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Wenn Jäger zu Gejagten werden: Der rasante Mystery-Thriller »Blutsünden« der New-York-Times-Bestsellerautorin Kay Hooper als eBook bei dotbooks. Ihr unschuldiges Gesicht scheint sie zum perfekten Opfer zu machen … Welche grausamen Geheimnisse verbirgt eine Sekte, die sich selbst »Kirche der immerwährenden Sünde« nennt? Der FBI-Ermittler Noah Bishop weiß, dass er eine besondere Undercover-Agentin braucht, um bis in das streng gesicherte Hauptquartier der Gruppe eindringen zu können – und findet sie in der schönen Tessa Gray. Niemand würde glauben, dass die so zart wirkende Frau eine besondere, übersinnliche Gabe hat. Aber ist sie wirklich stark genug, um gegen Reverend Samuel zu bestehen, einen Mann, hinter dessen Gesicht sich eine Bestie verbirgt? »Dieses Buch wird Sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Kay Hooper zieht alle Register!« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Blutsünden« von New-York-Times-Bestsellerautorin Kay Hooper ist der zweite Band ihrer actiongeladenen Blood-Trilogie. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 387
Über dieses Buch:
Ihr unschuldiges Gesicht scheint sie zum perfekten Opfer zu machen … Welche grausamen Geheimnisse verbirgt eine Sekte, die sich selbst »Kirche der immerwährenden Sünde« nennt? Der FBI-Ermittler Noah Bishop weiß, dass er eine besondere Undercover-Agentin braucht, um bis in das streng gesicherte Hauptquartier der Gruppe eindringen zu können – und findet sie in der schönen Tessa Gray. Niemand würde glauben, dass die so zart wirkende Frau eine besondere, übersinnliche Gabe hat. Aber ist sie wirklich stark genug, um gegen Reverend Samuel zu bestehen, einen Mann, hinter dessen Gesicht sich eine Bestie verbirgt?
»Dieses Buch wird Sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Kay Hooper zieht alle Register!« Publishers Weekly
Über die Autorin:
Kay Hooper, geboren 1958 in Kalifornien, wuchs in North Carolina auf und studierte später Literaturgeschichte. Noch während sie an der Universität war, begann sie zu schreiben. Nach ersten Erfolgen als Autorin von Liebesromanen entdeckte sie das Spannungsgenre für sich und eroberte unter anderem mit ihren paranormalen Thrillern über die geheime FBI-Einheit des Agenten Noah Bishop immer wieder die Bestsellerliste der New York Times. Neben dem Schreiben engagiert sich Kay Hooper für den Tierschutz.
Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website: www.kayhooper.com
Bei dotbooks veröffentlichte Kay Hooper die Blood-Trilogie mit den Einzelbänden »Blutträume«, »Blutsünden« und »Blutfesseln«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2022
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Blood Sins« bei Bantam Dell A Division of Random House, Inc. New York, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Kay Hooper
Published by arrangement with Bantam Books,
an imprint of the Random House Publishing Group,
a division of Random House, Inc.
Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock/Lum_yai I sweet, Petr Kahanek
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-98690-177-6
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Kay Hooper
Blutsünden
Die Blood-Trilogie: Noah Bishop & HAVEN 2Thriller
Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle
dotbooks.
Boston, Oktober
Senator Abe LeMott wandte sich vom Fenster ab und sah den Mann auf dem Besucherstuhl an. »Das war’s also?«
»Das Ungeheuer, das Ihre Tochter ermordet hat«, antwortete Bishop, »wird den Rest seines jämmerlichen Lebens damit verbringen, die Wände anzuheulen. Alles, was er an Verstand besaß, war am Schluss ausgelöscht. Möglicherweise auch schon lange davor.«
»Und das Monster, das die Fäden gezogen hat? Das kalte, berechnende Superhirn hinter ihm?«
»Den haben wir nie zu fassen bekommen. Obwohl wir annehmen, dass er nahe genug war, um uns zu beobachten. Nahe genug, um einige von uns zu beeinflussen. Nahe genug, um die Beute für sein zahmes Monster zu jagen und zu fangen.«
LeMotts Mundwinkel verzogen sich. »Als würde er eine Spinne füttern.«
»Ja.«
»Und wer hat das Netz gesponnen?«
»Bisher haben wir nicht den leisesten Beweis für seine Existenz gefunden. Wobei wir natürlich wissen, dass es ihn gibt.«
»Was wissen Sie noch?«
»Ich glaube, ich weiß, wo ich mit der Suche nach ihm beginnen muss.«
Senator LeMott lächelte. »Das ist gut, Bishop. Das ist in der Tat sehr gut.«
North Carolina, Januar
Sarah hielt sich so weit wie möglich im dürftigen Schatten der winterlich kahlen Bäume, während sie sich durch den Wald kämpfte, der das Gelände der Siedlung von der Straße trennte. Die Vollmondnacht war zwar denkbar ungeeignet für heimliche Unternehmungen, doch ihr war nichts anderes übrig geblieben. Auch nur einen weiteren Tag zu warten, konnte wesentlich gefährlicher sein, als sofort zu handeln, also …
Sarah erstarrte, schien das Geräusch eher zu fühlen als zu hören und schlang die Arme noch fester um das schlafende Kind.
»Ich bin’s nur.« Keine drei Meter von ihr entfernt tauchte Bailey aus der Dunkelheit auf.
»Bist du zu früh, oder bin ich zu spät?« Sarah sprach ebenso so leise wie die andere Frau.
»Egal.« Schulterzuckend trat Bailey näher. »Wirkt es?«
Sarah nickte und übergab ihr das kleine Mädchen, das zum Schutz gegen die Januarkälte warm eingepackt war. »Sie wird wohl noch ein paar Stunden schlafen. Lang genug.«
»Und du bist dir bei ihr sicher? Wir können das nämlich nicht länger machen. Es gehörte nicht zum Plan und ist zu gefährlich. Früher oder später wird er dahinterkommen.«
»Das möchte ich ja verhindern. Oder wenigstens hinauszögern.«
»Ist aber nicht deine Aufgabe, Sarah. Deshalb bist du nicht hier.«
»Wirklich? Er wird immer besser im Aufspüren von Menschen mit einer verborgenen Gabe. Besser darin, sie zu finden und sie davon zu überzeugen, sich ihm anzuschließen. Besser, als wir es waren.« Sarah verspürte ein unterschwelliges Unbehagen, das eher stärker als schwächer wurde. »Apropos, haben wir Deckung?«
»Klar. Mein Schutzschild genügt für uns alle drei.«
»Und wie steht’s mit etwas konventioneller Unterstützung?«
»Galen gibt mir Rückendeckung. Wie immer. Aber wenn wir fort sind, bist du auf dich allein gestellt.«
»Um mich mache ich mir keine Sorgen.«
»Sarah?«
»Sie könnte diejenige sein, Bailey.«
»Sie ist sechs Jahre alt.«
»Gerade deswegen. Ohne die Schutzmaßnahmen, die wir ihr beibringen können, ist sie extrem verwundbar, vor allem durch jemanden, der sie als Waffe benutzen will.«
Bailey rückte das Kind in ihren Armen zurecht und seufzte. »Hör mal, bist du sicher, dass dich das, was der Kerl predigt, nicht beeinflusst hat? All dieses Prophezeiungszeug?«
»Wir glauben doch an Prophezeiungen«, wandte Sarah ein.
»Nicht an die Art, die er predigt.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, ich bin keine Bekehrte. Ich schaffe es gerade noch, den Anschein eines loyalen Schäfchens seiner Herde aufrechtzuhalten.«
»Sollten die nächsten Abtrünnigen und Kinder verschwinden, wird dir das viel schwerer fallen.«
»Schwerer als das?« Sachte berührte Sarah das lange blonde Haar des Kindes. »Ihre Mutter ist weg. Und ihren Vater habe ich seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.«
Baileys Lippen wurden schmal. »Das hast du in deinem Bericht nicht erwähnt.«
»Ich war mir bis heute nicht sicher. Aber er ist fort. Ich glaube, er hat zu viele Fragen gestellt. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Frau einfach davongelaufen ist – ohne ihre Tochter.«
»Womit er recht hatte.«
Sarah hatte zwar damit gerechnet, doch es war trotzdem ein Schock für sie. »Man hat sie gefunden?«
»Ein paar Kilometer flussabwärts. Und sie hat eine Weile im Wasser gelegen, wahrscheinlich seit der Nacht, in der sie verschwand. Eine Todesursache ließ sich nicht feststellen.«
Das brauchte Bailey nicht weiter zu erklären.
»Wird die Polizei kommen und Fragen stellen?«, wollte Sarah wissen.
»Das muss sie. Man wusste, dass Ellen Hodges ein Mitglied der Kirche war. Als sie zuletzt gesehen wurde, war sie in Begleitung anderer Gemeindemitglieder. Ihre Eltern wissen das und würden Samuel nur allzu gern die Polizei auf den Hals hetzen. Falls der gute Reverend dann weder Ellens Ehemann noch ihr Kind vorweisen kann, wird er einiges zu erklären haben.«
Sarah gab ein dumpfes Lachen von sich, während sich ihr mulmiges Gefühl weiter verstärkte. »Vorausgesetzt, diese Polizisten sind nicht ebenfalls Gemeindemitglieder oder bezahlte Freunde der Kirche.«
»Mist. Meinst du wirklich?«
»Nach dem, was ich zufällig aufgeschnappt habe, bin ich davon überzeugt, dass es keine gute Idee wäre, die örtlichen Gesetzeshüter ins Vertrauen zu ziehen. Es sei denn, jemand von unserer Seite wäre in der Lage, ihre Gedanken sehr gut lesen zu können.«
»Verstehe. Aber Bishop wird darüber nicht gerade glücklich sein.«
»Ich glaube nicht, dass es ihn überraschen wird. Wir wussten, dass diese Möglichkeit bestand.«
»Das erschwert uns die Arbeit noch mehr. Oder macht sie zumindest viel riskanter. Was allerdings auch vorher schon der Fall war, da die Stadt so abgelegen und die Kirche so isoliert ist.« Erneut rückte Bailey das Kind zurecht. »Ich muss sie wegbringen.«
»Wendy. Sie heißt Wendy.«
»Ja. Ich weiß. Mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns um sie. Sie hat Familienangehörige, die sie lieben und bei sich aufnehmen wollen.«
»Und sie ist sich ihrer Fähigkeit kaum bewusst.« Noch einmal berührte Sarah sacht das Haar des Kindes und trat dann zurück. »Beschützt sie. Beschützt ihre Gabe.«
»Werden wir. Und du pass auf dich auf, ja? Du hast zwar einen hervorragenden Schutzschild, aber wenn deine Tarnung zu anstrengend wird, könnte Samuel oder einer seiner sogenannten Ratgeber herausbekommen, dass du an dem guten Reverend und seinen wahren Absichten jede Menge Zweifel hegst.«
»Glaub mir, das weiß ich.« Kälte kroch in Sarahs Körper. Sie trat zwei Schritte zurück und damit bewusst aus dem Schutzschild der anderen Frau heraus. »Sag Bishop und John, dass zumindest einer von Samuels engsten Beratern ein mächtiger Paragnost ist. Ich habe es gespürt, weiß aber nicht genau wer, weil er ja fast ständig von anderen Männern umgeben ist.«
»Vielleicht hast du ja nur Samuel empfangen.«
»Nein. Bei Samuel ist es immer dasselbe, ein Nullfeld. Als wäre er gar nicht da, zumindest paragnostisch. Ich kann keine Persönlichkeit, keine Aura und nicht die geringste Energiesignatur orten.«
»Das ist mehr als ein Schild.«
»Ich weiß. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist. So was habe ich noch nie gespürt.«
Bailey schüttelte den Kopf. »Und ich hatte gehofft, das hätte sich geändert, oder du hättest es geschafft, ihn irgendwie zu lesen.«
»Ich hab’s versucht, glaub mir, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber da war nichts. Er ist buchstäblich in sich selbst eingeschlossen.«
»Dauernd?«
»Immer, wenn ich nahe genug an ihn herankam, um etwas auffangen zu können. Doch ich gehöre nicht zum inneren Kreis oder zu seinen auserwählten Frauen.«
»Nein, wir haben es nie geschafft, jemanden so nahe an ihn heranzubringen.«
»Und es ist fraglich, ob wir das je schaffen. Dieser innere Kreis schirmt ihn unheimlich ab. Und der andere Paragnost hat einen verdammt guten Schild, einen erkennbaren, also muss er von etwas sehr Starkem erzeugt werden. Aber ich bin mir nicht sicher, was er bewirken kann, welche Fähigkeit er hat. Es könnte alles Mögliche sein. Sag ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Jeder, den sie schicken, muss sehr vorsichtig sein.«
»Sarah …«
»Ich berichte, sobald ich kann.« Sarah drehte sich um und eilte davon. Beinahe augenblicklich wurde ihre schlanke Gestalt von den Schatten des Waldes verschluckt.
Bailey zögerte, doch nur einen Moment, stieß einen leisen Fluch aus und machte kehrt, um denselben Weg zurückzugehen. Obwohl sie das Kind trug, kam sie schnell voran und hatte bereits eine beachtliche Strecke zurückgelegt, als sie hinter sich ein Geräusch hörte, wie angewurzelt stehen blieb und herumfuhr.
Der Beginn eines Schreis, der wie plötzlich abgeschnitten schaurig in der Luft hing und dessen Echo gespenstisch im ansonsten stillen Wald widerhallte.
»Bailey, los.« Für einen großen Mann bewegte sich Galen verblüffend leise, doch das war nicht die Eigenschaft, die sie im Moment interessierte.
»Sarah. Galen, du musst …«
»Ich weiß. Geh zum Auto. Falls ich in fünf Minuten nicht zurück bin, verschwinde.« Mit gezogener Waffe war er schon zurück in Richtung der Siedlung gelaufen.
»Aber …«
»Mach schon.«
Bailey war niemand, die sich einfach etwas befehlen ließ, doch sie gehorchte ohne weitere Fragen. Die Arme fest um das schlafende Kind geschlungen, konzentrierte sie sich darauf, den schützenden Energieschirm zu verstärken, der sie beide umgab. Sie hastete durch das Gehölz zur Straße und zu dem dort versteckten Auto.
Galen hatte schon vor langer Zeit die Kunst perfektioniert, sich geräuschlos durch jedes vorstellbare Terrain zu bewegen. Doch er war sich nur allzu bewusst, dass zumindest einige von denen, die ihn in diesem Wald jagten, nicht nur mit den Ohren hören konnten. Trotzdem ließ er sich davon nicht beirren und kam schnell voran.
Leider nicht schnell genug.
Wahrscheinlich, gestand er sich verärgert ein, hatte er zu spät auf den ersten Ton von Sarahs Schrei reagiert.
Sie lag auf einer kleinen Lichtung, umflutet von Mondlicht, das so hell und kalt leuchtete wie ein Scheinwerfer. Ihre vom Todeskampf verzerrten Züge wirkten wie eine furchterregende Geistermaske. Die aufgerissenen Augen blickten ihn entsetzt und vorwurfsvoll an.
Zumindest wirkte es für Galen so. Er war kein Paragnost im anerkannten Sinne, doch er konnte Menschen auf seine Art lesen. Sogar tote Menschen.
Vielleicht sogar vor allem tote Menschen.
Er kniete sich neben ihren ausgestreckten Körper, tastete mit der freien Hand nach dem Puls in ihrer Halsschlagader, während er die Waffe schussbereit hielt und das Gehölz ringsum mit Blicken absuchte.
Er sah oder hörte nichts.
Und Sarah war tot.
Noch immer auf den Knien, betrachtete er sie mit gerunzelter Stirn. Er konnte keine Schramme an ihr entdecken, keine sichtbare Todesursache. Das Kind hatte sie wegen der Kälte zwar gut eingepackt, doch ihre Jeans und der dünne Pullover hatten wenig Schutz geboten. Dank der hellen Farbe ihrer Kleidung konnte er ziemlich sicher sein, dass es kein Blut gab, das auf eine Wunde hingedeutet hätte.
Er schob eine Hand unter ihre Schulter, wollte sie umdrehen und auf ihrem Rücken nach Wunden suchen, hielt aber inne, als ihm ihre merkwürdige Position auffiel. Sie war auf dem Rückweg zur Siedlung gewesen. Wenn sie nicht kehrtgemacht und die Richtung geändert hatte, musste sie durch einen Frontalangriff rückwärts geschleudert worden sein. So sah es zumindest aus.
Und doch wies der gefrorene Boden, auf dem Eiskristalle im Mondlicht glitzerten, keinerlei Spuren eines Kampfes auf und auch keine anderen Fußabdrücke als seine und Sarahs. Ihrer beider Fußabdrücke – bis zu dieser Stelle. Und die von Sarah, die weiter führten, aber nicht kehrtmachten.
Als wäre sie ein paar Meter weiter vorne von den Füßen gerissen und mit ungeheurer Kraft in die Mitte der Lichtung zurückgeschleudert worden.
Galen schoss die Frage durch den Kopf, ob ein Pathologe feststellen würde, dass ihre Knochen genauso zertrümmert, ja zermalmt waren wie die von Ellen Hodges.
Er zögerte einen weiteren Moment, während er das Für und Wider überdachte, sie mit zurückzunehmen. Es entsprach weder seiner Natur noch seiner Ausbildung, eine gefallene Kameradin zurückzulassen. Doch da so ungeheurer viel auf dem Spiel stand, überlegte er es sich anders. Jemand hatte sie umgebracht, und dieser Jemand würde erwarten, ihre Leiche genau hier vorzufinden. Wenn sie nicht blieb, wo sie war …
»Mist«, hauchte er nahezu geräuschlos, der Fluch nicht mehr als eine kleine kalte Nebelwolke. »Tut mir leid, Kleine. Ich …«
Wenn er etwas Unangenehmes zu sagen hatte, schaute er seinem Gegenüber instinktiv in die Augen. So blickte er auch jetzt in die toten Augen von Sarah Warren, während er ihr erklärte, er müsse ihre Leiche zurücklassen, damit ihre Mörder sie finden konnten.
Ihre Augen veränderten sich. Unter seinem Blick begannen sich Iris und Pupillen zu verschleiern, überzogen sich nach und nach bis zur Unkenntlichkeit mit Weiß. Und die Konturen ihres Gesichts erschienen im hellen Mondlicht schärfer, die Flächen wurden zu Mulden, als würde mehr als ihr Leben aus ihr herausgesaugt.
Im Laufe der Zeit hatte Galen viele Sterbende und Tote gesehen, doch so etwas noch nie. Und er fühlte sich, was sonst nahezu nie vorkam, plötzlich verwundbar. Nackt und verwundbar.
Seine Waffe konnte ihn nicht schützen. Nützte ihm nichts.
Nichts konnte ihn schützen.
Während er seine Hand unter ihrer Schulter hervorzog überkam ihn das überwältigende Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen, sich davon so weit wie möglich zu entfernen, und das, so schnell er konnte.
Doch auch diesmal war er nicht schnell genug.
Noch im Aufstehen, als er sich eben umdrehen wollte, erblickte er in ein paar Metern Entfernung drei Männer, die rasch und unheimlich geräuschlos durch den Wald auf ihn zukamen.
Der vorderste, ein Großer mit breiten Schultern und eiskalter Miene, hatte bereits die Waffe gezogen und richtete sie ohne Vorwarnung auf ihn. Er ließ Galen nicht die geringste Chance. Der große silberne Revolver ruckte in seiner Hand.
Galen spürte den Einschlag der Kugel in seiner Brust, noch ehe er den gedämpften Knall hörte, spürte den gefrorenen Boden unter sich und merkte gerade noch, wie seine Waffe den gefühllosen Fingern entglitt. Das Atmen schien ihn zu ersticken, und bitteres, nach Kupfer schmeckendes Blut quoll in seinen Mund.
Himmel, was für ein Klischee. Fällt mir denn nichts Besseres ein?
Offensichtlich nicht. Sein Mund war voll warmen, flüssigen Metalls, und er fühlte buchstäblich, wie das Leben aus seinem Körper schwand. Nicht herausgesaugt wie bei Sarah, sondern als verließe es ihn, genau wie das Blut, das aus der klaffenden Wunde in seiner Brust floss und in den kalten Boden sickerte. Kurz richtete er den Blick auf den hellen Mond, dann wurde ihm die Sicht von den drei Männern versperrt, die über ihm standen.
Mit Mühe konzentrierte er sich auf den größeren, dessen eiskalte Killervisage er nicht mehr ausmachen konnte. Sie war nur noch eine Silhouette mit funkelnden Augen, die ihn schweigend musterten.
»Dreckskerl«, würgte Galen hervor. »Du armseliger Drecks …«
Der große silberne Revolver ruckte erneut, aus dem Schalldämpfer kam kaum mehr als ein entschuldigendes Niesen, dann wurde Galen von einem Frachtzug gerammt, und alles wurde schwarz und still.
»Und wenn er ein Polizist war?«
»Na und?« Reese DeMarco ging kurz in die Knie, um die halbautomatische Waffe vom Boden aufzuheben, die neben dem ausgestreckten Arm des Erschossenen lag, und fügte beim Hochkommen im gleichen gefühllosen Ton hinzu: »Durchsuch ihn. Schau nach, ob er einen Ausweis dabeihat.«
Der Mann, der die Frage gestellt hatte, kniete sich hin und durchsuchte die Leiche mit spitzen Fingern, jedoch gründlich. »Kein Ausweis«, sagte er. »Kein Gurt oder Halfter für die Waffe. Nicht mal ein verfluchtes Etikett in seinem Hemd. Verdammt, du hast ihn sauber erwischt. Zweimal genau mitten in die Brust. Ich hätte mit einer kugelsicheren Weste gerechnet und ihn mit einem Kopfschuss erledigt.«
»Ich bezweifle, dass er mit bewaffnetem Widerstand gerechnet hat. Wahrscheinlich nur ein Privatdetektiv, den eine der Familien angeheuert hat, und ohne jede Vorstellung, auf was er sich einließ.« DeMarco sicherte die konfiszierte Waffe und steckte sie sich im Kreuz in den Gürtel. »Amateure.«
Der dritte Mann hatte schweigend den Wald beobachtet. »Ich kann keine Spur von der Kleinen entdecken. Glaubst du, sie ist weggelaufen?«
»Ich glaube, sie ist weggetragen worden.« Die Worte waren kaum über DeMarcos Lippen gekommen, als alle ganz schwach das Geräusch eines beschleunigenden Motors hörten, das sich innerhalb von Sekunden wieder verlor.
»Amateure«, wiederholte DeMarco.
»Und herzlos, kommen nicht zurück, um ihre Toten zu holen.« Die Äußerung war bar jeder Ironie, und der Mann, der noch immer neben den Leichen kniete, blickte einen Augenblick lang bekümmert auf sie, bevor er wieder zu DeMarco aufsah. »Ich habe Father nichts sagen hören – will er, dass die beiden zurückgebracht werden?«
DeMarco schüttelte den Kopf. »Wirf die Leichen in den Fluss, Brian. Hilf ihm, Fisk. Es ist schon fast Morgen, wir müssen zurück.«
Sie gehorchten dem eindeutigen Befehl, steckten die Waffen in die Halfter und machten sich daran, den großen schweren Mann vom gefrorenen Boden hochzuheben.
»Ihn über die Schulter zu werfen wäre einfacher«, schnaufte Carl Fisk, während sie sich mit dem toten Gewicht abmühten. »Wie bei der Feuerwehr.«
»Kannst du ja machen«, erwiderte Brian Seymour. »Ich nicht. Wenn ich mit dem Blut von dem Kerl auf meinen Sachen zurückkomme, wird meine Frau jede Menge Fragen stellen.«
»Schon gut, schon gut. Trag wenigstens deinen Teil, ja? Mist, Brian.«
DeMarco sah den beiden Männern nach, bis sie im Wald verschwunden waren. Ihr weiteres Vorankommen konnte er am ständigen Gemecker und dem immer leiser werdenden Ächzen unter ihrer Last abschätzen. Schließlich steckte er seine Waffe in das Schulterhalfter und kniete sich neben die Leiche von Sarah Warren.
Ihren Puls brauchte er eigentlich nicht zu fühlen, tat es aber dennoch und schloss ihr sanft die Augen, sodass das eisige Weiß nicht mehr zu sehen war. Dann durchsuchte er sie gründlich, um sicherzugehen, dass sie keinen Ausweis bei sich trug – oder sonst etwas, das zu Schwierigkeiten führen konnte.
Da er äußerst gründlich vorging, fand er das silberne Medaillon, das in ihrem linken Schuh versteckt war. Klein, ziemlich flach und mit einem eingravierten Blitz auf der polierten Oberfläche.
DeMarco hielt den Talisman in der flachen Hand und ließ ihn im Mondlicht glitzern. Als er der nicht gerade leisen Rückkehr seiner Männer gewahr wurde, zog er Sarah den Schuh wieder an, stand auf und schob das Medaillon in seine Tasche.
»Der Mistkerl hat mindestens eine Tonne gewogen«, verkündete Brian. Sie schnauften noch immer vor Anstrengung, als sie zu DeMarco auf die Lichtung traten.
»Das Problem werdet ihr mit ihr bestimmt nicht haben«, meinte DeMarco.
»Ein Glück, dass der Fluss tief ist und die Strömung schnell«, sagte Fisk. »Aber ist es denn klug, ihn zum Entsorgen zu benützen?«
»Nein, klug wäre, dafür zu sorgen, dass keine Entsorgung nötig ist.« DeMarcos Ton war eher eisig als kritisch.
Brian sah ihn argwöhnisch an, sagte aber dann schnell zu Fisk: »Nimm du ihre Beine, ich nehme die Schultern.«
Fisk, der einen Blick von DeMarco aufgefangen hatte, antwortete nicht sofort. Dann erwiderte er: »Hilf mir, sie mir über die Schulter zu legen. Sie ist ja nicht blutverschmiert, ich kann sie allein tragen.«
Brian widersprach nicht. Genau genommen sagte er überhaupt kein Wort, bis Fisk mit dem kleinen, schlaffen Körper über der Schulter auf dem Weg zum Fluss war.
Dann wandte er sich an DeMarco. »Fisk ist ein guter Mann.«
»Ist er das? Während seiner Wache haben wir Ellen verloren. Jetzt Sarah und das Mädchen. An so viele Zufälle glaube ich nicht, Brian.«
»Ich bin davon überzeugt, Father gibt nicht Carl die Schuld.«
»Father hat zurzeit andere Dinge im Kopf. Meine Aufgabe ist es, ihn und die Gemeinde zu beschützen. Meine Aufgabe ist es, mir über Unregelmäßigkeiten Gedanken zu machen. Und Fisk ist ein Problem.«
Bekümmert meinte Brian: »Okay, ich hab dich verstanden. Ich werde ihn im Auge behalten, Reese.«
»Tu das. Berichte mir alles, was dir auffällt. Alles, Brian.«
»In Ordnung. Mach ich. Verstanden.«
Schweigend warteten sie auf die Rückkehr von Fisk. DeMarco hielt den Blick auf das dunkel schimmernde Blut gesenkt, das allmählich auf der kalten Erde gefror.
»Soll ich das wegmachen?«, erbot Brian sich schließlich.
»Nicht nötig. Der Wetterdienst hat für die frühen Morgenstunden eine Regenfront angekündigt. In ein paar Stunden wird hier nichts mehr zu sehen sein.«
»Und die Fragen, die man uns stellen wird? Wegen Sarah und dem Mädchen?«
»Wenn wir wieder in der Siedlung sind, geh in Sarahs Zimmer und pack ihre Sachen zusammen. Unauffällig. Bring sie dann zu mir. Um die Sachen der Kleinen kümmere ich mich. Falls jemand Fragen über eine der beiden stellt, soll er sich an mich wenden.«
»Wird das Fathers Pläne durcheinanderbringen? Dass das Kind weg ist, meine ich.«
»Weiß ich nicht.«
»Na ja, ich dachte nur, wenn es einer wüsste, dann du.«
DeMarco wandte sich ihm zu und sah ihn durchdringend an. »Wenn du eine Frage hast, stell sie.«
»Ich habe nur nachgedacht, mehr nicht. Über Fathers Pläne. Er spricht von der Prophezeiung, er spricht über die Endzeit und sagt, es sei fast so weit. Warum bereiten wir uns dann nicht vor?«
»Tun wir.«
»Wir haben kaum genug Waffen, um den Sicherheitsdienst für das Gelände auszurüsten, Reese.«
»Waffen halten keine Apokalypse auf«, erwiderte DeMarco nüchtern.
»Aber wir überleben. Mehr als das – uns wird es besser gehen. Father hat es versprochen.«
»Ja. Und er tut alles, was in seiner Macht steht, um dafür zu sorgen, dass es geschieht. Du glaubst doch daran, oder?«
»Klar. Sicher. Er hat uns nie angelogen. Alle seine Visionen sind eingetroffen.« Brian zitterte unbewusst. »Und zu welchen Dingen er fähig ist. Die Kraft, die er anzapfen kann, wann immer er will … Gott hat ihn berührt, das wissen wir alle.«
»Wieso machst du dir dann Gedanken?«
Merklich verunsichert und verlegen, trat Brian von einem Fuß auf den anderen. »Ich meine, es ist wegen der Frauen. Du bist nicht verheiratet, deshalb weiß ich nicht, ob du das verstehst.«
»Möglicherweise nicht.«
Ermutigt von dieser neutralen Antwort, fuhr Brian vorsichtig fort. »Ich weiß, wie wichtig es ist, Fathers Gaben zu stärken. Ich sehe das ein, wirklich. Und ich verstehe irgendwie, wieso er sich das, was er braucht, bei den Frauen holen kann und nicht bei uns.«
»Frauen sind dazu geschaffen, Männern Kraft zu geben«, erwiderte DeMarco mit neutraler, fast gleichgültiger Stimme.
»Ja, natürlich. Und mir ist klar, dass es ihnen nicht schadet – eher im Gegenteil.« Das klang irgendwie unzufrieden, sogar für seine Ohren, und er sprach schnell weiter, bevor DeMarco etwas dazu sagen konnte. »Aber nicht jede Frau kann oder will das, Reese. Ellen, Sarah. Die anderen. Sollte man sie gegen ihren Willen dazu zwingen?«
»Hast du denn gesehen, dass Zwang angewendet wurde?«
Brian wandte den Blick nicht ab, obwohl er geradezu fühlte, wie ihn diese kalten, kalten Augen im Mondlicht durchbohrten. »Nein. Aber ich habe einiges gehört. Und die, die sich weigern, die sich nicht geschmeichelt fühlen, Fathers Bedürfnisse zu befriedigen, die scheinen letztendlich immer zu verschwinden. Oder sie enden wie Ellen und Sarah.«
DeMarco schwieg so lange, bis Brian unter seinem Blick erneut unruhig wurde, und sagte dann mit Bedacht: »Wenn dir Fathers Handlungsweise nicht gefällt, Brian, wenn du hier nicht glücklich bist, solltest du vielleicht mit ihm darüber reden.«
Brian zögerte nur einen Augenblick und trat dann einen Schritt zurück. »Nein. Nein, ich möchte mich nicht beklagen. Father war immer nur gut zu mir und den Meinen. Ich glaube an ihn.«
»Das freut mich zu hören.« DeMarco wandte den Kopf, als sie beide die geräuschvollen Schritte des zurückkommenden Fisk hörten. »Freut mich sehr. Sei so gut und erinnere mich daran, mit Fisk darüber zu reden, dass wir uns möglichst leise bewegen müssen. Egal, ob wir jemandem auf der Spur sind oder nicht. Vor allem, wenn wir uns außerhalb des Geländes befinden.«
»Mach ich.« Brian war froh, dass sich diese kalten Habichtsaugen auf einen anderen richteten. »Aber derjenige, der das Kind mitgenommen hat, ist längst weg, oder? Ich meine, du nimmst doch nicht an, dass uns jemand zuhört? Uns beobachtet?«
»Irgendjemand ist immer da, Brian. Immer. Wäre gut, wenn du das nicht vergessen würdest.«
Grace, North Carolina
Lächelnd sah Tessa Gray die beiden ernsten Frauen an, die ihr am Couchtisch auf zwei Sesseln gegenübersaßen. »Sie beide sind sehr freundlich. Aber ich glaube eigentlich nicht …«
»Eine alleinstehende Frau hat es nicht leicht«, erklärte die Jüngere. »Die Leute versuchen einen zu übervorteilen. Sie hatten doch schon Angebote für dieses Haus, nicht wahr? Und für den Grund?«
Tessa nickte bedächtig.
»Und die waren niedriger als der angemessene Marktpreis«, sagte die ältere Frau.
Das war nicht als Frage gemeint.
Tessa nickte erneut. »Gemessen am Gutachten, ja. Trotzdem war ich versucht, darauf einzugehen. Das ist mir alles zu groß. Und da der Grund nicht viel wert ist …«
»Das behaupten die.« Die Augen der jüngeren Frau glühten beinahe vor rechtschaffener Entrüstung. »Das wollen die Sie glauben lassen. Aber es stimmt nicht. Das Land ist eine Menge wert. Und sogar noch mehr, wenn Leute, die etwas davon verstehen, es bewirtschaften. Wenn sie Ackerbau und Viehzucht in der richtigen Art und Weise betreiben.«
»Davon verstehe ich nichts«, gestand Tessa. »Ich bin froh, dass die Farm einen Verwalter hat, der sich um alles kümmert. Das Land und das Unternehmen gehörten der Familie meines Mannes, wie Sie sicher wissen. Er selbst hatte daran keinerlei Interesse. Er war jahrelang nicht mehr hier gewesen, seit der Highschool, glaube ich. Er war der Erbe, und nun hängt alles an mir.«
»Die Kirche kann Ihnen diese Last abnehmen, Tessa«, sagte die ältere Frau, die sich nur als Ruth vorgestellt hatte. »Kann für Sie die Verwaltung übernehmen, auch für die Ranch in Florida. Dann bräuchten Sie sich nicht mehr darum zu kümmern. Natürlich würde alles nach wie vor Ihnen gehören. Unsere Regeln verbieten, dass Mitglieder der Kirche Besitz übereignen, selbst wenn sie das wollten. Man bittet uns nur, den Zehnten zu entrichten, in Geld, Waren oder Dienstleistungen. Falls unser Besitz und Geschäft mehr als genug für uns abwirft, für unsere Bedürfnisse, und wir beschließen, den Überschuss der Kirche zu spenden, nun, dann ist das sehr schön. Es ist ein Geschenk, Father dabei zu helfen, sich um uns zu kümmern.«
Beim vierten Besuch geht es also zur Sache, dachte Tessa. Während der vorangegangenen Besuche war ihr durch die Kirche und deren Gemeindemitglieder nur geistige, emotionale und praktische Unterstützung angeboten worden. Von einer Gegenleistung war keine Rede gewesen.
»Leider hatte ich mit Religion nie viel im Sinn«, gestand Tessa.
Die jüngere Frau mit dem seltsamen Namen Bambi beugte sich voller Missionseifer in ihre Richtung. »Ach, das hatte ich auch nicht. Den Kirchen, die ich als Teenager besuchte, ging es hauptsächlich um Strafe, Sünde und Erlösung. Ständig wurde versprochen, dass man eines fernen Tages dafür belohnt würde, ein guter Mensch zu sein.«
Tessa ließ einen Anflug von Zweifel in ihrer Stimme mitschwingen. »Und das ist bei der Kirche der Immerwährenden Sünde anders? Tut mir leid, aber das klingt nicht …«
»Oh, völlig anders.« Bambis Stimme wurde ganz weich. Ihre Augen begannen mit solcher Hingabe zu strahlen, dass Tessa am liebsten den Blick abgewandt hätte, wie von etwas allzu Privatem.
»Bambi«, mahnte Ruth leise.
»Aber sie sollte es doch wissen. Tessa, wir glauben, dass die immerwährende Sünde von jenen begangen wird, die meinen, unser Los in diesem Leben bestünde nur aus Strafe und Sühne. Wir sind der Auffassung, dass Jesus und das, was Er für uns getan hat, dadurch abgewertet wird. Als Er für uns starb, wurden wir von unseren Sünden reingewaschen. Das Leben, das uns geschenkt wurde, ist dazu da, es zu genießen.«
Tessa schwieg, worauf sich Bambis Miene verdüsterte. »Es gibt Leute, die uns für unseren Glauben bestrafen wollen. Leute, die Angst haben.«
»Angst wovor?«
»Angst vor Father. Angst vor seinen Fähigkeiten. Angst, dass er die Wahrheit kennt.«
»Bambi.« Diesmal klang Ruths Stimme energisch, und die jüngere Frau verstummte, den Kopf unterwürfig gesenkt.
Mit sanftem Lächeln und freundlichem Blick erklärte Ruth: »Wie man sieht, ruft Father in uns allen ein Gefühl tiefster Loyalität hervor. Aber, bitte, kommen Sie und bilden Sie sich selbst ein Urteil. Besuchen Sie unsere Kirche. Gottesdienste finden natürlich am Sonntag statt und Donnerstagabend. Die Kirche ist sowohl der Mittelpunkt unserer Gemeinde als auch das geistige Zentrum. Daher ist fast immer jemand da, der mit diesem oder jenem beschäftigt ist. Kinder, Erwachsene und Jugendliche. Sie sind uns jederzeit willkommen.«
»Danke, ich werde es mir überlegen«, erwiderte Tessa.
»Bitte tun Sie das. Wir würden uns sehr freuen. Mehr noch, Tessa, wir würden Ihnen gern in dieser schwierigen Zeit zur Seite stehen.«
Tessa bedankte sich erneut und begleitete die beiden Frauen zuvorkommend durch das ziemlich unpersönliche Wohnzimmer zur Eingangstür des weitläufigen Hauses. Sie blieb in der offenen Tür stehen, bis der weiße Wagen die lange geschwungene Einfahrt hinuntergefahren war, schloss dann die Tür und lehnte sich dagegen.
»Bishop hatte recht«, stellte sie fest. »Die sind vor allem an der Ranch in Florida interessiert.«
»Ja, recht zu haben ist eine seiner lästigen Angewohnheiten.« Special Agent Hollis Templeton kam aus einem Zimmer, das an die geräumige Diele angrenzte. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Allerdings glaube ich, dass das Ruth unabsichtlich entschlüpft ist. So wie wir die Sache aufgezogen haben, ist nicht eindeutig klar, dass der Besitz in Florida dir gehört. Die Tatsache, dass die Kirche der Immerwährenden Sünde überhaupt davon weiß, riecht ganz nach der Art intensiver Nachforschungen, die niemand gern hätte. Vor allem nicht von einer Kirche.«
»Was auch einiges über die Vielschichtigkeit ihrer Informationsquellen aussagt.«
Hollis nickte. »Ein Punkt von vielen, über die wir gar nicht glücklich sind. Um so schnell und problemlos an diese Art von Information zu kommen wie die Kirche, muss der gute Reverend über landesweite Verbindungen verfügen.«
»Heimatschutzbehörde?«
»Vielleicht, so erschreckend diese Möglichkeit auch wäre. Doch obwohl Bishop das nicht ausdrücklich gesagt hat, glaube ich, er befürchtet, es könnte jemand vom FBI sein.«
»Was erklärt, wieso Haven an vorderster Front agiert?«
»Nur zum Teil. Aus verschiedenen Gründen erschien es sinnvoll, eine zivile Organisation einzubinden, vor allem angesichts unserer dürftigen Beweislage gegen Samuel oder die Kirche. Ermittler von Haven können sich freier bewegen und Fragen stellen, die wir von Rechts wegen nicht stellen können. Was in einer Situation wie dieser nicht nur wichtig, sondern von vorrangiger Bedeutung ist.«
»Das hat John mir auch gesagt.« Tessa machte eine auffordernde Kopfbewegung und verließ die Diele.
Hollis folgte ihr in die große, sonnendurchflutete Küche und nickte, als Tessa fragend auf die Kaffeemaschine deutete. »Bitte. Ich habe immer noch einen Jetlag.«
Tessa suchte in der ihr nach wie vor fremden Küche nach dem Kaffee und antwortete erst, als sie ihn gefunden hatte. »Hab ihn. Wieso Jetlag? Arbeitet ihr denn nicht von Quantico aus?«
»Die meisten schon, aber ich war wegen eines anderen Falls in Kalifornien. Bishop hat es zwar nicht zugegeben, doch ich glaube, er hatte nicht erwartet, dass die Kirche so schnell reagiert oder so hartnäckig ist, nachdem sie mit dir Kontakt aufgenommen hatte. Du bist schließlich erst ein paar Wochen hier. Unseren Informationen und Erfahrungen nach dauert es normalerweise ein paar Monate, bevor sie anfangen, potenzielle Neumitglieder für die Gemeinde zu umwerben.«
Ohne Hollis anzusehen, maß Tessa Kaffee ab. »Bei Sarah hat es Monate gedauert, nicht wahr?«
Hollis schob sich auf einen Barhocker an der Kücheninsel, faltete die Hände auf der Granitarbeitsplatte und blickte stirnrunzelnd auf ihren abgekauten Daumennagel. »Hat es. Aber ihre Lockvogelbiografie war nicht ganz so verlockend wie deine.«
»Hat man mich deshalb hier untergebracht, noch bevor ihr etwas zustieß?«
»Also, der Plan war, mehrere Fronten aufzubauen. Jede sich bietende Möglichkeit zu nutzen, um an Informationen und Beweise zu gelangen. Wir konnten im Voraus nicht genau wissen, welche Art von Hintergrund oder Situation sich für die Kirche oder Samuel als besonders attraktiv erweisen würde. Und nicht jeder Agent oder Ermittler geht auf die gleiche Weise vor oder schafft es, Zutritt zu gewissen Ebenen der Kirchenhierarchie zu bekommen. Sarah ist es zwar nicht gelungen, Samuels engsten Vertrauten wirklich nahe zu kommen, trotzdem konnte sie wichtige Informationen sammeln. Und sie hat einige Kinder herausbekommen.«
»Hat man sie gefunden?«, fragte Tessa leise.
»Nein.« Hollis wartete, bis Tessa die Kaffeemaschine angeschaltet hatte, und fügte bedächtig hinzu: »Die Leichen tauchen immer flussabwärts auf. Früher oder später.«
Tessa sah sie einen Moment lang an. »Es dauert seine Zeit, hat man mir gesagt, einen Panzer um seine Gefühle zu legen.«
Ohne es ihr zu verübeln, lächelte Hollis leise. »Manchmal. Aber eigentlich tun wir nur so als ob. Keiner von uns würde diese Arbeit machen, wenn er nicht zutiefst Anteil nähme. Wenn er nicht davon überzeugt wäre, etwas bewirken zu können.«
»Bist du deswegen dabei?«
»Ich wurde da mehr oder weniger hineingezogen.« Hollis’ Lächeln wurde etwas verzerrt. »Wenn das alte Leben zerbricht, baut man sich ein neues auf. Als das bei mir der Fall war, hatte ich das Glück, verwandte Seelen an meiner Seite zu haben, Leute, die verstanden, was ich durchmachte. So wie du Glück hattest, als du ihnen begegnet bist.«
»Für mich war es einfacher«, meinte Tessa. »Meine Fähigkeiten wurden nicht durch ein Trauma ausgelöst.«
»Die Pubertät ist ein Trauma.«
»In gewisser Weise, klar. Aber nichts im Vergleich zu deinem.«
Nachdenklich, doch ohne viel von sich preiszugeben – oder deswegen vielleicht sogar eine Menge – antwortete Hollis: »Bei der Special Crimes Unit ist das, was ich erlebt habe, gar nicht so ungewöhnlich. Nicht einmal in diesem Maße. Die meisten im Team haben eine Art persönliche Hölle durchlebt und sind daraus mit Fähigkeiten hervorgegangen, die wir immer noch zu ergründen versuchen.«
Tessa erkannte das höfliche Ausweichmanöver und wechselte das Thema, um auf Hollis’ indirekte Frage zu antworten. »Ich fand keine verwandten Seelen, weil ich nicht nach ihnen gesucht habe. Bishop hat mich entdeckt. Schon vor Jahren. Aber ich wollte nichts mit Polizeiarbeit zu tun haben. Als er ging, dachte ich, die Sache sei damit beendet. Bis sich John und Maggie bei mir meldeten.«
»Und da hast du beschlossen, Polizistin ohne Dienstmarke zu werden?«
»Eher nicht. Ich habe zwar ermittelt, aber nie in einer Gefahrensituation. Nicht so wie jetzt mit all den Toten. In der Umgebung wurden bisher acht Leichen gefunden, oder? Acht Menschen, die auf die gleiche Weise getötet wurden. Auf die gleiche höchst unnatürliche Weise.«
Hollis nickte. »Innerhalb der vergangenen fünf Jahre, ja. Jedenfalls sind das die, von denen wir wissen. Wenn wir mehr Einblick hätten … wahrscheinlich sogar mehr.«
Tessa lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme, eher schützend als abweisend. Hollis entging das nicht. Sie fragte sich mindestens zum dritten Mal, seit sie vor ein paar Stunden angekommen war, ob John Garrett, der Direktor und Mitbegründer von Haven, eine kluge Wahl getroffen hatte, Tessa Gray gerade mit dieser Aufgabe zu betrauen.
Sie war etwas größer als der Durchschnitt und schlank, fast schon ätherisch. Dieser Eindruck wurde durch ihre blasse Haut, blonde Haare, feine Gesichtszüge und auffallend große graue Augen noch verstärkt. Ihre Stimme klang sanft, beinahe kindlich. Sie sprach mit der ausgesuchten Höflichkeit eines Menschen, der dazu erzogen wurde, in jeder Situation höflich zu bleiben.
Was sie so verletzlich klingen ließ, wie sie aussah.
Natürlich sollte sie verletzlich wirken, das war ein Teil des Köders für die Kirche. Ohne Familie, einsam und allein nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod ihres jungen Ehemannes vor ein paar Monaten. Überfordert von den Geschäftsangelegenheiten, zu deren Bewältigung ihr jegliche Kenntnis fehlte, war sie genau die Art potenzieller Konvertitin, die von der Kirche bekanntermaßen heftig umworben wurden.
Wenn auch nie zuvor derart massiv, fand Hollis, zumindest soweit sie wussten. Und da stellte sich die Frage: wieso?
Was an Tessa war für Reverend Samuel und seine Schäfchen von solcher Bedeutung? War es nur der Besitz in Florida, der für Samuel aus Gründen wichtig war, die nichts mit dem Wert des Grundstücks zu tun hatten? Oder hatte er irgendwie Tessas einzigartige Fähigkeiten gespürt oder etwas über sie in Erfahrung gebracht?
Das wäre allerdings eine höchst beunruhigende Überlegung. Der Gedanke, dass all ihre Trümpfe offen auf dem Tisch lagen, machte das Spiel riskant, sehr riskant sogar.
Angesichts dessen, was sie darüber wussten, wozu Samuel imstande war, barg der Einsatz möglicherweise tödliche Gefahren.
»Ich hatte noch nie einen verdeckten Ermittlungsauftrag«, sagte Tessa. »Jedenfalls keinen, bei dem ich mir einen komplett neuen Lebenslauf merken musste.«
Hollis schob ihre zwecklosen Grübeleien beiseite. »Muffensausen?«
Tessa entschlüpfte ein leises Lachen. »Mehr als das. John hat mir die Lage erklärt, und Bishop hat mir geschildert, was letzten Sommer in Boston und vor ein paar Monaten in Venture, Georgia, passiert ist. Beide haben mich darüber aufgeklärt, wie gefährlich es werden könnte – aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest.«
Hollis hielt nicht viel davon, um den heißen Brei herumzureden. »Tja, wenn Samuel der ist, für den wir ihn halten, besteht durchaus die Möglichkeit, dass einige von uns das nicht überleben werden. Selbst dann nicht, wenn wir gewinnen.«
»Zweifeln wir daran?«
»Ganz ehrlich? Da ich mir durchaus vorstellen kann, wozu er fähig ist, habe ich tatsächlich so meine Zweifel.«
Tessa runzelte die Stirn. »Weil du ihm schon begegnet bist, gegen ihn gekämpft hast?«
»Nicht ganz. Nicht einmal annähernd. Er wollte mich nur aus dem Weg haben. Bishop meint, Samuel hat Angst vor Medien und hat deshalb sein zahmes Monster in Georgia auf mich gehetzt.«
»Wieso sollte Samuel Angst vor Medien haben?«
»Na, denk mal nach. Wenn du für Dutzende brutaler Tode verantwortlich wärst, würdest du dann gern jemand in der Nähe haben, der eine geheime Tür öffnen kann und es so deinen Opfern ermöglicht, dir einen äußerst unangenehmen Besuch abzustatten?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Nein. Würde ich an Samuels Stelle auch nicht wollen. Wir halten das zumindest für wahrscheinlich, allerdings ohne irgendwelche handfesten Beweise zu haben.«
»Das ist also die Fähigkeit, von der wir ziemlich sicher sind, dass er sie nicht haben will. Falls er derjenige und das ist, wofür wir ihn halten.«
»Genau. Meiner unmaßgeblichen Meinung als in der Ausbildung befindlicher Profiler nach hat der Reverend panische Angst vor der Gewissheit, dass der Glaube an Geister auch das traditionelle Drumherum eines Lebens nach dem Tode bedingt. Als da wären: Rechenschaft. Urteil. Strafe.«
»Und, gibt es das?«, fragte Tessa, denn wenn überhaupt jemand das wissen konnte, dann doch wohl ein Medium.
»Ja«, erwiderte Hollis schlicht.
»Eine Hölle?«
»In gewisser Weise. Zumindest für Scheusale wie ihn. Die Ironie des Ganzen liegt darin, dass das Einzige, was Reverend Samuel voller Überzeugung und Ehrlichkeit von der Kanzel verkünden könnte, die Existenz des Jüngsten Gerichts ist. Dabei hat er zwanzig Jahre darauf verwendet, genau das durch seine Kirche vehement in Abrede zu stellen.«
***
Washington, D.C.
»Das also ist seine Achillesferse?« Senator Abe LeMott saß vollkommen ruhig an seinem Schreibtisch, die Hände auf der ordentlichen Schreibunterlage gefaltet, und musterte den Mann, der auf einem der Besucherstühle hockte. »Das eine, wovor er Angst hat?«
»Davon gehen wir aus.« Special Agent Noah Bishop war ebenso ruhig, wobei sein unverwandter Blick womöglich noch wachsamer war. »Er hatte jede Möglichkeit, sich die Fähigkeiten eines unserer stärksten Medien anzueignen. Stattdessen hat er versucht, sie umbringen zu lassen.«
»Sie diente als Köder für eine Falle, nicht wahr? Als Köder für Sie?«
»Köder. Wir sind uns nicht vollkommen im Klaren über sein eigentliches Vorhaben. Können wir auch nicht sein. Wir wissen nur, was passiert ist. Dani war diejenige, die er angegriffen hat, deren Fähigkeiten er zu übernehmen versuchte. Höchstwahrscheinlich, weil er wusste, dass diese Fähigkeiten als Angriffswaffe genutzt werden können. Vielleicht hatte er es deshalb nicht auf uns andere abgesehen, weil er uns nicht für verwundbar hielt. Vielleicht kann er auch jedes Mal nur eine Fähigkeit übernehmen – oder konnte es damals zumindest. Vielleicht hat er auch bloß unsere Stärken ausgetestet. Und unsere Schwächen. Vielleicht waren ihm unsere Fähigkeiten auch gar nicht wichtig, da er bereits seine eigene Version davon besaß.«
»Das sind aber eine Menge Unwägbarkeiten.«
»Ja, ich weiß. Ich sagte Ihnen ja bereits, Senator, dass es keine schnellen oder einfachen Antworten geben würde. Nicht, wenn wir die ganze Wahrheit erfahren wollen. Aber wir haben den Mann gefasst, durch dessen Hand Ihre Tochter gestorben ist.«
»Glauben Sie denn, Agent Bishop, dass der Mann, der einen anderen dazu bringt, an seiner Stelle zu handeln, weniger Schuld an der begangenen Tat hat?«
»Sie wissen, dass ich das nicht glaube. Eher hat er mehr Schuld.«
»Dann begreifen Sie auch, wieso mich die Verhaftung dieser gemeinen Kreatur nicht befriedigt, die die Farbe ihrer Zellenwände abkratzt, während wir uns hier unterhalten.«
Bishop nickte. »Ob Sie es glauben oder nicht, Senator, ich will den Mann hinter dem Mörder genauso dringend fassen wie Sie.«
»Oh, das glaube ich gern.« LeMotts Lächeln war kaum merklich. »Er stellt die erste wirkliche Bedrohung für Sie dar, nicht wahr?«
»Die Special Crimes Unit …«
»Hat während der letzten Jahre so einiges an Bedrohung überstanden, stimmt. Ich will das gar nicht kleinreden oder Ihre beträchtlichen Leistungen schmälern. Die SCU hat das Böse in fast all seinen Erscheinungsformen erlebt, einschließlich vieler Mörder, und sie in aller Regel unschädlich gemacht. Das wissen wir beide. Aber hier handelt es sich um eine andere Art von Bedrohung. Eine weitaus gefährlichere für Sie und Ihre Leute. Nach allem, was wir an Hinweisen haben, beabsichtigt der Mörder, Sie mit Ihren eigenen Mitteln, Ihren eigenen Waffen anzugreifen, sich Ihren Vorteil zunutze zu machen. Und obwohl Sie sicherlich in der Überzahl sind, hat er den Vorteil, dass es kaum eine Rolle spielt, mit wie vielen Agenten Sie ihn jagen.«
»Nicht die Anzahl ist entscheidend, Senator, sondern deren Ausbildung und Können.«
»Und deren Fähigkeiten? Fähigkeiten, die er besitzen will? Fähigkeiten, die er ihnen offensichtlich gewaltsam entreißen kann, ohne auch nur Hand an sie zu legen – und die er dann gegen sie einsetzten kann?«
»Wir wissen nicht, wozu er imstande ist. Doch was in Georgia geschah, könnte ihn zumindest gelehrt haben, dass ihm das Können, die Stärke fehlten, sich alles zu nehmen, was er will. Für ihn gibt es Grenzen, genau wie für uns. Schwächen. Verwundbarkeiten. Er ist keinesfalls allmächtig. Keinesfalls unbesiegbar.«
»Das können wir beide nur hoffen. Aber es ist doch wohl klar, Agent Bishop, dass Ihr Feind Sie mindestens so gut kennt wie Sie ihn und wahrscheinlich sogar noch besser. Vor allem, da er Agent Templeton so lang verfolgt und beobachtet hat, wie das fotografische Beweismaterial vermuten lässt, das Sie in Venture entdeckt haben.«
»Nichts spricht dafür, dass er ein anderes Mitglied der Einheit verfolgt hat.«
»Aber auch nichts dagegen.«
»Nein. Genau genommen können wir nicht einmal mit Sicherheit behaupten, dass er es war, der Sie beobachtet hat. Diese Fotos könnten ebenso gut von einem dafür engagierten Privatdetektiv stammen.«
»Einem Privatdetektiv, der zu dämlich ist, zu erkennen, dass seine Zielperson oder -personen FBI-Agenten sind?«
»Vielleicht haben wir ja deshalb nur Bilder von Hollis gefunden. Vielleicht hat derjenige erkannt, dass es zu gefährlich ist, Bundesbeamte zu beschatten und zu fotografieren.«
»Noch mehr Unwägbarkeiten.«
Bishop war sich nur allzu bewusst, dass er seit Monaten mit einem mächtigen Mann zu tun hatte, dessen Leben nur noch von wütendem Schmerz und dem verzweifelten Wunsch nach Rache bestimmt wurde.
Nicht danach, seiner ermordeten Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht mehr. Abe LeMott wollte Rache. Für den Verlust seiner Tochter. Für den Verlust seiner Frau. Für die Zerstörung seines Lebens.
Was ihn kaum weniger gefährlich machte als den Mann, hinter dem sie beide her waren.
Daher wählte Bishop seine nächsten Worte mit Bedacht. »Abgesehen davon, was er über die Mitglieder der SCU weiß oder nicht weiß, wissen wir, dass er zumindest eine Schwachstelle hat, eine Achillesferse. Und wo es eine gibt, ist noch mehr. Das traf bisher auf jeden Verbrecher, auf jegliches Böse zu, gegen das wir gekämpft haben. Auch Samuel ist da sicher keine Ausnahme. Wir werden seine Schwachstellen ausfindig machen. Und wir werden einen Weg finden, sie uns zunutze zu machen.«
»Bevor Sie noch mehr Ihrer Leute verlieren?«
»Das weiß ich nicht. Ich hoffe es.«
LeMotts Augen wurden schmal. »Sie haben das Ende des Ganzen nicht gesehen, oder? Keine Vision, wie es ausgeht? Sie und Ihre Frau?«
»Nein. Haben wir nicht.«
»Aber Sie lassen sich davon nicht aufhalten.«
»Nein.«
Der Senator versuchte sich erneut an einem Lächeln, genauso kaum merklich wie zuvor, doch diesmal hatten seine Augen einen harten, kalten Glanz. »Mehr kann ich wohl kaum verlangen, nicht wahr?«
Bishop schwieg.