Die Verdammten - Benno Pamer - E-Book

Die Verdammten E-Book

Benno Pamer

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Beschreibung

Der zweite Teil der Seraphim-Saga nimmt das Tempo des ersten Teils auf und erzählt tiefgründig und facettenreich die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in einem Spiel zwischen Pflichtbewusstsein, Machtstreben und Lust gefangen sieht und niemanden mehr trauen kann, nicht einmal seiner großen Liebe.

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Seitenzahl: 494

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Zum Buch

Schreckliche Träume und Visionen brechen in den Alltag des jungen Seraphim Noah. Und immer wieder enden sie mit den Worten: „Hilf uns!“ Noch kann Noah die Zeichen aus der Vergangenheit nicht deuten, aber er spürt, dass die Zeit gekommen ist, sich als einer der ranghöchsten Engel seinem Auftrag zu stellen: dem Kampf gegen das Böse. Gemeinsam mit seiner Freundin Mirjam macht er sich auf die Suche nach der uralten Vereinigung der Verdammten, die sich im Streit um die Vorherrschaft auf der Erde sowohl Engeln als auch Dämonen entgegenstellt. Sie führt das Paar auf die grausamen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und später nach Paris, wo Noah in die inneren Kreise islamistischer Attentäter vordringt. Mehr und mehr entwickelt sich das rauschhafte Abenteuer für den Engel zu einer Suche nach sich selbst und zu einem harten Ringen mit seiner eigenen dunklen Seite.

Zum Autor

Benno Pamer, geboren 1977, diplomierter Kommunikationsdesigner, Vertriebsleiter eines internationalen Baustoffunternehmens. „Seraphim. Der Verrat“ und „Seraphim. Die Verdammten“ sind der erste und zweite Band seiner Fantasy-Trilogie.

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.

© Retina, Bozen 2017

Umschlag: Benno PamerUmschlagbild: iStock.com/lisegagneDruckvorstufe: Typoplus, FrangartLektorat: Senta Wagner, WienKorrektur: Ex Libris Genossenschaft, BozenPrinted in Europe

ISBN 978-88-99834-01-2ISBN E-Book 978-88-99834-07-4

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.retina-verlag.com.Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected].

Retina ist ein Imprint der Edition Raetia.

Benno Pamer

Seraphim

DIE VERDAMMTEN

Meinen Eltern, die mich lehrten, die Kraft meiner Fantasie zu erkennen und zu nutzen

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Dank

1. Kapitel

Ein lauter Knall weckte ihn aus seinem unruhigen Schlaf. Er schrak hoch und stieß sich dabei den Kopf an der Pritsche über ihm. Staub und der Geruch von Pulverdampf hingen in der Luft. Im ersten Moment hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Erst langsam schwanden die Bilder seines verstörenden Traumes und er erkannte, dass er sich in großer Gefahr befand. Der Einschlag hatte sehr nahe geklungen und er musste nachsehen, ob seine Kameraden, die Wache hielten, unversehrt waren. Stöhnend erhob er sich von seinem Lager. Der Raum, in dem er sich befand, war kaum zehn Quadratmeter groß, bot aber drei Stockbetten mit je zwei Pritschen und einer improvisierten Kochstelle Platz. An den Wänden hingen mehrere Regale, gefüllt mit Konserven und Trockennahrung. Dazwischen fanden sich mehrere Metallboxen, in denen die Munition für unterschiedliche Waffenkaliber und Handgranaten säuberlich geordnet und, was besonders wichtig war, trocken lagerten. Die Wände waren weiß und kalt. Der Raum war in einen Gletscher gehauen, weshalb alles mit einer dünnen Eisschicht überzogen war.

Erst jetzt bemerkte er, dass es ihn in seiner dünnen Uniform fröstelte. Er nahm eine dicke Wolljacke und zog sie über. Als er aufstand, durchzuckte ihn ein starker Schmerz, kurz drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Erschauernd blickte er auf den dicken Verband an seinem linken Unterschenkel, auf dem ein großer roter Fleck eingetrocknet war. Augenblicklich wurde er wieder feucht und das Bein begann zu pulsieren.

Langsam humpelte er zum Ausgangsloch, zog dicke Handschuhe an und schob die vereiste Holztür zur Seite. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen und in Sekundenbruchteilen bedeckten Eiskristalle seine Augenbrauen und den buschigen Bart, den er sich zum Schutz vor Erfrierungen hatte wachsen lassen. Ihre Stellung befand sich in steilem Gelände, kurz unterhalb eines kleinen Eisgipfels, der die umliegenden Anhöhen um mehrere Meter überragte. Um zu seinen Kameraden zu gelangen, musste er eine wackelige Holzleiter hinabsteigen, deren einzelne Sprossen mit einer dicken und rutschigen Eisschicht überzogen waren, und einem schmalen schneebedeckten Pfad folgen, der um einen Felsvorsprung führte und die Sicht auf den Wachposten nahm. Er schaute kurz in die Tiefe und der Anblick von vierhundert Metern Nichts schnürte ihm nach all der Zeit immer noch die Kehle zu.

Sein Schritt wurde immer schwerer, mit letzter Kraft bog er endlich um den Felsen und versuchte etwas zu erkennen. Trotz schlechter Sicht sah er, dass etwas nicht stimmte. Der Wachposten am Geschütz, das ebenfalls ins Eis geschlagen war und leicht erhöht über dem schmalen Pfad lag, hatte seine Hände zwar dort abgelegt, sein Körper aber war seltsam verrenkt. Langsam näherte er sich dem Posten und erstarrte. Auf dem Rücken des Mannes breitete sich ein dunkler Fleck aus, der mit kleinen Eiskristallen durchzogen war. Der Mann war tot. Gehetzt blickte er sich um. Wo waren die anderen? Ihre Einheit bestand aus sechs Gebirgsjägern und er war der Einzige, der wegen seiner Verletzung die Gefechtsstellung verlassen hatte, um zu Kräften zu kommen. Er konnte in den umliegenden Vertiefungen im Eis, den Schussstellungen, niemanden entdecken. Erst nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass aus der Wunde des toten Schützen eine historische Holzlanze ragte. Kein Schrapnell, keine einfache Austrittswunde eines Gewehrschusses. Nein, eine Lanzenspitze aus Eisen mit einem Teil des hölzernen Schaftes. So etwas hatte er im Verlauf des Krieges noch nie gesehen. Er robbte in gebückter Haltung zu dem Toten und versuchte vergeblich mit vor Kälte zitternden Händen, seinen Kameraden von dem Geschütz wegzuziehen, an dessen Abzug sich die starren Finger gekrallt hatten. Trotz der frostigen Temperaturen stieg ihm plötzlich ein intensiver Geruch in die Nase. Er konnte ihn nicht deuten, doch ging er eindeutig von der Brust des Soldaten aus, aus der ein kleiner Teil der Lanze ragen musste. Umständlich beugte er sich vor und prallte angewidert zurück. Rund um das Austrittsloch waberte eine weiße, übelriechende Masse aus kleinen Maden, die bereits ein zehn Zentimeter großes Loch in die Kleidung des Mannes und einen tiefen Krater in die nackte, gefrorene Brust gefressen hatten. Der Verwesungsgeruch war ekelerregend. Die ganze Situation war vollkommen unwirklich: Maden konnten bei solchen Temperaturen nicht überleben und Gerüche werden normalerweise unter minus zwanzig Grad auch kaum wahrgenommen.

In diesem Moment wurde er aus dem Nichts von zwei starken Armen in die Höhe gehoben und zurück auf den Pfad geschleudert. Dort landete er unsanft und schlug mit dem Kopf an eine Eiswand. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, holte ihn ein Schmerz wieder in die Wirklichkeit zurück. Doch nicht der Schmerz seines Kopfes oder seines Beines – es war der uralte Schmerz, den er seit einigen Monaten tief in seiner Seele fühlte. Den Schmerz der Verzweiflung. Jetzt verstand er, warum die Waffe in seinem Kameraden steckte und dass sie das Symbol der Verdammten trug. Eingeritzt in den alten, heiligen Stahl und geschleudert mit dem Ziel zu vernichten. Doch das Ziel war das falsche und er war gewiss, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Er zögerte einen Augenblick, schließlich öffnete er die Augen und erblickte seinen Feind vor sich. Groß, breitschultrig und bedrohlich stand sein uralter Widersacher keine zehn Meter vor ihm. Mit einem triumphierenden Lächeln sah er ihn aus feurigen Augen an. Das Böse umströmte ihn und der Soldat verspürte sofort die fremde Bedrohung, die von ihm ausging. Mühsam erhob er sich, ohne dass sein Gegner ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ. Er zückte langsam den Revolver, den er in seinem Pistolenhalfter trug, und richtete die Waffe auf den Mörder seines Kameraden. Dreimal zielte er auf dessen Stirn.

Der Riese machte keine Bewegung. Wie von Geisterhand prallten die Kugeln von ihm ab und fielen wirkungslos in den Schnee. Er lachte hämisch und näherte sich dem Soldaten. Es gab keine Rettung mehr. Wie das Kaninchen vor der Schlange stand er regungslos da und beobachtete machtlos die Bewegungen seines Gegners. Es schien Stunden zu dauern, bis ihn der finstere Dämon erreicht hatte und ihm seine Klauen wie Schraubstöcke um den Hals legte. Der Soldat wehrte sich nicht, unternahm es jedoch mit letzter Kraft, seine Gedanken zu ordnen und das Geheimnis, das er seit seiner Erwählung bewahrt hatte, tief darin vor seinen Feinden zu verbergen. Doch es war zu spät. Aus den Augen des Dämons war eine fremde Energie auf ihn übergegangen, die ihn wie Spinnfäden umschloss und so Besitz von ihm ergriff. Bevor er unter ihrem Gewicht zu ersticken drohte, unterdrückte der Soldat den Schmerz und versuchte das Geheimnis zu vernichten.

„Lass nicht zu, dass sie es erfahren!“, befahl er sich immer wieder und es gelang ihm, dem Eindringen der Fäden Einhalt zu gebieten. Der Dämon stieß einen wütenden Schrei aus und blickte dem Soldaten tief in die Augen.

„Heute kannst du mich vielleicht aufhalten, aber diese Kraft ist zu mächtig für euch. Du opferst dich vergebens. Sie wird euch besiegen.“

Schweißperlen traten auf die Stirn des Soldaten, er war am Ende seiner Kräfte. Mit einem Grunzen drückte der Dämon den Hals seines Opfers zu und beobachtete, wie das Leben aus seinem Körper wich. Ein letztes Mal bäumte sich der Besiegte auf und röchelte:

„Noah … rette uns!“

Schweißgebadet schrak Noah aus dem Schlaf hoch. Er war noch halb im Traum gefangen, und da es stockfinster war, hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Er tastete mit der Hand nach dem Wecker auf seinem Nachtkästchen und drückte auf die eingebaute Beleuchtung. Ein schwaches grünes Licht erhellte den Raum so weit, dass Noah erkannte, wo er sich befand. In seinem Schlafzimmer. Und es war 2 Uhr 31.

„Was ist los? Kannst du nicht schlafen?“

Die schlaftrunkene Stimme neben ihm beruhigte ihn augenblicklich und erfüllte ihn mit einer Welle aus Liebe und Zärtlichkeit. Sie spülte den letzten schalen Geschmack des verstörenden Traumes aus seinem Gedächtnis. Er beugte sich zu Mirjam, die sich neben ihm in den Laken rekelte, und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, den sie schwach erwiderte.

„Ich habe nur geträumt, schlaf weiter. Alles in Ordnung.“

„Okay, mein Großer, schlaf du aber auch.“

Mit diesen Worten drehte sich Mirjam weg und wenige Minuten später erkannte Noah an ihrem regelmäßigen tiefen Atmen, dass sie wieder eingeschlafen war. Das bewunderte er an Mirjam. Während er sich oft stundenlang von einer Seite auf die andere wälzte, bevor er einschlafen konnte, gelang es ihr, einzuschlafen, während sie noch im Begriff war, die Augen zu schließen. Noah grinste bei dem Gedanken und merkte, dass sich sein Kopfkino eingeschaltet hatte und ihn wachhalten würde. Um Mirjam nicht zu wecken, schlüpfte er leise aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Dort roch es angenehm. Sie waren spät zu Bett gegangen und seine Freundin ließ abends ihre Kleidung auf der Ablage neben der Dusche liegen. Der leichte Lavendelduft, der von ihr ausging, hatte sich auf die Kleider übertragen und im ganzen Raum ausgebreitet. Noah sog ihn genüsslich durch die Nase und erinnerte sich an das erste Mal, als er ihn wahrgenommen hatte. Das war inzwischen einige Jahre her. Da fiel ihm auch das Abenteuer ein, das sie im letzten Jahr gemeinsam durchgestanden und das sie beide an ihre Grenzen gebracht hatte. Schnell verdrängte Noah die Gedanken an diese schlimme Zeit und betrachtete sein Spiegelbild. Sein Gesicht war ebenmäßig, tiefblaue Augen blickten ihn aus einem jungen, energiegeladenen Gesicht an, das trotz des unruhigen Schlafes frisch und ausgeruht aussah. Aus seinen Augen strahlte das Licht, das alle Mitglieder seiner Familie besaßen und andere Menschen sofort in ihren Bann zog. Auf den Wangen umspielte ein leichter Flaum die markanten Konturen seines Gesichtes. Sein etwas vorspringendes Kinn machte ihn laut Mirjam männlicher, auch wenn er nicht wusste, ob sie das nur sagte, um ihn zu beruhigen. Lustig machte sie sich aber über den Twenny-Flaum, wie sie seinen spärlichen Bart nannte.

Noah wusste, dass auch sein Körper in Form und gut definiert war. Er hätte ohne Weiteres als Unterwäschemodel arbeiten können, doch hatte er glücklicherweise eine anspruchsvollere Aufgabe auf der Welt gefunden. Er musste das Gleichgewicht zwischen Engeln und Dämonen wiederherstellen. Nach seinem Abenteuer in Syrien musste die ausgeblutete Familie der Engel aufgebaut und einige Gefährten aufgenommen werden. Die Zahl der Engel war so dramatisch gesunken, dass es mehrere Generationen dauern würde, bis sich die Familie wieder komplett erholt hätte. Sein Stiefvater Frank, der Mörder seines Vaters und Verräter der Werte der Engel, war zwar tot, doch hatte sich dies auf das Gleichgewicht in der Welt nur bedingt ausgewirkt. Immer noch beherrschten Tod, Krieg, Mord, Gewalt, Verbrechen und Leid die täglichen Nachrichten und Noah war sich nicht sicher, ob er in seinem Auftrag nicht versagte. Zumal er die letzten Monate mehr darauf verwendet hatte, seine Batterien wieder aufzuladen, die er durch das gefährliche Abenteuer fast vollständig geleert hatte. Er wusste, dass auf Seiten seiner Gegner unzählige mächtige Dämonen in vielen Ländern der Erde am Werk waren und überall, wo sie es schafften, eine Gefahr einzudämmen, quoll an einem anderen Ende das Elend erneut an die Oberfläche. Am meisten beunruhigte ihn zurzeit der unkontrollierte Flüchtlingsstrom, der aus den Ländern Afrikas und Arabiens nach Europa floss und in dessen Umfeld die Saat des Bösen fruchtbaren Boden fand.

„Noah hilf uns.“

Mit voller Wucht drang der Hilfeschrei aus seinem Traum in sein Bewusstsein. Er hatte das Gefühl, dass mehr als ein normaler Traum dahintersteckte. Das Gesicht des Wachsoldaten kam ihm bekannt vor und auch der Riese hatte in ihm eine Saite zum Schwingen gebracht, die er erstmals in einem kleinen Schuppen im Passeiertal wahrgenommen hatte, als ein schrecklicher Dämon namens Belphegor und sein verräterischer Schwiegervater sich anschickten, Mirjam zu vergewaltigen und zu ihrer Sklavin zu machen. Es war eine uralte Angst, die er gespürt hatte, und er wusste, dass auch der sterbende Soldat dieselbe Angst empfunden hatte. Er versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern. Das Leuchten in seinen Augen hatte ihm sofort gezeigt, dass es sich um einen der Ihren gehandelt hatte. Dennoch wusste Noah instinktiv, dass der Traum noch eine wichtige Botschaft barg, die er noch nicht begriffen hatte.

Plötzlich spürte er einen sanften Hauch in seinem Nacken und ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken.

„Steh nicht einfach so nackt im Badezimmer herum. Wenn du schon mitten in der Nacht wach bist, dann können wir die Zeit auch gleich besser nutzen.“

Noah spürte Mirjams straffen, wohlgeformten Köper, der sich an seine Rückseite drückte, und wie auf Knopfdruck waren alle Gedanken an den toten Engel im Gletscher verdrängt. Noah drehte sich um und küsste seine Freundin leidenschaftlich. Mirjam war zwar noch schläfrig, doch erwiderte sie seinen Kuss aktiver als noch zuvor in ihrem Schlafzimmer. Schnell erwachte die Lust und Noah trug Mirjam in ihr Bett, das sie seit dem Abenteuer in Syrien als ewige Gefährten teilten. Die nächsten Stunden verschwanden in einem Reigen aus Leidenschaft und innigster gelebter körperlicher Liebe.

Als Noah am nächsten Morgen am Frühstückstisch saß und wie gewohnt mehrere Minuten lang seinen Kaffee mit einem Löffel umrührte, hatte er die nächtliche Traumsequenz komplett vergessen. Er versuchte munter zu werden und dachte an den bevorstehenden Tag. Auch als mächtigster Seraph musste er ein bürgerliches Leben führen und konnte seine Engelsaktivitäten nur im Verborgenen ausüben. Nach langem Überlegen hatte er sein Studium abgebrochen und sich für ein Leben als Journalist und Pressefotograf entschieden, das es ihm ermöglichte, ohne Rücksicht auf Bürozeiten und Besprechungstermine zu planen und bei Bedarf in Krisensituationen seiner heimlichen Tätigkeit nachzugehen. Auch Clark Kent hatte diese Entscheidung getroffen, dachte er bei sich. Wenn Superman nicht Journalist gewesen wäre, hätte man seine wahre Identität wohl viel früher aufdecken können. Der Vergleich gefiel ihm und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.

Das mit der freien Zeiteinteilung war zumindest die Theorie. Denn seinen neuen Chef bei der Lokalzeitung, für die er erst kürzlich angefangen hatte zu arbeiten, interessierte das herzlich wenig. Herr Dorner war der Inbegriff eines Vorgesetzten der alten Schule mit einem konservativen Weltbild. Penibel genau bei der Kontrolle seiner Mitarbeiter, Hierarchiedenker und Herr über alle Entscheidungen in seinem Reich. Er schaffte es, seine Redakteure wie aufgescheuchte Hühner in der Redaktion herumlaufen zu lassen, wenn er mit der Auswahl eines Titelbildes oder der dazugehörigen Headline nicht einverstanden war, während er im selben Moment ein Bewerbungsgespräch führte und in einem Telefonat mit dem Aufsichtsrat zu den laufenden Quartalszahlen Bericht erstattete. Bei all dem Stress war es ihm trotzdem gelungen, ein stattliches Körpergewicht aufzubauen, und so erreichte er bei einer Größe von 1,90 Meter ein Kampfgewicht von über 150 Kilo. Es machte ihn körperlich zwar etwas schwerfällig, doch beeinträchtigte es in keiner Weise die Schnelligkeit seiner Gedanken. Wieselflink sprang er zwischen den einzelnen Themen hin und her und verblüffte seine jeweiligen Gesprächspartner mit einem unglaublichen Detailwissen. Dabei fixierte er sie mit seinen kleinen Knopfaugen, deren stechender Blick kaum zu ertragen war.

Und genau dieser Herr Dorner hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Noahs Plan von der selbst organisierten Arbeitszeit zu zerstören. Täglich rief er ihn zu Artikelbesprechungen oder Fotodiskussionen zu Themen, die Noah gerade bearbeitete und die in seinen Augen den Qualitätsansprüchen der Tageszeitung nicht entsprachen. Er diskutierte mit ihm über Aufnahmewinkel, über Licht- und Schattenwechsel einer Porträtaufnahme oder zerlegte ganze Artikel für die unwichtigsten Rubriken oder den Lokalteil, der im journalistischen Anspruch ganz unten auf der Qualitätsskala angesiedelt war. Noah hatte von einem Kollegen erfahren, dass Herr Dorner das mit allen neuen Mitarbeitern so machte und sie auf diese Art und Weise einschüchtern und einschätzen lernen wollte. Er hatte also keine Wahl, als sich diesem anstrengenden Prozedere zu unterziehen und es kritiklos über sich ergehen zu lassen. Die Folge war, dass er zwar jeden Tag mit dem Vorsatz aufbrach, auch seiner Geheimaktivität Zeit zu widmen, meist aber abends müde und unbefriedigt nach Hause kam und früher als für einen jungen Mann üblich kraftlos ins Bett fiel.

„Guten Morgen, mein Schatz, trödelst du mal wieder?“

Eine bekannte Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Guten Morgen, Mom, gut geschlafen?“

Nach dem Abbruch seines Studiums waren Mirjam und Noah zu seiner Mutter in das kleine Haus im Passeiertal gezogen und hatten dort ihre Operationszentrale eingerichtet. Die friedliche Idylle des Tales half ihnen dabei, ungestört ihren Aufgaben nachzugehen, und nebenbei war es Noah lieber, seine Mutter nach all den Jahren mit seinem Schwiegervater in seiner Nähe zu wissen. Sie hatte zwar aufgehört zu trinken und auch die Tabletten abgesetzt, doch war das Feuer in ihren Augen noch nicht zur Gänze wieder zurückgekehrt, und Noah war sich nicht sicher, ob es das jemals wieder vollständig tun würde.

Noahs Mutter setzte sich neben ihn an den Tisch und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Hast du heute mal wieder nicht schlafen können?“

„Ja, Mom, ich habe schlecht geträumt. Aber nichts Erwähnenswertes.“

Ihr durchdringender Blick trieb ihm die Schamesröte auf die Wangen. Er mochte es nicht, seine Mutter anzulügen, doch wollte er ihr nichts von seinem seltsamen Traum erzählen.

„Bist du sicher?“

Noah sah sie verwundert an.

„Was meinst du?“

„Ich meine, dass du in letzter Zeit oft aufgewacht bist. Ich höre das. Ich höre dich rufen, aber das, was du rufst, verstehe ich nicht.“

Noah dachte kurz nach. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Mirjam ihm von Schreien berichtet hätte.

„Mom, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich muss los.“

Noah erhob sich, gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und verließ die Küche. Mirjam schien noch zu schlafen, denn die Tür zu ihrem Schlafzimmer war zu. Sie arbeitete im Krankenhaus und hatte heute keinen Dienst, deswegen gönnte er ihr ein paar Stunden Schlaf mehr. Noah machte sich auf in Richtung Bushaltestelle, die sich kaum hundert Meter entfernt von ihrem Haus befand. Angesichts der frühen Stunde waren noch nicht viele Menschen unterwegs, lediglich ein paar Schüler gesellten sich dazu.

Noah genoss die würzige Frühlingsluft, die ihm um die Nase blies. Es war Anfang Mai und morgens war die Temperatur noch etwas frischer, doch stieg sie inzwischen tagsüber schnell auf über 20 Grad, besonders in Meran, wo die Redaktion ihren lokalen Sitz hatte. Heute musste er jedoch in die Höhle des Löwen, nach Bozen in die Zentrale, weil laut Chefredakteur ein paar immens wichtige Entscheidungen über seine zukünftigen Artikel zu treffen seien und er unter allen Umständen um neun Uhr da sein müsse. „Und keine Minute später, Herr Seraph, nicht dass Sie mir wieder das ganze Team mit ihrer Unpünktlichkeit aufhalten“, betonte dieser.

Im Bus stemmte Noah die Knie gegen die Rücklehne des Vordersitzes und schloss die Augen, um die Zeit zumindest für ein kleines Nickerchen zu nutzen. Doch die schwatzenden Schüler um ihn herum ließen keinen Gedanken an Schlaf zu. So blickte er aus dem Fenster und beobachtete das erwachende Tal, das sich an ihm vorbeischlängelte. Hier hatte vor wenigen Jahren alles begonnen. Genau in diesem Bus hatte er gesessen, als ihn der Schächer seines Stiefvaters verfolgt hatte und er in eine Geschichte geraten war, die mit seinem damaligen Verständnis von Realität nichts zu tun hatte. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht, durch den Traum schien sich jedoch einiges in ihm verändert zu haben.

„Seltsamer Tag“, sagte er zu sich und versuchte sich auf die Besprechung mit seinem Boss zu konzentrieren, die ihm normalerweise alle Kraft abverlangte, besonders weil Herr Dorner für die Reize der Engelsenergie nicht empfänglich war. Sie prallte an ihm ab wie an einem toten Tier. Da er nichts Dunkles in sich trug, war sich Noah nicht sicher, ob er eine eigene Spezies darstellte – eine fehlgeleitete Evolution der Schöpfung oder einen Neandertaler der Neuzeit.

Noah grinste bei dem Gedanken, verwarf ihn aber sofort wieder als ungerecht und döste weiter vor sich hin.

Der Bus fuhr bis vor das Bahnhofsgelände von Meran. Das Areal diente der lokalen Personentransportgesellschaft als Park- und Manövrierplatz für alle Destinationen, die von hier aus angefahren wurden. Unzählige Busse mit Schülern aus sämtlichen anliegenden Tälern trafen aufeinander und parkten in den verschiedenen Parkbuchten. Noah kannte das Szenario aus der Schulzeit und musste über die geschäftigen Schüler schmunzeln, die sich noch mit letzten Informationen zu den zu erwartenden Prüfungen versorgten. Er selbst verließ den Bus als Letzter und begab sich in das Innere des Bahnhofs. Da er bis zu seinem Anschlusszug zwanzig Minuten Zeit hatte, setzte er sich in die Bahnhofsbar und bestellte einen Espresso. Wie in allen italienischen Bahnhöfen war sie ein Treffpunkt für die morgendlichen Pendler, die sich dort einen Kaffee und die täglichen News abholten. Wobei Kaffee der Vielfalt des Angebots bei Weitem nicht gerecht wurde: Espresso, Lungo, Macchiato, Cappuccino, Caffè Decaffeinato, Caffè HAG, Ristretto, Orzo und nicht zuletzt Corretto, die mit Alkohol versetzte Version des Espressos waren nur einige der Möglichkeiten, die zur Wahl standen. Noah schaute in die Runde. Alle Gesellschaftsschichten waren vertreten: der geschäftige Anzugträger in feinstem Zwirn unterhielt sich mit seinem Kollegen, daneben standen mehrere Bauarbeiter, die sich lautstark unterhielten, und an einem der Tische saß eine gepflegte junge Dame, die ganz offensichtlich versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu wirken, um die aufdringlichen Blicke der Bauarbeiter nicht erwidern zu müssen. Über der ganzen Szenerie schwebte der liebliche Geruch des intensiven italienischen Kaffees und der frisch aufgewärmten Croissants.

Noah las in der Gazzetta dello Sport die Fußballergebnisse des gestrigen Abends und beobachtete ab und zu mit einem Blick über den Zeitungsrand die Geschehnisse in der Bar. In der einen Ecke fiel ihm plötzlich ein seltsamer Gast auf, der als Einziger nicht mit einer Zeitung oder einer Tasse beschäftigt war. Er hatte schmale Augen, eine knollige Nase und dünne, zusammengepresste Lippen. Er trug einen kunstvoll rasierten Bart, der Oberlippe, Kinn und Backen bedeckte. Bekleidet war er mit einem edlen Anzug und einem dünnen Trenchcoat. Noah wusste nicht, warum er gerade von diesem Besucher angezogen wurde, doch immer, wenn er mit einem verstohlenen Blick in seine Richtung sah, erwiderte der Mann seinen Blick. Ja, mehr noch, er starrte ihn unverwandt an und ließ keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um zufällige Blickwechsel handelte. Noah verspürte keine dunkle Energie im Raum und er war relativ sicher, dass es sich um keinen Dämon handelte. Trotzdem war er vorsichtig und beschloss nach einer Weile, die Zeitung wegzulegen und sich in Richtung des seltsamen Gastes aufzumachen. Doch als er sich nach seiner Tasche bückte und wieder aufsah, blieb er verdutzt stehen. Der Platz, an dem eben noch der Mann gesessen hatte, war leer. Noah blinzelte. Es war fast unmöglich, dass er in den paar Sekunden aus dem Raum verschwunden war. Zu groß war die Distanz zwischen seinem Platz und dem Ausgang der Bar.

Noah blickte sich angestrengt um. Nirgends war eine Spur des Mannes. Daraufhin atmete er kurz tief durch und beschäftigte sich nicht weiter mit dem Vorfall. Er schlenderte langsam in Richtung Bahngleis, verfiel dabei wieder in seine morgendliche Lethargie und bestieg seinen Zug. Nach einer halben Stunde ruckelnder Fahrt kam er in Sigmundskron an, einem kleinen Ort in unmittelbarer Nähe der Provinzhauptstadt Bozen, der durch das gleichnamige Schloss, das spätestens seit einer legendären Versammlung in den späten fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Symbol für die Autonomiebestrebungen Südtirols ist und durch das darin untergebrachte Museum des bekannten Bergsteigers Reinhold Messner eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte.

Noah hatte noch genau fünfzehn Minuten, bis sein Meeting begann. Genug Zeit also, um ohne Stress die paar hundert Meter zum Redaktionsbüro zu bewältigen. Der Eingangsbereich war mit einem elektronischen Tor gesichert und Noah musste einen Erkennungsausweis vorzeigen, der ihn als freiberuflichen Mitarbeiter der Zeitung auswies. Bereits bei seinem ersten Vorstellungsgespräch hatte er über die übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen lachen müssen, die einem G7-Gipfel alle Ehre machen würden. Er konnte sich kaum vorstellen, dass jemand das Gebäude überfallen würde. Provinzzeitungen waren nicht dafür bekannt, dass sie, abgesehen von technischem Equipment, größere Reichtümer in ihren Büroräumen horteten. Und alte Exemplare der ersten Ausgaben waren zwar historisch interessant, aber auf dem Schwarzmarkt wurden auch dafür nur geringe Summen geboten. Viel eher schienen die Schutzmaßnahmen für den Geltungsdrang des Besitzers zu stehen. Ungeachtet der Tatsache, dass er ein Käseblatt für eine literarisch rückständige Provinz herausbrachte, wollte er zumindest den Eindruck nach außen erwecken, dass die Zentrale wichtig und schützenswert war.

Noah brachte die Eingangskontrollen hinter sich und begab sich ohne Zögern in den ersten Stock, wo sich die Meetingräume befanden. Besprechungsräume, verbesserte sich Noah in Gedanken, Herr Dorner hatte ihn bereits bei ihrem ersten Gespräch gemaßregelt, dass die „modernen“ Anglizismen in seinem Haus nicht geduldet würden. Die Pflege der deutschen Sprache würde hochgehalten und Noah solle sich bemühen, nicht von Covers, Headlines oder Meetings zu sprechen, sondern die schönen deutschen Wörter Titelbilder, Überschriften und Besprechungen zu verwenden.

Als er den Besprechungsraum „Dolomiten“ betrat – alle Besprechungsräume trugen der internationalen Ausrichtung des Verlagseigentümers zum Trotz Namen von lokalen Gebirgsketten –, war er der Letzte der Teilnehmer.

„Ah, Seraph, schön, dass Sie es geschafft haben“, empfing ihn Herr Dorner, noch ehe er den Mund für eine Begrüßung hatte öffnen können.

„Morgen“, warf Noah in die Runde, doch keiner kümmerte sich um den freien Fotografen.

„Dann können wir ja anfangen.“

Während Dorner seine Präsentation vorbereitete, schaute Noah kurz in die Runde. Frau Edith, Dorners Assistentin, saß wie bei allen Besprechungen mit seiner Beteiligung eng an seiner Seite und hatte ihren Laptop geöffnet, auf dem sie die Besprechungsnotizen der laufenden Besprechung verfasste. Sie war eine altgediente Mitarbeiterin um die sechzig, die seit mehreren Jahrzehnten an der Seite des jeweiligen Chefredakteurs und seit mittlerweile zwölf Jahren an Dorners Seite war und ihm alle Schreibarbeiten und Organisatorisches abnahm. Optisch war sie eine kaum greifbare Person, stets grau oder beige gekleidet und die Frisur zu einem strengen Dutt gebunden. Ihr Gesicht zeigte selten eine Regung und die leichte Hakennase zwischen den kleinen grauen Mausaugen wippte in der Regel langsam auf und ab, je nach Aussage ihres Herrn zustimmend oder ablehnend nickend. Das Einzige, was sie bemerkbar machte, war ihr intensiver Geruch nach 4711, ihrem Lieblingsparfüm, das sie großzügig auftrug und das jeden Raum, den sie betrat, eine etwas altertümlich anmutende Note gab.

Neben Frau Edith saß der Chefredakteur des Sportteils, ein jugendlicher, engagierter Reporter, der stets modisch gekleidet war und bei allen Veranstaltungen des Hauses als Letzter ging, meistens in Begleitung einer amourösen Eroberung. Das leicht graumelierte Haar und seine lebhaften Augen halfen ihm dabei ebenso weiter wie sein flottes Mundwerk, das die Frauen der Reihe nach zum Erliegen brachte.

Am anderen Ende des Tisches saß Edmund, der Layouter, Entschuldigung, der Seitengestalter, Noahs liebster Kollege. Der etwas dickere und ältere Mann hatte Noah von Anfang an in sein Herz geschlossen und ihm beim Einleben in die neue Arbeit geholfen. Edmund trug einen überdimensionalen Schnurrbart, der seinen kompletten Mund verdeckte, und hatte große melancholische Augen. Sein Gesicht war rund und die blauen Äderchen, die seine Nase und seine Wangen durchzogen, bewiesen, dass er dem Genuss von Alkohol nicht abgeneigt war.

Der einzige Anwesende, den Noah nicht kannte, saß in Dorners unmittelbarer Nähe und hatte ihm den Rücken zugewandt. Er trug einen eleganten Anzug, der Noah bekannt vorkam. Als Dorner mit seinen Ausführungen begann, drehte sich der Mann um und Noah erkannte in ihm den seltsamen Gast der Bahnhofsbar.

„Wenn ich vorstellen darf“, begann Dorner, „das ist Maximilian Schnitzer, einer der Berater unserer neuen Agentur Schnitzer, Serbler & Co. Herr Schnitzer wurde im Auftrag des Eigentümers zu unserem Meeting eingeladen, um den Standardablauf von Redaktionsbesprechungen kennenzulernen. Seine Agentur wird uns dabei helfen, den Sprung zu einem modernen Zeitungshaus im Zeitalter des Internets zu schaffen. Ich bitte Sie alle um Ihre maximale Kooperation.“

Schnitzer erhob sich und begrüßte die Anwesenden mit einem kurzen Kopfnicken. Etwas an dieser Person beunruhigte Noah. Er wusste nicht, ob es die aalglatte Art war, mit der er sich präsentierte, oder die Aura, die ihn umgab. Noah gelang es nicht, zu definieren, ob es eine positive oder negative war, was seltsam war. Normalerweise war es seine leichteste Übung, Personen im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur dunklen oder hellen Seite einzuschätzen. In diesem Fall scheiterte er kläglich. Er spürte zwar eine starke Kraft, die von Maximilian Schnitzer ausging, konnte sie aber absolut nicht zuordnen.

„Vielen Dank für die freundlichen Worte, Herr Dorner“, unterbrach der Berater den Wortschwall des Chefredakteurs. „Ich werde mein Bestes geben, um die wertvolle Arbeit, die sie in den letzten Jahren geleistet haben, aufzuwerten und den Eintritt ins 21. Jahrhundert zu ermöglichen. Fahren Sie einfach fort.“

Dorner blickte den Berater zornig, aber auch verwirrt an. Er war es nicht gewöhnt, bei seinen Ausführungen unterbrochen zu werden. Aus irgendeinem für Noah unerfindlichen Grund blieb der übliche Zornesausbruch mit wütenden Maßregelungen jedoch aus. Zu seiner Überraschung erkannte Noah, dass Dorner Angst vor Schnitzer hatte oder sich zumindest scheute, in eine offene Konfrontation mit ihm zu treten.

Das Meeting war kurz und Dorner hielt sich an ein sachliches, professionelles Protokoll. Keine der üblichen Beschimpfungen oder Polemiken, nur das Abarbeiten der einzelnen Artikel der nächsten Ausgabe standen auf dem Programm. Noah schmunzelte innerlich über die fast greifbare Verunsicherung des Chefs, auch wenn ihm die Präsenz des Beraters zusehends unangenehm wurde. Er versuchte erneut sein inneres Auge auf ihn zu richten, doch auch mit seinen Engelskräften konnte er keine Einschätzung vornehmen. Maximilian Schnitzer verbarg etwas vor ihm und Noah wollte herausfinden, um was es sich handelte.

Die Zusammenkunft endete nach einer Stunde und Noah hatte sich eine Reihe von Notizen zu seinen nächsten Aufträgen gemacht. In dem Moment, als er sich verabschieden wollte, erhob sich Schnitzer ebenfalls und ging auf Dorner zu.

„Herr Dorner, es wäre für mich sehr hilfreich, wenn ich eine kleine Runde durch die Druckerei machen dürfte. Ich würde gerne die einzelnen Schritte von der Erstellung der Artikel bis zum Druck der Zeitung besser verstehen. Wäre das möglich?“

Dorner blickte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Missbilligung an.

„Nun, Herr Schnitzer, ich weiß zwar nicht, was das mit ihrem Auftrag zu tun hat, aber ich denke, das ließe sich einrichten. Seraph, Sie kennen doch die Abläufe, führen Sie Herrn Schnitzer durch unsere Produktion.“

Noah reagiert erstaunt. Dorner wusste zwar, dass er sich am Beginn seiner Tätigkeit sehr genau mit den internen Abläufen beschäftigt hatte, um nachzuvollziehen, wie seine Fotos und Artikel am Ende auf die gedruckten Seiten gelangten, er konnte sich aber nicht erklären, wieso er gerade ihn für qualifiziert hielt, diesen wichtigen Gast durch sein Allerheiligstes zu führen. Wahrscheinlich war ihm Schnitzer ebenso unangenehm oder unerklärlich wie ihm selbst und es schien so, als ob er ihn so schnell wie möglich loswerden wollte.

„Natürlich, Herr Dorner, ich habe Zeit“, log Noah, der sich viel lieber an die Arbeit gemacht hätte. „Ich bräuchte nur Ihre schriftliche Genehmigung.“

„Natürlich, hier bitte“, unterbrach ihn Dorner und schob ihm etwas zu hektisch ein Blatt Papier zu, das seine Unterschrift trug und ihn und seinen Gast zum Betreten aller Abteilungen berechtigte. Jetzt war sich Noah sicher, dass Dorner sich vor etwas fürchtete. Er drehte sich schnell zu Schnitzer um und sah ein triumphierendes Glitzern in seinen Augen, das er auch nicht unterdrückte, als Noah ihn direkt ansah. Der Mann hielt seinem Blick mehrere Sekunden stand und wandte sich dann mit einem überheblichen Lächeln an den Chefredakteur.

„Danke, Herr Dorner, ich weiß Ihre Kollaboration zu schätzen. Ich werde Sie dem Eigentümer gegenüber natürlich lobend erwähnen.“

Er gab Dorner die Hand, der sie wie einen stinkenden Lumpen nur mit zwei Fingern berührte. Mit einer ruckartigen Bewegung machte dieser auf den Hacken kehrt und verschwand, Frau Edith im Schlepptau, stürmisch aus dem Besprechungsraum, seine Körperfülle in einer Geschwindigkeit bewegend, die man ihm so gar nicht zugetraut hätte.

Der Sportredakteur verließ den Raum mit einem kurzen Nicken und nur Edmund kramte noch zerstreut in einigen Akten herum. Er schaute zwischen Noah und dem Berater hin und her.

„Soll ich dich begleiten? Ich kenne die Abläufe sehr genau“, sagte er mit einem besorgten Ton, der Noah zeigte, dass Schnitzer nicht nur ihm unheimlich war.

„Nein, Edmund, lass nur, du hast sicher genug zu tun. Ich komme schon zurecht.“

„Wie du meinst, aber wenn du was brauchst, ich bin nachher in der Druckvorstufe, ruf einfach, ich kann von dort aus alles hören.“

„Danke, Herr … Seraph, richtig?“

„Ja, Noah Seraph, freiberuflicher Journalist und Fotograf. Wo sollen wir anfangen?“

Schnitzer betrachtete ihn ebenso belustigt wie neugierig, ehe er ihm antwortete.

„Seraph … Ich habe schon viel von Ihnen gehört, mehr als von den meisten hier. Ich würde vorschlagen, Sie zeigen mir einfach die Redaktion, bevor wir in das Herzstück, die Produktion, gehen. Ist das in Ordnung für Sie?“

Er lächelte, ja grinste fast und Noah fand ihn immer merkwürdiger.

„Was haben Sie von mir gehört? Wie soll ich das verstehen?“, fragte er, genau auf die Reaktion seines Gegenübers achtend.

„Oh, sehr viel. Von Ihrem Talent, Ihrer überaus positiven Energie und Ausstrahlung, Ihren besonderen Fähigkeiten. Unser Besitzer ist sehr froh, Sie in unseren Reihen zu wissen.“

Noah sah ihn fragend an.

„Sie sind doch in unseren Reihen, Herr Seraph?“

Bei diesen Worten war Schnitzer bis auf wenige Zentimeter an ihn herangerückt. Er blies seinen Atem, der immer noch nach dem morgendlichen Kaffee roch und in den sich eine Spur von verbrauchter Luft und saurer Ausdünstung gemischt hatte, die von einer schlechten Verdauung herrühren musste, direkt in Noahs Gesicht.

„Natürlich, ich arbeite gerne für diese Zeitung“, sagte Noah und Schnitzer zog sich etwas von ihm zurück.

„Gut, Seraph, dann zeigen Sie mir mal, was hier so alles getrieben wird.“

Er legte Noah kumpelhaft einen Arm auf die Schulter und schob ihn bestimmt in Richtung Ausgang.

Noah wusste nicht, ob die Berührung angenehm oder unangenehm war. Von diesem Mann ging eine nicht greifbare neutrale Ausstrahlung aus, und genau das machte Noah skeptisch. Er hatte festgestellt, dass es immer ein Übergewicht zugunsten einer der beiden Seiten gab.

„Wenn es für Sie passt, beginnen wir mit den Redaktionsräumen“, sagte Noah und auf ein zustimmendes Nicken von Schnitzer hin begaben sie sich in die Büros, die direkt neben dem Besprechungsraum lagen.

„Hier werden die Nachrichten des jeweiligen Tages aufbereitet“, erklärte Noah und Schnitzer folgte aufmerksam seinen Ausführungen.

„Die Redakteure erhalten per Internet oder über die Presseagenturen die Informationen und verarbeiten sie zu allgemeinverständlichen und gut lesbaren Texten.“

Schnitzer schaute einem der Mitarbeiter über die Schulter. An seinem PC entstand gerade ein Artikel über eine lokale Feuerwehrveranstaltung zum 125. Jubiläum der ersten Fahnenweihe. Artikel wie diese beherrschten den Lokalteil der Tageszeitung, der fast die Hälfte der gesamten Ausgabe einnehme, fuhr Noah fort. Internationale Nachrichten seien wichtig, könnten aber in einer Vielzahl von Konkurrenzmedien nachgelesen werden. Die Stärke der Zeitung liege in den lokalen News und mache das Blatt zum meistgelesenen Medium der Südtiroler und somit zu einem einträglichen Werbeträger.

„Interessant“, log Schnitzer und verließ den Bildschirm schnell wieder. „Ich denke, wir können nun in die Produktion gehen.“

„Wie Sie meinen, folgen Sie mir.“

Noah öffnete die Sicherheitstür, die von der Redaktion direkt in die nächste Abteilung führte. Herr Dorner hatte ihm an seinem ersten Tag erklärt, dass es für die Redaktion unabdingbar sei, sich direkt neben der Druckvorstufe und der Produktion zu befinden. Der Journalist, der etwas auf sich hielt, sollte den Duft der Druckerschwärze einatmen können, wann immer er es wollte. Das Miterleben der Vervielfältigung seiner Zeilen sollte dem Schreiberling vor Augen halten, wie vielen Menschen er mit seinen Zeilen richtige oder falsche Informationen vermitteln konnte. Dementsprechend kurz war auch der Weg zwischen den Abteilungen. Direkt hinter der Metalltür standen bereits die Computer der Druckvorstufe, in der Grafiker und Drucktechniker das geschriebene Wort in gedruckte Seiten transformierten.

Schnitzer durchschritt den Bereich mit offensichtlichem Desinteresse. Noah bemühte sich, ihm die Faszination dieses Bereiches, in dem ja auch seine Fotos bearbeitet und in die Artikel eingebaut wurden, näherzubringen, doch es gelang ihm nicht. Schließlich führte ihn Noah in den tatsächlichen Produktionsteil. Er sog dort den Geruch der Druckmaschinen ein und lauschte dem Ächzen und Klappern der gigantischen Apparate, die Tonnen von Papier in einer unglaublichen Geschwindigkeit bewegten und mit lesbaren Zeilen bedruckten. Die Zehnfarbenmaschine, eine der modernsten im Alpenraum, warf in unglaublichem Tempo Bogen um Bogen in Sekundenbruchteilen aus. Noah hatte, als er das Wunder der Technik zum ersten Mal gesehen hatte, Ehrfurcht vor der hohen Kunst des Druckens empfunden. Seine Gedanken wanderten sofort wieder zu Gutenberg und der ersten Druckmaschine, die dazu beigetragen hatte, das Abendland von der dunklen Zeit des Mittelalters in die Neuzeit zu katapultieren. Wenige Erfindungen hatten die Gesellschaft in ähnlichem Maße verändert, bis auf jene der Neuzeit vielleicht: Radio, Fernsehen oder Internet.

„Na ja, das ist doch immer dasselbe Getöse“, holte Schnitzer seinen Begleiter aus seinen Gedanken.

„Druckereien gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Hast du eine gesehen, hast du alle gesehen.“

Desinteressiert ging er weiter und Noah folgte ihm. Am Ende der Tour gelangten sie wieder in die Büroräume der Redaktion zurück.

„Danke, Herr Seraph, das war sehr aufschlussreich.“

Schnitzer gab dem letzten Wort eine seltsame Betonung. Noah blickte ihn an, konnte den Ausdruck in seinem Gesicht aber nicht deuten.

„Sie könnten mir allerdings noch einen Gefallen tun.“

Noah sah Schnitzer fragend an.

„Ich würde gerne noch einen Blick ins Archiv werfen. Dort müsste man doch etwas über die Geschichte der Zeitung erfahren. Das würde mich sehr interessieren. Nur wenn man die Geschichte eines Unternehmens kennt, versteht man gewisse aktuelle Zusammenhänge.“

Noah kam der Wunsch eigenartig vor. Das Archiv bestand aus nichts anderem als den alten Ausgaben seit der Gründung im Jahre 1882. Der Lagerraum hatte den Charme eines modrigen Kellers und der Staub der Jahrzehnte schwebte in der Luft. Noah hatte ihn erst einmal betreten, doch relativ schnell das Weite gesucht. Besonders da inzwischen alle Ausgaben digitalisiert in einem firmeninternen Netzwerk für Recherchen zu Verfügung standen.

„Herr Schnitzer, alle historischen Ausgaben befinden sich in digitaler Form in unserem Netzwerk. Ich kann Ihnen selbstverständlich alle gewünschten Editionen zeigen, die …“

„Verschonen Sie mich mit Digitalisierungen. Ich liebe den Geruch des alten Papiers. Führen Sie mich bitte ins Archiv … wenn es möglich ist.“

„Gut, wie Sie wünschen, bitte folgen Sie mir.“

Um ins Archiv zu gelangen, mussten sie erneut die Produktion durchqueren. Es befand sich am anderen Ende des Gebäudes und war nur durch eine steile Metalltreppe zu erreichen. Schnitzer folgte Noah in sehr geringem Abstand. Als sie an der Metalltür des Archivs anlangten, glaubte Noah eine gewisse Erregung im Blick des Beraters zu erkennen.

„Ich gehe voran, seien Sie bitte vorsichtig, die oberen Regale hängen ziemlich tief.“

„Nein, öffnen Sie mir einfach die Tür, ich möchte mich alleine mit den alten Texten auseinandersetzen.“

Noah schaute ihn überrascht an. Das Verhalten des Mannes kam ihm sehr merkwürdig vor, doch fand er keinen plausiblen Grund, ihm den Wunsch zu verwehren.

„Na gut, ich warte hier, es wäre mir aber recht, wenn Sie nicht allzu lange brauchen würden, ich müsste so langsam wieder zurück an die Arbeit.“

„Ich werde nicht lange brauchen, maximal zehn Minuten, wenn man mich nicht stört.“

Mit diesen Worten verschwand Schnitzer im Inneren des Archivs.

Der Mann war für ihn nicht greifbar und seine überirdischen Fähigkeiten halfen Noah nicht, den Panzer aus Neutralität zu durchdringen, mit der sich der rätselhafte Berater umgab. Noah beschloss, später über die ganze Sache nachzudenken, und lehnte sich gelangweilt an das metallene Treppengeländer. Die Zeit verrann, als in dem Moment, wo er das Archiv betreten und Schnitzer zum Aufbruch mahnen wollte, ein lauter Schmerzensschrei ertönte, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Noah sprang zur Tür und riss sie auf. Im Inneren herrschte Dunkelheit und er brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Mehrere Reihen aus Metallregalen, in denen unzählige Kartons gestapelt waren, füllten gesamten Raum. Fein säuberlich nach Datum geordnet befanden sich hier die Originalausgaben aller Zeitungen, die jemals in diesem Haus gedruckt worden waren, und Noah roch die Mischung aus Staub und altem Papier, ein Geruch, der alles überlagerte.

„Hilfe, schnell, Seraph, sind Sie das?“

Noah erkannte Dorners Stimme, die aus der hintersten Ecke kam. Was machte der Chefredakteur im Archiv? Er hatte ihn nicht hereinkommen sehen, also musste er bereits vorher hier auf Schnitzer gewartet haben, oder war er etwa abgelenkt gewesen und hatte ihn nicht gesehen? Nein, das konnte nicht sein. Der Zugang zum Archiv war relativ schmal und eine Person wie Dorner konnte sich nicht ungesehen an ihm vorbeigeschlichen haben.

Noah lief schnell um die letzten Regalreihen und blieb fassungslos stehen. Vor ihm auf dem Boden lag Schnitzer in einer Blutlache, auf dem weißen Hemd breitete sich in Höhe seiner Brust ein großer, roter Blutfleck aus, um ihn herum waren Akten und Zeitungen auf dem Boden verstreut. Schnitzer musste sie im Arm gehalten haben, als er entweder erstochen oder mit einer Pistole mit Schalldämpfer erschossen worden war, Geräusche hatte Noah nämlich keine vernommen.

„Seraph, schnell, er wird nicht der Letzte sein!“

Noah blickte Dorner erstaunt in die Augen, der aus der Dunkelheit getreten war und in dessen Hand sich ein blutiger Dolch befand. Die Waffe war aus Eisen, an einigen Stellen mit einer Schicht aus Silber überzogen und offensichtlich sehr alt. Noah stutzte, als er die Zeichen der unterschiedlichen Engelshierarchien auf dem Schaft sah.

„Sie sind …?“

„Nein, Noah, ich bin keiner von euch. Oder besser gesagt, ich bin es nicht mehr. Ich war einmal kurz davor, doch hat man eine wichtigere Aufgabe für mich gefunden. Ich bin hier, um sie davon abzuhalten, die Informationen über das Versteck der Schlüssel zu erhalten.“

„Was soll das heißen? Welchen Schlüssel? Woher wissen Sie, wer ich bin?“

„Noah, ich denke, du kannst dir vorstellen, dass du in unserer Welt inzwischen eine Berühmtheit bist. Aber du bist noch lange nicht am Ziel deiner Reise angelangt. Es gibt noch viele Dinge, die du nicht weißt, und ehrlich gesagt ist es unverantwortlich von dir, dass du dich mit so wenig Wissen zufrieden zu geben scheinst.“

Noah wurde immer unsicherer.

„Ich verstehe nicht. Wer sind Sie? Was wollen Sie mir sagen? Können Sie nicht etwas deutlicher werden?“

„Ich möchte …“

Dorners Satz wurde von einem dumpfen Klopfen unterbrochen. Dorner sah sich gehetzt um. Schweiß war auf sein Gesicht getreten und unter den Achseln seines blauen Hemdes breiteten sich dunkle Flecken aus.

„Noah, wir haben keine Zeit. Ich darf dir nicht mehr sagen, ich muss meinen Auftrag weiterführen. Aber …“

Wieder ertönte ein dumpfes Klopfen und der Ausdruck in Dorners Augen wurde noch eine Spur nervöser.

„Schnell, sie sind da. Wenn du mir helfen willst, wenn du uns allen helfen willst, dann lass die Vergangenheit zu. Die Lösung liegt dort. Suche nach …“

Im selben Augenblick flog die Tür auf und drei Sicherheitsbeamte stürmten in den Raum. Dorners Mimik veränderte sich augenblicklich und wurde wieder zur Maske des unnahbaren Vorgesetzten.

„Was soll das, was machen Sie hier?“, pfiff er die heranstürmenden Wachleute an.

„Entschuldigen Sie, Herr Dorner, wir haben einen Schrei gehört. Ist alles in Ordnung?“

Der Anführer der Wachleute schaute sich verunsichert im Raum um, seine beiden Begleiter standen mit gesenktem Kopf hinter ihm und machten keinen Mucks.

„Wer ist das da auf dem Boden?“

Der Wachmann hatte die Leiche entdeckt.

„Herr Dorner, bitte erklären Sie, was …“

„Es gibt nichts zu erklären, hier ist offensichtlich ein Verbrechen passiert. Rufen Sie die Polizei.“

Der Wachmann runzelte die Stirn. Ratlos blickte er zwischen der Leiche, Noah und Herrn Dorner hin und her, bis er schließlich den blutüberströmten Dolch entdeckte, den der Chefredakteur immer noch in seiner Hand hielt. Sofort änderten sich seine Haltung und sein Ton und er trat dem Chefredakteur mit wachsender Sicherheit entgegen.

„Herr Dorner, ich muss Sie bitten mitzukommen! Offensichtlich haben Sie etwas mit dem Mord zu tun. Ich rufe jetzt die Polizei und Sie begleiten uns inzwischen in den Wachraum.“

„Jetzt machen Sie sich doch nicht lächerlich! Ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen folgen sollte.“

Der Wachmann wollte etwas erwidern, als ein ungläubiger Ausdruck in seine Augen trat.

„Aber, das kann doch nicht … Ich habe es doch deutlich …“

Noah drehte sich ebenfalls zu der Stelle um, an der der Tote lag, vielmehr gelegen hatte. Auf dem Boden befanden sich nur noch ein rostbrauner Fleck und die zerstreuten Unterlagen. Schnitzers Leichnam war fort.

„Sie gehen am besten einen Kaffee oder etwas Stärkeres trinken, meine Herren, und nehmen sich den Rest des Tages frei. Wir kommen hier zurecht.“

Bei seinen letzten Worten hatte Dorner den Wachmann am Arm gepackt und mit der Hand sanft über seine Stirn gestrichen. Augenblicklich entspannte sich dessen Gesichtsausdruck. Dasselbe machte Dorner mit den beiden anderen Männern und ohne Widerrede verschwanden sie aus dem Archiv, einen ratlosen Noah zurücklassend.

„Woher können Sie das? Sie tragen doch kein Licht.“

„Nein, ich trage kein Licht in mir“, erwiderte Dorner, „aber ich war einmal nahe dran und einige der Fähigkeiten haben sie mir gelassen. Doch schnell, sehen wir uns an, wie viel sie schon wissen.“

Ohne diese Aussage zu vertiefen, bückte sich der massige Mann über die verstreuten Zeitungen, hob eine nach der anderen auf und prüfte sie eingehend. Sie stammten alle aus derselben Zeit und Noah erkannte, dass sie alle von demselben Ereignis berichteten: dem Ersten Weltkrieg. Außerdem hatten sie ein gemeinsames Thema, sie handelten von Soldatenberichten von der Front in den Bergen.

Jäh war Noah sein Traum wieder präsent: Gletscherfront und Erster Weltkrieg, der tote Soldat, die Begegnung mit dem Dämon und sein eigener Tod. Diese Übereinstimmung konnte kaum ein Zufall sein.

„Ich denke, du bist bereits auf der Suche, Erleuchter. Spüre die Vergangenheit auf, sonst sind wir alle verloren. Sie birgt die Gefahr, dass das Licht vernichtet wird.“

Mit diesen Worten drückte Dorner ihm Zeitungen in die Hand und berührte ihn leicht am Handrücken. Die Berührung schmerzte Noah wie ein Blitz, der durch seine Adern schoss, und er schaute Dorner unsicher an. Dieser erwiderte kurz seinen Blick, senkte dann den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort das Archiv.

Noah war unfähig Dorners Verhalten einzuordnen. Was meinte Dorner damit? Was sollte dieses kryptische Gerede? Er beschloss, seinem Chef zu folgen und ihm ein paar klärende Fragen zu stellen. Doch entweder hatte er zu lange gewartet oder der dicke Mann war schneller, als er ihm zugetraut hätte, denn nirgends konnte er mehr eine Spur von ihm finden. Achselzuckend ging er mit den blutverschmierten Unterlagen in den Redaktionsraum und verstaute sie dort in seinem Rucksack, den er vor der Tour bei Edmund zurückgelassen hatte,

„Alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.“

Edmund hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie nah seine Aussage dem Erlebten kam.

„Ja, alles okay, danke der Nachfrage. Ich bin nur etwas müde und der Berater hat mir den Rest gegeben. Ich denke, ich werde für heute Schluss machen.“

„Na, dann lass das mal nicht Dorner wissen, sonst zieht er dir den Tag noch von deinem Honorar ab.“

Edmund lachte und wandte sich wieder seinen Layouts zu.

„Man sieht sich.“

Noah verließ das Büro und suchte Frau Edith auf.

„Kann ich kurz zum Chef?“, fragte er mit seiner süßesten Stimme, doch Dorners Assistentin blickte ihn nur kalt an.

„Herr Dorner ist heute nicht mehr zu sprechen. Er hat das Büro vor Kurzem verlassen und kommt heute nicht mehr zurück. Wenn es etwas Dringendes ist, Seraph, dann sagen Sie es mir, ich richte es ihm dann aus.“

Noah seufzte.

„Nein danke, Frau Edith, ich kann das auch morgen mit ihm besprechen. Schönen Tag noch.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, holte Noah seinen Rucksack und verließ das Gebäude. In seiner Eile bemerkte er den dunkel gekleideten, massigen Mann nicht, der an einem Baum neben dem Eingang des Gebäudes stand, eine Zigarre rauchte und den Rauch genüsslich in die Luft stieß. In der Hand hielt er ein Mobiltelefon, in das er zwei Zeilen tippte: „Das Wettrennen hat begonnen. Das Paket ist unterwegs.“

Zufrieden steckte er es anschließend in seine Anzugtasche und bestieg eine dunkle Limousine, die er in unmittelbarer Nähe geparkt hatte. Er blies einen weiteren Schwall Zigarrenrauch aus dem halbgeöffneten Seitenfenster und fuhr schließlich vom Gelände der Zeitung.

2. Kapitel

Noah fuhr mit dem Zug zurück nach Meran und beschloss, den Rest des Tages an einer Fotoreportage zu arbeiten, die er in den nächsten Tagen abgeben musste. Es handelte sich um einen Bericht über das Touriseum Meran, eine Einrichtung in der Nähe der bekannten botanischen Gärten von Schloss Trauttmansdorff, die seit einigen Jahren als Touristenmagnet der Kurstadt Meran dienten. Im Touriseum erfuhr der Besucher einiges über die bewegte Geschichte des Tourismus in der Region und Noah hatte den Auftrag, eine Fotostrecke zur Jubiläumsausgabe zu erstellen, die als Beilage der Tageszeitung aufgelegt wurde. Diese finanzierte sich zum Teil über solche Werbeaktivitäten und Noah musste eine gute Arbeit abliefern.

Das Wetter war fantastisch, fast zu sonnig für die richtige Lichtführung, doch gelang es Noah nicht, sich auf den Job zu konzentrieren. Immer wieder schossen ihm die Bilder des toten Beraters, sein Verschwinden sowie der Auftrag von Dorner in den Kopf: „Suche in der Vergangenheit, Noah!“

Was sollte er mit diesen Zeilen anfangen? Und wo war Dorner abgeblieben?

Nach einer Weile kam ihm eine Idee. An seinem ersten Tag in der Redaktion hatte ihm der Dorner seine private Mobilnummer gegeben. „Die ist nur für absolute Notfälle, Seraph, rufen Sie mich bloß nicht in meiner Freizeit an, wenn nicht gerade irgendwo ein Palast in Flammen steht!“

Noah hatte davon bisher noch nie Gebrauch gemacht. Jetzt allerdings war der Zeitpunkt gekommen. Nach wenigen Rufzeichen ertönte die Stimme der Mailbox, die ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Er versuchte es ein zweites Mal, erneut ohne Erfolg. Frau Edith hatte wohl recht gehabt, Dorner wollte heute mit niemandem mehr sprechen.

Enttäuscht wandte sich Noah wieder seiner Arbeit zu. Die Fotos, die er machte, wirkten irgendwie alle langweilig und seelenlos. Nach fast drei Stunden mühsamen Tuns gab er schließlich auf und beschloss, nach Hause zurückzukehren und über die Erlebnisse des Tages nachzudenken. Vielleicht waren ihm Hinweise zur Erklärung von Dorners Verhalten oder zum Verschwinden des Toten entgangen und er musste sich die Szenen noch einmal vor Augen halten, um sie zu entdecken. Er blickte auf die Uhr, 14 Uhr 30. Trotz des turbulenten Vormittags waren erst wenige Stunden seit seinem Eintreffen in der Redaktion vergangen.

So fuhr er auf dem schnellsten Weg heimwärts, wo Mirjam wie üblich an ihrem freien Tag seiner Mutter bei der Hausarbeit half. Vielleicht konnte sie sich einen Reim auf die Vorkommnisse machen. Auch wenn er bereits seit Monaten einer der Seraphim war, hatte sie ihm gegenüber immer noch einen Vorsprung, was die Erfahrung mit seltsamen Kräften oder der Geschichte der Engelsfamilie anging. Auf den Ratschlag seiner Großmutter hin, selbst ein mächtiger Engel, hatte sich Noah noch nicht intensiv mit der Chronik seiner Familie beschäftigt, sondern vielmehr die Zeit und sein neues Leben ohne seinen Stiefvater genossen. Wenn er etwas hatte wissen wollen, war es für ihn einfacher, Mirjam damit zu belästigen und die Antwort von ihr zu erhalten, besonders da sie sich in letzter Zeit immer zuvorkommender als Informationsquelle zur Verfügung stellte. Seit Wochen lag sie ihm damit in den Ohren, dass es seine Aufgabe verlange, auch die Geschichte ihrer Familie zu kennen, doch hatte er sich lieber mit der Gegenwart beschäftigt und die Zeit genutzt, sich in der normalen Welt einzuarbeiten und seinen Platz in der Berufswelt einzunehmen.

Die Stunde Busfahrt verging wie im Flug, Noah hing seinen Gedanken nach und versuchte sich jedes Detail des heutigen Tages vor Augen zu führen. So sehr er sich aber auch anstrengte, er konnte keine versteckten Botschaften entdecken. Als er zu Hause ankam, saß Mirjam an der kleinen Theke in der Küche seiner Mutter und nippte an einer Tasse Kaffee. Sie war in Gedanken versunken und hatte sein Eintreten nicht bemerkt. Langsam schlich er sich von hinten an sie heran und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf den Nacken. Mirjam schrie erschrocken auf.

„Aaaah! Noah, was soll das, willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege?“

Noah lachte und nahm Mirjam in seine Arme.

„Keine Sorge, das überlebst du schon. Du bist nicht so zerbrechlich, wie du aussiehst.“

Mirjam knuffte ihn scherzhaft in die Rippen, beschloss dann aber zu schmollen und befreite sich aus seiner Umarmung.

„Woher willst du das wissen? Dich interessiert ja doch nur meine Hülle.“

Noah grinste. Er sah sie an und betrachtete ihren athletischen Körper. Mirjam trug eine enge rote Hose und eine figurbetonte, weit ausgeschnittene Bluse, die den Blick auf den Ansatz ihrer festen, üppigen Brüste freigab.

„Du könntest mir auch in die Augen schauen.“

Der gespielte Vorwurf in ihrer Stimme irritierte Noah nicht und sein Grinsen wurde breiter. Sie genoss es, wenn er ihre Figur anschmachtete, und gespielt langsam trennte er seinen Blick von ihrer Oberweite.

„Deine Augen sind zwar hübsch, aber mit Abstand nicht so einladend wie die beiden da.“

Er zog Mirjam näher zu sich und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund. Als sie sich nach einem langen Kuss wieder voneinander trennten, blickte er sich suchend in der Küche um.

„Wo ist eigentlich meine Mutter?“

„Sie ist unterwegs, sie hat mir heute Morgen gesagt, dass sie erst am späten Abend zurückkommt. Warum?“

„Wir sind also allein?“

Er sah sie lüstern an und öffnete den ersten Knopf ihrer Bluse, wodurch der Ausschnitt noch tiefer wurde.

„Nun, wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne einmal mit dir schlafen, ohne dass meine Mutter alles hört.“

Wieder küsste er sie und Mirjam erwiderte seinen Kuss mit der Leidenschaft, die er so an ihr liebte. Ihre Lust war erwacht, bereits auf der Treppe zogen sie sich gegenseitig aus und beinahe hätten sie es nicht geschafft, in ihr Schlafzimmer zu gelangen, ehe sie die Leidenschaft endgültig übermannte. Noah hob Mirjam hoch und warf sie aufs Bett. Gierig küsste er ihre Brüste, ihren Hals, ihren Bauch und sie legte sich stöhnend zurück, um Noahs flinke Zungenbewegungen zu genießen. Mit einem schnellen Ruck musste er ihr nur noch die Hose und den Schlüpfer ausziehen, dann setzte er seine Liebkosungen in ihrer Schamgegend fort. Zufrieden registrierte er, dass sie sich ganz fallen gelassen hatte und sich seinen Berührungen willenlos überließ. Als er in sie eindrang, war sie bereits ganz in ihrer Leidenschaft aufgegangen, und er spürte, wie sich sein Feuer mit ihrem Licht vereinigte und beide auf einer übermenschlichen Ebene der Ekstase schwebten. Er liebte sie mit jeder Faser seines Körpers und wusste, dass auch sie so empfand. Wenige Augenblicke, bevor er den Höhepunkt der Lust erreichte, öffnete er kurz die Augen und staunte wie immer über die Lichtflügel, die Mirjam umgaben und die seit ihrer ersten Begegnung mit jedem intensiven Liebesakt noch um einiges größer und mächtiger erschienen.

Wenige Minuten später lagen sie schwer atmend, schweißgebadet und zu hundert Prozent befriedigt in ihren Laken. Noah fühlte sich erfrischt und voll Energie. Auch wenn sein Körper müde war, war seine geistige Batterie wieder voll aufgeladen.

„Mens sana in corpore sano“, dachte er und beschloss, auch seinem Körper ein wenig Erholung zu gönnen, und fiel innerhalb von Sekunden, in denen auch Mirjam einschlief, in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Der Soldat spürte seine Finger nicht mehr. Mehr noch als seine klammen Finger schmerzten ihn aber seine Muskeln, die von der stundenlangen Arbeit mit dem Eispickel bei tiefsten Temperaturen starr waren und ihm beinahe den Dienst versagten. Er wusste den Feind vor sich, in der beeindruckenden Eishöhle der Hohen Schneid, die unter den Soldaten der Gletscherfront ehrfurchtsvoll Kristallpalast genannt wurde. Seit Wochen bemühten sie sich, mit so wenig Lärm wie möglich einen Eistunnel in den Fels zu hauen, um ihm bei einem Überraschungsangriff in den Rücken zu fallen. Von ihrer Stellung im Kristallpalast aus hatten die italienischen Truppen ihnen mehrmals schmerzliche Verluste zugefügt und es wurde höchste Zeit, dass sie sich für die verlorenen Kameraden rächten. Sie waren die tapfersten Kämpfer des gesamten k. und k. Heeres und konnten es nicht auf sich sitzen lassen, von den verräterischen Truppen des ehemaligen Verbündeten geschlagen zu werden. Das verbot ihnen die Ehre. Für Gott, Kaiser und Vaterland würden sie die feigen Italiener aus ihrem Land jagen. Darüber hinaus war die Hohe Schneid ein strategisch äußerst wichtiger Punkt an der Ortlerfront, dem höchstgelegenen Frontbereich des Ersten Weltkrieges.

Der Tunnel, den sie in wochenlanger Schwerstarbeit dem Gletscher abgerungen hatten, war inzwischen mehrere hundert Meter lang, insgesamt musste er jedoch bis zu zwei Kilometer erreichen, um hinter die feindliche Stellung zu gelangen. Und da war noch etwas, was den normalen Soldaten nicht bewusst war, ihn aber bis zur Erschöpfung trieb. Im Kristallpalast lag seit Jahrtausenden einer der Schlüssel begraben. Wenn er nur sein Feuer einsetzen könnte, dann würde er den Zugang schnell freischmelzen. Doch er konnte es nicht riskieren, entdeckt zu werden. Seine Feinde durften nicht merken, dass einer ihrer Widersacher unter den k. u. k. Soldaten unaufhaltsam auf sie zukam und ihnen den vermeintlichen Gewinn des Schlüssels wieder streitig machen würde. Er hoffte, dass sie den Schlüssel noch nicht aus dem Eis gelöst und in Sicherheit gebracht hatten, sonst wäre sein Auftrag gescheitert und sie müssten einen anderen Weg finden, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Doch er war sich fast sicher, dass der Schlüssel noch da war. Er spürte das Pulsieren des mächtigen Artefakts im Eisversteck seiner Feinde.

Zentimeter für Zentimeter trieb er den Pickel in die massiven Eisblöcke des Gletschers und das Klirren der herabfallenden Teile unterbrach das monotone Klicken des Metallwerkzeugs.