Blutroter Sommer - Julia Keller - E-Book

Blutroter Sommer E-Book

Julia Keller

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

In Acker’s Gap, einem kleinen Ort in den Appalachen West Virginias, ist der Sommer eingekehrt, doch Staatsanwältin Bell Elkins kommt nicht zur Ruhe. Denn ihre Schwester Shirley ist zurück aus dem Gefängnis. Shirley, die als Teenager den gewalttätigen Vater der beiden tötete, um die jüngere Bell zu schützen – und zu der Bell dennoch aus gutem Grund keinen Kontakt hatte. Doch nicht nur das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Schwester macht Bell zu schaffen, sondern auch ein unerklärliches Verbrechen: Freddie Arnett, ein liebenswürdiger alter Mann, wurde brutal vor seinem Haus erschlagen. Vom Täter fehlt jede Spur – bis ein weiterer Mord geschieht, in den ausgerechnet Shirley verwickelt ist ...

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Seitenzahl: 488

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Buch

Über der kleinen Ortschaft Acker’s Gap, einsam und idyllisch gelegen inmitten der Appalachen West Virginias, liegt träge der Sommer, doch Bezirksstaatsanwältin Bell Elkins kommt nicht zur ersehnten Ruhe. Freddie Arnett, ein liebenswerter alter Mann, wurde auf brutalste Weise in der Einfahrt seines Hauses erschlagen, als er gerade den Ford aufpolierte, den er seinem Enkel schenken wollte. Seit diesem grausamen Mord herrschen in Acker’s Gap Schock und Angst; erschwerend kommt hinzu, dass schon wenige Tage darauf die Ermittlungen von Bell und ihrem Partner Sheriff Nick Fogelsong ins Stocken geraten. Niemand kann sich die Tat erklären, geschweige denn einen Hinweis auf den Täter geben. Besteht die Gefahr, dass er wieder tötet? Doch nicht nur das entsetzliche Verbrechen macht Bell zu schaffen, sondern auch die plötzliche Rückkehr ihrer Schwester Shirley aus dem Gefängnis. Shirley, die als Teenager den gewalttätigen Vater der beiden tötete, um die jüngere Bell zu schützen, und zu der Bell trotzdem lange Jahre keinerlei Kontakt hatte. Dann wird die schwierige Beziehung der beiden Schwestern erneut auf eine harte Probe gestellt: Bei einer Schlägerei in einer heruntergekommenen Bar wird ein Mann erstochen – und Shirley ist unter den anwesenden Gästen …

Weitere Informationen zu Julia Kellersowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

JULIA KELLER

BlutroterSommer

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischenvon Anne Fröhlich

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Summer of the Dead« bei Minotaur Books,an imprint of St. Martin’s Press, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Mai 2016Copyright der Originalausgabe © 2014 by Julia KellerCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: gettyimages/Tim FitzharrisRedaktion: Friederike ArnoldKS · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-17139-1V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meinen Vater,James Richard Keller (1931-1984),einen Sohn der Appalachen

Denn welches Verlies ist so dunkel wie das eigene Herz! Welcher Kerkermeister so unerbittlich wie das eigene Selbst!*

Nathaniel HawthorneDas Haus mit den sieben Giebeln

Teil eins

1

Die Hütte mit dem Flachdach befand sich an einer Landstraße, die in tiefer sommerlicher Dunkelheit dalag, einer Dunkelheit, wie sie nach einem besonders grellen Sommertag auftritt und die deshalb intensiver wirkt und bewusster wahrgenommen wird als gewöhnliche Nachtdunkelheit. Die Lichter der kleinen Kneipe ließen sie, durch den eigenartigen Kontrast zu der schwarz beschatteten Straße, wie etwas Lebendiges aussehen, das schwankt und ächzt, bereit, sich jeden Moment zu erheben und davonzutorkeln, um nur eine flache Vertiefung und den dumpfen Gestank von Urin zu hinterlassen.

Bell Elkins wusste, dass das Einbildung war. Das Einzige, was sich wirklich bewegte, waren die flackernden Lichter, die durch die vier bullaugenartigen Fenster drangen, und das hässliche Wummern der Bässe der Liveband, Erschütterungen, die auf das Herz eintrommelten wie Faustschläge. Dennoch zögerte sie und blieb einige Minuten länger am Rand des mit Dreck übersäten Parkplatzes in ihrem Fahrzeug sitzen. Die Autos waren kreuz und quer geparkt, zurückgelassen von ihren Fahrern, denen alles scheißegal war.

Es war 3.42 Uhr in einer schwülwarmen Samstagnacht – nein, am Sonntagmorgen – Mitte Juni, und Bell war wütend. Der Ärger durchzog sie wie ein Draht, der sich langsam durch ihre Adern fädelte, Millimeter für Millimeter. Er flammte nicht auf wie sonst: Dieses Mal wuchs er stufenweise, gleichmäßig und unheilvoll. Als sie sich jeden einzelnen irritierenden Fakt in Erinnerung rief, stieg der Ärger eine Stufe höher, dann noch eine.

Fakt war: Ihre Schwester Shirley war seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Shirley war eine erwachsene Frau, und es gab keine festen Absprachen – aber immerhin, drei Tage. Und kein Anruf, keine Nachricht.

Fakt war: Das Handy auf Bells Nachttisch hatte sich um kurz vor drei mit seinem perversen Häckselmaschinen-Klingelton gemeldet. Am anderen Ende der Leitung war Amanda Sturm gewesen, Deputy von Collier County. »Hab ’nen Anruf bekommen – Krawall drüben bei Tommy’s«, sagte sie, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. Was Tommy’s war, musste nicht weiter erklärt werden. Es war eine Bar – diese Bar hier an der Burnt Ridge Road, berüchtigt für Prügeleien, Drogen und Ärger. »Hab kurz reingeschaut, um die Lage zu peilen, und dachte dann, ich sollte Sie anrufen. Sorry wegen der Uhrzeit.«

Sturm hatte sie nicht geweckt. Bell schlief kaum in letzter Zeit und verbrachte viele Nächte in dem abgenutzten alten Polstersessel in ihrem Wohnzimmer und las oder versuchte es zumindest. In dieser Nacht hatte sie es tatsächlich nach oben in ihr Bett geschafft, aber noch keinen Schlaf gefunden. Trotzdem hatte der Anruf sie aufgeschreckt. »Was ist los?«, fragte Bell. Ihr Handy war leicht, aber sie benutzte beide Hände, um es zu umfassen, die eine, um es fest an ihr Ohr zu pressen, die andere, um es vor ihr Kinn zu halten.

Es entstand eine Pause, dann sagte Deputy Sturm: »Nun, Ma’am, eine von denen da drin sagt, dass ihre Schwester die Staatsanwältin von Raythune County sei, und ich solle sie besser laufen lassen. Hab ihre Brieftasche gecheckt und tatsächlich – Sie sind da als Kontaktperson vermerkt. Shirley Dolan ist ihr Name.«

Fakt war: Mit der Klientel einer Lokalität wie Tommy’s in Verbindung gebracht zu werden konnte Shirleys Bewährungsstatus ernsthaft in Gefahr bringen.

Fakt war: Shirley war sich dessen wohl bewusst. Und sie wusste auch, dass sich Bell gerade mit einem schrecklichen Fall herumschlug, dem brutalen und anscheinend grundlosen Mord an einem pensionierten Bergarbeiter, der sich vorletzte Nacht ereignet hatte, auf der Auffahrt seines Hauses auf der Westseite von Acker’s Gap. Die Stadt stand noch unter Schock angesichts dieses Verbrechens, wodurch sich eine lähmende Kälte in die warme, schlaffe Trägheit dieses Sommers inmitten der Berge eingeschlichen hatte.

Fakt war: Shirley kümmerte das alles einen Scheiß. Es war ihr egal, welche zusätzlichen Scherereien sie Bell machte, welche Schande sie ihr bereitete, welche Peinlichkeiten.

Fakt war: Shirley war nicht nur egoistisch, auch rücksichtslos. Einem Deputy Bells Namen zu nennen, um eine Spezialbehandlung zu bekommen, war schlimm genug, aber wenn man noch bedachte, welches Risiko das alles für Shirleys noch frischen Status als freier Mensch bedeutete – nun, die ganze Sache erboste Bell so sehr, dass sie das Lenkrad ihres Ford Explorer noch fester umklammerte, froh, an etwas ihre Wut auslassen zu können.

Sie hatte für Shirley alles Erdenkliche getan. In den drei Monaten seit der Rückkehr ihrer Schwester hatte sie sie bei sich wohnen lassen, ihr Kleidung gekauft, ihre Raucherei toleriert. Und sie hatte sich aus ihren Angelegenheiten herausgehalten, Shirley ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen – und mit »Entscheidungen treffen« meinte Bell »Fehler machen«. Diese beiden Ausdrücke waren in ihrem Geist zu Synonymen geworden, wenn es um Shirley ging.

Von Anfang an hatte es Probleme gegeben. Eines Nachts war Shirley mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern auf dem Küchenstuhl eingeschlafen und gerade noch rechtzeitig aufgewacht, um eine Katastrophe zu verhindern. Ein andermal war sie nachts übellaunig und betrunken nach Hause gekommen, und als Bell versuchte, die torkelnde Shirley ins Bett zu bringen, hatte sie sie abgeschüttelt, und das unflätige Wort, das ihr dabei entfuhr, ließ Bell vor Schreck zusammenzucken, als hätte Shirley eine Kröte oder eine Spinne ausgespuckt.

So ein Verhalten machte deutlich, dass es Shirley an Urteilsvermögen, Manieren und an Respekt mangelte. Und vielleicht hatte Sheriff Fogelsong mit der Aussage, Shirley sei undankbar, den Nagel auf den Kopf getroffen, damals, als Bell ihm anvertraut hatte, wie enttäuscht sie von ihrer Schwester war. »Das ist es, was wirklich an dir nagt. Du erwartest von ihr, dass sie dankbar ist. Vielleicht sogar demütig. Weil du zu ihr gehalten hast, weil du auf sie gewartet hast, weil du sie zu dir genommen hast. Hast du je einen Korken unter Wasser gedrückt und ihn dann losgelassen? Schießt hoch in die Luft wie ein Geysir. Geht ab wie eine Rakete.«

Der Sheriff, begriff Bell, lag nicht ganz falsch. »Hast du es nicht langsam satt, die ganze Zeit recht zu haben, verdammt?«, hatte sie erwidert.

»Oh, ab und zu habe ich absichtlich unrecht«, antwortete er, »damit es nicht langweilig wird.«

Als sie sich an dieses Gespräch erinnerte, wurde Bell klar, wie sehr sie ihn vermisste – und nicht nur weil sie gerade einen Mordfall zu lösen hatte, der die ganze Stadt nervös machte. Fogelsong hatte sich für einen Monat beurlauben lassen. Er wurde in der kommenden Woche zurückerwartet, und dann würde Pam Harrison den Platz an der Spitze räumen und ihren Job als Chief Deputy wieder aufnehmen – und dennoch … auch nur ein Monat ohne ihn war zu lang für Bell. Nick Fogelsong kannte sie besser als irgendjemand sonst. Er kannte sie in- und auswendig, und sie legte großen Wert auf sein Urteil. Mehr noch, sie brauchte es.

Als ihr Ärger jeden vernünftigen Gedanken unmöglich machte, hatte er Bell sanft daran erinnert, dass Shirley eine sechsundvierzigjährige Frau war, die nie die Chance gehabt hatte, jung zu sein. Sie hatte drei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht, einem trostlosen und streng reglementierten Ort, an dem jeder ihrer Schritte überwacht, jeder spontane Impuls unterdrückt worden war.

Also war Bell nachsichtig mit ihr gewesen. Hatte sich zurückgehalten und geschwiegen.

Aber heute Nacht war eine Schwelle überschritten worden. Es war das erste Mal, dass Shirley mehrere Tage am Stück fortgeblieben war. Und sie hatte Bells Namen in einem Konflikt mit dem Gesetz benutzt. Dies war auf beunruhigende Weise etwas völlig Neues. Und es passierte gerade in einem Moment, da Bell ihr Augenmerk auf die allgemeine öffentliche Sicherheit richten musste, nicht auf den Einzelfall einer Schwester, die sich schlecht benahm. Wenn Shirley in eine Razzia bei Tommy’s geriet – der Inhaber der Bar, Tommy LeSeur, war selbst vorbestraft, hatte viereinhalb Jahre wegen eines Drogendelikts gesessen –, konnte ihre Haftentlassung zurückgenommen werden.

»Hey, schöne Lady.«

In dem Moment, als Bell die Worte hörte, roch sie schon den scharfen Zwiebelgeruch des Mannes, der plötzlich seinen Kopf durch das offene Fenster ihres Explorer geschoben hatte. Er hatte sie überrumpelt, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken gewesen, während sie auf die verwahrloste Bar gestarrt hatte. Aber sie war nicht erschrocken – sie war stinksauer. Der Mann hatte ein aufgedunsenes Gesicht, als hätte er eine allergische Reaktion. Bartstoppeln sprossen auf seinen runden Backen und auf den Speckrollen, die sein winziges Kinn einhüllten. Der Geruch von Schnaps, Schweiß und Erbrochenem drang ins Wageninnere.

Bevor Bell reagieren konnte, sprach er weiter, wobei er sich am unteren Rand des Fensters abstützte.

»Suchs su was?«, lallte er. »Oder jemand? Willste Spaß haben?« Ein lüsternes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ein Schweißtropfen – oder vielleicht auch eine andere Art von Flüssigkeit, wer wollte das schon so genau wissen? – hing an seinem Nasenloch. Sein Blick war verschwommen. »Wie wär’s, Baby?«

Zuerst hätte Bell fast gelacht – Oh yeah, ich komme, du bist so verdammt unwiderstehlich, Mister –, doch dann kam ihr Ärger mit Wucht zurück, diesmal gemischt mit Ekel.

»Verschwinde, zum Teufel«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, die Worte ruhig und gemessen, aber der Tonfall drohend. Nur ein Idiot konnte sie missverstehen.

»Komm schon, Baby, sei doch nicht so«, sagte der Eindringling. Sein schmieriges Gesäusel und sein übel riechender Atem reichten aus, dass sich Bell der Magen umdrehte.

Als sie mit einer blitzschnellen Bewegung die Autotür aufmachte, wurde er zurückgestoßen, taumelte den Bruchteil einer Sekunde und landete dann auf seinem fetten Hinterteil.

Hinter ihm, deutlich sichtbar in dem grellen Licht des Scheinwerfers, der an einer Ecke des Gebäudes angebracht war, standen drei stämmige Männer im Kreis – seine Kumpel, vermutete Bell, denn solche Typen traten immer in Rudeln auf. Die Männer zeigten auf den Fettarsch, stampften mit ihren Arbeitsstiefeln auf und lachten. Ihr hartes, freudloses Lachen hörte sich angriffslustig an. Obwohl Hochsommer war, trugen sie Baseballkappen und langärmelige karierte Flanellhemden. Das war, wie Bell wusste, die ganzjährige Uniform dieser Good Old Boys, Typen, die man hier in der Gegend entlang der Nebenstraßen aufgereiht fand wie Fusseln auf einem Kamm.

»Miststück«, brüllte der Fettarsch sie an. Er versuchte, hochzukommen, doch seine Fettleibigkeit und sein Alkoholpegel hinderten ihn daran. »Verdammtes Miststück.«

Seine Freunde lachten nur noch lauter. »Sieht aus, als hätte sie dir mal gründlich die Meinung gesagt«, mutmaßte einer und stieß den Fettarsch mit seiner Fußspitze an, als wäre sein Kumpel ein Klumpen Dreck, der zur Seite geschoben werden musste. Die anderen lachten noch mehr, johlten wie die Verrückten und schlugen sich auf die Oberschenkel. Ein grauer, trüber Mond betrachtete die Szene gleichgültig von oben.

Bell wog ihre nächsten Schritte ab. Ihre Aufgabe war einfach: in die Bar gehen, Shirley finden und sie irgendwie überzeugen, nach Hause zu kommen. Sie war nicht auf Streit aus. Aber wenn diese Widerlinge aufmucken wollten und ihr dazwischenfunkten, würde sie das regeln. Der Fettarsch wusste nicht, was Ärger war, bevor er sich mit jemandem wie ihr eingelassen hatte. Ihre siebzehnjährige Tochter Carla – die im Moment bei Bells Exmann Sam wohnte, aber in einer Woche nach Acker’s Gap kommen würde, um die Sommerferien hier zu verbringen – hatte es einmal treffend ausgedrückt: »Mom«, hatte Carla gesagt, »wenn du ausflippst, wäre mir der Typ aus diesen Kettensägenmassaker-Filmen lieber als du.«

Die Doppeltür der Bar schwang auf und gab für ein paar Sekunden den Blick in das Innere des Lokals frei – auf die lauten ungehobelten Gäste, die blinkenden roten Lichter, umgeben von schwarzer Dunkelheit. Bell kam es vor wie ein Guckloch in die Hölle.

Ein weiblicher Deputy – klein, stämmig, ohne Hut – kam mit großen Schritten aus Tommy’s Bar und schlängelte sich zwischen den parkenden Autos hindurch. Ihr langes graues Haar war zu einem struppigen Zopf geflochten, der auf ihrer Schulter hing wie ein Haustier. Schwarze Stiefel krachten schwer auf den Kies. Sie hatte die Hand an die Schusswaffe an ihrer breiten Hüfte gelegt, und ein grimmiger Ausdruck von Lass mich die lieber nicht benutzen lag auf ihrem Gesicht.

Die drei Männer zerstreuten sich wie Papierfetzen, die durch einen plötzlichen Luftzug von einem Schreibtisch geweht werden. Fettarsch, der sich ebenfalls eifrig darum bemühte wegzukommen, rappelte sich auf Hände und Knie hoch, krabbelte ein kurzes Stück und zog sich an der hinteren Stoßstange eines schwarzen Dodge Ram 1500 hoch.

Als er und seine Kumpel davonhetzten, nickte der Deputy zustimmend. »’n Abend, Ma’am«, sagte sie zu Bell. »Deputy Sturm. Dachte mir, dass Sie jeden Moment eintreffen könnten.«

»Das Empfangskomitee war schon da.« Bell stieg aus dem Explorer und machte eine Geste in Richtung der tiefen Dunkelheit, die den Parkplatz umgab, ein bodenloser Abgrund, in dem die vier Männer verschwunden waren. Die Dunkelheit wirkte umso bedrohlicher, weil sie so unvermittelt an den grell erleuchteten Platz angrenzte. Es gab nichts dazwischen. Wenn man den hellen Bereich verließ, war es, als stürze man über eine Kante von der Erdkugel. Keine andere Dunkelheit ist wie die sommerliche Dunkelheit, dachte Bell. Endlos.

Sie schauderte. Plötzlich und unerwünscht musste sie an das Tatortfoto denken, das noch auf ihrem Schreibtisch im Gerichtsgebäude lag: Freddie Arnetts schmächtiger Körper, mit dem Gesicht nach unten auf den ölfleckigen Betonplatten seiner Auffahrt, Blut und Gehirnmasse feucht glänzend im samtigen Lichtschein der vorderen Veranda.

»Diese Jungs wollten auch zu mir ein bisschen nett sein«, schmunzelte Sturm. Mit zwei Fingern berührte sie das Dienstabzeichen auf der linken Brusttasche ihres grauen Polyesterhemds. »Aber dann haben sie das gesehen.«

Bell nickte. Genug Small Talk. »Wo ist Shirley Dolan?«

»Da, wo ich sie zurückgelassen habe – hinten in der Bar, zusammen mit einem Haufen Störenfriede, die nun abwarten, ob ich ihnen noch mehr Unannehmlichkeiten bereite und sie vielleicht wegen Trunkenheit und Belästigung einbuchte. Sie haben mich wüst beschimpft.«

»Wie fing es an?«

»Keine Ahnung. Bobo Bolland ist hier mit seiner Band, und anscheinend gibt es überall Ärger, wo der hinkommt. Irgendeiner beschimpft jemanden als fiesen Scheißkerl oder männermordende Hure, und schon spielen alle verrückt.« Zwei weitere Autos schlingerten hintereinander auf den Parkplatz. Die Fahrer mussten wohl das Abzeichen an Deputy Sturms breiter Brust bemerkt haben – aber wahrscheinlich hatten sie eher die Anwesenheit des Gesetzes gerochen, nach langjähriger Erfahrung, diesem auszuweichen –, denn sie wendeten hastig ihre Fahrzeuge und brausten in panischem Eifer zurück auf die Straße.

Sturm nahm kaum Notiz davon. Sie und Bell gingen bereits auf die Tür von Tommy’s Bar zu und hatten anderes im Kopf. »Hören Sie«, sagte Sturm. »Bevor wir reingehen, wollte ich noch sagen … na ja, ich habe von diesem armen alten Mann gehört. Schlimme Sache. Schätze, die Leute in Acker’s Gap sind ziemlich durcheinander.«

Bell nickte. Freddie Arnett hatte mehrere Hiebe mit dem Vorschlaghammer abbekommen. Das war das vorläufige Ergebnis des Gerichtsmediziners, in Anbetracht der Verletzungen und weil die mutmaßliche Tatwaffe neben der Auffahrt im Gras gelegen hatte. Der Überfall war von erstaunlicher Brutalität gewesen. Keine Spuren, kein Motiv, keine Verdächtigen, keine Hinweise. Es war, hatte Bell gedacht, als wäre die Sommernacht selbst aufgestanden und hätte sich Arnett geholt, als hätte die Dunkelheit gerade lang genug Gestalt angenommen, um sich eine passende Waffe zu schnappen und dem alten Mann den Schädel einzuschlagen, um dann wieder zu schwarzer, weicher Masse zu zerfließen.

»Das gibt einem zu denken«, sagte Sturm.

»Ja.«

Sie hatten den Eingang zu Tommy’s erreicht. Bell hörte dumpfes Dröhnen von der anderen Seite der Wand, wilde Gitarren-Licks, die verzerrten Töne aus einem billigen Verstärker und das unheilvolle Insektenbrummen eines Raums voll dicht gedrängter Menschen.

Mit ihrer großen rechten Hand umfasste Sturm den schmutzigen hölzernen Türgriff. Die obere Hälfte der Tür war bedeckt von einem weißen Plakat, mit Reißzwecken befestigt, auf dem mit schwarzem Edding in wackligen Buchstaben geschrieben stand:

HEUTE NACHT!BOBO BOLLAND AND HIS ROCKIN’ BAND!!!23 UHR BIS ???

Bell folgte ihr in die Bar – hinein in ein hektisches, stickiges Chaos, wie sie es während eines guten Teils ihres Erwachsenenlebens immer zu meiden versucht hatte. Es erinnerte sie zu sehr an ihre Kindheit, als die Welt groß und schlecht und laut und außer Kontrolle und sie der schwächste, zerbrechlichste Teil war. Die Beute.

Dort war sie.

Shirley Dolan stand am anderen Ende der Bar mit dem Rücken zu dem abgewetzten braunen Tresen, der ein Muster von ineinandergreifenden Ringen aufwies, Abdrücke von feuchten Biergläsern aus mindestens einem Jahrhundert, wie es schien. Lange, dünne graue Haare fielen ihr über den schmalen Rücken. Bell hatte erwartet, dass es ein paar Minuten dauern würde, bis sie ihre Schwester in der lärmenden Menschenmenge entdeckt hätte. Sie hatte gedacht, sie müsste ihren Blick erst einmal über mindestens ein Dutzend schweißglänzender, verschwommen grinsender Gesichter mit winzigen Pupillen schweifen lassen – aber nein. Sie fand sie sofort, obwohl Shirley genauso angezogen war wie alle anderen: Cowboystiefel, enge Jeans, T-Shirt, Flanellhemd über der Hose.

Das Schnapsglas fest gegen ihre Lippen gepresst, nahm Shirley einen langen, hingebungsvollen Schluck. Dann schüttelte sie sich mit Genuss, wie ein Hund nach einem starken Regenguss, als die feurige Flüssigkeit ihr Inneres durchdrang. Sie drehte sich um und knallte das Glas auf den Tresen. Als Shirley sich über die Lippen leckte und sich halb umwandte, trafen sich ihre Blicke. Die dreiköpfige Band in der gegenüberliegenden Ecke hatte gerade mit einem neuen Stück begonnen, und die hämmernden Basstöne ließen das kleine Gebäude erzittern.

Bevor Bell etwas sagen konnte, kam es erneut zu einem Aufruhr. Mehrere Stühle kippten um und fielen krachend auf den roten Betonboden, als die Leute aufsprangen und auseinanderstoben. Drei runde Tische wurden auf den Kopf gestellt, Gläser rutschten herunter und zerbrachen. Eine Frau fing an zu schreien, dann zwei weitere. Die Band hörte mit einem Schlag auf zu spielen, als hätte jemand einen Stecker herausgezogen.

»Oh Gott«, murmelte jemand. »Was zum Teufel«, hörte man einen anderen sagen, und: »Betrunken wie ein verdammtes Stinktier, wie immer. Lass ihn in Ruhe, was soll das.« Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen einer E-Gitarre, und der dünne Gitarrist mit der großen Nase, der die Saiten mit seinem Ärmel gestreift hatte, legte seine Hand über den Bund.

Schwerfällig teilte die Menge sich und bildete einen z-förmigen Gang, der zu der Quelle des Aufruhrs führte. Ausgestreckt auf dem schmierigen Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, lag ein drahtiger, schwarzhaariger Mann in einem blassgelben Flanellhemd und beigefarbenen Cargohosen. Deputy Sturm und Bell setzten sich gleichzeitig in Bewegung. Sturm rief scharf: »Hey, Mister – alles okay?« und ließ sich neben ihm nieder. Ihre Bewegungen waren überraschend flink und effizient für eine Frau mit ihrem Körperumfang. Sie tastete an seinem Hals nach dem Puls. Nichts. Mit beiden Händen drehte sie ihn herum.

Ein Schraubenzieher mit orangefarbenem Griff steckte tief in der Brust des Mannes und war durch die Kraft des Aufpralls zur Seite gedrückt worden, was die Wunde noch weiter aufgerissen hatte. Ein dunkler Fleck breitete sich auf seinem Hemd aus, so unheilvoll wie ein Sturmsystem auf einer Wetterkarte. Sein von Aknenarben überzogenes Gesicht war bleich, das Kinn hing schlaff herunter, die Augen waren weit aufgerissen und sein Blick starr.

Sturm hob den Kopf und sah Bell an. In ihrem Blick lagen Unsicherheit und Fassungslosigkeit. Wenn man so etwas beruflich macht, rief sich Bell in Erinnerung, denkt man, man sei auf alles vorbereitet, aber man ist niemals vorbereitet. Bell spürte Ekel in sich aufsteigen und biss die Zähne zusammen. Kalte Angst warf einen Schatten über ihre Gedanken wie eine Wolke über ein offenes Feld. Zuerst der alte Mann in Acker’s Gap. Und jetzt das. Oh Gott.

Schnell gewann Deputy Sturm ihre Fassung zurück. Immer noch kniend, löste sie das Funkgerät von ihrem Gürtel und schaltete es ein. In der Bar war es unheimlich still geworden – kein Husten, kein Scharren, kein Stühlerücken –, wodurch die wenigen Worte, die Sturm sprach, als sie die Ambulanz rief, so kantig wirkten wie ein Haiku.

Nach dem Funkruf herrschte sie die verblüfften Schaulustigen an: »Kennt irgendjemand diesen Mann? Hat irgendjemand gesehen, was passiert ist?«

Stille.

Deputy Sturm griff in die Tasche des Toten auf der Suche nach einem Ausweis. Als Bell ihr gerade sagen wollte, sie solle Abstand halten, um die Unversehrtheit des Tatorts sicherzustellen, zog sie schon eine kleine weiße Visitenkarte hervor. Jetzt ist es auch egal, dachte Bell und nahm die Karte entgegen. Es hatte schon genug Verunreinigungen am Tatort gegeben, um die Leute von der staatlichen Spurensicherung zu verärgern. Die Typen würden hier in ihrem schicken Van aufkreuzen, sobald die Kriminaltechniker in Charleston ausdiskutiert hätten, wer von ihnen nun die Fahrt über die schlechten Straßen und durch die tückische Dunkelheit übernehmen müsse. Eine so kleine Gemeinde wie diese hatte keine eigene kriminaltechnische Einheit. Man musste warten, bis man dran war, so wie Bell und die Deputys zwei Nächte zuvor hatten warten müssen, als sie hilflos und erschüttert neben Freddie Arnetts zerschmetterter Leiche gestanden hatten.

Bell betrachtete die schwarzen Druckbuchstaben auf der Karte:

Sampson J. Voorhees. Rechtsanwalt. NYC

Keine Telefonnummer, kein Fax, keine E-Mail-Adresse. Merkwürdige Art für eine Anwaltskanzlei, Geschäftsverbindungen zu knüpfen, überlegte Bell. Normalerweise kann man sich vor Kontaktinformationen kaum retten. Ihr Exmann hatte für eine solche Firma gearbeitet. Himmel, hatte sie manchmal gedacht, wenn er die Gelegenheit hätte, würde er das Firmenlogo wahrscheinlich noch auf die Toilettensitze im Herrenklo kleben. Sie drehte die Karte herum. An der unteren Kante war mit blauem Kugelschreiber ein weiterer Name notiert:

Odell Crabtree

Sturm streckte die Hand aus und wollte die Karte zurück, weil sie ein Beweismittel, Teil der offiziellen Bestandsaufnahme, war. Bell hätte sie sich gerne genauer angesehen, fügte sich aber. Das hier war Deputy Sturms Gebiet, Deputy Sturms Ermittlung. Collier County würde hier das Sagen haben, und das war gut so: Raythune County hatte im Moment genug zu tun.

Trotzdem war Bell neugierig. Sie fragte sich, welche Verbindung wohl zwischen einem öffentlichkeitsscheuen Anwalt aus New York City und einer Leiche auf dem Fußboden von Tommy’s Bar in einer schwülen Sommernacht mitten in West Virginia bestehen könnte. Aus diesem Körper auf dem Fußboden war gerade das Leben gewichen, um ihn herum der säuerliche Dunst verspritzten Biers, derbe Witze, lautes Gejohle, dicke graue Wolken von Zigarettenrauch und die stampfende Partymusik von Bobo Bolland and His Rockin’ Band.

2

Er lief wieder umher. Sie konnte hören, wie er Dinge anstieß, und bei jedem Poltern zuckte Lindy zusammen. Sie stellte sich den Schmerz vor, wenn ein Knie eine Kiste rammte oder eine Wange über eine raue Mauer schabte. Aber es widerstrebte ihr, nach ihm zu sehen. Sie wollte nicht die Kellertür öffnen und in die Dunkelheit hinunterrufen: »Alles okay, Daddy?« Nicht mehr. Zuerst hatte sie das getan, in der Anfangszeit hatte sie auf jedes Geräusch reagiert, und meistens hatte er die Fäuste erhoben und sie angebrüllt: »Lass mich in Ruhe! Ich hab dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!«

Also horchte sie nur angestrengt. In zehn Minuten musste sie los zu ihrer Nachtschicht an der Lester-Tankstelle, und sie durfte nicht zu spät kommen. Am Samstagabend war immer die Hölle los. In dieser Gegend stellten Orte, die rund um die Uhr geöffnet waren, einen Magnet für jeden Betrunkenen, jeden Spinner und jeden Drogensüchtigen in einem Umkreis von dreißig Meilen dar. Und am Samstagabend schienen sogar die normalen Leute verrücktzuspielen. Aber bevor sie ging, musste sie sich vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war.

Drei oder vier Schläge nacheinander ertönten. Dann herrschte einen Moment Stille. Das bedeutete wahrscheinlich, dass er die Orientierung wiedergefunden hatte, sein innerer Radar war wieder angesprungen. Sie stellte ihn sich vor, wie er sich zwischen losen Ästen und großen Felsbrocken bewegte. Vor drei Jahren hatte sie diese Dinge von draußen hier hereingeschleift. Von der Schlucht hinter dem großen Berg hatte sie sie Zentimeter für Zentimeter bis hierher gezerrt. Außerdem hatte sie auf Flohmärkten und bei Garagenverkäufen einen Haufen alter Holztische, angeschlagen und wackelig, aufgestöbert. Manche waren rund, manche quadratisch, andere rechteckig. Einige waren so klein wie Fernsehbänke, während an anderen ein Dutzend Familienmitglieder zum Sonntagsessen Platz gefunden hätten.

Sie hatte einen Ort für ihn geschaffen, der so war wie der Ort, den er am besten kannte, der Platz, den er liebte: ein Kohlebergwerk. Das Kohlebergwerk, das vor fünf Jahren geschlossen worden war. Er und zweiunddreißig andere Bergarbeiter waren fassungslos und um alles beraubt zurückgeblieben. Sie wussten nicht, wo sie hingehen und wovon sie leben sollten.

Er ging nicht aufrecht, er kroch. Das musste er, denn durch die langen Jahre, die er unter Tage gearbeitet hatte, war sein Rücken krumm geworden wie ein Fragezeichen. Er war es gewohnt, sich in der Dunkelheit mit nach vorn ausgestreckten Armen hin und her zu bewegen und dabei alles um sich herum abzutasten, Flächen, die er besser spüren als sehen konnte. Er versuchte, sich auf den Raum unter den Tischen zu beschränken, da er sich gerne gebeugt hielt. Das war die einzige Position, die ihm keine Schmerzen verursachte. Oft döste er hier zusammengekrümmt wie eine Fassdaube, und wenn er aufwachte, war er zuerst einmal eine Weile desorientiert. Dann vergaß er für eine gewisse Zeit seine Umgebung, erhob sich zu schnell und stieß mit einem wütenden Aufschrei, weil ein brennender Schmerz sich strahlenförmig in seinem verformten, ruinierten Rücken ausbreitete, gegen die Tische, Kisten, Felsbrocken, Steine und Erdhügel, mit denen Lindy den Keller angefüllt hatte. Er war immer noch ein kräftiger Mann, und wenn er gegen etwas stieß, hörte man es.

Lindy kehrte zurück zu ihrer Lektüre. Auch wenn sie nur zehn Minuten hatte, bevor sie zu ihrer Schicht musste, verbrachte sie die Zeit mit Lesen. Sie hatte ihr Buch gegen einen Stapel Bücher auf dem Küchentisch gelehnt. Dies hier war nun ihr Reich. Ihr Vater kam in letzter Zeit selten herauf ins Erdgeschoss. Da sie ihm seinen Bereich mit den Dingen angefüllt hatte, die er liebte, fühlte sie sich berechtigt, ihren eigenen mit den Dingen anzufüllen, die sie liebte. Und das waren Bücher.

Sie las gerade Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. Er mochte es nicht, wenn sie las. Wäre er tagsüber noch ein normaler Bestandteil ihres Lebens, so wie bis vor ein paar Jahren, wäre er vielleicht hinter sie getreten und hätte ihr das Buch aus den Händen gerissen und es so hoch gehalten, dass sie nicht herankam – die siebenundvierzig Jahre im Bergwerk hatten ihn zwar etwas kleiner werden lassen, aber er war immer noch deutlich größer als sie. Und dann hätte er das Buch in den Mülleimer neben dem Spülbecken gefeuert. Wie immer hätte sie nichts dazu gesagt, das Buch aus dem Müll gefischt und ungerührt Kaffeepulver und glibberige, weiß-gelbliche Klümpchen Bratfett weggewischt. Sie wollte nicht, dass er merkte, wie sehr sie das verletzte.

Schon immer war er aufbrausend gewesen. Eine schreckliche Wut lauerte in ihm, die jederzeit zum Leben erwachen konnte, wie eine Flamme, die aufflackert, wenn man ein Feuerzeug anmacht – genauso plötzlich, genauso leicht. Von klein auf hatte Lindy gelernt, mit seinen Launen fertigzuwerden, wie sie ihnen vorsichtig auswich, so wie man um ein verletztes Tier am Straßenrand herumgeht, weil man nicht weiß, ob es sich erholt und einen anspringt, mit Zähnen und Klauen und seinem ganzen Überlebensinstinkt. Damals hatte er sie nicht besonders gemocht. Lindys Mutter liebte sie – darüber gab es keinen Zweifel –, aber ihr Vater schien immer einen düsteren Groll gegen sie zu hegen. Er hatte akzeptiert, dass sie da war, aber er war darüber nicht glücklich. Vor sechs Jahren hatte der Krebs ihm seine Frau Margaret genommen, und nun gab es nur noch ihn und Lindy. Und da hatte er angefangen, sich zu verändern, Stück für Stück. Er wurde sanfter. Zum Teil aus Angst, das wusste Lindy. Angst vor dem, was mit ihm geschah. Er brauchte sie. Aber die Ursache war ihr egal. Es machte ihr nichts aus, dass Panik und Verzweiflung endlich aus ihm einen Vater machten. Sie liebte ihn. Und jetzt, so schien es, liebte er sie auch.

»Irgendwas passiert mit mir, mein Mädchen«, hatte er damals zu ihr gesagt, als alles angefangen hatte. »In meinem Kopf. Wolken. Es ist, als ob dicke schwarze Wolken aufziehen und es einen Sturm geben würde. Sie geraten zwischen mich und das, was ich tun oder sagen will. Wolken. Sie kommen und gehen. Es macht mich verrückt. Ich kann nicht mehr denken. Ich kann nicht …« Er brach ab. Schüttelte den Kopf. Lindy hatte ihre Hand an seine Brust gelegt und sie dort liegen lassen. Er hatte seine Augen geschlossen. Eine ganze Weile verharrten sie so, und dann war er wieder er selbst. Für einige Zeit.

Nun verbrachte er die meiste Zeit im Keller. An dem Ort, den sie vor drei Jahren für ihn geschaffen hatte, um ihn zu beruhigen. Sie hatte die großen Felsbrocken hierherbefördert, hatte die Kisten aufgestapelt, die Tische und die alten Fässer hingestellt. Sie hatte die Äste und das alte Gerümpel besorgt und alles auf dem schmutzigen kalten Boden verteilt. Hatte hier und da Kohle hingeschüttet, auch Kies. Er wollte es dunkel haben, bestand darauf, deshalb hatte sie die Glühbirne aus der Fassung der Deckenlampe gedreht. Dann war sie wieder die Treppe in den ersten Stock hinaufgegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht.

Er verbrachte seine Zeit in einer schwarzen Dunkelheit, die der Dunkelheit entsprach, die sich in ihm ausbreitete. Außer gelegentlichem Poltern und Ächzen hörte sie nicht viel von ihm. Sie wusste, dass er nachts die Treppe heraufkam. Am Morgen sah sie dann die Folgen: eine aufgerissene Schachtel Kellogg’s Corn Flakes, deren Inhalt zu drei Vierteln verschwunden war, weil eine hektische Hand die Hälfte auf dem Weg zum Mund auf dem Fußboden verstreut hatte. Melonenschalen mit einer ungleichmäßigen Reihe von Vertiefungen an den Stellen, wo seine verbleibenden Zähne das süße Fruchtfleisch abgenagt hatten. Ein scheußlicher, schwindelerregender Gestank vom Spülbecken her, in das er manchmal seinen Eimer leerte, ohne sich die Mühe zu machen, den Wasserhahn aufzudrehen, um Kot und Urin in den Abfluss zu spülen. Sie musste die Spüle jeden Tag desinfizieren. Der Gestank war widerwärtig.

Vor zweieinhalb Jahren, als er ihr zum letzten Mal erlaubt hatte, ihn irgendwohin zu bringen, hatte ihr der Arzt im Raythune County Medical Center – der einzige Neurologe in der Gegend, der noch staatlich versicherte Patienten behandelte – schonungslos erklärt: »Ihr Vater hat neben den neurologischen Defiziten erhebliche und chronische Gesundheitsprobleme, unter anderem ein Lungenemphysem und eine Herzinsuffizienz. Man kann unmöglich sagen, wie lange er noch leben wird. Es kann schnell gehen, kann aber auch noch dauern.« Was der Arzt nicht aussprach, was Lindy aber aus dem Schweigen schloss, das sich nach seinen Worten über den Raum mit den beigefarbenen Wänden senkte, war: In Anbetracht seines jetzigen Geisteszustands wäre ein schneller Tod möglicherweise besser. Sie hatte genickt und ihrem Vater von der Untersuchungsliege geholfen. Als sie versuchte, ihm seine Jacke anzuziehen – er hatte wieder einmal seine Faust in den falschen Ärmel gesteckt –, schlug er nach ihrer Hand und stieß eine Verwünschung aus.

Der einzige Ort, an dem ihr Vater sich nun wohlfühlte, war die Vergangenheit. Vergangenheit, das bedeutete für ihn das Bergwerk Acer Nummer 40, siebenundzwanzig Meilen über die Route 6 in der ländlichen Gegend von Raythune County, wo er bis ins Alter von über sechzig Jahren seine Schichten geschoben hatte, gebeugt wie ein Baum in einem nicht enden wollenden Hurrikan.

Lindy beendete gerade Teil vier von Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. Sie liebte das Buch. Es handelte von Raum und Zeit und Schwerkraft, Dingen, die man messen konnte, Dingen, die gründliches Nachdenken über sie damit belohnten, dass sie sich als handfest und nachvollziehbar erwiesen, anders als Dinge wie die eigenen Gefühle oder die Familie. Aber nun musste sie aufhören, denn es war Zeit, sich für die Arbeit fertig zu machen. Seit sie die Highschool von Acker’s Gap vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, arbeitete sie als Nachtmanagerin an der Tankstelle.

Wieder ein dumpfer Schlag.

Sie wartete. Kein weiteres Geräusch. Keine Schreie. Gut. Dann hatte er sich wahrscheinlich nicht wehgetan, und sie musste nicht die Kellertür öffnen und zu ihm hinunterrufen, ob alles in Ordnung sei, worauf er wahrscheinlich mit einem Fauchen oder Knurren antworten würde. Ihr Vater war heute in gereizter Stimmung, rastlos und mürrisch, er warf Gegenstände um und brüllte. Wahrscheinlich hatte er vorhin das Postauto gehört und sich über den Lärm geärgert. Er mochte nicht, dass irgendwer zu ihnen ins Haus kam. Aber hier gab es im Umkreis von hundert Meilen keine Buchhandlung. Wenn sie etwas brauchte, musste sie es im Internet kaufen und sich liefern lassen. Sie hatte genug Bücher bestellt, sodass sie bis zum Herbst versorgt war. Der weißhaarige Postmann mit den struppigen Augenbrauen, Perry Crum, sein zweiundsechzigjähriger Körper gekrümmt wie ein ausgefranster Viertelmond, weil er so viele Jahrzehnte lang schwere Postsäcke bis in die entlegensten ländlichen Gegenden von Raythune County geschleppt hatte, zog sie oft deswegen auf. Wenn er Zeit hatte, schleifte er den schweren Bücherkarton herein, obwohl das nicht von ihm verlangt wurde, und wenn er ihn auf den Küchentisch wuchtete, sagte er: »Schwerer als eine Kiste Steine! Ich wünschte wirklich, du würdest gehäkelte Topflappen sammeln anstatt Bücher.«

Er scherzte nur. Es machte ihm nicht wirklich etwas aus. Tatsächlich sprach Perry Crum mit ihr über die Bücher, die sie las, denn er selbst interessierte sich auch für Naturwissenschaften; er hatte eigentlich Biologie studieren wollen, konnte dann aber nicht aufs College gehen, weil er sich um seine Schwester Ellie kümmern musste, die das Downsyndrom hatte. Ihre Eltern waren seit Langem tot, und es gab sonst niemanden, der das hätte tun können. Seine familiäre Situation hatte er Lindy gegenüber nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Über so etwas sprach man nicht in dieser Gegend. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen. So war das eben.

Im letzten Monat war Lindys Vater am Tag, als Perry mit einem Paket voller Bücher gekommen war, in der Küche gewesen. Als Perry ihm lächelnd zuwinkte, sah ihr Vater ihn nur finster an und knurrte.

»Daddy, du kennst doch Perry Crum«, sagte Lindy und klopfte auf den quadratischen Karton, den Perry auf dem Küchentisch abgestellt hatte. »Er hat mir meine Bücher gebracht.«

Ihr Vater brummte etwas Unverständliches. Dann stützte er sich mit seiner verkrümmten Hand an der Küchenwand ab und ging tastend und schwankend zur Kellertür. Er blickte sich nicht zu dem Postmann oder zu seiner Tochter um. Sein Rückzug nach unten hatte etwas Bedeutsames und Feierliches, jeder Schritt ein Donnerschlag, der die Treppe vibrieren ließ.

Auf Perrys faltiges Gesicht war ein besorgter Ausdruck getreten. »Ist alles okay mit dir hier?«, fragte er.

»Mir geht’s gut. Wirklich.«

Und so war es auch. Sie konnte für sich selbst sorgen. Das tat sie schon seit einer ganzen Weile. Schon bevor ihr Vater so geworden war, hatte er stets lang im Bergwerk gearbeitet. War praktisch bewusstlos gewesen vor Erschöpfung, wenn er nach Hause kam.

Lindy sah sich nach einem Lesezeichen um. Neben ihr lag ein Stapel Briefe, Post von letzter Woche, denn sie schob es immer hinaus, sie durchzusehen, dicke und dünne Umschläge in verschiedenen Größen, außerdem Hochglanzprospekte von den Discountern an der Interstate.

Sie griff nach dem Umschlag, der zuoberst auf dem Stapel lag. Ihr Vater erhielt immer noch von Zeit zu Zeit Post. Nichts Persönliches. Meistens waren es Werbebriefe oder Schreiben von der Sozialversicherung und der Krankenkasse, obwohl Lindy die mageren Renteneinkünfte ihres Vaters schon vor langer Zeit direkt angelegt hatte und davon die Hypothek bezahlte. Davon abgesehen rührte sie sein Geld niemals an. Ihre Bücher kaufte sie von ihrem eigenen Gehalt.

Der Brief – sie legte ihn in das Buch, um die Stelle zwischen den Seiten 376 und 377 zu markieren – sah aus wie die Kundenwerbung von irgendeiner Firma, die einem etwas andrehen wollte, was man nicht brauchte. Abgestempelt in New York City. In der Mitte, im Feld für den Empfänger, standen gedruckt Name und Adresse ihres Vaters:

Odell CrabtreeCounty Road 76Acker’s Gap, WV

3

Noch lange würde Bell sich daran erinnern, wie dünn sich der Arm ihrer Schwester anfühlte. Sie hatte zuerst nach Shirleys Handgelenk gefasst, aber Shirley hatte es weggezogen. Irgendjemand in der Bar lachte laut, weil Shirley sich so heftig wehrte. Das Lachen machte Bell wütend, und sie spannte ihre Hand um Bells Oberarm. Der Arm fühlte sich an wie der eines Kindes: sehnig, hart und knochig. Grob führte Bell sie aus Tommy’s Bar hinaus in die suppenwarme Nacht in West Virginia.

Keine von beiden sprach während der Fahrt zurück nach Acker’s Gap. Sie schwiegen immer noch, als Bell abrupt in ihre Auffahrt einbog. Mit einem Ruck schob sie den Schalthebel auf Parkposition, schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und stieg aus. Blinzelnd, weil das starke Licht der Verandalampe sie blendete, schloss sie auf und öffnete schwungvoll die Eingangstür. Erst dann drehte sie sich zu Shirley herum, die ihr in sicherem Abstand die Verandastufen hinauf gefolgt war.

Bell schäumte vor Wut. Sie hatte die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass sie fürchtete, einen Backenzahn zu zermalmen, oder auch zwei. An der Schwelle trat sie zur Seite.

»Geh rein«, sagte sie. »Los.«

Zögernd blickte Shirley auf die zerkratzten, ausgeblichenen Holzdielen hinunter und steckte ihre Stiefelspitze in ein besonders großes Astloch.

»Los«, sagte Bell. »Ich hab’s eilig. Muss ins Gericht.«

Überrascht hob Shirley den Kopf. »Es ist noch nicht mal die Sonne aufgegangen.«

»Ja. Aber weißt du was?« Bells Stimme klang hart und scharf. »Ich bin Staatsanwältin. Weißt du, was das bedeutet? Dass ich ungefähr ein Dutzend offene Fälle zu bearbeiten habe. Im Moment versuchen wir herauszufinden, wer einen alten Mann auf seiner Auffahrt ermordet hat. Und falls du es vergessen hast, ich bin Gerichtsbeamtin. Und weil ich heute Nacht bei der Untersuchung einer Straftat zugegen war, muss ich nun tausend Formulare ausfüllen.«

»Das hatte nichts mit dir zu tun«, sagte Shirley, aber sie murmelte vor sich hin, und Bell konnte sie nicht verstehen.

»Was?« Bell war in Alarmbereitschaft, darauf gefasst, dass Shirley widersprach.

»Hab nur gesagt, dass das, was heute Nacht bei Tommy’s passiert ist, nichts mit dir zu tun hat. Und mit mir auch nicht. Der Typ kommt dauernd in die Bar und macht Ärger. Hab ihn schon oft gesehen. Irgendjemand wollte ihn zur Vernunft bringen.«

»Also hast du dich dort die ganze Zeit rumgetrieben? Bei Tommy’s? Schläfst du auch da?«

Shirley sah sie nicht an. »Ich war bei Freunden.«

»Freunde«, sagte Bell höhnisch. »Freunde, die an Orten wie Tommy’s Bar herumhängen.«

»Es ist nicht so schlimm. Die Dinge sind nur etwas aus dem Ruder gelaufen.«

»Genau«, sagte Bell. »Aus dem Ruder gelaufen, das würde ich auch sagen. Ein Mann ist tot.«

Shirley gab keine Antwort. Bell schüttelte den Kopf, versuchte, die letzten paar Sekunden wegzuwischen und dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. Der Dreckskerl, der sich in einer heruntergekommenen Bar in Collier County hatte umbringen lassen, war ihr egal, solange es zwischen seinem Tod und dem Mord in Acker’s Gap keine Verbindung gab, was wahrscheinlich war. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwester, für die sie sich zutiefst verantwortlich fühlte.

Forschend sah Bell sie an. Shirley würde kommenden Monat siebenundvierzig Jahre alt werden. Mit ihrem langen grauen Haar, das am Scheitel schon schütter wurde wie bei einem alten Mann, konnte man sie für sechzig halten. Ihre Wangenknochen sahen aus, als würden sie sich nach vorne schieben, das Fleisch verdrängen und bald das gesamte Gesicht dominieren. Ihre Augen waren stumpf, und die papierartige Haut um sie herum war trocken und von feinen Linien durchzogen.

Doch wenn Bell Shirley eindringlich ansah und Ärger und Enttäuschung wegschob, bestürmten sie unbändige Gefühle: Mitleid, Liebe, Schuld und demütige Zärtlichkeit. Shirley hatte für Bell so vieles aufgegeben, dass Bell unendlich tief in ihrer Schuld stand. Ihr Vater hatte Shirley jahrelang sexuell belästigt, und als Donnie Dolan seine Aufmerksamkeit auf die zehnjährige Belfa zu verlagern schien, hatte Shirley sie beschützt – auf die einzige Weise, die sie kannte: Sie hatte ihrem Vater ein Messer in den Hals gestochen und mit Benzin ihren Wohnwagen niedergebrannt. Damit hatte sie Angst, Schrecken und Gefahr zerstört. Hatte alle Monster verjagt. Oder es zumindest versucht.

Dreißig Jahre waren seit dieser Nacht vergangen. Aber selbst jetzt, wenn Bell über das Opfer nachdachte, das ihre Schwester gebracht hatte und das sie einen so großen Teil ihres Lebens gekostet hatte – die Gefängnisstrafe war wegen ihrer Aufmüpfigkeit und wegen eines Fluchtversuchs wieder und wieder verlängert worden –, war Bell überwältigt. Shirley hatte Bells Leben möglich gemacht. College, Jurastudium, Mutterschaft, Staatsdienst – nichts von alldem hätte ohne Shirley stattfinden können.

Also selbst wenn Bells Ärger auf ihre Schwester ein solches Ausmaß erreichte wie in dieser Nacht, brauchte sie sich diese Frau mit der schlaffen Haut und den traurigen Augen nur anzusehen. Und schon wünschte Bell, sie könnte diese ganze verdammte Welt für einen Augenblick vergessen und sich zusammen mit Shirley matt auf den Verandaboden sinken lassen, um dort in einer unbeholfenen Umarmung zu verweilen, vereint in ihrem Kummer und tiefem Bedauern. Sie würden nicht weinen, nicht reden, sich nur hin und her wiegen, als wäre dieser Fleck eine Insel des Lichts in dunkler und angsteinflößender Nacht, in der zwei kleine Mädchen einander in den Schlaf wiegten.

Aber das konnte Bell nicht tun. Sie war eine erwachsene Frau, hatte Dinge zu erledigen, enorme, langfristige Verpflichtungen. Nicht nur ihre Aufgaben als Staatsanwältin und der grausame, ungelöste Mord an Freddie Arnett hielten sie auf Trab, nächste Woche kam auch noch ihre Tochter Carla. Bell zuckte bei dem Gedanken zusammen, Carla könnte ihre Tante Shirley in dieser Verfassung zu Gesicht bekommen: heimlichtuerisch, rebellisch, stinkend nach Alkohol, Zigaretten und Selbstmitleid.

Abermals geriet sie in Ärger. Er schien nie sehr lange fortzubleiben.

»Ich hab dir gesagt, du sollst reingehen«, erklärte Bell. »Schlaf ein bisschen. Ich komme später. Dann reden wir.« Shirley, den Kopf gesenkt, die Hände in den Jeanstaschen, schickte sich an, hinter ihr her ins Haus zu schlurfen.

Plötzlich packte Bell ihre Schwester am Oberarm, so wie vorhin, als sie sie aus Tommy’s Bar geführt hatte. »Was ist denn los, Shirley?«, sagte sie in hartem Ton. »Um Himmels willen – was zum Teufel willst du? Ich habe getan, was ich konnte. Aber du vermasselst es immer wieder. Also was soll das? Was willst du? Was?«

Ein freudloses Lächeln erschien kurz auf Shirleys Gesicht. »Ich will die letzten dreißig Jahre zurück«, sagte sie. »Kannst du sie zurückholen?«

4

»Ich hab die Identität von diesem Mordopfer bei Tommy’s.«

Deputy Mathers musste den Satz zweimal wiederholen, bevor Bell endlich aufblickte. Und selbst dann registrierte sie seine Worte nur halb. Sie hatte die Ellbogen auf zwei gleich hohe Stapel von Aktenordnern gestützt, die sich auf ihrem Schreibtisch von allein reproduziert zu haben schienen. Auf einem gelben Block hatte sie eine Liste dringender Aufgaben für die Assistenten der Staatsanwaltschaft, Hickey Leonard und Rhonda Lovejoy, erstellt. Die Ermittlungen im Mordfall Freddie Arnett waren bisher nicht über das hinausgekommen, was Bell das »OMG – Oh-mein-Gott«-Stadium nannte, das sich durch Schock, Panik und Händeringen bei allen Beteiligten auszeichnete. All diese Reaktionen waren verständlich, aber keine davon konnte auch nur das Geringste dazu beitragen, den Dreckskerl aufzuspüren, der den alten Mann zu Tode geprügelt hatte. Zeit, sich etwas einfallen zu lassen und eines der brutalsten Verbrechen aufzuklären, an die man sich hier in der Gegend erinnern konnte. Und die Erinnerungen reichten hier weit zurück.

Es war kurz nach Sonnenaufgang. Bell hatte Shirley zu Hause gelassen und war direkt in die Mainstreet zum Gericht von Raythune County gefahren, einem wuchtigen dreigeschossigen, hellen Gebäude mit Kuppeldach. Es war 1867 erbaut worden, was man im Inneren auch seinen Rohrleitungen anmerkte. Weiches gelbes Licht drang durch die hohen Bleiglasfenster in Bells Büro. Staub lag in der Luft. Egal, wie oft und wie gut ihr Büro geputzt wurde, immer war es staubig. Das Gerichtsgebäude ist so alt, dass der Staub ein größeres Anrecht auf diesen Ort hat als die Menschen, dachte Bell.

»Wovon sprechen Sie?«, blaffte sie. Er hatte sie aufgeschreckt, so sehr war sie in die Details des Arnett-Falls vertieft gewesen, weshalb ihr Ton ruppiger ausfiel als beabsichtigt.

Charlie Mathers nahm es ihr nicht übel. Er verstand das. Sie standen beide unter immensem Druck und waren sich des Vertrauens bewusst, das die Bewohner von Acker’s Gap in sie setzten. Die Leute glaubten fest daran, dass sie Freddie Arnetts Mörder finden und der Fall vollständig aufgeklärt werden würde und der Täter bis an sein Lebensende hinter Gitter verschwand. West Virginia hatte die Todesstrafe 1965 abgeschafft, aber Fälle wie dieser brachten einige Bürger dazu, diese Tatsache öffentlich zu bedauern.

ENDE DER LESEPROBE