Der Verrat - Benno Pamer - E-Book

Der Verrat E-Book

Benno Pamer

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Beschreibung

Seraphim sind die ranghöchsten und mächtigsten Engel. Sie erleuchten die Menschen und leiten sie in ihrem Tun. Noah erfährt an seinem 21. Geburtstag, dass sein verstorbener Vater einer von ihnen war und ihm selbst ein verhängnisvolles Erbe hinterlassen hat. Ehe er sichs versieht, gerät er in einen Konflikt zwischen Engeln und Dämonen, welche die Menschen beherrschen wollen. Ungeahnte Gefahren, unerwartete Gefährten, machtvolle Gegner und die unsterbliche Liebe erwarten ihn am Ende dieses Kampfes, der nicht nur über sein Schicksal, sondern über den Fortbestand der Welt, wie wir sie kennen, entscheiden soll. Ein Weltenretter aus Südtirol? Mit Sicherheit ungewohnt. Doch temporeich, unterhaltsam und höchst spannend von einem Südtiroler Autor erzählt.

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Benno Pamer

SeraphimDer Verrat

Zum Buch:

„Beschleunigt den Herzschlag und lässt den Adrenalinspiegel steigen.“

Seraphim sind die ranghöchsten und mächtigsten Engel. Sie erleuchten die Menschen und leiten sie in ihrem Tun. Noah erfährt an seinem 21. Geburtstag, dass sein verstorbener Vater einer von ihnen war und ihm selbst ein verhängnisvolles Erbe hinterlassen hat. Ehe er sichs versieht, gerät er in einen Konflikt zwischen Engeln und Dämonen, welche die Menschen beherrschen wollen.

Ungeahnte Gefahren, unerwartete Gefährten, machtvolle Gegner und die unsterbliche Liebe erwarten ihn am Ende dieses Kampfes, der nicht nur über sein Schicksal, sondern über den Fortbestand der Welt, wie wir sie kennen, entscheiden soll.

Ein Weltenretter aus Südtirol? Mit Sicherheit ungewohnt. Doch temporeich, unterhaltsam und höchst spannend von einem Südtiroler Autor erzählt.

Zum Autor:

Benno Pamer, geb. 1977, diplomierter Kommunikationsdesigner, Vertriebsleiter eines internationalen Baustoffunternehmens. „Seraphim. Der Verrat“ ist sein erstes Buch und der erste Band einer geplanten Fantasy-Trilogie.

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Abteilung DeutscheKultur der Südtiroler Landesregierung über die Genossenschaft EX LIBRIS.

© Retina, Bozen 2016

Umschlag: Benno Pamer Umschlagbild von: istockphoto Lektorat: Joe Rabl, Innsbruck, Ex Libris Genossenschaft, Bozen

ISBN 978-88-99834-00-5

eISBN 978-88-99834-03-6

Retina ein Imprint der Edition Raetia. Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com. Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected]

Für meine Frau Sandraund meine Söhne Raphael und Bastian

1. Kapitel

Für die Krankenschwestern war es ein mittlerweile leidlich bekannter Anblick. In einem Zimmer der Intensivstation des Krankenhauses Franz Tappeiner in Meran saß eine weinende Ehefrau am Krankenbett ihres sterbenden Mannes. Fast wöchentlich wiederholte sich dieses Szenario. Mit einem einzigen Unterschied: Es änderten sich die Hauptdarsteller. Was blieb, waren die Tränen und der Schmerz. Schwester Barbara war eine der wenigen Pflegerinnen, die sich, manchmal zumindest, ein paar Gedanken über die einzelnen Fälle machte. Ein Großteil ihrer Kolleginnen in dieser schwierigen Abteilung hatte einen Schutzwall aus Gleichgültigkeit um sich aufgebaut.

Schwester Barbara versuchte oft, die lästigen und beschwerlichen Gedanken über Schicksal, Leben nach dem Tod und ähnliche, abstrakte Begriffe gar nicht erst zu zulassen. Doch das gelang ihr nicht immer. Manchmal merkte sie es nicht, wenn diese eisig trostlosen Gedanken langsam in ihr aufblühten, und ehe sie sich’s versah, saß sie atemlos schluchzend in der Schwesterntoilette, pustete in ein Papiersäckchen und versuchte so, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Meist beruhigte sie sich erst nach mehreren Stunden, sobald sie in den starken Armen einer Abenderoberung nach mehreren Stunden gelebter Kreativität schweißgebadet in die Laken ihres Bettes sank. Leider war ihr Leben geprägt von einem Kampf zwischen der Sehnsucht, wie eines der tollen Mädchen in den Hochglanzmagazinen auszusehen, die sie in ihrer Freizeit leidenschaftlich verschlang, und dem schier endlosen Verlangen nach Essen in jeglicher Form. In den letzten Jahren hatte sich dieser Kampf immer häufiger in Richtung Essen verschoben und ihr Körper hatte sich mehr und mehr in etwas verwandelt, das sie täglich mit wachsender Abscheu im Spiegel betrachtete. Aus diesem Grund geschahen die leidenschaftlichen Betterlebnisse fast ausschließlich in ihrer Fantasie und so wälzte sie sich stundenlang einsam in ihrem viel zu großen Bett hin und her.

Heute schien wieder so ein verdammter Tag zu sein. Die weinende Frau am Krankenbett hatte Schwester Barbara mehr berührt als die in ihrer Erinnerung fast gesichtslosen, anonymen, weinenden Frauen, die sie bisher an den Betten von Unfallfahrern hatte beten sehen. Diese Frau hatte etwas an sich, das Schwester Barbara in ihren Bann zog. Sie wusste nicht, was es war. Ob der tiefblaue Blick aus diesen unendlich traurigen und schmerzerfüllten Augen sie verunsicherte, oder ob es die tiefe Liebe war, die aus ihnen hervorlachte. Ja, hervorlachte, trotz allem Schmerz, den diese Frau ohne Zweifel empfand. Der ganze Körper schien am Boden zu liegen. Zerstört von Schmerz und Leid. Doch die Augen lachten vor Glück. Oder, besser gesagt, vor vergangenem, aber erlebtem Glück. Barbara wusste nicht, ob andere Menschen das auch so erlebten, aber in ihren acht Dienstjahren auf der Intensivstation hatte sie Tausenden Menschen in Momenten der Trauer in die Augen geschaut und sie glaubte in diesen Augenblicken erkennen zu können, wie erfüllt das Leben der jeweiligen Personen gewesen war. Bei vielen Menschen sah man nur Leere in hohlen, traurigen Augen. Leere und Verzweiflung, oder auch Hoffnungslosigkeit und Angst. Nur einige wenige sah man mit Zufriedenheit und innerer Ausgeglichenheit. Das Einzige jedoch, das bei dieser ungewöhnlichen Frau in den Augen zu sehen war, war tiefes Glück und Dankbarkeit. Was für ein erfülltes Leben musste sie gehabt haben, dass sie es sogar in solchen Momenten schaffte, die Freude in ihren strahlenden Augen zu bewahren.

Der Ausdruck der Augen stand allerdings in krassem Gegensatz zum Rest ihres Körpers. Eingefallen, fast leblos, lag die Frau, halb schlafend, auf der Brust ihres Ehemannes … oder, besser gesagt, auf dem, was von ihrem Ehemann noch übrig geblieben war. Der Krankenakte hatte Schwester Barbara entnommen, dass der Mann Thomas Seraph hieß, 38 Jahre alt war und von Beruf Key-Account einer Werbeagentur. Sie konnte sich, wie die meisten Menschen, nicht wirklich vorstellen, was ein Key-Account war, aber in ihren Ohren klang das sehr interessant. In einer Bar hätte sie diesen Mann sicher in ein Gespräch verwickelt. Oder auch mehr, dachte sie bei sich, als sie sich das beigefügte Foto von Tom, wie sie ihn in Gedanken schon nannte, ansah. Ein gutaussehender Enddreißiger, normalerweise zu alt für sie. Tom hier hatte aber so lebhaft junge Augen, dass sie sich ein intensives Gespräch mit ihm gut vorstellen konnte. Auch die volle, dunkelblonde Haarpracht, die kantigen, markanten Gesichtszüge fand sie sehr attraktiv. Leider handelte es sich um ein Porträtbild, auf dem sie nur noch den Ansatz von starken, muskulösen Schultern erkennen konnte, den athletischen, kräftigen Körper, die kräftigen Arme und Beine, den sicher sehr knackigen Hintern würde sie sich wohl aus ihrer Imagination holen müssen. Eben wollte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und sich das Treffen mit dem erfahrenen, attraktiven Patienten vorstellen, als ihr die schmerzende Erinnerung an die wabernde Masse, die sie morgens in ihrem Badezimmerspiegel gesehen hatte, vor Augen trat und sie in die Realität zurückholte. Wer wollte schon mit so einem Fleischberg das Bett teilen. Zudem, mit dem, was von Herrn Seraph noch übrig war, konnte sogar sie nichts mehr anfangen. Obwohl, schoss ein morbider Gedanke in ihren Kopf, so würde er sich zumindest nicht wehren. Sie tadelte sich augenblicklich für diese Entgleisung und wandte sich traurig der Krankenakte zu. Laut Polizeibericht war er schuldlos in einen schweren Autounfall verwickelt worden. Er hatte bei roter Ampel hinter einem Linienbus an einer leicht abschüssigen Straße neben der Theaterbrücke in Meran angehalten. Ein hinter ihm fahrender Lkw-Fahrer hatte wohl kurz den Blick von der Straße gelöst und einem Mädchen in extrem kurzem Minirock hinterhergesehen. Was danach folgte, war vom Schicksal vorprogrammiert. Der Lkw erfasste Toms Kleinwagen mit voller Wucht und drückte ihn in das Ende des Linienbusses, in dem zum Glück gerade keine Passagiere saßen. Tom wurde zwischen den beiden Fahrzeugen eingeklemmt und konnte von der Feuerwehr erst nach mehreren Stunden mehr tot als lebendig aus dem total zerstörten Wrack seines VW Passat herausgeschnitten werden. Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass er überhaupt noch mit einer Spur von Vitalzeichen geborgen hatte werden können. Echte Überlebenschancen gab ihm allerdings keiner der Ärzte mehr. In mehreren vielstündigen Operationen hatten die Ärzte versucht, Tom zu retten, doch am Ende war es eine nicht zu stemmende Aufgabe für die Spezialisten der Notfall-Chirurgie gewesen. Man entschied sich, ihn im künstlichen Koma schmerzfrei in den Tod gleiten zu lassen. Erste Tränen rollten über Barbaras rosige Wangen, als sie den Bericht zu Ende gelesen hatte, doch ihr Herz schien einzufrieren, als sie eine Zeile der persönlichen Daten las, die sie vorher übersehen hatte: ein Sohn, Noah Seraph, acht Monate alt.

Der Krankenbericht glitt aus den Händen der Krankenschwester, die vor dem Zimmer stand, und fiel klatschend auf den frisch gewischten Boden der Intensivstation. Nur noch das klackernde Geräusch sich entfernender Gesundheitsschuhe, die sich im Laufschritt der Schwesterntoilette und den darin versteckten Papiertüten näherten, zerschnitt die Stille.

Das unerwartete Geräusch weckte Sophie aus dem leichten Schlummer, der sie trotz ihrer Verzweiflung übermannt hatte. „Thomas, Thomas, warum!“ Sofort war dieser Aufschrei der Verzweiflung wieder präsent, der sie verfolgte, seit sie von der Station der Carabinieri in Meran angerufen worden war. Sie hatte nur noch schnell den kleinen Noah zu ihrer Mutter gebracht und war in das 15 Kilometer entfernte Bezirkskrankenhaus gefahren. Wie durch einen dichten Nebel hörte sie immer noch die Worte des operierenden Notfallchirurgen in ihren Ohren, der nach der dritten oder vierten OP zu ihr gesagt hatte, dass es unter den Umständen wohl keine Hoffnung mehr gäbe. Thomas sei technisch gesehen schon tot, sie solle versuchen, Abschied von ihm zu nehmen. Sie konnte das alles nicht akzeptieren. Thomas war das Zentrum ihres Universums. Er war stärker als die meisten Menschen. Er konnte nicht so einfach durch einen profanen Unfall von ihr gerissen werden. Zu glücklich waren sie mit dem kleinen Sonnenschein gewesen, der vor wenigen Monaten in ihr Leben getreten war und sie zu den glücklichsten Menschen gemacht hatte, die man sich vorstellen konnte. Es konnte nicht sein, dass sie nach diesen Monaten jetzt so einfach verlassen und ohne ihren Mann dastehen würden. Selten hatte sie einen so stolzen Vater gesehen, der jede freie Minute der Dreisamkeit genoss und sich mit jeder Faser für das Wohl ihrer Kleinfamilie einsetzte. All die Pläne, die sie an langen Abenden geschmiedet hatten, für ihre gemeinsame Zukunft in einem kleinen Häuschen in ihrem beschaulichen kleinen Tal. Ihr ganzes Leben hatte sie schon vorausgeplant. Und jetzt sollte das vorbei sein?

Wie sollte sie es nur schaffen, allein mit der Verantwortung zu leben, einen so besonderen Menschen zu erziehen? Sie hatte sich doch so sehr auf die Jahre gefreut, wenn Noah größer werden würde und die Charakterstärke des Vaters entwickeln würde. Thomas war stets ihr Kompass gewesen, ihre starke Schulter, an die sie sich lehnen konnte, wenn sie mit den Wirren der Welt nicht zurechtkam.

Schwere Nebelschwaden lagen über seinen Augen und er wusste nicht, wo er sich befand. Alles war dunkel und leer und eine seltsame Mattigkeit erfüllte ihn. Er versuchte sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden, fand aber keinen Orientierungspunkt, der ihm weiterhelfen konnte. Irgendwie erinnerte ihn nichts in seinem Umfeld an etwas, das er schon einmal gesehen hatte. Er wusste nicht einmal, ob er wach war oder ob er sich im Tiefschlaf befand. Aber so recht passte weder das eine noch das andere zu dem Zustand, in dem er sich befand. Unter Aufbietung all seiner Willenskraft gelang es ihm schließlich, die Augen zu öffnen. Oder zumindest glaubte er das, doch als er an sich hinunterschaute, zweifelte er sofort daran, denn er bemerkte zu seiner Verwunderung, dass er keinen Körper hatte. Seltsamerweise störte ihn das aber nicht im Geringsten. Trotz der Müdigkeit fühlte er sich wohl, war glücklich und spürte, wie sich alles in ihm danach sehnte, diesen trostlosen Ort zu verlassen und weiterzukommen, weg von seinen Bindungen, hin zur Freiheit, zu diesem eigenartigem, Glück verströmenden Licht, das er jetzt bemerkte (oder vielleicht schon immer gesehen hatte) und das er schon so lange kannte. Eben, als er sich seinem Streben hingeben und in den Sog eintauchen wollte, der zu dieser Freudenquelle hinführte, spürte er unvermittelt einen heftigen Stoß. Etwas, das er nicht in Begriffe fassen konnte, stieß ihn von seinem Glückslicht weg. Zornig über diesen Eingriff drehte er sich um und erstarrte erschrocken. Er erkannte, dass er sich in einem Raum befand, und bemerkte ein Krankenbett, auf dem ein Körper lag, der an allerlei Geräte und Maschinen angeschlossen war. Seine Neugier war erwacht und er näherte sich dem Körper bis auf wenige Meter. Schließlich schwebte sein körperloses Ich über dem Bett. Er betrachtete den zerschundenen Körper, der übersät war von blauen Flecken, Wunden und Operationsnarben, aus denen eine große Zahl an Drainagen austraten, die aufgestauten Körperflüssigkeiten aus den operierten Körperteilen in unterschiedlichste Eimer, Gefäße oder Säckchen leiteten. An diesem Bett saß eine Frau und weinte. Sie kam ihm seltsam vertraut vor. Sie hatte ihren Kopf auf die Brust des zerschundenen Körpers gelegt und wimmerte. Er betrachtete das dunkelbraune glatte Haar, das sich bis auf die schmalen Schultern herablockte, den durchtrainierten sehnigen Körper, der in eleganter, wenn auch zerknitterter Kleidung steckte, die schlanken Fesseln, die kleinen, schmalen, gepflegten Füße … Je länger er die Frau betrachtete, desto bekannter kam sie ihm vor. Plötzlich hob sie den Kopf und er blickte in ein Paar glänzende, braune Augen, die ihn wie eine Keule trafen. Er erkannte seine Frau Sophie, seine Seelenverwandte, die sein Leben vervollständigt hatte. Aber warum weinte sie am Bett eines fremden Mannes? Wer war der Kerl? Ehe er merkte, dass die Eifersucht in ihm aufstieg, traf ihn die Erkenntnis eiskalt:

Es war sein Körper, der dort lag, und demzufolge war er … Natürlich … das Licht, das Glücksgefühl, kein Körper … er war tot … oder zumindest auf dem besten Weg dorthin.

Die Tragweite dieser Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht und alles Glück, das er bisher empfunden hatte, war mit einem Schlag wie weggeblasen. Aus allen verzweifelten Gedanken, die sich in seinem Kopf manifestierten, trat einer immer stärker hervor und übertönte alles andere.

Noah.

Mein kleiner Noah.

Dieser Gedanke ließ ihn bis ins Innerste erschauern.

Wie aus dem Nichts spürte er einen erneuten Schubser. Dieses Irgendetwas, das ihn bereits vorher in Richtung seines Körpers gestoßen hatte, war wieder da und drängte ihn in Richtung des Krankenbettes. Ruckartig drehte er sich um, um den Urheber dieser unangenehmen Stöße auszumachen. Und diesmal sah er ihn.

Er sah in ein Paar tiefblaue, ja bodenlose und unwirkliche Augen. Diese Beschreibung befriedigte ihn nicht wirklich, es war aber der Ausdruck, der dieser Tiefe am ehesten gerecht wurde. Er versank in einer Mischung aus Wärme, Weisheit, Trauer, Freude und Erkenntnis, die diesen Augen entsprang, und augenblicklich waren all die Verzweiflung, die Angst, die Trauer, die Sorge um seine Familie wie weggeblasen. Die uralte Weisheit dieser Augen enthüllte ihm, warum er noch nicht ins Licht durfte, warum er nicht einfach wie jeder x-beliebige Mensch sterben und in Frieden ruhen durfte. Er hatte eine Aufgabe übernommen und musste dafür sorgen, dass es nicht hier endete.

Zustimmend nickte das blaue Augenpaar ihm zu und mit einem tiefen Seufzen ließ er sich nach unten in Richtung seines Körpers fallen. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, waren die Schmerzen, die ihn in dem Moment überfielen, als er sich in seinem zerschundenen Körper wiederfand. Eine Woge aus Krämpfen, Stechen, Druck und Kurzatmigkeit drückte ihn in die Laken und ließ ihn seinen Auftrag beinahe wieder vergessen. Er erkannte, dass er seine Sinne wieder kontrollieren konnte, und seltsamerweise fiel ihm jetzt etwas auf, das er in seiner vergeistigten Sphäre nicht bemerkt hatte: den vertrauten Geruch seiner Frau, der in der Luft schwebte und zwischen der penetranten Krankenhausmischung aus Desinfektionsmittel, abgestandenem Körpergeruch, gestocktem Blut und anderen, noch weniger einladenden Resten von Körperausscheidungsdüften den Weg zu seiner Nase gefunden hatte. Unter Aufbringung seiner ganzen Willenskraft fokussierte er sich auf den Duft seiner Frau und versuchte seinen Körper zu einer Regung zu bewegen.

Sophie schreckte aus ihrer Versteinerung hoch und fixierte wie elektrisiert die bandagierten Gesichtszüge ihres Mannes. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die trockenen Augen und starrte erneut in die kaum wiederzuerkennenden Züge des einst so geliebten Antlitzes. Sie hätte schwören können, dass sich eine Augenbraue bewegt hatte, zwischen den Schläuchen, die Thomas aus der Nase und dem Mund ragten und seine Atmung und Ernährung gewährleisten sollten.

Unmöglich, dachte sie bei sich und erinnerte sich an die Technisch-tot-Aussage des Arztes. Gleichzeitig fiel ihr das Lieblingsmotto ihres Mannes ein: „Geht nicht gibt’s nicht!“ Wie oft hatte sie von ihm diesen Satz gehört, den er wohl einer seiner vielen Werbekampagnen entnommen und zum Motto ihres Lebens erkoren hatte. Diese Erinnerung gab ihr die Hoffnung zurück und sie starrte wie gebannt auf die Augen ihres geliebten Mannes. Minuten vergingen und Sophie neigte wieder dazu, an eine optische Täuschung zu glauben.

„Da, da ist es wieder“, rief Sophie plötzlich wie eine Irrsinnige laut aus, als sich die linke Augenbraue ihres Mannes merklich hob.

„Schwester, Schwester“, brüllte Sophie wie von Sinnen durch den Raum und ihr Herz schien schier zu zerspringen vor Freude.

„Er bewegt sich, er lebt noch. Schwester, schnell!“

Schwester Barbara hockte immer noch in einer Ecke der Schwesterntoilette und wischte sich die Tränen der Verzweiflung von den Wangen. Das Pusten in ihre Papiertüte schien heute überhaupt nicht wirken zu wollen, die Verzweiflung wollte einfach nicht weichen. Plötzlich hörte sie eine aufgeregte Frauenstimme aus der Richtung von Herrn Seraphs Zimmer. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und stürmte aus der Toilette. Adrenalin und Aktivität waren die beste Medizin gegen ihre Verzweiflung.

Als sie nach zehn ewig langen Sekunden endlich im Zimmer ankam, sah sie, wie Toms Ehefrau mit freudig erregtem Gesicht am Bett ihres Mannes stand und nach ihr rief.

„Schwester, schnell, schauen Sie, er lebt, er bewegt sich, rufen Sie den Arzt! Schwester, schnell!“

„Frau Seraph, beruhigen Sie sich, was ist denn los“, stieß Schwester Barbara außer Atem hervor. In solchen Situationen verfluchte sie ihren massigen Körper, der sich nach dem 50-Meter-Sprint anfühlte, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Gleichzeitig hoffte sie, dass Frau Seraph die Tränenspuren nicht zu stark sehen konnte und ihre verquollenen Augen nicht weiter auffielen.

„Schwester, er lebt. er hat die Augenbrauen gehoben. Er lebt. Ihr Arzt hat sich geirrt. Kommen Sie, sehen Sie, kommen Sie. Er lebt.“

Kurz musste Barbara die Worte, die in einer unglaublichen Geschwindigkeit von den Lippen der attraktiven Frau sprudelten, sortieren, ehe sie deren Inhalt voll begriffen hatte.

„Beruhigen Sie sich erst einmal. Und jetzt noch mal der Reihe nach für Dumme. Was ist los?“

Barbara folgte strikt der Vorgehensweise, die sie an der Claudiana, der Hochschule für Krankenschwestern in Bozen, erlernt hatte. Zuerst die Angehörigen beruhigen und versuchen, klare und präzise Informationen zu erhalten. Viele Angehörige begannen nach Stunden der Schlaflosigkeit Dinge zu sehen, die es nur in ihrer Fantasie gab oder die einfach nur einer übersteigerten Wunschvorstellung entsprangen.

„Schwester, so kommen Sie doch, sehen Sie, er bewegt die Augenlider“, brach es wieder aus dieser quirligen Frau hervor. Barbara betrachtete sie mit einer gehörigen Portion Neid. Diese kleine, zarte Frau hätte ohne Weiteres das Cover ihrer Magazine zieren können. Sie hatte ein schmales, edles Gesicht mit ausgesprochen regelmäßigen Gesichtszügen. Ihre braunen, großen Augen verliehen ihr einen verträumten, sinnlichen Ausdruck, der sogar noch jetzt, trotz der Tatsache, dass diese Frau seit 20 Stunden ununterbrochen am Bett ihres Mannes gekniet und sich sicher nicht geschminkt hatte, zu sehen war. Der Körper, der zu diesem Gesicht gehörte, war ebenfalls nahezu perfekt, auch wenn die zerknitterte Kleidung für die Hochglanzmagazine per Photoshop hätte retuschiert werden müssen. Diese Frau hätte sicher kein Problem gehabt, in den Kneipen, in denen Barbara normalerweise verkehrte, einen der vielen begehrenswerten Kerle abzuschleppen, die Barbara meist nicht einmal bemerkten.

Noch bevor sie wieder in das Loch ihres Selbstmitleids versinken konnte, wurde sie von der Frau einfach am Ärmel ihres Schwesterngewandes gepackt und an das Krankenbett gezogen. Anfangs spielte sie mit dem Gedanken, sich dagegen zu wehren und die Frau zu beruhigen, doch irgendwie strahlte diese eine Energie aus, der sie sich nicht widersetzen konnte und die jeden Widerstand hinwegspülte. Ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stand sie plötzlich am Fußende von Toms Bett.

„Jetzt schauen Sie doch, Schwester, die Augenbraue!“

Barbara beobachtete Toms Gesicht. Die Haut, die zwischen Pflastern zu sehen waren, welche die Schläuche in Toms Mund und Nase hielten, schillerte in verschiedenen Farben und war nur noch mit viel Fantasie als der Mann zu erkennen, den sie auf dem Foto gesehen hatte. Im Mund steckte der Schlauch des Tubus, der ihn mit Sauerstoff versorgte. Über verschiedene Sensoren war er mit den unterschiedlichsten Maschinen verbunden, die seine verschiedenen Vitalfunktionen überwachten. Barbara versuchte intensiv, eine Abweichung auf einem der Monitore zu erkennen, aber keiner zeigte auch nur annähernd einen Wert an, der die Aussage von Toms Ehefrau bestätigen hätte können.

„Frau Seraph, es tut mir leid, aber ich kann leider keine Änderung feststellen.“

„Aber Schwester, ich habe es doch gesehen“, der Ton von Toms Frau war schrill und schon fast flehend. Oh, wie sie diesen Beruf in solchen Momenten hasste. Es war sicher mindestens das 20. oder 30. Mal, dass ein Angehöriger eines Unfallopfers Phantombewegungen gesehen haben wollte. Und fast immer traf sie es, die dann diesen verfluchten Satz sagen musste:

„Es tut mir leid, Frau Seraph, aber das ist leider nicht möglich. Ihr Mann ist zu keiner Bewegung mehr fähig. Es ist normal, wenn Sie nach 20 Stunden ohne Schlaf Dinge sehen, die nicht wirklich passieren. Legen Sie sich ein wenig hin und ruhen Sie sich aus. Versuchen Sie zu schlafen.“

Sie nahm die Frau an der Schulter und führte sie zum Stuhl. Ihre Worte hatten Frau Seraph auf seltsame Art und Weise gebrochen. Fast willenlos setzte sie sich hin und aus ihren Augen war all das verschwunden, was Barbara vorher noch als sinnliche Tiefe und Begeisterung erkannt hatte. Sie blickte Barbara mit leeren Augen an.

„Aber ich habe es doch …“

„Ich weiß, Frau Seraph, versuchen Sie sich auszuruhen.“

Traurig beobachtete Barbara, wie sich Frau Seraph mit langsamen, mechanischen Bewegungen in den bereitgestellten Stuhl setzte und in das Leere blickte, und sie verließ das Zimmer.

Zu keiner weiteren Bewegung fähig, hatte Tom diese Diskussion beobachtet. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Je länger er in seinem Körper zurück war, desto stärker spürte er die angenehm betäubende Wirkung der Schmerzmittel und die Erschöpfung, die ihn wegen der Schmerzen übermannte. Doch er musste es weitergeben. Er durfte nicht der Letzte sein. So durfte es nicht enden. Wozu hatte er denn so viele Vorkehrungen für den Fall seines Todes getroffen.

Er konzentrierte sich auf seinen Körper und versuchte seine ganzen Kräfte, die ihm geblieben waren, zu sammeln. Trotz großer Anstrengung merkte er bald, dass seine Kräfte viel kleiner waren, als er angenommen hatte. Dunkle Schleier begannen sich vor seinen ohnehin getrübten Augen zu sammeln. Ein seltsames, dunkles Gefühl breitete sich in ihm aus und begann den Rest der Erinnerung an das Licht und die Wärme zu überdecken, die er nach dem Blick in die geheimnisvollen Augen verspürt hatte.

Kurz bevor er glaubte, die Besinnung zu verlieren, spürte er plötzlich einen kühlen Hauch, der seinen Nacken umwehte. Ohne dass er hinschauen musste, erkannte er den blauen Blick in seinem Nacken und fast augenblicklich ebbten die Schmerzen spürbar ab. Beinahe fühlte es sich so an, als ob er ein wenig Kontrolle über seinen Körper bekommen würde. Er bündelte seine Kraft und konzentrierte sich auf seinen linken Arm. Unter Aufbringung seiner letzten Kraftreserven gelang es ihm endlich, seinen Arm zu heben.

Sophie erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie hatte eine Veränderung am Körper ihres Mannes bemerkt. Ein Schlauch, der aus dem Arm ragte, war nicht mehr da, wo sie ihn vor wenigen Augenblicken noch gesehen hatte, sondern war vom Arm ihres Mannes abgerutscht. Jetzt war sie sich sicher, ihr Mann hatte sich bewegt. Sie starrte so sehr auf das Krankenbett, dass ihre Augenlider schmerzten.

„Komm schon Tom, komm schon“, intonierte sie fast schon hysterisch.

Dann entfuhr ihr ein lauter Schrei. Tom hatte seinen linken Arm gehoben.

Sophie sprang auf und wollte losstürmen, um die Schwester zu holen, doch irgendetwas hielt sie auf ihrem Platz. Sie versuchte sich erneut zu drehen und loszulaufen, doch gehorchten ihr ihre Beine nicht. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie das Zimmer jetzt verließ. Es beherrschte sie nur ein Gedanke: Beobachte Tom! Aus diesem inneren Antrieb heraus drehte sie sich noch mal zu ihrem Mann und betrachtete ihn intensiv.

Mit seiner Hand war jetzt definitiv etwas passiert. Auf irgendeine Art und Weise sah seine Handhaltung seltsam aus. Tom hatte die Hand nicht einfach gehoben oder ausgestreckt, er hatte den ganzen Arm angehoben. Die Hand berührte dabei seine Schulter, und der linke Ellbogen zeigte zur Seite. Fast sah es so aus, als ob er die Hand wie ein Kissen unter den Nacken schieben wollte, doch schien Sophie diese Vorstellung einfach zu absurd, um den Gedanken weiterzuverfolgen.

„Was willst du mir sagen, Tom?“

Sophie wusste nicht, ob sie das gesagt oder nur gedacht hatte, aber Tom hatte sie anscheinend verstanden. Zwar war die Bewegung kaum zu sehen, doch Sophie, die ihn mit höchster Konzentration beobachtete, bemerkte, dass sich seine Ellbogenspitze leicht hin und her bewegt hatte. Er wollte sie auf etwas aufmerksam machen.

Da erkannte sie es.

Das ganze System aus Toms Arm, Ellbogen und Hand bildete einen Pfeil und der Ellbogen war die Spitze, die ihren Blick in eine bestimmte Richtung lenken sollte. Sophie folgte der imaginären Richtungslinie, konnte jedoch nichts Beachtenswertes entdecken. Verzweifelt schaute sie zwischen Tom und dem Schrank, auf den sein Ellbogen zeigte, hin und her. Der Schrank war offen und darin war doch gar nichts.

Oder doch? War da etwas im Schatten?

Sophie sprang auf und rannte zum Schrank und bemerkte in einem Winkel des Schrankes, hinter einem Turm aus Krankenhausdecken, einen altertümlichen Safe. Der Schrank roch muffig und staubig und Sophie war sich ziemlich sicher, dass das Putzpersonal die Reinigung hier nicht allzu ernst nahm. Sophie tastete nach dem kleinen Metallhebel, der zum Öffnen des Safes dienen sollte. Doch der Safe war verschlossen und Sophie schaute erneut verzweifelt in Toms Richtung. Keine weitere Regung auf Toms Gesicht war zu erkennen. Sophie drehte sich wieder um und betrachtete den Safe. Es war ein einfacher Stahlsafe, der ähnlich wie in den meisten Hotels einfach in die Rückseite des Schranks eingebaut worden war. Geöffnet wurde er über einen Zahlencode, der auf einer Tastatur eingegeben werden konnte. Sophie überlegte kurz. Die persönlichen Gegenstände des Patienten werden bei Unfällen, wenn kein Angehöriger verfügbar ist, in die jeweiligen Zimmersafes eingeschlossen. Sie glaubte sich vage erinnern zu können, dass Schwester Barbara das ihr gegenüber erwähnt hatte. Wie wurden aber die Codes definiert, wenn solche Fälle eintreten? Sicher versuchen die Mitarbeiter der Abteilung die Kreativität im Rahmen zu halten. Wahrscheinlich verwendete das Personal einen Zifferncode, der etwas mit den persönlichen Daten des Patienten zu tun hatte. Einem Impuls folgend tippte sie Toms Geburtstag ein. Keine Reaktion. Auch ihr Geburtstag löste keine Öffnung aus, was ja klar war, im Moment von Toms Einlieferung wusste man ihre persönlichen Daten ja noch nicht. Schließlich versuchte sie die letzte Option und tippte die ersten vier Nummern von Toms Steuernummer ein, die in seinem Sanitätsausweis standen. Ein Klicken ertönte. Der Safe war entriegelt. Sophie öffnete ihn und fand darin Toms persönliche Gegenstände: seine Omega-Uhr, die er besaß, seit sie sich kannten und die er nie ausgetauscht hatte, so oft sie ihm das auch geraten hatte, sein nagelneues Funktelefon, übrigens eines der ersten Funktelefone, die man in ihrem Heimattal zu Gesicht bekommen hatte, sowie seinen Terminplaner, ohne den er nie aus dem Haus gegangen war.

Sophie wusste jetzt nicht, was sie mit diesen Sachen anfangen sollte. Was hatte ihr Tom sagen wollen? Sie drehte sich fragend zu ihm um, sah allerdings zu ihrem großen Schrecken, dass Tom wieder starr und leblos in seinem Bett lag und die Hand in seiner ursprünglichen Position verharrte.

„Dreh ich jetzt komplett durch?“, sagte sie laut zu sich und der Hall ihrer Worte prallte von den kahlen Krankenhauswänden zurück. Mit den Gegenständen in der Hand setzte sie sich wieder auf den Stuhl neben Toms Bett. Abwechselnd prüfte sie die drei Dinge und wog sie in ihrer Hand. Weder beim Planer noch beim Funktelefon fiel ihr etwas Besonderes auf. Als sie die Uhr vor ihre Augen hielt, hätte sie sie vor Schreck beinahe wieder fallen lassen: Tom hatte wieder einen Finger bewegt.

Jetzt fragte sich Sophie nicht mehr, ob sie träumte oder ob das gerade echt passierte. Außer sie war schon vor einer ganzen Weile durchgedreht, aber darüber konnte sie schließlich später auch noch nachdenken. Jetzt galt ihre gesamte Konzentration ihrem Mann.

Die Bewegung von Toms Finger wiederholte sich. Sophie ergriff Toms Hand. Sie legte seine großen, einst so kräftigen und doch zärtlichen Finger auf die Innenseite ihrer Handfläche und jetzt konnte sie die Bewegung nicht nur sehen, sondern auch spüren. Von seinen Fingern ging ein sanfter Druck aus. Oder bildete sie sich das nur ein? Nein, eindeutig, es waren seine Finger, die einen kaum wahrnehmbaren, aber doch existenten Druck auf ihrer Handfläche erzeugten. Genauer gesagt, war es sein Mittelfinger. Sophie konzentrierte sich auf seine Berührungen. Sein Finger berührte ihre Hand gezielt, fast schien es, als ob er in einer gewissen Reihenfolge über ihre Handfläche streichen wollte.

Nach ein paar Versuchen erkannte Sophie ein Muster hinter den Bewegungen, welches sich drei Mal wiederholte. Mittelfinger – kleiner Finger – Mittelfinger – Ringfinger – Mittelfinger … Mittelfinger – kleiner Finger – Mittelfinger – Ringfinger – Mittelfinger … Mittelfinger – kleiner Finger – Mittelfinger – Ringfinger – Mittelfinger.

„Ja, Tom, ich spür es, ich hab’s …“, rief sie euphorisch. „Aber was heißt das?“

Wie aus dem Nichts spürte sie einen leichten Stich im Oberarm. Sie hatte den Arzt nicht bemerkt, der hinter sie an das Bett getreten war. Zutiefst erschrocken drehte sie sich um, oder besser gesagt, sie versuchte es, denn die kräftigen Arme des Arztes hielten sie fest.

„Beruhigen Sie sich, Frau Seraph, lassen Sie Ihren Mann ziehen“, sprach der Arzt mit monotoner, unsympathischer Stimme, die sie schon einige Male gehört hatte.

„Sie werden jetzt ein wenig schlafen, und danach sieht die Welt wieder anders aus.“

Das Sedativum wirkte sehr schnell. Nebel zogen vor Sophies Augen auf und sie merkte, wie sie willenlos und träge wurde. Wie ein kalter Schleier legte sich eine Substanz über ihr Inneres und überdeckte das innere Feuer, das sie bisher in der Wirklichkeit gehalten hatte. Langsam schlossen sich ihre Lider und sie sah das Gesicht des Arztes, der mit einem fast hämischen Ausdruck von ihr weggetreten war, vor Toms Bett stand und mit fast triumphierender Stimme sagte:

„Hier endet es also, mein Freund, die Kette ist zerbrochen!“

Im letzten wachen Moment erkannte sie den Arzt und sah eine weitere Spritze in seinen Händen, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war. Der Mann öffnete einen Zugang zu den Kanülen an Toms Hand und drückte den Inhalt der Spritze in den Schlauch. Sophie wollte schreien, doch war ihr Körper bereits nicht mehr unter ihrer Kontrolle. Dann schlief sie ein und vergaß die letzten Minuten fast augenblicklich.

Tom wollte schreien, als er den Schatten hinter Sophie bemerkte. Lauf, wollte er rufen, doch er wusste, wie lächerlich allein der Gedanke daran war. Er kannte den Mann, der als Arzt hinter seiner Frau mit geladener Spritze stand. Er kannte die blauen, einst so fröhlichen Augen, die von buschigen Augenbrauen umrahmt waren. Auch der Dreitagebart, der das regelmäßige und männliche Kinn bedeckte, war nichts Neues für ihn. Nur der Gesichtsausdruck, seine schmalen zusammengepressten und hämisch grinsenden Lippen und der Hass, mit dem er ihn anblickte, waren für Tom absolut neu. Sie hatten sogar gemeinsam für dieselbe Sache gekämpft, hatten gemeinsam trainiert und sich auf den Kampf mit ihren Feinden vorbereitet, auch wenn sie ihre Aufgaben in den letzten Monaten voneinander entfernt hatten. Sie hatten doch immer dieselben Ziele verfolgt, und er konnte nicht glauben, was er danach sah. Er hatte diesem Mann vertraut, sie hätten sich gegenseitig aus jeder Gefahr gerettet. Sie hatten gemeinsam gegen ihre Feinde gekämpft. Aber was er hier im Krankenhaus machte, konnte er sich nicht erklären. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er ihn noch für seinen besten Freund gehalten. Und nun hatte er ihn hintergangen und seine Frau betäubt. Hierfür gab es nur eine Erklärung. Er hatte die Seiten gewechselt. Er versuchte die Konsequenzen dieser Tat einzuordnen und wurde sich immer mehr der Tragweite des Verrats bewusst. Es konnte das Ende sein, doch er hatte noch eine Hoffnung.

Glücklicherweise irrte sich der Mann in einer entscheidenden Tatsache. Die Kette war noch nicht zerbrochen. Zwar war sie beschädigt, eingerissen, schwach und hing nur noch an einem seidenen Faden zusammen, doch noch gab es Hoffnung. Und diese Hoffnung war seine Frau, Sophie. Er hatte gesehen, dass sie ihn verstanden hatte oder ihn zumindest irgendwann verstehen werde. Rechtzeitig. Sie musste es einfach verstehen. Sie würde ihn verstehen. Er wusste es.

Plötzlich ebbte sein physischer Schmerz ab. Er fühlte, wie die Leichtigkeit zurückkehrte. Und die blauen, uralten Augen gesellten sich an seine Seite, nahmen ihn mit, hinfort aus der Ebene der Schmerzen und des Leids und begleiteten ihn heim in die ewige Glückseligkeit, wo die anderen Engel schon auf ihn warteten.

Die Beerdigung ihres Mannes erlebte Sophie wie durch einen Schleier, als teilnahmslose Zuschauerin. Die Medikamente, die ihr der Arzt zur Bewältigung des Schmerzes verschrieben hatte, nahmen ihr jede Empfindung, allerdings auch jede Möglichkeit der Verarbeitung ihrer Trauer. Ihre Eltern hatten ihr den kleinen Noah abgenommen, der sie immer wieder aus fragenden Augen ansah, so als ob er wissen wollte, warum sie ihn nicht beachtete und warum Papa nicht da war. Doch auch dies war ihr in ihrem Zustand egal. Die große Schar der Trauergäste, Tom war sehr beliebt gewesen bei der Bevölkerung seines Tales und darüber hinaus, die vielen Beileidsbekundungen gingen fast spurlos an ihr vorüber und beinahe schien ihr alles wie ein ferner Traum. Auch Schwester Barbara nahm sie nur wie durch einen Schleier wahr und konnte sich in den Tagen danach nicht mehr daran erinnern, dass sie überhaupt an der Trauerfeier teilgenommen hatte.

Die ersten Tage nach der Beerdigung verbrachte Sophie in ihrem Haus, hinter geschlossenen Gardinen. Meist saß sie im Pyjama in eine Decke gehüllt auf Toms Lieblingssessel und blickte in die Leere. Täglich einmal kam der Arzt aus dem Krankenhaus vorbei und gab ihr eine Beruhigungsspritze, die sie ohne Widerrede über sich ergehen ließ. Ihr fiel nicht auf, dass der Arzt sie mit begierigen Blicken musterte und auch manchmal mit den Händen ihren Körper abtastete, wobei er Stellen berührte, die nichts mit einer Standarduntersuchung zu tun haben konnten. Ebenso fiel es ihr nicht auf, dass der Arzt stets länger blieb, als er für die Verabreichung der Medikamente brauchte, und sich in allen Räumen des Hauses umsah, die Schubladen der Schränke öffnete und in ihren Sachen wühlte. Durch die Medikamente blieb sie in ihrem benebelten Zustand. Erst als der Arzt ihrer anscheinend überdrüssig geworden war oder das, was er suchte, gefunden hatte oder aufgegeben hatte danach zu suchen, verkündete er ihr, dass sie die Medikamente von nun an nicht mehr brauchen würde. Kaum ließ die Wirkung der Tranquilizer am Folgetag nach, war der ganze Schmerz wieder da. Und im selben Moment eine ganz spezielle Erinnerung: Mittelfinger – kleiner Finger – Mittelfinger – Ringfinger – Mittelfinger. Ihr Mann hatte ihr eine Botschaft hinterlassen. Egal was die anderen sagten. Tom hatte ihr eine Botschaft hinterlassen. Und sie war es ihm schuldig, die Botschaft zu verstehen. Oder zumindest, es zu versuchen.

Doch dazu brauchte sie die drei Gegenstände aus Toms Besitz. Natürlich war sie die Erbin der persönlichen Sachen ihres Mannes, doch sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin die Sachen verschwunden waren. Sie verließ ihren Sessel, stürmte in das Wohnzimmer und griff zum Telefon. Instinktiv wählte sie eine Nummer.

„Hallo?“

„Mom, hallo, ich bin wieder da.“

„Oh, Liebling, schön von dir zu hören. Wie geht es dir, mein Kind?“

Die Sorge in der Stimme ihrer Mutter war fast greifbar.

„Es geht. Ich habe die Medikamente abgesetzt.“

„Aber Kind, hast du das mit dem Arzt abgesprochen? Bist du schon so weit?“

„Mom, der Arzt ist seit gestern nicht mehr vorbeigekommen, er hat gesagt, ich brauche die Medikamente nicht mehr. Kannst du mir Noah vorbeibringen? Ich fühle mich nicht in der Lage, Auto zu fahren.“

„Natürlich, Kind. Ich bringe ihn dir gleich morgen früh vorbei.“

„Warum erst morgen?“

„Weil er schon schläft. Und das solltest du auch.“

Sophie blickte auf ihre Uhr. Es war tatsächlich schon neun Uhr abends. Sie hatte sich in den letzten Tagen anscheinend wenig um Uhrzeiten gekümmert.

„Natürlich, Mom, danke“, sagte sie in einem gefassten Ton. „Übrigens, weißt du, wo Toms Sachen sind? Seine Uhr, Funktelefon, Planer und der Rest?“

„Aber Kind, willst du dich wirklich schon quälen. Willst du nicht …“

„Mom, ich brauche die Dinge. Ich muss mich von meinem Mann verabschieden!“

„Entschuldige, ich mache mich nur Sorgen um dich.“

„Ich weiß, Mom.“

Am anderen Ende trat eine Pause ein. Ihre Mutter dachte nach.

„Mom, bitte … es ist wichtig.“

Ein tiefes Seufzen ihrer Mutter verriet ihr, dass sie sich nicht unbedingt sicher war, ob Sophie für diese Art der Vergangenheitsbewältigung schon bereit war. Endlich antwortete sie.

„Die Sachen sind noch im Krankenhaus, eine gewisse Schwester Barbara hat mich angerufen und eine Nummer hinterlassen, unter der du sie erreichen kannst.“

„Danke, Mom, bis morgen.“

Plötzlich traten Tränen in Sophies Augen. Erstmals seit Toms Tod wurde ihr richtig bewusst, dass sie jetzt mit ihrem Sohn allein war. Ohne Ehemann. Eine alleinerziehende Mutter mit einem acht Monate alten Sohn.

Sie warf sich auf das Sofa und heulte hemmungslos. Alle Tränen, die von den Medikamenten zurückgehalten worden waren, traten nun aus ihr heraus und der Schmerz schnürte ihre Brust zusammen. Erst als ihre Augen keine Tränen mehr hervorbrachten, setzte sie sich auf und nahm ein Foto in die Hand, das vor ihr auf dem Sofatisch stand. Es zeigte den glücklichsten Tag ihres Lebens … die Geburt ihres Sohnes. Es war eines der klassischen Krankenhausbilder, das ihr Mann wenige Augenblicke nach der überaus anstrengenden und schmerzhaften Geburt von ihr und ihrem kleinen Baby gemacht hatte. Sie erinnerte sich an den Stolz, der Tom aus den Augen geleuchtet hatte, doch ehe sie wieder in ihre Lethargie zurücksank, setzte sie sich ruckartig auf und schlug sich mit der flachen Hand fast ein wenig zu heftig auf den Oberschenkel.

„Schluss jetzt, Heulsuse, reiß dich zusammen. Tom hat dir eine Botschaft hinterlassen.“

Wahrscheinlich versuchte Sophie unbewusst, eine Beschäftigung zu finden, um sich von ihrer Trauer abzulenken. Und Toms Botschaft kam da gerade recht. Sie wusste zwar nicht, was sie sich von dieser Botschaft erwartete, aber sie wusste, dass Tom nie etwas ohne Grund getan hatte. Er hatte ihr etwas hinterlassen und sie würde herausfinden, worum es sich handelte. Als Erstes zog sie die Vorhänge zur Seite und öffnete zwei Fenster. Es war Spätfrühling, doch die Abendluft war noch kühl. Unter ihrem Haus lag eine Wiese, die bereits voller Blumen stand, und Sophie sog den würzigen Geruch der blühenden Blumen und Kräuter durch ihre Nase. Sie riss alle Fenster auf und der muffige, stickige, abgestandene Dunst, der in ihrem Haus lag, wurde unmittelbar durch die frische, ländliche Frühlingsluft ersetzt. Ihr kam es so vor, als würden auch die Nebel, die über ihrem Geist gelegen hatten, durch die frische Luft vertrieben, und erstmals seit Toms Tod schien sie wieder frei zu atmen. Nach einer Weile schloss sie die Fenster wieder und ging zum Telefon. Sie wählte die Nummer, die ihre Mutter ihr gegeben hatte, und eine sympathische Frauenstimme meldete sich, die Sophie bekannt vorkam.

„Hallo?“

„Hallo, mein Name ist Seraph, Sophie Seraph. Mein Mann ist vor wenigen Tagen auf Ihrer Abteilung gestorben.“

Auf der anderen Seite herrschte betretenes Schweigen.

„Hallo Frau Seraph, mein Beileid, was kann ich für Sie tun?“

„Danke, man hat mir gesagt, Sie hätten noch persönliche Gegenstände meines Mannes für mich verwahrt.“

Wieder schwieg ihr Gegenüber und nach einer Weile glaubte Sophie, ein unterdrücktes Schluchzen zu hören.

„Hallo?“, fragte Sophie zögernd nach.

„Entschuldigung, Frau Seraph, die Geschichte ist nur so traurig. Ja, ich habe noch die persönlichen Gegenstände Ihres Mannes hier. Wenn Sie mir Ihre Adresse nennen, bring ich sie Ihnen gleich vorbei.“

„Das wäre sehr nett“, sagte Sophie, „aber Sie brauchen sich keine Umstände zu machen, es reicht auch in den nächsten Tagen.“

„Nein, nein, kein Problem, das bin ich Ihnen schuldig“, sagte Schwester Barbara. „Ich hätte die Dinge eigentlich nicht mitnehmen dürfen, aber ich wollte sie nicht unserem Arzt überlassen, ich fand es irgendwie nicht richtig, aber bitte sagen Sie es ihm nicht, ich verstoße hier gegen meine Vorschriften.“

Sophie überlegte kurz und nannte schließlich ihre Adresse. Nach kurzer Zeit klingelte es an der Tür und Sophie öffnete. Fast hätte sie Schwester Barbara in ihrer Zivilkleidung nicht wiedererkannt. Das kleine, hübsche Gesicht war unter einer Baseballmütze versteckt und der massige Körper steckte in einem Trainingsanzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Über dem Anzug trug Schwester Barbara eine sportliche Jacke, die mehrere Nummern zu groß zu sein schien und die Schwester Barbara noch unförmiger erscheinen ließ. Sophie bat Barbara hinein, doch diese lehnte ab. Sophie bemerkte, dass Barbara sich immer wieder nervös umblickte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und blickte in die dunklen Augen, die einen etwas gehetzten Ausdruck hatten.

Barbara überlegte kurz.

„Ja, ich denke schon“, sagte sie nach einer Weile. „Ich hatte ein komisches Gefühl, als ob mich jemand verfolgen würde. Ist wahrscheinlich die Nervosität, wie gesagt, ich verstoße hier gegen mehrere interne Vorschriften und möchte meinen Job nicht verlieren.“

Sie überreichte Sophie ein Paket, das in braunes Packpapier eingewickelt war.

„Hier, bitte, und entschuldigen Sie noch mal. Ich lasse Sie jetzt allein. Mein Beileid noch mal. Ich hoffe, Sie werden schnell wieder glücklich.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte zu ihrem wenige Meter entfernten Auto. Weder sie noch Sophie bemerkten den Mann, der zwei Häuser weiter stand und die Szene aus sicherer Entfernung beobachtete.

Sophie schloss die Tür hinter sich und ging in ihr Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich in Toms Lieblingssessel und strich gedankenverloren über die abgewetzten Lederlehnen. Die Einsamkeit übermannte sie wieder und schnürte ihr den Atem ab.

„Schluss jetzt, öffne das Paket“, ermahnte sie sich und kehrte aus ihrem Abgrund zurück. Mit einer ruckartigen Bewegung riss sie das Paket auf und fand darin die Gegenstände, die sie aus dem Krankenhaussafe kannte.

„So, jetzt wollen wir mal sehen, was ihr mir zu sagen habt.“ Sophie merkte, dass sie laut gesprochen hatte. Vielleicht war sie ja tatsächlich ein wenig durchgedreht. Aber schließlich hatte sie ja ein Recht darauf, schräg und eigenartig zu sein. Schließlich hatte sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich.

Verstört über ihre ungewöhnlichen Gedanken, nahm sie die Uhr in die Hand und drehte und wiegte sie. Sie hatte die Uhr zwar oft gesehen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals in der Hand gehalten zu haben. Eigentlich seltsam, Tom war normalerweise kein Ordnungsfanatiker und sie hatte oft hinter ihm herräumen müssen. Seine Uhr hatte er immer in seinen Uhrenschrank gelegt oder angezogen. Sie kontrollierte alle Seiten nach verborgenen Knöpfen, fand aber nichts. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass die Unterseite der Uhr aus zwei dünnen Blechblättern bestand, die jeweils bis zur Mitte der Uhr reichten. Als Sophie auf die Mittelnaht drückte, sprangen beide Hälften auf und darunter kam ein seltsames Symbol zum Vorschein. Es war eingraviert und stellte eine verfremdete Hand dar. Im Inneren der Hand war ein Zifferblatt abgebildet. Jedem Finger war eine Ziffer zugeordnet. Unterhalb der Hand entdeckte Sophie einen Schriftzug in einer seltsamen, verschnörkelten Schriftart. Ziffer für Ziffer!

Ziffer für Ziffer! Was sollte sie jetzt damit anfangen? Relativ schnell fielen ihr die seltsamen Bewegungen ihres Mannes ein, die er an ihrer Hand vollführt hatte. Mittelfinger – kleiner Finger – Mittelfinger – Ringfinger – Mittelfinger. Wenn die Verbindung von Toms letzter Bewegungen zur Uhr stimmte, bedeutete das 9-4-5-4-9. Super. Und was sollte das jetzt bringen? Sophie begann mit den Einstellungen der Uhr zu spielen. Sie bewegte den großen Zeiger von der Neun zur Vier, Fünf, Vier und wieder zur Neun.

Nichts passierte.

Dasselbe machte sie mit dem Stundenzeiger.

Wieder nichts.

Gedankenverloren drehte sie an den Rädchen für die Zeiteinstellung. Als sie zufällig in die verkehrte Richtung drehte, bemerkte sie, dass plötzlich der Stunden- und der Minutenzeiger gemeinsam über das Zifferblatt wanderten.

Ach ja, das hatte sie ganz vergessen. Toms verrückte Uhr. Manchmal hatte Tom gedankenverloren an seiner Uhr herumgespielt und Sophie hatte die gemeinsam über das Zifferblatt huschenden Zeiger bemerkt. Oft hatte sie Tom darauf hingewiesen, dass mit der Uhr etwas nicht stimmte, dass er sich doch eine neue kaufen sollte. Doch er hatte sich nie darauf eingelassen und sie nur angelächelt.

War das vielleicht die Lösung?

Mit nervösen Fingern drehte sie beide Zeiger über das Zifferblatt. 9-4-5-4-9.

Klick!

Ein metallisches Geräusch erfüllte den Raum. Sophie wagte kaum zu atmen. Ihre Hand zitterte, als sie den kleinen Bolzen zurückzog, der aus der Seite der Uhr gesprungen war. Sophie betrachtete das kleine Metallstück. Auf den ersten Blick schien nichts Besonderes daran zu sein. Doch Sophie entdeckte schnell eine Gravur auf der Unterseite: 22.10.1986.

Tränen traten in ihre Augen und flossen warm über ihre Wangen. Dieses Datum erinnerte sie mit einem Schlag an die wohl schönste Zeit in ihrem Leben. An diesem Tag hatte Tom ihr einen absolut unerwarteten Heiratsantrag gemacht. Sie waren in ein Wellnesshotel gefahren, hatten den ganzen Tag relaxt und am Abend kniete er dann wie aus heiterem Himmel mit einem wunderschönen Ring vor ihr.

22.10.1986.

Sophie wischte die Tränen von ihren Wangen. Sicher hatte Tom die Gravur nicht angefertigt, um dieses Datum nicht zu vergessen. Es musste der nächste Baustein in Toms Botschaft sein. Sophie öffnete den Terminplaner. Der Planer war mit normalen Blättern für das Jahr 1989 gefüllt. Sophie blätterte zum Oktober. Ja, da war es. Zwischen 22. und 23. Oktober 1989 war das gesuchte Blatt mit dem 22. Oktober 1986 eingelegt. Tom hatte dort den ganzen Plan des Heiratsantrages aufgelistet. Von langer Hand geplant war alles gewesen. Sogar die Funktelefonnummer eines Masseurs war dort angegeben.

Hier stutzte Sophie.

An diesem Tag hatten weder sie noch Tom eine Massage gehabt.

Erneut zitterten ihre Finger, als sie das Funktelefon nahm und die Nummer wählte. Während sie die letzte Nummer eingab, ertönte erneut ein metallischer Klick! Und die Rückseite des Funktelefons fiel mit einem lauten Knall auf den Parkettboden.

Sophie drehte das Funktelefon um.

Nichts.

Ein ganz normales, zugegeben exklusives und von Tom wegen seiner Liebe zur Technik verehrtes Funktelefon.

Sophie entfernte den Batterieblock. Und endlich wurde sie fündig. Im Zwischenraum zwischen Akku und Tastatur hatte Tom einen kleinen Schlüssel in eine anscheinend extra dafür angefertigte Vertiefung gelegt.

Und Sophie erkannte sofort, was dieser Schlüssel aufsperren konnte. Toms Kiste der verborgenen Wünsche. So hatte er diese hässliche Metallkiste genannt, die er immer in der Nähe seines Bettes aufgestellt hatte und die er wie seinen Augapfel hütete. Sie hatte Tom oft gefragt, was eine alte Metallkiste sollte, zu der man keinen Schlüssel hatte. Doch er hatte in seiner üblichen charmanten Art nur gelächelt und gesagt, sie sehe doch speziell aus, so speziell, dass sie zu einem schrägen Vogel wie ihm passe.

Es gab also einen Schlüssel. Doch was war in der Kiste? Tom hatte diese Metallkiste sicher seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet. Damals hatten sie die Kiste als Unterlage für ihre Lieblingsorchidee verwendet und ihr wäre es aufgefallen, wenn man sie bewegt hätte. Orchideen sind nämlich schnell beleidigt, wenn man mit ihnen herumhantiert. Und diese spezielle Orchidee starb schon fast, wenn man sie nur schräg ansah und nicht mit dem ihr gebührenden Respekt behandelte.

Also, was war in der Kiste?

Kurzerhand beschloss Sophie, die Orchidee zu opfern. In hohem Bogen flog die geliebte Pflanze auf den Komposthaufen im Hinterhof. Unter der Orchidee kam die verstaubte Metallkiste zum Vorschein. Sophie steckte den Schlüssel in die kleine Öffnung des eingearbeiteten Schlosses, drehte ihn zuerst vorsichtig, dann, als sie merkte, dass das gesamte Schloss uralt und demzufolge verrostet war, mit zunehmender Gewalt. Unter Aufbietung ihrer letzten Reserven gelang es ihr schließlich, den Schlüssel umzudrehen, und sofort sprang der Deckel der Kiste hoch.

Vorsichtig öffnete sie den Deckel und betrachtete den Inhalt. In der knapp 40 Zentimeter breiten und 50 Zentimeter langen Kiste gab es nur zwei Gegenstände: ein altes Notizbuch, das aufwendig in Leder gebunden war und mit zwei goldverzierten Schnallen zusammengehalten wurde, und einen Brief, der zwar ebenfalls auf Pergament geschrieben war, allerdings eindeutig jüngeren Ursprungs war.

Sophie versuchte die Schnallen zu öffnen, doch sie scheiterte. So viel sie auch suchte, sie fand keine Schlüssellöcher oder Drücker, die für das Öffnen des Buches vorgesehen sein konnten. Die Schnallen waren mit seltsamen Symbolen verziert, die Sophie noch nie gesehen hatte. Kurz überlegte sie, ob sie das Buch einfach aufreißen sollte, auch wenn ihre Kraft dafür wohl kaum reichen würde, doch sie entschied sich, vom Versuch abzusehen, da sie ansonsten riskieren würde, das anscheinend uralte und wahrscheinlich wertvolle Buch stark zu beschädigen. Sophie legte das Buch weg und besah sich das Briefkuvert genauer. Es handelte sich um wertvolles, allem Anschein nach echtes Pergamentpapier ohne besondere Verzierungen. In der Mitte des Kuverts waren mit Toms unverkennbarer eleganter Handschrift die Worte „für Sophie“ geschrieben.

Erneut brach ein Weinkrampf über Sophie herein. Ein paar Tränen tropften auf das Kuvert, prallten aber an der imprägnierten Oberfläche des Pergaments ab, ohne Schaden anzurichten.

„Tom“, schluchzte sie. „Wie soll ich ohne dich leben?“

Ihre ganze Verzweiflung entlud sich in einem Meer aus Tränen. Kraftlos sank sie in Toms Sessel, nahm eine Decke und vergrub ihr Gesicht darin. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte, ehe sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.

Der Brief!

Toms letzte Botschaft an sie. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen aus ihren geschwollenen Augen und öffnete vorsichtig den Umschlag. Toms Nachricht war auf die Innenseite des Pergamentkuverts geschrieben und mit wachsender Anspannung überflog sie diese:

Liebste Sophie,

wenn du diese Zeilen liest, heißt das, dass ich nicht mehr am Leben bin. Dieser Brief ist sozusagen meine Versicherung, dass meine Ziele und das, wofür ich gelebt habe, nicht mit mir begraben werden. Es freut mich, dass es dir gelungen ist, die Spurensuche zu meinem kleinen Versteck zu lösen. Falls ich dir nur unvollständige Anweisungen habe geben können, tut es mir leid, aber ich musste das Geheimnis schützen. Und so leid es mir tut, ich kann dir auch nicht sagen, um welches Geheimnis es sich handelt. Du wirst mich wahrscheinlich nicht verstehen, aber ich muss dich, nachdem ich dich nun mit unserem Kleinen allein gelassen habe, mit drei wichtigen Aufträgen betrauen.

Ich bitte dich, diese Aufträge in der von mir aufgeführten Reihenfolge durchzuführen. Nur so hat mein Leben einen Sinn gehabt.

Bevor Sophie weiterlesen konnte, musste sie erneut heftig weinen. Sie konnte den Brief in keiner Weise einordnen. Was sollte der Kram von Geheimnis, Aufträgen und Lebenssinn? Wie konnte Tom ein großes Geheimnis haben, wo er doch nicht mal zwei Tage ein Geschenk vor ihr geheim halten konnte? Sie konnte sich auf alles absolut keinen Reim machen und beschloss daher, weiterzulesen:

1. Bitte sorge dafür, dass unser Sohn zu einem anständigen Menschen heranwächst und seinen Vater kennt.

2. Wenn er 21 wird, übergib ihm bitte das Buch, das du in der Kiste gefunden hast. Sag ihm, er soll damit zu meinem Freund Gerd Gasser gehen, er wird ihm helfen, es zu öffnen und zu verstehen.

3. Sorge dafür, dass Noah nicht den Glauben an das Licht verliert.

Ich weiß, du hättest jetzt sicher hundert Fragen an mich, und nichts täte ich lieber, als mit dir in meinem Sessel zu liegen und stundenlang zu quatschen, wie wir das so oft getan haben, doch leider ist das nicht mehr möglich und ich kann dir nichts mehr sagen.

Nur eines noch, Sophie, bitte halte mich in guter Erinnerung und versuche, auch ohne mich wieder glücklich zu werden. Aber sei vorsichtig, überall lauern Gefahren, wenn man weiß, wer und was ich war und wer und was du bist. Achte gut auf dich und auf unseren Kleinen und vergiss nie:

Ich habe dich geliebt, ich liebe dich und ich werde dich immer lieben,

dein Tom

Sophie hatte die letzten Zeilen durch einen Tränenschleier gelesen. Der Brief war zu viel für sie. Wie in Trance packte sie das Buch wieder in die Metallkiste, verstaute alles im Dachboden, ging in das Badezimmer und öffnete eine Schachtel der Tabletten, die ihr der Arzt für Notfälle hiergelassen hatte. Sie schluckte eine Tablette und setzte sich vor den Fernseher.

Den Schlüssel zur Kiste aber hängte sie an ihre silberne Kette, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr ununterbrochen um ihren Hals getragen hatte. Während die betäubende Wirkung der Tabletten langsam einsetzte, umklammerte sie den Schlüssel mit ihrer Hand, so fest, dass sich die Spitzen des Bartes in ihre Hand eingruben und blutige Wunden hinterließen. Sie schaltete den Fernseher ein und legte sich wieder in Toms Sessel. Nach kurzer Zeit war sie eingedöst und in einen unruhigen Schlaf gesunken. Als sie kurz hochschreckte, liefen gerade die Nachrichten mit einer Eilmeldung. Eine junge Frau aus der Umgebung war anscheinend mit ihrem Auto ganz in ihrer Nähe aus unerfindlichen Gründen von der Straße abgekommen, in den Fluss gefallen und ertrunken. Sophie wusste, dass sie diese Meldung eigentlich berühren sollte, besonders als sie ein bekanntes Gesicht einer dunkelhaarigen, übergewichtigen, jungen Frau erkannte, das als Unfallopfer gezeigt wurde, doch eine unsägliche, kalte Schwere hatte sie erfüllt und sie war zu keiner aktiven Reaktion mehr fähig. Sie schloss erneut die Augen und sank endlich in einen tiefen Schlaf.

2. Kapitel

Noah war sich nicht sicher, ob er sich auf seinen 21. Geburtstag freuen sollte. Die letzten … er zählte in Gedanken zurück … ja, sicher zehn Geburtstage waren ein einziges Fiasko gewesen, und meistens war er sogar unschuldig daran. Er erinnerte sich noch gut an seinen zwölften Geburtstag, als seine Mutter, angetrunken wie häufig in jener Zeit, mit der Torte in das Wohnzimmer kam, in dem er mit seinen drei besten Freunden saß, und sich mit den wie immer zu hohen Stöckelschuhen im Teppich verhedderte. Es war ein geradezu skurriler Anblick gewesen, wie sie der Länge nach mit dem Gesicht voraus auf den Boden knallte, leicht gebremst von der Torte, die sich zwischen den Boden und ihr Gesicht drängte.

Im ersten Moment hatte er nicht sehen können, ob es Marmeladenfüllung war, die aus der Torte auf den Boden rann, oder ob seine Mutter, die keine Regung machte, blutete. Nach kurzer Zeit erkannte er, dass die zweite Annahme richtig war. Da sein Vater, oder besser gesagt, Stiefvater, natürlich mal wieder auf einem Ärztekongress war, musste er die Notrufzentrale verständigen und verbrachte den Rest seines Geburtstages in der Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses, wo ihn alle Schwestern und Pfleger bereits kannten.

Oder sein 16. Geburtstag. Das war jener verhängnisvolle Tag, als Noah seine erste Freundin mit nach Hause nahm. Zwar war seine Mutter diesmal nicht betrunken, allerdings hatte sie eine hohe Dosis der Beruhigungstabletten geschluckt, die sie periodisch alle zwei bis drei Monate von seinem Stiefvater verabreicht bekam. So registrierte sie nur am Rande, dass Noah ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, dafür registrierte es sein Stiefvater umso intensiver. Den ganzen Nachmittag über versuchte er, in die Nähe von Noahs Freundin zu gelangen, um sie „unauffällig“ mit seinen schmierigen Händen zu begrapschen. Alter geiler Bock. Was seine Mutter nur an diesem sogenannten Superdoktor, dem Herrn Starchirurgen persönlich, gefunden hatte, der außer seiner professionellen Perfektion eine absolut schändliche Persönlichkeit aufwies und seine Mutter einfach nur wie Dreck behandelte. Ganz zu schweigen von den vielen Affären mit kaum volljährigen Mädchen, die er sich immer wieder leistete und von denen Noah wusste, im Gegensatz zu seiner Mutter, die diesen Umstand konsequent ignorierte.

Der Tag hatte so geendet, dass Noahs Freundin von den vielen Anmachversuchen seines Stiefvaters genervt das Haus verlassen hatte und Noah von diesem Tag an nicht mehr beachtete, während sein Vater mit einer in den engen Trainerhosen allzu sichtbaren Erektion in sein Büro verschwand, von wo man ihn kurze Zeit später heftig stöhnend masturbieren hörte.

Und nun also Geburtstag Nr. 21. Er wusste nicht, ob ihn die Tatsache, dass er nun auch in Amerika Alkohol kaufen konnte, ihn voller Vorfreude stimmen sollte, zumal er sich eigentlich nicht viel aus Alkohol machte. Er experimentierte lieber mit anderen Grenzerfahrungen. So liebte er es, in der Badewanne so lange unterzutauchen und die Luft anzuhalten, bis er beinahe die Besinnung verlor. Wenn er dann aus dem Wasser auftauchte, genoss er diesen ersten Atemzug und das darauf folgende Gefühl der Schwere, das seinen Kopf durchströmte, und fühlte sich in einem rauschähnlichen Zustand. Man sagt zwar, dass dabei jedes Mal Hirnzellen absterben, aber er hatte gehört, dass man sowieso nur 15 Prozent seines Gehirns nutzte, und bis 85 Prozent seiner Zellen abgestorben waren, konnte er noch einige Male untertauchen. Außer es starben die 15 Prozent aktiven Zellen, dann war es wieder schlechter.

Shit happens, dachte er bei solchen Gelegenheiten, was soll man sich Sorgen machen. So schön war sein Leben hier nun auch nicht.

Ein weiterer ungewöhnlicher Zeitvertreib war sein Drang zu Dauerläufen. Und unter Dauerläufen verstand er alles, was über 20 bis 25 Kilometer ging. Fast jeden zweiten Tag, sofern es sein Studium zuließ, verbrachte er beim Laufen im Gelände. Drei bis vier Stunden lief er über Stock und Stein, bis auch hier die Ausschüttung der Endorphine begann und er nahe der Erschöpfungsgrenze sein Bewusstsein erweitern konnte.

Positiver Nebeneffekt dieser zweiten Sucht war ein gestählter Körper, inklusive Sixpack. In Kombination mit seinen regelmäßigen Zügen, seinen braunen, gewellten Haaren und seinen philosophisch tiefgründigen dunkelblauen Augen führte ihn sein Äußeres von einem amourösen Abenteuer zum nächsten. Seine Mutter meinte immer, er habe sein Äußeres von seinem Vater, und wenn er sich mit der Fotografie verglich, die Mutter bei ihrer ersten Hochzeit zeigte, erkannte er sich von Jahr zu Jahr mehr in diesem geheimnisvollen Mann im olivgrünen Anzug wieder.

Noah betrachtete sich im Spiegel und hielt das Foto seines Vaters daneben. Er drehte seinen markanten Unterkiefer zur Seite, um in derselben Position zu sein wie sein Vater auf dem Foto. Zumindest das Kinn hatte er definitiv von seinem Vater, bei ihnen beiden war es groß und etwas vorstehend, allerdings nicht so stark, dass es seine ansonsten ebenmäßigen Züge verunstaltet hätte. Volle Lippen und regelmäßige, strahlend weiße Zähne lächelten ihn aus dem Spiegel an und er war selbstsicher genug, die gewinnende Ausstrahlung zu registrieren, die von ihm ausging. Das also sahen die vielen Mädchen, wenn sie ihm so schwärmend in die Augen blickten. Ja, seine Augen. Dunkelblau, tiefgründig. Marke „Können diese Augen lügen?“. In Kombination mit seinem Charme, seinem athletischen, 1 Meter 86 großen, männlichen Körper waren sie der Untergang für jede noch so zurückhaltende Frauenseele. Und bescheiden war er auch. Er grinste bei dieser Gedankenkombination und blickte auf die Fotografie seines Vaters.

Es war schon eigenartig. Er hatte seinen leiblichen Vater nicht gekannt. Er musste circa ein Jahr alt gewesen sein, als er bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Aber trotzdem fühlte er sich diesem Mann sehr verbunden. Sicher war die Tatsache, dass er eine genetische Übereinstimmung mit ihm hatte, mitverantwortlich dafür, doch er wusste, da war mehr. Oft schon hatte er seine Mutter in ihren wenigen klaren Momenten gefragt, wie denn der Unfall zustande gekommen war, was sein Vater für ein Mensch gewesen sei, aber seine Mutter hatte ihm nie Auskunft gegeben. Die einzige Antwort, die sie je zu diesem Thema gegeben hatte, war, „Er hat dich geliebt, mehr als alles andere auf der Welt“. Aber das war’s auch schon. Sein Stiefvater war da schon mitteilsamer.

„Tom war ein Taugenichts. Ein Trinker. Und er hatte zwei Promille im Blut, als er in meinen Operationssaal gebracht wurde. Ich konnte nichts mehr für ihn machen.“

Unaufgefordert wiederholte er diese Geschichte fast täglich, so als ob er sie in Noahs Gedächtnis brennen wollte.

„Frank, das stimmt doch nicht“, war ihm seine Mutter einmal ins Wort gefallen.

„Wag es nicht, mich einen Lügner zu nennen“, hatte Noahs Stiefvater sie angefaucht. „Du kannst froh sein, dass ich dich von diesem Versager befreit habe. Ohne mich wärst du heute in der Klapse.“

Auch diesen Umstand gab Dr. Frank Bernstein, Noahs Stiefvater, im privaten und manchmal auch öffentlichen Umfeld regelmäßig zum Besten. Besonders wenn sie in geselliger Runde waren und er ein paar Gläser zu viel getrunken hatte, polterte er gerne über den Nichtsnutz, der sein Vater in seinen Augen gewesen sein musste.

Noah hatte sich schon früh entschieden, seinem Stiefvater nicht zu glauben. Auch hier wusste er nicht, warum, aber allein die Tatsache, wie verwerflich Frank mit seiner Mutter umging und sein Leben führte, war kein guter Leumund für Aussagen über den Exmann seiner Frau, Noahs Mutter.