Frau ist vor wenigen Monaten gestorben und wir haben keine Kinder.“
Marie, die zu ihnen getreten war, übernahm das Gespräch und zeigte Aron mit einem Nicken, dass er seine Suche fortführen sollte.
„Das dürfen wir nicht sagen, aber kann ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen? Mein Name ist Marie Antwanger und ich bin die …“
Mehr konnte Aron, der sich inzwischen von den beiden entfernt hatte, nicht mehr hören. Die Spurenexperten hatten ihr Fahrzeug wieder mutig verlassen und folgten ihm langsam, einen großen Bogen um den stillen, aber immer noch zornig die Zähne fletschenden Schäferhund machend.
Aron hielt die Anzeige seines GPS-Gerätes im Blick. Er war nur noch wenige Meter von der gesuchten Stelle entfernt und noch ehe er sie erreicht hatte, wusste er, dass sie hier richtig waren. Mitten im hohen Gras war eine Fläche von ca. einem Quadratmeter fein säuberlich gemäht. Dort war ein Stück Rasen in Form eines X mit dem Erdreich nach oben aus dem Boden gestemmt und wieder eingesetzt worden.
„Jungs, kommt her, wir haben hier einen Tatort. Sperrt alles ab und nehmt die Proben, ehe ich etwas kontaminiere.“
So groß seine Neugier auch war, hatte er zu oft erlebt, wie in der ersten Phase von Ermittlungen wertvolle Spuren zu Verbrechern von unqualifizierten Beamten vernichtet worden waren. Er rief Marie und den Besitzer zu sich.
„Haben Sie das gemacht?“, fragte er den erschrockenen Mann, auch wenn er nicht wirklich auf eine positive Antwort hoffte.
„Nein, ich sehe das zum ersten Mal. Morgen wäre es mir aufgefallen, da ich mit dem zweiten Schnitt begonnen hätte. Das ist ja eine Sauerei, mein Feld so aufzuwühlen und zu verunstalten.“
„Ihr Feld interessiert mich momentan am wenigsten. Ich hoffe, ich muss sie nicht wegen Beteiligung an einer Straftat mitnehmen. Schließlich haben wir selbst gesehen, wie schwierig es ist, ihr Grundstück zu betreten.“
Der Mann war noch eine Spur bleicher geworden.
„Aber nein, warum sollte ich an einer Straftat beteiligt sein? Ich kann mir das selbst nicht erklären. Rocco ist immer bei mir, nur nachts kette ich ihn draußen an, aber er hätte sicher laut gebellt, wenn jemand eingedrungen wäre.“
Marie schaltete sich wieder in die Vernehmung ein.
„Würden Sie Rocco nachts auf jeden Fall hören, wenn er bellen würde?“
Der Mann dachte nach, dann schüttelte er verlegen den Kopf.
„Normalerweise schon, aber nach dem Tod meiner Frau hat mir der Arzt ein Schlafmittel verschrieben, damit ich ohne Probleme einschlafen kann. Da ist es gut möglich, dass ich zu tief schlafe, um ihn zu hören.“
Er überlegte weiter, dann hellte sich sein Gesicht unvermittelt auf.
„Aber wenn etwas gewesen wäre, hätte mich Signora Rossi, meine Nachbarin, sicher darauf aufmerksam gemacht. Sie hat einen sehr leichten Schlaf und beschwert sich immer wieder bei mir, wenn mein Hund ihre Ruhe stört.“
Marie blickte Aron an und drehte sich dann wieder zum Tatort um.
„Danke, Signor Urzolini, bitte geben Sie mir den Namen und die Anschrift ihrer Nachbarin, dann kümmern wir uns eventuell um eine Aussage, wenn feststeht, dass hier tatsächlich ein Verbrechen und nicht nur ein dummer Streich verübt worden ist.“
Der Alte nickte, diktierte Marie die gewünschten Informationen und trollte sich dann mit seinem Hund in Richtung des Bauernhauses, ging aber nicht hinein, sondern beobachtete aus der Ferne das Spezialistenteam auf seinem Feld.
Dieses hatte inzwischen die ersten groben Arbeiten abgeschlossen und auf Drängen Arons hin begann es, die losen Rasenstücke und die darunterliegende Erde zu entfernen. Der Vorgang ging sehr langsam vonstatten, weshalb Aron froh war, als sein Smartphone vibrierte und ihm eine Abwechslung von der nervtötenden Warterei ermöglichte. Die Freude verrauchte jedoch, als er die Nummer erkannte. Es war sein Vorgesetzter. Er nahm das Gespräch entgegen, doch ehe er sich melden konnte, begann sein Gegenüber zu toben.
„Fischer, verdammt, wie lange dauert denn das. Haben Sie den Ort gefunden? Ich brauche Ihre Infos, der Fall ist bereits an die Presse durchgesickert. Ich erhalte alle fünf Minuten einen Anruf von irgendeinem sensationsgeilen Reporter und habe noch keine Informationen für die Pressekonferenz, die wir abhalten möchten. Was machen Sie denn so lange?“
Aron fragte sich, wie es möglich war, dass der Fall bereits den Weg in die Medien gefunden hatte. Doch er wusste, dass Geheimhaltung meist kein Attribut der Polizeistelle in Meran war. Man nahm es doch sehr locker mit den Vorschriften, was Privacy und Verschwiegenheit anging.
„Tenente, wir haben den Ort gefunden. Die Jungs von der Spurensicherung tragen gerade die Erdschichten ab. Wir brauchen länger, weil wir keine Hinweise zerstören wollen.“
„Das passt ja, gut, aber beeilen Sie sich. Wir haben inzwischen Spezialisten aus Mailand involviert, die uns die Echtheit des Videos mit 95-prozentiger Sicherheit attestiert haben. Wir brauchen nur noch Ihre Bestätigung.“
Aquilani beendete das Gespräch ohne Verabschiedung.
„Ja, Sir, natürlich Tenente, wir werden uns bemühen. Aber bemühen Sie sich einfach mal, nicht so ein großer Arsch zu sein.“
Marie lachte laut los und auch die Kollegen von der Spurensicherung grinsten breit. Ihnen stand von der mühseligen Arbeit in den Schutzanzügen bei den heißen Julitemperaturen der Schweiß auf der Stirn und an einigen Stellen klebte der dünne Stoff bereits an ihrem Körper. Endlich hob einer von ihnen die Hand, um das Graben zu stoppen und richtete sich an Aron.
„Da ist etwas Hartes. Großes. Wir sollten es vorsichtig ausgraben.“
„Nein, Sie sollten es sprengen. Mann, klar sollen Sie es vorsichtig ausgraben. Los, worauf warten Sie!“
Aron war normalerweise nicht so gereizt, doch Hitze und Anspannung schlugen auf sein Gemüt. Weitere ewige zwanzig Minuten später hievten die beiden eine etwa 80 cm3 große Eisentruhe aus dem inzwischen beinahe 50 cm tiefen Loch. Es handelte sich um eine Kiste aus medizinischem Stahl, wie sie normalerweise für den Transport von Blutkonserven oder Organen verwendet werden. In der Tat musste es eine solche Truhe sein, an der Seite war noch ein Aufkleber angebracht, auf dem die Adresse des Transfusionszentrums Meran aufgedruckt war.
„Macht sie auf, ich befürchte aber, uns erwartet ein grausiger Anblick!“
Vorsichtig öffnete einer der Polizisten die seitlichen Verschlüsse und hob den Deckel ab. Sofort schlug ihnen starker Verwesungsgeruch entgegen und Arons Magen zog sich zusammen. In seinem Mund spürte er Gallenflüssigkeit und nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, den Brechreiz zu unterdrücken.
„Du meine Güte, sind die also tatsächlich echt!“
Marie schaute mehr fasziniert als angeekelt in die Kiste und er glaubte sogar eine Spur von Erregung in ihrem Blick zu erkennen. Doch wenige Augenblicke später war dieser Ausdruck wieder verschwunden. Er räusperte sich, um seinen Hals wieder frei zu bekommen.
„Ich fürchte, die sind tatsächlich echt. Die Hautfarbe ist identisch mit der auf den Videos“, stellte Aron fest.
In der Kiste befanden sich, säuberlich aneinandergereiht, mehrere unterschiedlich lange Fleischstücke. Auf den ersten Blick hätte es sich auch um die Reste eines Tieres handeln können, doch mittendrin lag der abgetrennte Kopf einer jungen, blonden Frau, der die Augen entfernt worden waren. Aus den Augenhöhlen ragten zwei USB-Kabel, an die laut Arons Vermutung die Webcams angeschlossen gewesen sein mussten. Einer der Männer hob den Kopf vorsichtig heraus und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war sauber vom Rest des Köpers abgetrennt worden und mit einem Stück Draht war ein Beutel an den Hinterkopf gebunden.
„Oh mein Gott, wie krank muss man sein!“
Das Säckchen enthielt die Augen des Opfers neben einem zusammengefalteten Blatt Papier.
„Holen Sie das Blatt heraus, ich möchte sehen, was darauf steht.“
„In Ordnung, Sir.“
Der Kollege befolgte sofort Arons Anweisung und öffnete das Säckchen und zog es mit einer Pinzette heraus. Vorsichtig entfaltete er es.
Er zeigte es den anderen. Es war ein A4-Papier, auf dem ein Text und mehrere Fotos aufgedruckt waren. Der Text war Aron bekannt, es handelte sich wieder um dasselbe Gedicht, Der Panther von Rainer Marie Rilke.
Neben jeder Verszeile war ein Foto angebracht, das die unterschiedlichen Phasen der Zerstückelung des Opfers zeigte. Aron drehte sich weg und schluckte. Sie hatten es offensichtlich mit einem Wahnsinnigen zu tun.
DAS ZERBROCHENE RINGLEIN
In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Meine Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.
Ich möcht als Reiter fliegen
Wohl in die blutge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wärs auf einmal still!
(Joseph von Eichendorff)
Es war heiß in dem alten Opel Astra. Trotz der späten Stunde herrschten noch über zwanzig Grad. Es würde wohl wieder eine der vielen Tropennächte geben, die Meran besonders in den Monaten Juli und August regelmäßig erlebte. Der Wagen besaß keine Klimaanlage und die Temperatur im Inneren schien von Minute zu Minute zu steigen. Der Fahrer schien diesen Umstand nicht zu bemerken. Starr saß er hinter seinem Lenkrad, das er mit beiden Händen fest umklammerte, Schweiß rann ihm in Rinnsalen über Stirn, Wangen und Hals. Trotz der Hitze trug er einen langärmligen Pullover, lange Hosen, Plastikhandschuhe und eine Mütze. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag unter einem Haufen Müll eine braune Lederjacke, aus der mehrere Zettel hervorschauten. Der Geruch nach Schweiß vermischte sich mit dem von altem Essen, der den Kartons im Fußraum des Beifahrersitzes entströmte. Als Beinote schwebte auch noch der Dunst von Zigaretten über dieser bereits übelriechenden Mischung.
In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad …
Er parkte das Auto auf einem abgelegenen Parkplatz am Rande der Stadt. Zu dieser späten Stunde war er leer, doch er wusste, dass sich Jugendliche oft hier trafen, um in der Abgeschiedenheit Drogen zu konsumieren, zu trinken und, wenn ein Paar ganz allein war, auch zu bumsen. Er war nicht das erste Mal hier, er bereitete sich immer gut vor. Diese unschuldige Freude der Heranwachsenden, diese Gier nach Leben, hatten ihn immer inspiriert und ihm in seiner langweiligen und aussichtslosen Situation ein wenig Trost gespendet. Lange hatte es ihm gereicht, die jungen, fröhlichen Gesichter zu betrachten, die sich mit Marihuana-Zigaretten das Bewusstsein erweiterten und einen entrückten Zauber verströmten, wenn sie die Augen schlossen und den Rauch einsogen. Seine rundum versteckten Kameras hatten ihm Tausende Minuten von 360-Grad-Aufnahmen von verliebten Pärchen gesendet, die sich im Schatten der Bäume, die das Areal umgaben, paarten. Schöne, junge, perfekte Körper. Einmal hatte er sogar das Glück, die Vergewaltigung einer wunderschönen, rothaarigen Frau durch zwei wohl kaum 16-jährige Burschen zu beobachten. Die wilde Energie dieser Halbstarken, die Verzweiflung der Schönheit, der Gedanke, wie ihr sichtbar starker Willen durch diese jungen Sexualstraftäter gebrochen und für immer zerstört wurde, hatten ihn aufs Höchste erregt. Die Vergewaltigung passierte direkt unter einer seiner hochauflösenden Kameras und er hatte die Möglichkeit, direkt in das Gesicht der Frau zu zoomen und sich an der Verzweiflung und der Veränderung, die sich in ihrem Ausdruck vollzog, zu ergötzen. Für ihn gab es nichts Befriedigenderes als den Anblick dieser gewaltvollen Metamorphose.
Meine Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Doch heute war er nicht hier, um zu beobachten. Heute war sein Moment gekommen, den nächsten Schritt zu machen. Die Bilder seiner letzten Grazie schwebten immer noch vor seinen Augen und er tat sich schwer, tagsüber in sein normales Leben einzutauchen, ohne ein verzücktes Lächeln auf den Lippen, ohne den befriedigten Gesichtsausdruck, der seinem Umfeld vielleicht aufgefallen wäre. Es war Zeit für eine Auffrischung, es musste weitergehen. Er durfte sein Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Er schreckte aus seinen Gedanken, als plötzlich ca. hundert Meter von ihm entfernt ein Mädchen und ein Junge hinter den Bäumen hervortraten. Offensichtlich waren sie im Streit, denn sie schrie ihn an und er versuchte besänftigend seinen Arm um sie zu legen. Sie stieß ihn weg und verpasste ihm eine Ohrfeige. Erst jetzt bemerkte der Mann, dass ihr Top an einer Seite eingerissen war.
Der Junge ging erneut auf das Mädchen zu, doch empfing er eine weitere Ohrfeige, stieß es verärgert von sich weg und rannte zu einem Motorrad, das hinter einem der Bäume lehnte. Der Beobachter im Auto hatte der Konversation nicht folgen können, folgerte aber aus der Dynamik der Bewegungen, was hier gerade geschehen war. Als das Mädchen realisierte, dass der Junge dabei war wegzufahren, sprang sie wieder auf, rannte zu ihm und versuchte ihn festzuhalten. Der Junge stieß sie jedoch so stark von sich weg, dass sie nach hinten taumelte und stürzte. Vom Rücksitz des Motorrads warf er ihr einen Motorradhelm und eine dünne Jacke hinterher, startete den Motor und fuhr mit qualmenden Reifen vom Parkplatz auf die Hauptstraße und von dort in Richtung Stadt davon.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Das Mädchen saß zusammengekauert auf dem Asphalt, ihre Schultern hoben und senkten sich. Sie schien zu weinen.
Der Mann im Auto zog ein Foto aus der Aktenmappe und steckte es in die Hosentasche. Er öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm eine Spritze, die bereits mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt war, und steckte sie ebenfalls ein. Langsam machte er die Tür des Wagens auf, stieg aus und schlich in Richtung der Gestalt. Es war ruhig auf dem Parkplatz und niemand würde ihn bei seinem Auftrag unterbrechen. Er spürte, wie das Adrenalin in seinen Körper strömte, und die Vorfreude auf das, was da kommen würde, ihm beinahe den Atem raubte. Er stülpte die Maskenmütze, die er aufgesetzt hatte, ganz über sein Gesicht, sodass nur seine Augen durch einen schmalen Schlitz zu sehen waren, und ging festen Schritts auf sein Opfer zu.
Als er nahe genug war, zog er das Foto aus seiner Hose und verglich es mit dem Mädchen, das ihm den Rücken zuwandte. Sie hatte ihn immer noch nicht bemerkt, da sie weinend die Augen geschlossen hatte, doch reichte ihm das Wenige, das er von ihrem Gesicht sah, um sich sicher zu sein, dass er die Richtige gefunden hatte. Es war definitiv die Person auf dem Foto.
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei!
Sie schrie auf. Der Satz, der für sie keine Bedeutung hatte, der finstere Mann, der keine zwei Meter hinter ihr stand, die Bedrohlichkeit der Situation wurden ihr zu spät klar und noch ehe sie aufspringen und davonrennen konnte, hatte er sie bereits erreicht, einen Arm um ihren Hals gelegt und die Spritze in die Halsarterie gedrückt. Brennender Schmerz breitete sich augenblicklich in ihr aus und nach wenigen Sekunden verlor sie das Bewusstsein und sackte in die kräftigen Arme des Angreifers.
In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Meine Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Langsam fuhr er mit seiner Hand über ihren Körper und betastete Zentimeter für Zentimeter der jungen, zarten Haut. Er zog ihr das Top aus und bewunderte die weichen Brüste und strich vorsichtig über die kleinen rosaroten Nippel. Seine Erregung stieg, doch würde er sich auch diesmal nicht an seinem zukünftigen Opfer vergehen. Das passte nicht zu seiner Berufung. Dennoch zog er ihr die kurze Hose und den Slip aus und breitete sie säuberlich auf dem Parkplatz aus. Oberhalb des Tops legte er das Foto hin, sodass die Anordnung beinahe wie eine menschliche Gestalt aussah und knipste das Ganze mit dem Handy.
Er betrachtete das Bild und das Adrenalin raubte ihm fast die Besinnung. Die nächsten Stunden würden ihn weiterbringen auf seiner Reise … weiter … immer weiter. Kaum vernehmbar strömten die letzten Worte für die heutige Nacht aus seinem Mund:
Ich möcht als Reiter fliegen,
Wohl in die blutge Schlacht,
Und stille Feuer legen,
Im Feld bei dunkler Nacht.