Blutroter Tod - Tetsuya Honda - E-Book

Blutroter Tod E-Book

Tetsuya Honda

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Beschreibung

Reiko Himekawa:Sie ist cool - Sie ist tough - Sie ist sehr clever - Sie ist die beste Ermittlerin der Mordkommission Tokio! Jetzt endlich auch in Deutschland: Der sensationelle Millionen-Bestseller-Erfolg aus Japan von Tetsuya Honda und der Start einer neuen Serie! Sie hat das, was die anderen nicht haben: Mut, Durchsetzungskraft und vor allem Intuition. Deshalb hat sie nicht nur Freunde im Team. Weil sie aber die beste Ermittlerin in Tokio ist, wird ihr Team auf diesen Fall angesetzt: Ein Toter, in dessen Körper unzählige Glassplitter stecken. Der Mann muss in einer wahren Orgie aus Blut ums Leben gekommen sein. Weitere Leichen folgen. Alle auf ähnliche Weise getötet. Da stoßen Reiko und ihr Team auf eine ominöse Website im Internet, über die in dunklen Foren nur geflüstert wird. Dort soll die Welt in einem leuchtenden Rot erstrahlen – blutrot.

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TETSUYAHONDA

BLUTROTER TOD

Reiko Himekawa ermittelt in Tokio

THRILLER

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

FISCHER E-Books

THRILLER

Inhalt

Personen der HandlungTeil IEin fauliger Regen fiel [...]1 Dienstag, 12. August Otsuka, Bezirk Bunkyo, Tokio2 Dienstag, 12. August, 14.37 Uhr3 Dienstag, 12. August, 19.30 Uhr4 Mittwoch, 13. August5 Mittwoch, 13. August, 21.00 Uhr Abendbesprechung der Sonderkommission6Teil IIMein Leben war grau. [...]1 Samstag, 16. August2 Sonntag, 17. August, 11.00 Uhr3 Sonntag, 17. August, 14.00 Uhr4 Montag, 18. August, 8.30 Uhr567Teil IIIIch lud die Leiche [...]1 Samstag, 23. August, 8.00 Uhr23 Sonntag, 24. August4 Sonntag, 24. August, 19.30 UhrMontag, 25. August5 Montag, 25. August6 Dienstag, 26. August, 11.30 Uhr7 Dienstag, 26. August.8Teil IV1234Teil V[Kapitel]Mittwoch, 27. August

Personen der Handlung

Hashizume – Direktor der Mordkommission der Keishi-chō, dem Polizeipräsidium der Präfektur Tokio

Wada – Leitender Direktor der Mordkommission der Keishi-chō

 

Einheit 10:

Haruo Imaizumi – Chef der Einheit 10, Mordkommission

Reiko Himekawa – Hauptkommissarin und Teamleiterin

Tamotsu Ishikura – Kommissar in Himekawas Team

Kazuo Kikuta – Kommissar in Himekawas Team

Junji Otsuka – Polizeibeamter in Himekawas Team

Kohei Yuda – Polizeibeamter in Himekawas Team

Mamoru Kusaka – Hauptkommissar und Teamleiter

Hiromitsu Ioka – Streifenpolizist, Polizeirevier Kameari

Kensaku Katsumata – Hauptkommissar und Teamleiter von Einheit 5 der Mordkommission in der Keishi-chō

Noboru Kitami – Hauptkommissar und Anwärter auf ein Amt im höheren Dienst, dem Bezirk Kameari zugeteilt

Komine – Beamter des kriminaltechnischen Erkennungsdienstes

Sadanosuke Kunioku – Gerichtsmediziner, Institut für Rechtsmedizin Tokio

 

Yakuza – japanische Verbrecherorganisationen bzw. deren Mitglieder

Teil I

Ein fauliger Regen fiel und färbte die ganze Welt grau.

Ich wusste, was wirklich dort draußen vor meinen Augen war. Das vorüberfahrende Taxi, das einen Schleier aus schlammigem Wasser von der löchrigen Straße emporsandte, war grün. Der Regenschirm, den das kleine Schulkind hielt, war rot. Ich blickte an mir herab. Mein dunkelblauer Schulblazer war im Regen schwarz geworden. Mein Verstand erfasste die Farben – aber mein Herz fühlte sie nicht.

Meine Wahrnehmung ist monochrom. Aber nicht wie auf einem Schwarzweißfoto. Sie hat keine weichen Kanten, keine Tiefe, keinen Sinn für die Wirklichkeit. Sie ist eher wie eine fahle Wasserfarbe, ein bedeutungsloser, schemenhafter Klecks. Verschüttete Tinte auf einem weißen Blatt Papier – das ist das graue Universum, in dem ich lebe.

Das schäbige Fertighaus war alt und seine Wände vom Regen geschwärzt. Die Eingangstür war unverschlossen. Ich schob sie leise auf. Sofort überfiel mich ein säuerlicher Gestank. Das ist nicht ausgedacht. Das ganze Haus war krank, verfault.

Abwasser, das einsickerte. Ranziger Tiergeruch. Die Luft dick und muffig. Schimmel auf allen Flächen – Boden, Wände, Decken. Das Leben in diesem Dreckloch hätte jedermanns Geruchssinn zerstört. Leider war der meine noch intakt. Und der Gestank ließ mich von innen nach außen verrotten.

»Bist du das?«

Die Stimme gurgelte wie Schlamm, der aus dem Abfluss quoll. Sie kam aus dem trübe beleuchteten Wohnzimmer am Ende des Gangs. Sie war mir genauso angenehm wie eine Schabe, die sich in mein Gehirn bohrt. Ich hielt mir die Ohren zu. Und antwortete nicht.

»Ich rede mit dir, Matschbirne.«

Ein Schatten baute sich auf und blockierte die Tür zum Wohnzimmer.

Er hatte sich mir zu Ehren sogar angezogen, trug ein ärmelloses Sporthemd. Es kam mir grau vor; in Wirklichkeit war es vermutlich braun. Ansonsten war er nackt. Alles in dieser Wohnung war faulig. Schmutz und Schäbigkeit, das war meine Welt.

»Hast du mich nicht gehört, oder was?«

Das gefällt dir, oder? Macht es dir wirklich so viel Spaß, mich zu schikanieren? Nur weil du mein Vater bist, bildest du dir ein, du hättest ein Recht darauf, mir das Leben zu vermiesen? Du bist aus deiner Gang geflogen und mit einer Menge Stoff hier untergetaucht. Den hast du wahrscheinlich geklaut. Glaubst du, es macht Spaß, dich langsam verrotten zu sehen? Bin gespannt, was länger vorhält – dein verfaulender Körper oder der Vorrat an Drogen, mit denen du dich vollstopfst. Aber mit mir hat das nichts zu tun. Gar nichts.

»Komm her zu mir«, knurrte er.

Er packte mich an den Haaren, so wie immer, und zerrte mich ins Zimmer. Meine Mutter, übersät mit wunden Stellen, lag auf der zerfetzten Couch mit den hervorspringenden Federn, alle viere von sich gestreckt.

Sie schaute mich an, sie erkannte mich, rührte aber keinen Finger. Ich erhoffte mir keine Hilfe von ihr, wollte sie nicht mal. Trotzdem wäre es nett gewesen, wenn sie wenigstens so getan hätte, als sei sie besorgt. Ihre dürren Arme waren schwarz und voller Einstiche. Komm schon, Mama, er tut mir weh. Bringst du nicht mal das kleinste Stirnrunzeln zustande?

»Der da ist für dich.«

Seine fette Faust schlug mir auf die Nase. Der Schlag fegte mich zu Boden.

»Hü, Pferdchen!«

Er setzte sich rittlings auf mich drauf, wobei er keuchte und lachte wie ein Irrer.

Schon wieder?

Ich fragte mich, woher er plötzlich so viel Kraft nahm. Er, der abgehalfterte drittklassige Gangster, der nicht mal den kleinsten Versuch unternahm, seine Familie zu ernähren. Er war so sehr damit beschäftigt, sich wie ein Perverser aufzuführen, dass er sogar vergaß zu essen. Der Typ versank immer tiefer in einem Sumpf aus Drogen und Dreck und war doch noch immer kräftig wie ein Pferd.

Meine Schuluniform zerriss. Wahrscheinlich genau an der Stelle, die ich vorgestern geflickt hatte. Morgen würde ich im Trainingsanzug zur Schule gehen müssen.

Niemand aus meiner Klasse würde mit mir sprechen. Auch nicht die Lehrer. Sie hielten sich alle von mir fern. Weil ich stank; ich stank so entsetzlich, dass ihnen schlecht wurde. Trotzdem war ich froh, dass die Schule mich überhaupt hineinließ. Sie war meine Zuflucht, zumindest tagsüber.

Ich saß in der hintersten Ecke des Klassenzimmers. Sie hatten Platz für mich gemacht. Der Schrank mit dem Putzzeug wurde ein Stück beiseitegerückt. Ich saß eingeklemmt zwischen Schrank und Fenster. Während des Unterrichts sah ich nur die Hälfte der Tafel, und keiner der Lehrer stellte mir Fragen. In der Schule war ich den ganzen Tag allein. Es war mir egal. Es war nichts im Vergleich zu der Hölle, die ich zu Hause durchmachte.

Ein Tag verlief wie der andere. Er zerriss mir die Kleider und traktierte mich mit Schlägen und Tritten. Dann würgte er mich und drückte mir das Gesicht gegen den Holzboden.

Und mit jedem Tag verlor ich mehr und mehr die Fähigkeit, Farben wahrzunehmen, die Fähigkeit, Essen zu schmecken, sogar die Sprache kam mir abhanden. Das Einzige, was ich nie verlor, war die Fähigkeit, den fauligen Gestank zu riechen. Mein Vater war nicht der Einzige, der im Sumpf versank. Mir erging es ebenso. Ich versank mit ihm. Und er konnte mich jederzeit umbringen. Ich weiß nicht, warum, aber es kam mir nie in den Sinn, mich selbst zu töten.

Irgendwann wird sich mein Leben ändern.

Ich war ganz sicher. Ich wusste nicht, wie. Ich wusste nur, dass sich eines Tages etwas ändern würde.

Und dieser Tag war heute.

Auf dem Boden, direkt vor meiner Nase, bemerkte ich einen Gegenstand, der aussah wie ein plattgedrückter Stift. Er war aus Plastik, hübsch, babyrosa. Die Spitze war silbern und das andere Ende weiß. Er lag vor mir wie etwas aus einem 3-D-Film: das billige Teppichmesser, das mir aus der Brusttasche gerutscht war.

»Was zum –!«

Er schaute verblüfft auf mich herunter. Er hatte keine Ahnung, was passiert war. Er griff sich an die Kehle. Rotes Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch und spritzte in alle Richtungen. Rot – ein leuchtendes, lebhaftes Rot – ergoss sich über mich und durchnässte mich wie ein herrlicher Regen in Technicolor.

Vielleicht ist die Welt ja doch nicht grau!

Der Mann ächzte und stöhnte, als er neben mir auf den Boden rollte. Er sah aus, als würde er jeden Moment losheulen.

Das ist komisch. Ich dachte immer, er will sterben.

Ich schaute auf das Teppichmesser in meiner Hand.

Das war viel einfacher, als ich dachte.

»Hilfe … hilf mir!«

Seine vor Entsetzen geweiteten Augen waren starr auf mich gerichtet, während er sich ans andere Ende des Zimmers schleppte. Glaubst du wirklich, die Wand rettet dir das Leben? Endlich schaffte er es bis zur Couch, auf der Mama ausgestreckt lag. Er packte einen ihrer Füße und rüttelte daran.

»Hiii… hilf mir …«

Er sah sich mehrmals nach mir um, während er an ihr herumzerrte. Mama glotzte nur verträumt auf ihre Füße. Rührte keinen Finger, um ihm zu helfen. Minuten verstrichen. Seine Hilferufe wurden schwächer. Die Augen, die mich so entsetzt anstarrten, wurden nach und nach trübe und ebenso verschwommen wie die meiner Mutter.

»Wunderschön«, murmelte ich.

Jetzt war alles rot. Das Blut hatte meinem trostlosen, grauen Leben einen leuchtend roten Anstrich verpasst. Aus dem finsteren, stinkenden Nichts war eine schöne neue Welt geworden.

Freiheit.

Das Wort sprang mir plötzlich in den Sinn.

Meine Mutter – meine eklige, dreckige Mutter – war über und über mit einem wunderschönen Scharlachrot besprüht. Ich stand nur da und starrte sie an. Da wurde die Farbe allmählich blass. Blut wird schwarz, wenn es trocknet.

O Gott, ich will nicht, dass alles wieder grau wird!

In einem Anflug von Panik schlitzte ich auch meiner Mutter die Kehle auf.

 

Der Schweinestall von einem Haus stand in Flammen. Ein Rot, röter noch als Blut, quoll aus den Fenstern. Dicker, grämlich schwarzer Rauch hing schwer über der Szene, als hätte eine dunkle Wolke die gesamte Nachbarschaft verschluckt. Durch den Dunst nahm ich den Schimmer einer Straßenlampe wahr, wie den Vollmond hinter einem Wolkenschleier.

Die Leute von der Feuerwehr kamen und versuchten, das Feuer zu löschen. Immer wenn sie ihre Schläuche auf das Haus richteten, stiegen weiße Rauchwolken auf. Ich stand ein wenig abseits hinter einer Hecke im Park und sah zu. Ich war nicht ganz sicher, aber es sah danach aus, als wären sie machtlos gegen das Feuer, denn trotz ihrer Bemühungen wütete es weiter. Das gefiel mir.

Ein so heftiges Feuer verbrannte beide Leichen zu Asche. Die Polizei würde trotzdem herausfinden, dass der Mann drogensüchtig gewesen war, und wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass er im Wahn seine Frau und dann sich selbst umgebracht hatte. Es war perfekt. Ich war diesen Dreckskerl endgültig los. Jetzt konnte er mir nichts mehr anhaben.

»Ich muss jetzt gehen … Vergiss, was heute passiert ist. Nein, streich das. Ich will, dass du dein ganzes bisheriges Leben vergisst. Lass alles los. Fang noch einmal von vorne an.«

Ich nickte. Das hatte ich ohnehin geplant. Es machte mir den Abschied aber nicht leichter.

»Sehen wir uns wieder?«

»Lieber nicht.«

»Nie mehr?«

»Das nicht gerade, aber für eine Weile …«

Ich soll wieder allein sein?

Schwarzer Rauch. Weißer Rauch. Helle Straßenlampen. Der pechschwarze Park. Ich spürte, wie ich in meine alte graue Welt zurückglitt.

1Dienstag, 12. August Otsuka, Bezirk Bunkyo, Tokio

Reiko Himekawa saß in einem Restaurant unweit der Tokioter Gerichtsmedizin und aß mit dem Amtsarzt Sadanosuke Kunioku zu Mittag.

»Eine Leiche zu verbrennen, bis sie vollständig verkohlt ist, dürfte nicht einfach sein, oder?«

Reiko hatte sich Tempura zu ihren gekühlten Nudeln bestellt, während Kunioku sich für die gewöhnlichere Variante entschieden hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, weil heute Kunioku mit Bezahlen an der Reihe war. Andererseits wäre es doch jammerschade, hierherzukommen und die Tempura nicht zu kosten. Das Lokal war schließlich bekannt dafür.

Kunioku schlürfte genießerisch, als er sich die Brühe in den Mund löffelte. »Nein, ganz und gar nicht. Wenn ein Amateur eine Leiche loswerden will, indem er sie anzündet, endet sie für gewöhnlich in der Boxerpose.«

Reiko hatte von diesem Phänomen gehört. Es wurde von den Beuge- und Streckmuskeln verursacht, die sich der Hitze wegen unterschiedlich schnell zusammenzogen. Der Rücken wölbte sich, und alle vier Gliedmaßen spreizten sich ab.

Viele Mörder setzten die Leichen ihrer Opfer in Brand, um sich ihrer zu entledigen. Allerdings war es nahezu unmöglich, einen menschlichen Körper vollständig zu verbrennen, es sei denn in einer Feuerungsanlage. Versuchte man, auf freiem Feld eine Leiche zu verbrennen, wäre das bestmögliche Ergebnis tatsächlich die Boxerpose. Schlimmstenfalls würde der Körper sich in der Hitze aufblähen. Die hohe Temperatur verhärtete zudem die inneren Gewebestrukturen und verhinderte auf diese Weise postmortale Veränderungen. Wie man es auch drehte und wendete, eine Leiche im Feuer zu entsorgen war keine sonderlich schlaue Lösung.

Einen Ermordeten als das bedauernswerte Opfer eines Brandunfalls erscheinen zu lassen war auch nicht einfach. Da Tote nicht mehr atmeten, inhalierten sie auch keinen Rauch; das daraus resultierende Fehlen von Ruß in der Luftröhre würde die Obduktion unschwer an den Tag bringen. Und so wäre zweifelsfrei erwiesen, dass der Tod bereits vor dem Brand eingetreten war – ob durch Gewalteinwirkung oder natürliche Ursachen wäre dann noch zu klären. Wer die Leiche eines Menschen verbrannte, der eines natürlichen Todes gestorben war, verstieß zumindest gegen Artikel 190 im Gesetzbuch. »Leichenbeseitigung« galt als strafbare Handlung.

»Ich hatte neulich eine völlig verkohlte Leiche auf dem Tisch«, fuhr Kunioku fort. »Ein tragischer Fall – ein Kind, das in einen Verbrennungsofen gefallen war. Es war nicht einfach, aber ich konnte den Nachweis erbringen, dass der Junge noch am Leben gewesen war, als er in die Flammen fiel. Ob jemand ihn gestoßen hatte oder nicht, konnte ich freilich nicht herausfinden. Schließlich entschied die örtliche Polizei, von einem tragischen Unfall zu sprechen.«

Reiko und Kunioku aßen ein- oder zweimal im Monat gemeinsam zu Mittag. Sie trafen sich in den unterschiedlichsten Lokalitäten – schicke französische Restaurants, kleine Grillhähnchenbuden oder Ramen-Nudel-Bars –, doch das Gesprächsthema war immer dasselbe: bizarre Todesarten.

Ihr letztes Zusammentreffen hatte in einem eleganten indischen Restaurant stattgefunden. Kunioku hatte über Naegleria fowleri gesprochen, eine parasitäre Amöbenart, die während der Sommermonate in Süßwasser gedeiht. Die Amöbe gelangt über die Nasenhöhle direkt ins menschliche Gehirn, wo sie sich vermehrt, dabei das Gehirn auffrisst und zu Brei werden lässt. Japans zweiter Todesfall infolge von Naegleria fowleri war erst unlängst in Tokio verzeichnet worden.

In diesem speziellen Fall hatte es sich um eine tödliche Infektion gehandelt, doch Reiko und Kunioku hatten über die Möglichkeit diskutiert, besagte Amöbenart als Mordwaffe einzusetzen. Kunioku hatte erwähnt, dass man aus den Seen und Tümpeln in Tokio Proben entnommen hatte, um die Wasserqualität zu testen. Reiko fragte sich, was dabei wohl herausgekommen war.

Kunioku goss noch ein wenig Brühe in seine Schale.

»Es war entsetzlich. Die Eltern waren noch jung und vor Trauer halbwahnsinnig. Und das Schlimmste war, dass der Junge in den Verbrennungsofen gefallen war, weil sein alter Großvater nicht genug auf ihn achtgegeben hatte.«

Reiko nickte. Sie blickte auf Kuniokus wirren grauen Haarschopf, der ihn um einiges älter aussehen ließ, als er tatsächlich war. Wenn er jemanden einen »alten Großvater« nannte, klang es daher fast ein wenig komisch.

Und doch genoss Reiko ihre Treffen mit dem alten Mann. Er hatte viel Erfahrung als Gerichtsmediziner.

Gerichtsmediziner sind Experten für unnatürliche Todesfälle. Schließlich befassen sie sich tagtäglich mit allen erdenklichen Todesursachen, vom Exitus infolge einer medikamentösen Behandlung über den Unfalltod, den Sekundentod, den Tod nach schwerer Krankheit, den Selbstmord, den als Selbstmord getarnten Mord, den als natürlichen Tod getarnten Mord bis hin zum eindeutigen Mord. Für eine Kriminalbeamtin wie Reiko waren Kuniokus Geschichten ausnahmslos faszinierend.

»Hast du immer noch keinen Mann, Süße?«, fragte er sie mit einem boshaften Glitzern in den Augen.

Sie hätte sich fast verschluckt.

»O nein. Jetzt fang du nicht auch noch an.«

»Ich auch noch? Was meinst du damit?«

Reiko schnaubte und presste verächtlich die Lippen aufeinander. »Ich meine, du plus mein Vater, meine Mutter und meine Tante. Meine Tante ist die Schlimmste von allen. Jetzt bist du schon dreißig, Reiko. Du kannst doch nicht ewig Räuber und Gendarm spielen. Ich werde tatsächlich dreißig nächstes Jahr – das stimmt schon –, aber diese ›Räuber-und-Gendarm-Geschichte‹, die nehme ich ihr übel. Neuerdings präsentiert sie mir an meinen freien Tagen potentielle Ehemänner. Aufdringlicher geht’s ja wohl nicht.«

Kunioku gluckste schadenfroh in sich hinein. »Und? Wie sind diese Treffen gelaufen?«

Reiko erwiderte sein Grinsen. »Zwei Männer hab ich in der Kneipe sitzenlassen, und einer blieb im Regen stehen, weil ich zu einem Tatort gerufen wurde.«

Sie lachten beide laut. Als die heiße Soba-Brühe serviert wurde, goss sich Reiko eine großzügige Portion in ihre Schale. Perfektes Timing. Die Klimaanlage im Restaurant war etwas zu hoch gestellt. Als sie vorhin hereingekommen war, hatte ihr die Kühle gutgetan, doch allmählich wurde ihr kalt.

»Na, Herr Doktor«, fing sie an und stellte ihre Schale ab. »Warum hast du mich heute zum Essen eingeladen?«

Auch Kunioku stellte seine Schale ab.

»Ich bin eben gern mit dir zusammen, mein Engel.«

»Wie mit einer Enkeltochter?«

»Autsch! Nein, wie mit einer Freundin.«

»Jetzt sag ich autsch!«

Kunioku verzog weinerlich das Gesicht.

»Du brichst mir noch das Herz … Aber egal, unerwiderte Liebe ist in meinem Alter gut genug.«

»Und deine Arbeit? Seit Jahrzehnten obduzierst du Leichen. Gefällt es dir noch immer?«

»Absolut. Ich lerne auch jetzt noch jeden Tag etwas Neues dazu. Die forensische Pathologie unterscheidet sich sehr von der klinischen Medizin. Sie macht keine so rasanten Fortschritte. Bei uns gibt es weder bahnbrechende Wundermittel noch erstaunliche Apparate. Wir haben lediglich die Daten, die wir aus zahllosen Obduktionen sammeln, unseren Instinkt und ein geschärftes Wahrnehmungsvermögen, das die Erfahrung mit sich bringt. Diese Erfahrung erwirbt man sich allerdings nicht über Nacht. Das hält mir all die jungen Streber vom Leib. Der Job ist genau das Richtige für einen alten Faulpelz wie mich.«

Kunioku hob seine Schale wieder auf. Sein Handrücken war von unterschiedlich großen Leberflecken übersät. »Mein Gehalt ist nicht eben berauschend, das einzige Haar in der Suppe. Schließlich bin ich ein Angestellter der Tokioter Stadtregierung. Hätte ich meine eigene Praxis, könnte ich mir wahrscheinlich ein besseres Leben leisten. Aber im Grunde genommen bin ich ganz zufrieden mit dem Leben, das ich führe: Ich zücke mein Skalpell, um Zwiesprache zu halten mit den schweigenden Toten – und gelegentlich gehe ich mit dir essen.«

Reiko sah in Kunioku insgeheim den Großvater – nein, das war unfair –, den Onkel, den sie niemals gehabt hatte. Es imponierte ihr, dass er so ohne weiteres von einer Tätigkeit schwärmte, vor der die meisten Menschen Reißaus nehmen würden.

Sie wollte es als Polizistin genauso halten.

Schon mit siebenundzwanzig Jahren hatte sie es zur Hauptkommissarin gebracht, was ungewöhnlich jung war für jemanden, der über keinerlei Verbindungen verfügte. Bald darauf war sie von der Keishi-chō, der Tokioter Polizeibehörde, zur Einsatzleiterin der Mordkommission ernannt worden.

Eine Hauptkommissarin in der Mordkommission – noch dazu jünger als viele ihrer Untergebenen – sorgte für Aufsehen. Innerhalb der Abteilung gab es einige, die nur zu gerne über diese »Göre« murrten, die allenfalls »wusste, wie man gute Schulnoten bekam«. Sobald sie einen Fehler machte, wurde sie weitaus härter beurteilt als ihre männlichen Kollegen, und jeder wies spitz auf die »unüberbrückbare Kluft zwischen einem Examen und dem wahren Leben«. In Hörweite natürlich.

Ihr Arbeitsumfeld war nicht sonderlich gemütlich, doch Reiko dachte nicht im Traum daran, sich versetzen zu lassen. Sie war stolz darauf, Kriminalbeamtin zu sein, und konnte sich keinen besseren Beruf vorstellen. Wie Doktor Kunioku wollte sie von sich sagen können, dass die Arbeit ihr wirklich Freude machte. Zum Glück verstand Reiko sich gut mit den Männern ihrer Gruppe. Dass dem so war, verdankte sie hauptsächlich ihrem unmittelbaren Vorgesetzten Haruo Imaizumi, dem Leiter der Einheit 10, der sie in die Mordkommission geholt hatte. Sie wusste es zu schätzen, einen Chef und Untergebene zu haben, denen sie vertrauen konnte.

Daher hatte sie im Moment den meisten Ärger außerhalb des Berufs, weil ihre Familie sie ständig damit nervte, dass sie noch nicht verheiratet war. Im nächsten Jahr würde sie dreißig. Da sie noch zu Hause lebte, würde sie vom »Single« zur »alten Jungfer« avancieren, und irgendwann wäre sie nicht mehr imstande, all die bissigen Kommentare einfach mit einem Lachen abzutun.

Nachdem der Stalker-Mordfall in Itabashi aufgeklärt war, hatte sie ihren hart erkämpften dreitägigen Urlaub zu Hause in Minami-Urawa verbracht. Keine entspannende Zeit. Jetzt saß sie auf Abruf im Hauptquartier der Keishi-chō im Stadtzentrum von Tokio und wartete darauf, zu irgendeinem Tatort beordert zu werden. Wenn sich heute wieder nichts tat, würde sie schon den sechsten Tag in Folge mit lästiger Schreibarbeit im Büro verbringen müssen.

Keine Morde waren zwar gut für die Gesellschaft da draußen, aber schlecht für Reiko, weil sie dann wieder einmal mehr Zeit bei ihren Eltern verbringen müsste. Falls sich nichts tat, würde sie am Abend nach Minami-Urawa zurückfahren. Vielleicht spielte ja ihre Neuralgie wieder verrückt, aber in letzter Zeit kam ihre Mutter ihr feindseliger vor denn je.

Bitte, lieber Gott, gib mir etwas zu tun!

Nein, der liebe Gott hatte nicht die Absicht, der Mordkommission Arbeit zu verschaffen. Das war allein Sache der Mörder.

»He, Süße, jemand zu Hause?«, unterbrach Kunioku ihre Gedanken, doch da vibrierte das Handy in Reikos Brusttasche. Sie zog es freudig heraus. Es war die Keishi-chō.

»Himekawa.«

»Ich bin’s. Wo sind Sie gerade?«, fragte ihr Chef.

»Ich esse mit einem Freund zu Mittag.«

»Mit Doktor Kunioku? Sind Sie verfügbar?«

»Ja.«

»Gut. Kusaka liegt mit akuter Blinddarmentzündung im Krankenhaus.«

Mamoru Kusaka befehligte wie sie selbst ein Team in Einheit 10. Er war außerdem Reikos zweitgrößter Feind im Universum. Ihre beiden Teams konnten einander nicht ausstehen. Daher entlockte ihr die Nachricht von seiner Blinddarmentzündung tatsächlich ein Lächeln.

»Sie meinen, wir müssen einspringen?«

»Genau. Ich muss vielleicht auch noch Katsumata ins Team holen. Mal sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«

Hauptkommissar Kensaku Katsumata war Teamleiter der Fünften. Sein Spitzname lautete »der Terrier«, weil er ein unglaublicher Dickschädel war. Sein Trupp, der aus Experten des polizeilichen Nachrichtendienstes bestand, galt als der Geheimdienst innerhalb der Mordkommission. Reiko scheute die Zusammenarbeit mit diesen Leuten, da sie üblicherweise jede Spur, die sie mit ihren Männern entdeckte, für sich nutzten, im Gegenzug aber keine ihrer Erkenntnisse preisgaben. Deshalb musste Reikos Gruppe stets auf der Hut sein, nicht ins Hintertreffen zu geraten.

»Ich verstehe. Wir tun unser Möglichstes.«

»Der Tatort befindet sich in Kanamachi. Das zuständige Polizeirevier ist Kameari. Hier ist die Adresse.«

Reiko notierte sich die Details und sah auf die Uhr. In einer knappen Stunde könnte sie vor Ort sein.

»Ich kann noch vor drei Uhr dort sein.«

»Gut. Ich fahre auch gleich los.«

Sie klappte ihr Handy zu. Kunioku lächelte.

»Du siehst aus wie eine Katze, die Sahne schleckt.«

Sie fühlte sich ertappt, denn es gab für sie nichts Schöneres, als zu einem Tatort unterwegs zu sein, so makaber das auch war.

»Nein, es ist nur – jetzt muss ich nicht zu meinen miesepetrigen Eltern fahren.«

Sie wollte nicht zugeben, dass sie glücklich war.

2Dienstag, 12. August, 14.37 Uhr

Am Bahnhof von Kanamachi verließ Reiko den Zug und stieg in einen Bus nach Norden. Sie checkte noch einmal die genaue Lage des Tatorts und sah, dass der Tote unweit des Mizumoto-Parks gefunden worden war, der an ein Hochwasserschutzbecken grenzte.

Eine Gluthitze schlug ihr entgegen, als sie aus dem Bus stieg, die ihr sofort Übelkeit verursachte. Sie hasste den Sommer. Er rief die Erinnerung an jene abscheuliche Nacht in ihr wach. An den Sommer, als sie siebzehn war.

Nur die Ruhe. Du gehst nicht mehr zur Schule.

Reiko mahnte sich zur Ruhe. Bezwang ihre Dämonen. Das war wieder ihr altes Ich. Nur Erinnerungen. Damals war sie noch schwächer gewesen. Mit den Jahren war es einfacher geworden. Bestimmte Erinnerungen konnte sie mittlerweile gut von sich fernhalten, besonders seit sie es beruflich so weit gebracht hatte. Die Tatsache, dass sie Polizeibeamtin war und stolz auf ihren Rang, gab ihr Halt.

Ein viel größeres Thema sind diese verdammten Sommersprossen!

Sie schob trotzig das Kinn vor und hielt sich das Taschentuch über die Augen wie eine Sonnenblende. Die Geste hatte zwar wenig praktischen Nutzen, vermittelte ihr aber ein besseres Gefühl. Obwohl sich diese Gegend noch innerhalb der dreiundzwanzig Bezirke befand, aus denen Tokio bestand, gab es hier draußen weniger hohe Gebäude und demnach auch weniger Schatten – dafür mehr brütende Hitze.

Sie überquerte die Hauptstraße und erhaschte durch das Gitter einen Blick auf eine Wasserfläche – wie ein Fluss. Vermutlich das besagte Staubecken. Es erwies sich als ein dreieckiger Fischteich in einer Betoneinfassung. Etwa zwanzig Ruderboote – wahrscheinlich für Angler – waren am Ufer vertäut, und von allen blätterte die Farbe. Kein Angler war in Sicht.

Völlig normal an einem Werktag.

Als sie den Teich entlangging, entdeckte sie weiter hinten die Einsatzkräfte der Polizei. Wo waren die Streifenwagen? Hatten sie anderswo geparkt? Sie ging zum Tatort hinüber.

Keishi-chō. Halten Sie Abstand.

Das vertraute gelbe Polizeiband versperrte ihr den Weg. Der uniformierte Beamte musterte sie skeptisch. ›Was hat die hier zu suchen?‹, schien er sich zu fragen.

»Hallo, Chefin!«

Kohei Yuda, ein Mitglied ihres Teams, stand hinter dem Uniformierten und winkte ihr zu. »Hier herüber!«

»Yuda? Sie waren aber schnell hier.«

Der Uniformierte erkannte, dass er eine Kommissarin der Keishi-chō vor sich hatte. Im Nu war sein herablassender Blick verschwunden, und er nahm Haltung an. Reiko lächelte in sich hinein und duckte sich unter dem Band hindurch, das er respektvoll für sie anhob.

Es geht doch nichts über eine straffe Kommandokette.

Die Polizei war wie die Armee streng hierarchisch aufgebaut. Ein örtlicher Polizeikommandant kam im Rang einem Abteilungschef in der nationalen Polizeibehörde gleich, wogegen der Chef jeder größeren Abteilung innerhalb der Keishi-chō dem Leiter eines kleineren Polizeireviers grundsätzlich übergeordnet war. Dieses System klärte von vornherein, wer das Sagen hatte, und ermöglichte somit die rasche Aufstellung einer Kommandokette. In diesem Fall würden das Polizeirevier Kameari und die Keishi-chō gemeinsam ermitteln, und alles würde laufen wie am Schnürchen.

Das Abzeichen auf der linken Brust des Polizisten verriet Reiko, dass er zwei Dienstgrade unter ihr war. Alter, Geschlecht, Aussehen, Erfahrung, Charakter – nichts von alledem zählte. Reiko stand über ihm. Das war’s. Sie liebte diese Gewissheit.

Sobald man es zum Kommissar gebracht hatte, wurde die Polizei als Arbeitsplatz fast angenehm.

Reiko hatte doppelt so hart arbeiten müssen wie ein Mann, aber die Mühe hatte sich gelohnt, als sie mit nur 27 Jahren zur Teamleiterin befördert worden war. Sie hatte keine Hemmungen, ihren Dienstgrad auszuspielen. Sie hatte sich ihren Platz redlich verdient, noch dazu ohne Beziehungen. Es gab also keinen Grund, mit ihrer Leistung hinter dem Berg zu halten.

Sie folgte Yuda hinüber zum Tatort. Die Beamten in Zivil, die herumstanden, gehörten vermutlich zur Mordkommission der Polizei von Kameari. Sie kannte keinen von ihnen. Dass einige sie anstarrten, ignorierte sie. Die offizielle Begrüßung konnte warten.

»Wo sind denn alle?«, fragte Reiko Yuda, ohne sich umzudrehen.

Mit »alle« war ihr Trupp gemeint, der zur Einheit 10 gehörte. Vier Männer arbeiteten für Reiko: die beiden Kommissare Tamotsu Ishikura, 47, und Kazuo Kikuta, 32; und die beiden Polizisten Junji Otsuka, 27, und Kohei Yuda, 26.

»Ishikura und Kikuta machen die Runde mit der mobilen Einheit. Und Otsuka …«

Yuda zeigte auf ihn.

Otsuka stand etwa 20 Meter entfernt am Rand des Beckens. Eine blaue Plane, zwischen dem Gitter auf der linken und einem Pfosten auf der rechten Seite, versperrte den Durchgang.

Dort also hatte man die Leiche entdeckt.

In diesem Stadium waren die Forensiker wahrscheinlich noch im Spurenzelt zugange. Otsuka kam auf sie zugelaufen.

»Schön, Sie zu sehen, Chefin«, keuchte er und nickte Reiko zu.

»Na, wie sieht’s aus?«

»Sie sind jeden Moment fertig.«

»Welcher Trupp?«

»Das Team von Komine.«

Komine vom kriminaltechnischen Erkennungsdienst ging Reiko zwar gegen den Strich, aber er war berufserfahren und machte seine Sache gut. »Wie ist der Zustand der Leiche?«

»Nun ja …« Otsuka warf Yuda einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann wieder an Reiko.

»Am besten, Sie machen sich selbst ein Bild.«

»Ach ja? Dann werde ich das jetzt tun.«

Reiko ging einen Fußweg entlang, der mit gelbem Absperrband markiert war. Ihre Männer folgten ihr. Zu beiden Seiten knieten Leute von der Spurensicherung und stöberten nach jedem noch so kleinen Beweisstück. Die Ermittler der Keishi-chō nickten ihr zu, wogegen die Mitarbeiter der örtlichen Polizei sie mit lüsternen Blicken betrachteten.

Vor der blauen Plane blieben sie stehen.

»Hallo, Komine, hier ist Reiko Himekawa. Kann ich hereinkommen?«

Pause.

»Von mir aus«, erwiderte eine tiefe, träge Stimme aus dem Inneren.

Reiko schob die Plane auseinander und spähte hinein.

Auf den ersten Blick waren nur die Leute von der Spurensicherung zu sehen. Keine Leiche. Bei sorgfältigerem Hinsehen jedoch erspähte sie ein Bündel aus blauem Plastik von der Größe eines durchschnittlichen Erwachsenen.

Sie trat ins Zelt und beugte sich über das blaue Bündel.

»Ist das unsere Leiche?«

»Genau.«

»Warum ist sie in eine blaue Plastikplane gewickelt?«

»Keine Ahnung. Das weiß nur der Täter.«

»Wie bitte?«

»Nur der Killer weiß, warum er das Opfer wie ein Geschenk verpackt hat.«

»Die Leiche wurde in diesem Zustand hier abgelegt?«

»Nicht ganz. Sie war mit einem Plastikkabel verschnürt – an beiden Enden, außerdem um den Hals, den Bereich der Ellbogen, der Taille und der Knie. Ansonsten war sie in diesem Zustand, ja.«

Ein junger Ermittler hielt das besagte Kabel in die Höhe. Es war aus weißem Plastik. Die Männer hatten es aufgeschnitten und zu einem Ball aufgerollt.

Reiko trat einen Schritt nach vorn. »Dürfte ich mal sehen?«

»Bitte sehr.« Missmutig schlug Komine die Plane zurück und legte die Leiche frei. Reiko starrte auf ein Gemisch aus Farben, ein Tarnmuster aus weißen, roten, braunen, schwarzen und violetten Flecken vor dem Hintergrund des blauen Zeltes.

Reiko verzog unwillkürlich das Gesicht.

»Das ist übel«, sagte sie.

»Tja, und schnuppern Sie mal. Der Typ ist schon ziemlich reif.«

Reiko besah sich die Leiche näher. Sie war vollständig nackt; eindeutig männlich. Mitte dreißig, etwa eins siebzig groß, mittlere Statur. Unzählige kleine Schnittwunden auf Gesicht und Oberkörper. Das Blut aus den Schnittwunden war getrocknet, wodurch der ganze Körper mit einer rötlich schwarzen Kruste überzogen war. Er wies zahlreiche Prellungen und Abschürfungen auf, und in mehreren Schnitten glitzerte etwas. Keiner dieser Schnitte schien jedoch tödlich zu sein. Die tödliche Wunde war wahrscheinlich der Schnitt durch die Kehle, mit einer scharfen Klinge ausgeführt, der die linke Halsschlagader durchtrennt hatte.

Die merkwürdigste Wunde jedoch war die lange, breite, die vom Solarplexus bis zur Hüfte hinunterreichte. Die Wunde schien dem Opfer post mortem zugefügt worden zu sein, und im Unterschied zum Schnitt durch die Kehle waren ihre Ränder nicht ausgefranst. Der Unterkörper des Toten war fast unversehrt. Es war Hochsommer, und die Wunden waren allesamt in einem Zustand fortgeschrittener Fäulnis.

Komine räusperte sich. »Ist vermutlich schon ein paar Tage tot.«

»Und die Todesursache … Starker Blutverlust?«

»Höchstwahrscheinlich. Tödlich war dieser Schnitt hier«, sagte Komine und deutete auf die Wunde an der Kehle. Dann lenkte er Reikos Aufmerksamkeit auf den Bauch.

»Diese Verletzung hier wurde dem Opfer post mortem zugefügt … Aber das haben Sie wahrscheinlich schon bemerkt, angesichts Ihrer Leidenschaft für Leichen.«

Eine Leidenschaft für Leichen? Ich?

Reiko verbarg ihren Ärger und fuhr mit der Befragung fort.

»Was ist das Glitzerzeug?«

»Glassplitter. Ich muss sie im Labor untersuchen lassen, aber meine Vermutung ist, dass es sich um ganz gewöhnliches Fensterglas handelt. Seine Herkunft wird nicht leicht zu identifizieren sein. Die blaue Plane und das Plastikkabel bringen uns auch nicht weiter.«

Solche Planen waren auf jeder Baustelle zu finden, jeder konnte sich welche besorgen. Die Obdachlosen benutzten sie oft, um sich einen Unterschlupf daraus zu bauen. Wenn sie Glück hatten, stammte diese spezielle Sorte von einem kleinen Hersteller. War sie von einem größeren Unternehmen produziert worden, ließ sich ihre Herkunft schwer zurückverfolgen. Alles, was Reiko aus der Wahl der Plane und des Kabels ablesen konnte, war die Tatsache, dass der Mörder vorsichtig gewesen war.

Reiko inspizierte das Gesicht des Opfers. Dabei kam sie ihm so nah, dass sie es fast hätte berühren können.

»Und schon ist es wieder so weit«, stöhnte Komine.

Reiko kommunizierte stets auf diese Weise mit den Mordopfern. Sie konnte nicht anders. Es war ein Ritual, das sie einhalten musste.

Du weißt es. Was hast du als Letztes gesehen? Sag schon.

Das Gesicht des Toten war ausdruckslos, obwohl die Leichenstarre bereits nachgelassen hatte. Seine verhangenen, halbgeöffneten Augen starrten auf einen festen Punkt im Raum. Ihrer Erfahrung nach brachten Leichen zuweilen Gefühle zum Ausdruck, Entsetzen etwa oder Groll. Und wie war es bei diesem Mann? Hatte er Reue empfunden? Trauer? Angst? Zorn?

Hast du überhaupt nichts gefühlt?

Die Leiche vor ihr schwieg beharrlich. Was hätte Kunioku von ihr erfahren? Der Mann war ermordet worden – soviel stand zweifelsfrei fest –, und deshalb würde seine Leiche zur Untersuchung nicht der Gerichtsmedizin, sondern der forensischen Pathologie überstellt werden. Sie konnte nichts dagegen tun. Kunioku, das wusste sie genau, hätte die Leiche zum Reden gebracht.

***

Die erste Etappe bei jeder Ermittlung – und oft die wesentlichste – bestand aus Beinarbeit: Sie mussten die gesamte Nachbarschaft abklappern, an jede einzelne Tür klopfen.

Kommissar Kikuta wandte sich an die Ermittler, die um den Tatort herum standen, und rief:

»He da, antreten!«

In Reikos Team hatte Kikuta die Befehle zu geben. Gleich nach ihrer Beförderung hatte Reiko einmal versucht, einen Befehl herauszubellen, und sich dabei entsetzlich blamiert, weil sich ihre Stimme überschlagen hatte. Seitdem übernahm Kikuta für sie die Befehle. Er war ein klein wenig älter als sie, ehrlich und stets hilfsbereit. Er war ihre Nummer zwei, ihr verlässlichster Untergebener und zugleich auch der Größte in der Gruppe.

»Die Mitarbeiter der Mordkommission und der mobilen Einheit stehen vorn, alle anderen nehmen dahinter Aufstellung. Wird’s bald!«

Reiko wartete schweigend, bis die Männer angetreten waren. Als Nächstes würden sie Zweierteams bilden: Jeweils ein Polizist der Keishi-chō und einer vom örtlichen Polizeirevier würden gemeinsam ein bestimmtes Gebiet abgrasen. Reiko zählte ab: vier Ermittler der Mordkommission, sechs von der mobilen Einheit, und vom örtlichen Polizeirevier –

»– elf aus Kameari«, meldete Reiko ihrem Chef Haruo Imaizumi, der soeben eingetroffen war.

»Gut, dann stellen Sie sich dazu.«

»Jawohl.« Reiko gesellte sich zu dem einzigen Polizisten, der noch keinen Partner hatte. Ihr blieb kurz die Luft weg, als sie sah, wer es war.

»Ach du liebe Zeit. Sie?«

Der Mann grinste, murmelte irgendetwas Unzusammenhängendes und steckte neckisch die Zunge zwischen die Zähne. »Jawohl … äh … ich.«

Es war Hiromitsu Ioka. Sie hatten im Jahr zuvor in Setagaya gemeinsam in einem Mordfall ermittelt. Ioka sah eigenartig aus – hervortretende Augen, Hasenzähne, abstehende Ohren. Er war ein oder zwei Jahre älter als Reiko. Sein Dienstgrad war offiziell nicht bekannt. Er arbeitete auf derselben Stufe wie ein gewöhnlicher Streifenpolizist.

»Sind Sie nicht in Setagaya stationiert?«

Ioka kratzte sich am Kopf. »Na ja, sie haben mich im April nach Oji versetzt und vorigen Monat dann hierher.«

»Warum so viele Versetzungen?«

»Weil alle von meiner Spürnase profitieren wollen?«

»Kaum. Vielleicht reizen Sie die Leute einfach nur bis aufs Blut.«

»Das reicht jetzt«, rief Imaizumi ihr zu, wobei er unwirsch die Schultern straffte.

»Tut mir leid, Chef.« Sie beherrschte sich und nahm Haltung an. Ioka gluckste in sich hinein und zwinkerte ihr zu.

Typisch, dachte Reiko. Obwohl er ihr Untergebener war, machte der Mann nicht nur verfängliche Bemerkungen, er flirtete auch mit ihr. Er war kein übler Bursche – eben nur nicht für die Polizei geschaffen.

»Himekawa, Sie übernehmen den ersten Sektor. Die Häuser eins bis acht in Block 40.«

»Verstanden.«

»Verstanden«, wiederholte Ioka und zog dabei die letzte Silbe des Wortes unnötig in die Länge.

Der Typ war definitiv ein hoffnungsloser Fall! Musste sich immerzu zum Affen machen. Einfach nervtötend. Im Jahr zuvor war Kikuta einige Male kurz davor gewesen, ihm eine zu kleben. Jetzt machte Reiko sich Sorgen, wie sie mit ihm auskommen sollte.

Sobald alle Sektoren zugeteilt waren, machten sich die elf Teams auf den Weg, um die Anwohner zu befragen. Kikuta warf Ioka im Vorbeigehen einen finsteren Blick zu.

»Machen wir uns auf den Weg, Reiko?«

»Für Sie immer noch Frau Hauptkommissarin!«

»Ach, kommen Sie. Ist ja nicht so, als würden wir uns nicht kennen.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen. Ich will nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht.«

»Sie sind ganz schön streng.«

»Warum bleiben Sie nicht einfach hier und gehen angeln?«

Als nehme er Reikos sarkastische Bemerkung für bare Münze, drehte Ioka sich zum Teich hin und warf zum Schein die Angel aus.

Er war ein solcher Blödmann, man musste ihn schon beinahe dafür bewundern.

***

Je näher sich der Sektor, in dem man die Anwohnerbefragung durchzuführen hatte, am Tatort befand, desto besser. Es bedeutete mehr Informationen und eine größere Wahrscheinlichkeit, aufschlussreiche Hinweise zu erhalten. Als Teamleiterin durfte Reiko sich den besten Sektor aussuchen.

Nicht nur zwischen den Personen, auch zwischen den einzelnen Abteilungen der Polizei bestand eine klare Hierarchie. Da die Mordkommission, wie der Name sagte, auf Mordfälle spezialisiert war, übernahm sie hier automatisch die Führung, vor der mobilen Einheit. Je rangniedriger die Ermittler, desto weiter vom Tatort entfernt wurden sie eingesetzt. Ein einfacher Streifenpolizist wie Ioka hatte demnach großes Glück, mit einer leitenden Ermittlerin zusammenzuarbeiten.

»Nicht zu fassen, dass das Schicksal uns wieder zusammengeführt hat.«

Iokas Ton war vertraulich. Unangemessen vertraulich. Die Ermittlungen waren eben erst angelaufen, aber bei dem Gedanken, diesen Ioka neben sich ertragen zu müssen, fühlte Reiko sich schon jetzt erschöpft. Sie seufzte.

»Wir sprechen als Erstes mit der Person, die die Leiche gefunden hat«, sagte sie kopfschüttelnd und drehte Ioka den Rücken zu.

Sie schob sich durch die hintere Zeltseite ins Freie und blickte auf eine Straße. Seitlich davon war ein gelber Fußweg abgesteckt, und auch hier waren die Leute von der Spurensicherung zugange. Weiter hinten standen die Polizeiwagen. Auf der einen Straßenseite verlief ein Gehweg und parallel dazu ein schmaler Bach. Reiko fragte sich, ob dieses Gewässer in das Staubecken im Park mündete.

Entdeckt hatte den Toten eine Hausfrau, von deren Wohnung man direkt auf den Tatort blickte. Reiko drückte auf die Klingel an einem Torpfosten mit dem Namensschild »Hirata«. Eine kleine, pummelige Frau mittleren Alters steckte den Kopf aus der Tür.

»Guten Tag. Ich bin von der Keishi-chō.« Reiko zeigte ihre Dienstmarke vor. Die Frau runzelte missbilligend die Stirn. »Ich weiß, warum Sie hier sind. Ich habe dem Beamten unserer hiesigen Polizei aber schon alles erzählt, was ich weiß.«

Der Ton der Frau ließ keinen Zweifel daran, dass sie das Ganze auf gar keinen Fall ein zweites Mal durchkauen wollte. Die Frau schien sie einzuschätzen und zu denken: »Du bist jung, eingebildet, großgewachsen – und außerdem eine Frau!«

Reiko hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Das ist mir durchaus bewusst, Frau Hirata. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber trotzdem möchten wir Sie bitten, uns noch einmal in aller Ausführlichkeit zu erzählen, wie Sie die Leiche entdeckt haben. Wir haben auch noch ein paar zusätzliche Fragen.«

Frau Hirata seufzte. Mit mürrischer Miene öffnete sie das Gartentor und ließ sie ein.

»Danke.«

Der schattige kleine Garten war angenehm kühl. Vielleicht war er kürzlich gewässert worden, dachte Reiko. Das Haus war bei weitem nicht neu, doch innen war alles sauber und ordentlich.

»Hier entlang.«

Kaum hatte Frau Hirata die Beamten in ihr klimatisiertes Wohnzimmer geführt, hob Ioka die Hand.

»Ich weiß, es ist viel verlangt, Frau Hirata, aber dürfte ich Sie um ein kühles Getränk bitten? Ich habe entsetzlichen Durst.«

Reiko stupste ihn in die Rippen.

Hör sofort damit auf!

»Na schön. Warum nehmen Sie nicht Platz?« Frau Hirata wies auf die Couch und verschwand dann in die Küche.

»Was soll denn das?«, fauchte Reiko und stieß Ioka den Ellbogen in die Seite.

»Ich hab eben Durst.«

Die Frau war schon ärgerlich genug. Jetzt nervte dieser Ioka sie noch mehr. Frau Hirata kam zurück, und wider Erwarten strahlte sie über das ganze Gesicht. Auf einem Tablett brachte sie einen Krug und Gläser herein, von denen sie jedem ihrer Besucher eines reichte. »Sie hätten wahrscheinlich am liebsten ein schönes kaltes Bier, aber weil Sie nun einmal im Dienst sind …«

»Vielen Dank. Das schmeckt bestimmt genauso gut.«

Ioka kippte sein Glas Gerstentee in einem Zug hinunter. Frau Hirata goss ihm ein zweites ein. Warum wirkte sie plötzlich so zufrieden?

Alles wurde noch schlimmer, als Frau Hirata ein wenig zu plaudern begann.

»Ist es sehr heiß draußen?«

»Heiß ist gar kein Ausdruck«, erwiderte Ioka. »Es ist kaum auszuhalten.«

»Die Hitze erschwert Ihnen doch bestimmt die Arbeit?«

»Das kann man wohl sagen. Warum machen die Verbrecher nicht einfach Pause, bis es wieder etwas kühler ist, wie?«

»Das klingt unwahrscheinlich.«

»Meinen Sie?« Ioka brüllte vor Lachen.

Ist dieser Typ ein kompletter Vollidiot?

Reiko räusperte sich und meldete sich zu Wort. »Tut mir leid, wenn ich etwas drängeln muss, aber ich möchte Sie bitten, uns zunächst die Mitglieder Ihrer Familie aufzuzählen.«

Kaum hatte Reiko den Mund aufgemacht, kehrte dieser säuerliche Ausdruck auf Frau Hiratas Gesicht zurück.

»Natürlich«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Da wäre mein Mann, ein Büroangestellter. Dann mein Sohn, der studiert. Dann ist da noch mein Schwiegervater. Er ist gerade drüben im Seniorenzentrum. Und ich.«

»Ihr Sohn, ist er …?«

»Er ist gerade nicht zu Hause.«

»Nein, was ich sagen wollte, ist er allein?«

Frau Hirata sah verdutzt drein.

»Natürlich ist er das. Er studiert noch. Wie sollte er da wohl verheiratet sein.«

Reiko erkannte, dass sie die Frage schlecht formuliert hatte.

»Nein, ich meinte: Ist er Ihr einziges Kind?«

Die Frau riss die Augen auf. »Oh, bitte verzeihen Sie«, sagte sie und lächelte Ioka zu. »Nein, ich habe zwei Söhne. Der ältere hat die Universität bereits verlassen und lebt in einer Firmenunterkunft für unverheiratete Angestellte. Er ist oben in Utsunomiya. Nicht wirklich weit von hier. Er könnte zumindest zum O-bon-Fest zurückkommen und seine Mama besuchen.«

»Ganz Ihrer Meinung«, sagte Ioka grinsend.

War das O-bon-Fest etwa schon in dieser Woche?

Wenn der eigene Arbeitsrhythmus so gar nicht dem der anderen entsprach, konnten einem solche wichtigen Feiertage schon mal entfallen. Reiko vermutete, dass die restliche Woche frei sein würde – zumindest in Firmen, die noch an ein Privatleben ihrer Mitarbeiter glaubten. Was mochte in diesem Zusammenhang üblich sein? Vermutlich fünf Tage ab morgen, dachte sie.

»Ist Ihr Mann im Büro?«

»Ja. Er arbeitet für eine ausländische Firma, deshalb kann er sich an den japanischen Feiertagen nicht freinehmen.«

Reiko nickte.

»Danke«, murmelte sie und griff nach ihrem Glas. Anstatt den Tee wie Ioka in einem Zug hinunterzuschütten, nippte sie nur einmal bescheiden. Jede Flüssigkeit, die sie aufnahm, würde sich ja doch nur in Schweiß verwandeln, und was die Menschen noch weniger mochten als einen schmutzigen, verschwitzten Mann, war eine schmutzige, verschwitzte Frau. Bei Anwohnerbefragungen war Reiko besonders vorsichtig.

Nachdem Ioka die Namen der Familienmitglieder notiert hatte, wandte sie sich wieder an Frau Hirata.

»Wie haben Sie die Leiche entdeckt? Es war heute Morgen, ist das korrekt?«

»Ja, das stimmt. Direkt über diesem Zimmer befindet sich unser Schlafzimmer – ich meine, das von meinem Mann und mir. Es hat ein Fenster, das in diese Richtung blickt. Als Erstes habe ich am Morgen die Vorhänge aufgezogen.«

»Wann genau?«

»Punkt sechs. Da habe ich das Bündel zum ersten Mal gesehen.«

»In der Hecke?«

»Ja. Zuerst dachte ich noch, es sei eben Müll. So was kommt öfter vor in letzter Zeit – wie heißt das doch gleich? –, wilde Müllkippen, besonders in dem Wäldchen dort drüben, in der Nähe des Schreins. Ich dachte nur: ›Ach nein, jetzt kippen sie ihr Zeug schon in die Hecke!‹«

Wilde Müllkippen? Reiko fragte sich, ob sich die Spurensicherung schon damit beschäftigt hatte.

»Sie haben aber noch nicht sofort die Polizei angerufen?«

»Nein. So früh am Morgen bin ich immer sehr in Eile. Ich lege meinem Mann alles für die Arbeit zurecht, hole meinen Schwiegervater und meinen Sohn aus dem Bett, bereite das Frühstück vor, bringe den Müll raus – den ordentlichen Müll, meine ich –, schalte die Waschmaschine ein …«

»Sie haben uns exakt um 11.30 Uhr verständigt. Warum gerade um diese Zeit?«

»Das war so … mal überlegen … mein Schwiegervater wollte ins Seniorenzentrum fahren, und ich hab ihn zur Bushaltestelle begleitet. Auf dem Weg dorthin dachte ich: ›Ich wünschte, die Leute würden hier keinen Müll abladen.‹ Als ich mir das Ding dann auf dem Rückweg etwas genauer ansah, da bekam ich es plötzlich mit der Angst … ich erkannte nämlich, dass es die Form eines menschlichen Körpers hatte.«

»Also haben Sie uns angerufen.«

»Ja. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht das war, wofür ich es hielt, hätte die Polizei doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich ein so großes Stück Sperrmüll melde, dachte ich.«

»Sie haben richtig entschieden.«

»Ja, nicht wahr? Ja, das … das hab ich wohl.«

Reiko konnte den Gesinnungswandel der Frau, von Besorgnis zu Erleichterung, nicht ganz nachvollziehen. Trotzdem stand für sie zweifelsfrei fest, dass Frau Hirata in gutem Glauben gehandelt hatte. Nachdem sie das blaue Bündel ursprünglich für Sperrmüll gehalten hatte, hatte sie sich in dem Moment an die Polizei gewandt, als ihr seine Form verdächtig erschienen war. Ihre Geschichte klang plausibel und stimmig.

»Wann haben Sie gestern die Hecke zuletzt ohne dieses Ding gesehen?«

»Ohne das Ding?«

»Ich versuche nur herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt in etwa die Leiche dort abgelegt wurde – vielleicht erinnern Sie sich ja, Frau Hirata. Ihre Antwort würde mir dabei helfen, einen Zeitrahmen abzustecken.«

Erleichterung huschte über Frau Hiratas Gesicht.

»Nun, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gestern noch nicht dagelegen hat. Bestimmt nicht, als ich vom Einkaufen zurückkam.«

»Und wann genau ist das gewesen?«

»Gegen 16.30 Uhr oder 17.00 Uhr.«

»Verstehe. Und wann haben Sie die Vorhänge in Ihrem Schlafzimmer zugezogen?«

»Kurz vor dem Zubettgehen. Gegen Mitternacht, würde ich sagen.«

»Sie haben nichts bemerkt?«

»Es war doch dunkel. Wie hätte ich etwas bemerken sollen?«

Das leuchtete ein.

»Haben Sie irgendein verdächtiges Geräusch gehört? Oder ein verdächtiges Fahrzeug bemerkt?«

»Meinen Sie den Wagen, in dem sie das Ding hergebracht haben?«

»Ja.«

»Die Straße vor unserem Haus ist ziemlich schmal. Es gibt nicht viel Verkehr, trotzdem sehe ich nicht jeden Wagen, der vorbeifährt.«

»Verstehe. Dann zum nächsten Punkt. Wann sind Ihre Angehörigen gestern heimgekommen?«

»Mein Mann war gegen acht zurück, mein Sohn ungefähr um halb zwölf. Mein Schwiegervater war gestern den ganzen Tag zu Hause.«

»Hat einer von ihnen das Ding in der Hecke erwähnt? Ihr Mann vielleicht oder Ihr Sohn?«

»Nein. Dabei hätten sie es doch sehen müssen. Jeder hätte es bemerkt, der dort vorbeiging, selbst in der Dunkelheit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es erwähnt hätten, wenn ihnen etwas aufgefallen wäre … Oder nein, wenn ich es mir recht überlege, mein Sohn vermutlich nicht. Nein, der hätte wohl nichts gesagt.«

Das war seltsam …

Nein, dachte Reiko, nicht Frau Hirata war seltsam. Seltsam war, dass jemand an so einem Ort eine Leiche ablegte.

Eine Hecke neben einem Fischteich mochte nachts als Versteck gerade noch hingehen, aber sobald es hell wurde, mussten die Anwohner die Leiche auf jeden Fall bemerken – und genau das war ja dann auch passiert. Es gab eine Menge Fußgänger. All diese Dinge waren für den Täter nicht schwer zu ermitteln gewesen. Die Hecke war einfach nicht der geeignete Ort, um eine Leiche zu entsorgen. Reiko hatte ein Foto von der Leiche gesehen, als diese noch fest verpackt gewesen war. Die Verschnürung hatte sehr professionell ausgesehen. Reiko konnte diese Sorgfalt nicht mit der nachlässigen Wahl des Ablageorts in Einklang bringen. Im Augenblick war es nur ein vages Bauchgefühl, das sie sich noch nicht zu erklären wusste.

Reiko nickte knapp und verbeugte sich dann. »Ich danke Ihnen vielmals, Frau Hirata. Wir werden Sie morgen möglicherweise zu uns aufs Revier bitten, um die Sache noch einmal durchzugehen. Ich weiß, es bereitet Mühe, aber Sie wären uns wirklich eine große Hilfe. Und falls einer Ihrer Angehörigen, Ihr Sohn vielleicht, sich an etwas erinnert, bitte lassen Sie es uns wissen. Egal, was es ist.«

Reiko kritzelte die Telefonnummer des Polizeireviers Kameari auf die Rückseite ihrer Visitenkarte und gab sie ihr. Frau Hirata nahm sie mit beiden Händen entgegen, wie es sich gehörte, inspizierte sie und blickte dann auf, als wollte sie die Karte mit deren Besitzerin vergleichen.

Was soll das jetzt wieder? Du denkst wohl: ›Eine Hauptkommissarin, sieh mal an.‹

In Wirklichkeit war fraglich, ob Frau Hirata überhaupt wusste, was dieser Dienstgrad zu bedeuten hatte.

Oder willst du andeuten, dass eine Hauptkommissarin ordentlicher aussehen sollte?

Während Reiko noch diesem Gedanken nachhing, fiel ihr plötzlich auf, wie adrett Frau Hirata zurechtgemacht war. Hatte sie die ganze Zeit so ausgesehen? Oder hatte sie sich heimlich zurechtgemacht, als sie den Tee geholt hatte?

Verdammt! Vielleicht bin ich ja hier die, die unordentlich aussieht! Sie hätte vor der Befragung doch frisches Make-up auflegen sollen.

***

Nachdem Reiko und Ioka das Gartentor hinter sich geschlossen hatten, wandten sie sich noch einmal um und betrachteten das Haus der Familie Hirata. Im grellen Licht der Nachmittagssonne schien es wie geschaffen für die Menschen, die darin wohnten.

»Dieser Gerstentee war spitzenmäßig.«

Ioka standen schon wieder die Schweißperlen auf der Stirn. Er wischte sie weg.

»O ja …«

Reikos Telefon vibrierte. Als sie es aus der Tasche holte, reckte Ioka den Hals, um den Namen auf dem Display zu erhaschen.

»Die Eltern, wie?«

Die Anruferkennung lautete tatsächlich ›Eltern‹. Reikos Mutter. Ihr Vater war um diese Zeit noch im Büro, hätte also nicht von zu Hause aus anrufen können.

Das Telefon vibrierte weiter. Reiko wusste nur allzu gut, was ihre Mutter wollte: »Sieh zu, dass du zum Abendessen zu Hause bist« oder »Wann hast du wieder mal Urlaub?« oder »Vergiss nicht, deine Tante in Yokohama anzurufen«.

Reiko drückte sie weg.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

»Schon gut. Gehen wir zum nächsten Haus.«

Reiko folgte Ioka zum Nachbarhaus. ›Matsumiya‹ stand auf dem Namensschild. Reiko drückte auf den Klingelknopf.

Verdammt. Das kommt davon, wenn man dumme Anrufe kriegt!

Sie hatte schon wieder vergessen, ihr Make-up aufzufrischen.

3Dienstag, 12. August, 19.30 Uhr

Ein Blatt Papier mit der Aufschrift »Einsatzkommando Leichenfund Mizumoto-Park« klebte an der Tür zum größten Besprechungszimmer im Polizeirevier Kameari.

Der Leichenfundort lag genau genommen etwas außerhalb des Parks, dachte Reiko. Oder war das pedantisch von ihr? Sie nahm in der ersten Reihe Platz.

»Also schön, fangen wir an. Achtung! Verneigt euch!«

Etwa dreißig Personen waren mit dem Fall befasst, einschließlich der Leute von der Spurensicherung. Da niemand fehlte, ging Reiko davon aus, dass die Anwohnerbefragung abgeschlossen war.

Wada, der Direktor der Polizei, sowie Imaizumi, Leiter von Einheit 10, saßen ganz vorn, allen Anwesenden gegenüber. Direktor Hashizume von der Mordkommission leitete die Konferenz.

»Ich möchte mit dem Obduktionsbericht beginnen«, fing er an. »Das Opfer war männlich, Mitte dreißig, 1,71 Meter groß, etwa 70 Kilo schwer. Blutgruppe B. Die Todesursache war ein hämorrhagischer Schock infolge massiven Blutverlusts aus einer Schnittwunde im Bereich des Halses. Der Tod trat vermutlich vorgestern ein, zwischen 19.00 Uhr und 22.00 Uhr. Der Schnitt verläuft in einer geraden Linie, die unterhalb des linken Unterkiefers beginnt und am oberen Kehlkopf endet. Die Tiefe des Einschnitts beträgt zwei bis fünf Millimeter, seine Länge zwanzig Zentimeter. Die linke Halsschlagader wurde durchtrennt.«

Hashizume zog seinen Daumen quer über die Kehle, um zu demonstrieren, wie der Schnitt erfolgt war.