Bombenstimmung - Bernd Franzinger - E-Book

Bombenstimmung E-Book

Bernd Franzinger

4,8

Beschreibung

Hauptkommissar Wolfram Tannenberg fiebert dem Ereignis des Jahres entgegen. Deutschlands beliebteste Quiz-Show gastiert in seiner Heimatstadt. Mit von der Partie ist seine Familie: Vater, Bruder und Neffe nehmen als Kandidatenteam an dem Quiz in der ausverkauften Stadthalle teil. Mitten in der Livesendung meldet sich ein skrupelloser Erpresser und fordert den Hauptgewinn von 10 Millionen Euro. Er behauptet, mehrere Sprengsätze im Keller des Gebäudes deponiert zu haben und droht diese zu zünden. Als zwei Bomben in der Nähe der Halle explodieren, wird Tannenberg klar, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt, um eine Katastrophe zu verhindern ...

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Titel

Bernd Franzinger

Bombenstimmung

Tannenbergs sechster Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2006

Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos der Stadt Kaiserslautern

Gesetzt aus der 10/14 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3120-3

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Zitat

»Das erste, das der Mensch im Leben vorfindet,

das letzte, wonach er die Hand ausstreckt,

das kostbarste, was er im Leben besitzt,

ist die Familie.«

Adolf Kolping

»Die Familie ist es, die unsren Zeiten nottut.«

Adalbert Stifter

1

Marco Kern erhob sich von der roten Ledercouch und schlenderte lässig auf die Führungskamera zu. Seine vor Selbstbewusstsein strotzende Körpersprache drückte genau das aus, was er nach Meinung vieler Fernsehzuschauer derzeit auch war: der ungekrönte König der deutschen Jungmoderatoren-Zunft.

Plötzlich blieb er stehen. Sein stechender Blick bohrte sich tief ins Objektiv. »Meine Damen und Herren«, begann er theatralisch, »ich bin mir sicher, dass auch Sie zu Hause vor Ihren Bildschirmen dieses Knistern spüren, diese schier unerträgliche Spannung, die hier bei uns in dieser wunderschönen alten Halle herrscht.«

Dann hielt er kurz inne. Sein Gesicht leuchtete auf. Mit anschwellender Stimme fuhr er fort: »Kein Wunder! Denn wir haben nun fast das Ende der ersten Spielrunde erreicht.«

Er klatschte in die Hände, knetete sie. Erneut ließ er einen Augenblick verstreichen, bevor er ergänzte: »Ich sage es Ihnen gerne noch einmal: Der Maximalgewinn beträgt auch heute Abend wieder zehn … Millionen … Euro. Eine Eins mit sieben Nullen!« Auf der großen Studioleinwand erschien die beeindruckende Zahl in glitzernder Leuchtfarbe. »Das Geld befindet sich bereits hier in der Halle. Natürlich unter strengster Bewachung.«

Das Bild auf der Leinwand wechselte: Sowohl die Hallengäste als auch die Zuschauer an ihren Fernsehgeräten begleiteten nun einen Kameramann dabei, wie er durch einen engen Flur eilt und wenig später einen lichtdurchfluteten Raum betritt. Zentraler Blickfang waren zwei goldene Metallkoffer, um die herum wie bei einer Sargwache vier finster dreinblickende Security-Mitarbeiter postiert waren.

Unterdessen nahm Marco Kern seine rechte Schulter zurück und wies mit einer ausladenden Geste auf eine Sitzgruppe hin, von der er sich ein paar Sekunden zuvor entfernt hatte. Die Führungskamera schwenkte an seinem Arm vorbei und zoomte nacheinander auf die einzelnen Quizteilnehmer.

»Eine dieser vier Familien hat schon bald die Riesenchance, diesen außergewöhnlich hohen Geldbetrag zu gewinnen«, verkündete der Starmoderator. »Eine dieser Familien kann heute Abend steinreich werden. So reich, dass keiner von ihnen jemals mehr zu arbeiten braucht. Vielleicht sind es ja die Tannenbergs – unsere Lokalmatadoren hier aus Kaiserslautern. Tobias, das jüngste Mitglied dieses Teams hat ja bereits die erste Hürde mit Bravour gemeistert. Jetzt bin ich sehr gespannt darauf, ob der junge Mann auch die Frage, die ich ihm gleich stellen werde, innerhalb einer Minute richtig beantworten kann.«

Schnitt – das grinsende Gesicht Marco Kerns in Großaufnahme. »Aber zuerst gibt’s noch eine Werbepause.« Er drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Jetzt nur nicht weggehen! Damit Sie ja nichts verpassen, wenn es nachher weitergeht – mit der Zehn-Millionen-Euro-Show.«

Das Mienenspiel des Moderators veränderte sich schlagartig. Seine Gesichtszüge entspannten sich, er atmete ein paar mal tief durch. Mit schnellen Schritten verschwand er hinter der Bühne, wo ihn in seiner Garderobe eine junge Maskenbildnerin zum Abpudern erwartete.

Während er mit geschlossenen Augen die notwendige Prozedur über sich ergehen ließ, hatte ein paar Meter von ihm entfernt der Einpeitscher seinen großen Auftritt. Mit einem Mikrofon in der Hand sprang er auf die Bühne und wandte sich fordernd ans Publikum:

»So, Leute, und wir nutzen jetzt die Zeit zum Üben. Von euch muss nämlich noch ein bisschen mehr Engagement kommen. Wir sind hier schließlich nicht im Altersheim. Ihr könnt das doch viel, viel besser. Nicht wahr?«

Vereinzelt erklang ein eher zögerliches ›Ja‹.

»Ich hab eben fast gar nichts gehört.« Er kniff die Augen zusammen, wiegte unzufrieden den Kopf hin und her. »Nicht wahr?«, wiederholte er dieselben Worte, diesmal allerdings mit einer bedeutend schärferen Klangfärbung versetzt.

»Jaaaa.«

»Gut, das war schon besser. Aber es war immer noch nicht gut genug. Also nochmal. So laut ihr könnt!«

»Jaaaa«, dröhnte es nun vielstimmig zurück.

»Okay! Ihr müsst stets daran denken: Wir sind heute Abend alle supergut drauf! In dieser Halle herrscht eine Bom-ben-stimmung. Bei uns hier geht es volle Kanne ab. Deshalb müsst ihr immer schön auf mein Zeichen achten. Und wenn ihr es seht, müsst ihr es sofort richtig schön krachen lassen! Ist das jedem von euch klar?«

»Jaaa.«

Mit eindeutigen Handbewegungen beschwichtigte er daraufhin die Menge. »Okay, okay, das reicht. Nun zum Klatschen. Das war auch noch nix. Wir sind hier doch nicht bei einer Rentner-Veranstaltung. Ich will kein höfliches Konzert-Klatschen. Ich will tosenden Beifall von euch hören, wahre Begeisterungsstürme. Ihr müsst johlen, trampeln, ausflippen. Immer wenn ihr mich anklatschen hört, will ich sofort Action sehen – totale Action! Achtung: Probelauf.« Er klatschte.

Das Publikum reagierte zu seiner vollen Zufriedenheit.

»Leute, das war Spitzenklasse!«, lobte er. Danach hechtete er von der Bühne.

In der Halle wurde es nun wieder merklich ruhiger. Währenddessen versuchte Marco Kern in seiner engen Garderobe die attraktive Maskenbildnerin mit einer nicht sonderlich originellen Anmache zu bezirzen: »Na, mein süßes, kleines Schätzchen, wie gefalle ich dir denn heute Abend?«

»Super gut, Marco. Du siehst wieder fantastisch aus, so wie immer«, säuselte sie zurück. »Du bist einfach der Allergrößte. Der Schwarm einer jeden Frau.«

Der Moderator öffnete blinzelnd die Augen. Mit einem skeptischen Blick fixierte er die süffisant schmunzelnde Blondine. »Ach, Schätzchen, wenn ich doch nur einmal hinter deine wunderschönen blauen Augen schauen könnte. Wenn ich nur wüsste, was du wirklich über mich denkst.«

»Ja, lieber Marco. Wie heißt es in diesem alten Lied so schön: Die Gedanken sind frei – wer kann sie erraten?«

»Ist mir auch egal, Schätzchen.« Grinsend lehnte er sich zurück. »Na, was machen wir beiden Hübschen denn heute Abend noch Schönes mit …«

Weiter kam er nicht, denn wie aus dem Nichts ertönte urplötzlich die markante Stimme des Regisseurs in seinem Rücken. »Marco, ich muss dich dringend sprechen.«

»Was? Wie?«, stammelte Kern. »Wir sind doch gleich wieder auf Sendung.«

»Nein, wir machen jetzt ’ne doppelte Werbung. Und anschließend bringen wir den ersten Showblock. Den ziehen wir vor und verlängern ihn mit Zugaben.«

»Aber warum denn das?«

»Sag ich dir gleich.« Er fuchtelte hektisch mit der Hand. »Mandy, komm, lass uns mal allein!«

Als die Maskenbildnerin nicht umgehend reagierte, sondern in aller Ruhe damit begann, die Schminkutensilien zusammenzuräumen, verlor der untersetzte, glatzköpfige Mann völlig die Beherrschung: »Los, los, verschwinde endlich!«, brüllte er mit hochrotem Kopf.

Marco Kern stierte den Regisseur fassungslos an. »Was ist denn mit dir los, Gero?«

»Mit mir?« Er wartete noch einen Augenblick, bis Mandy die Garderobe verlassen hatte. Dann fuhr er im Flüsterton fort: »Nicht mit mir, mein Junge, mit uns! Es geht um nichts Geringeres als um unser Leben.«

»Um unser Leben?« Kern fuhr aus seinem Sessel hoch, pflanzte sich direkt vor dem etwa einen Kopf kleineren Endvierziger auf und starrte ihn mit einem entsetzten Blick an. »Was redest du denn da für wirres Zeug?«

Gero Lottner räusperte sich, schluckte hart. »Von wegen wirres Zeug«, schnaubte er. »Mensch, Marco, wir haben eine Bombendrohung erhalten.«

»Eine Bombendrohung?«

»Nicht so laut, Mann!«

»Bombendrohung?«, wiederholte der Moderator mit deutlich abgesenkter Stimme. Er hob die Augenbrauen, zog das Kinn zur Brust. »Aber, Gero, das ist doch nichts Besonderes«, versuchte er zu beschwichtigen. »Solche Spinner hatten wir schließlich schon öfter. Da war doch noch nie etwas dran.«

»Aber diesmal wäre ich mir da nicht so sicher«, versetzte der Regisseur mit bekümmerter Miene.

»Wieso?«

»Ich weiß nicht, aber irgendwie hab ich diesmal ein ziemlich ungutes Gefühl.«

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Vor ein paar Minuten hat sich ein Erpresser bei mir gemeldet. Er fordert die zehn Millionen. Er behauptet, unter der Halle mehrere Sprengsätze deponiert zu haben.«

»Aber das kann doch jeder behaupten.«

Der Regisseur schaute auf seine Armbanduhr. »Na, wir werden ja schon bald sehen, was an dieser Sache dran ist. Er will uns nämlich gleich einen spektakulären Beweis für die Ernsthaftigkeit seine Drohung vorführen.«

»Und was will er da machen?«

»Keine Ahnung. Er hat nichts angedeutet, nur gesagt, dass er kurz vorher nochmal anruft. Wir sollen bis dahin eine Internetverbindung herstellen. Brauchen wir nicht, wir sind ja immer online.«

Marco Kern brummte auf. »Hast du schon die Polizei verständigt?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil er gesagt hat, dass er dann sofort die Halle in die Luft jagen wird. Was ist, wenn dieser Typ wirklich durchdreht? Willst du etwa die Verantwortung für das Leben all dieser Menschen da draußen übernehmen?«

Betroffen schüttelte Marco Kern den Kopf.

»Wir warten erst mal ab, was er uns gleich zeigen wird. Danach können wir immer noch die Polizei informieren.« Ein zartes Pflänzchen Hoffnung keimte in Gero Lottner auf. »Vielleicht hast du ja recht und es ist wirklich nur ein übler Scherz.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Komm, wir müssen los.«

Die beiden Männer eilten in den Übertragungswagen und nahmen am Regiepult platz. Keiner der anwesenden Personen gab während der quälenden Wartezeit auch nur einen einzigen Ton von sich.

Das Telefon läutete. Die Bildmischerin zuckte erschrocken zusammen. Gero Lottner griff nach dem Hörer, presste ihn ans Ohr. Kommentarlos nahm er die Anweisungen entgegen. Bereits nach wenigen Sekunden legte er den Hörer wieder auf.

Mit fliegenden Fingern hämmerte er die ihm übermittelte Internetadresse in die Tastatur. Alle im Ü-Wagen befindlichen Mitarbeiter des Fernsehteams hatten sich inzwischen hinter dem Laptop versammelt und starrten nun gebannt auf den Monitor. Das Bild hatte sich in Windeseile aufgebaut. Es wurde von einer Webcam übertragen und zeigte den in gleißendes Licht getauchten Prachtbau der Pfalzgalerie.

Der Erpresser meldete sich erneut.

Kurz darauf detonierten in unmittelbarer Nähe der breiten Sandsteintreppe zwei Sprengsätze. Es waren dumpfe Geräusche, wie starke Kanonenschläge. Die Scheiben des Übertragungswagens vibrierten. Alle zogen reflexartig ihre Köpfe ein.

»Oh Gott, das war hier ganz in der Nähe«, wimmerte die Bildmischerin.

Langsam tauchte hinter einer Staubwolke die blassrote Fassade der Pfalzgalerie wieder auf. Entsetzt stierte das Event-TV-Team auf die Mattscheibe.

Lottner wies mit zitternder Hand auf den Bildschirm. »Da, da stand doch eben noch ein Mensch«, stotterte er. »Dieser Irre … hat eben … vor unseren Augen … einen Menschen ermordet.«

»Ach, du Scheiße! Der meint es wohl tatsächlich ernst«, keuchte Marco Kern.

Er sprach damit genau das aus, was in diesem Augenblick wohl jeder dachte.

2

(vier Wochen zuvor)

Heiner stürmte in die gemütliche Wohnküche seiner Eltern. »Yeah, Leute, ich hab’s endlich hingekriegt!«, jubilierte er. Er ballte die Fäuste, warf sie in Richtung der Decke. »Es ist geschafft!«

Wie stets, wenn Tannenbergs Mutter das Essen zubereitete, hatte Kurt die ganze Zeit über erwartungsvoll neben ihr gestanden und sie nicht aus den Augen gelassen. Doch Heiners polternder Auftritt hatte dieser friedlichen Harmonie ein jähes Ende bereitet. Kurt war erschrocken zusammengezuckt und hatte kurz aufgejault. Nun klemmte er den Schwanz ein und trottete mit hängendem Kopf hinüber zu seinem Herrchen, der gemeinsam mit dem Senior der Familie am gedeckten Mittagstisch saß.

»Ja, meine lieben Kulturbanausen«, fuhr Heiner unterdessen fort, »ihr könnt wirklich stolz auf mich sein. Denn die Muse hat mich wieder einmal geküsst!«

Wolfram Tannenberg kraulte sanft den wuscheligen Hundekopf auf seinem Oberschenkel. Ohne die Verwöhnaktion zu unterbrechen, drehte er den Oberkörper zu seinem Bruder hin, runzelte dabei die Stirn.

»Was hast du?«, fragte er, allerdings eher pro forma. Denn obwohl seine Mimik eine gewisse Überraschung zum Ausdruck brachte, schwante ihm jedoch bereits, was ihn nun erwartete.

»Gerade eben hab ich eine weitere kriminalpoetische Spitzenleistung vollbracht«, verkündete Heiner mit stolzgeschwellter Brust. Er zog ein Blatt Papier aus seiner Hose und faltete es auseinander. »Und ihr, meine Lieben, seid dazu auserkoren, dem ersten öffentlichen Vortrag dieses Meisterwerks zu lauschen. Seid ihr bereit?«

Hiermit bestätigte sich Tannenbergs düstere Vorahnung. Jacob, der bislang keine Miene verzogen hatte, schmökerte noch ein wenig in seiner Bildzeitung. Dann bedachte er seinen ältesten Sohn mit einem ausdruckslosen Blick. Seine Frau Margot dagegen erweckte einen durchaus interessierten Eindruck. Sie lehnte schmunzelnd an der Spüle, trocknete sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab.

»Ich sollte vielleicht vorausschicken, dass ein offensichtlich geistesgestörter Mann auf der Polizeiwache erscheint«, erläuterte Heiner. Er nahm eine theatralische Pose ein. Gestenreich trug er anschließend seine neueste lyrische Komposition vor:

Kleine Verwechslung

»Oh Gott, geamselt hab ich eben meine Frau.«

»Geamselt?«, fragt der Polizist. »Was soll das denn sein?«

»Ach, verdammt, mir fällt das Wort doch nicht mehr ein!

War irgendwas mit einem Vogel, weiß ich ganz genau.«

»Mit einem Vogel?«, wundert sich der Polizist.

Wohl ein Zoogeschäft das Richtige für Sie ist.«

»Ach, ohne Grund käm ich doch nie an diesen Ort.

Jawohl, ich hab’s: erdrosselt heißt das Wort.«

»Das ist gut«, feixte Jacob. Er hatte während des Gedichtvortrags die Zeitung auf den Tisch niedersinken lassen und klopfte sich nun auf die Oberschenkel. »Das ist wirklich gut! Geamselt? Nein: erdrosselt!« Er konnte kaum mehr an sich halten, lachte schallend weiter. »Das muss ich unbedingt am Montag denen im Tchibo vorlesen.«

Margot warf ihrem Ehemann einen tadelnden Blick zu, der sogleich wie ein Schalldämpfer wirkte: Das herzhafte Männerlachen schwoll ab, bis es schließlich in einem spontanen Hustenanfall erstickte. Jacob atmete tief durch und räusperte sich mehrmals. Grinsend wandte er sich wieder seiner Zeitungslektüre zu. »Geamselt hab ich eben meine Frau«, murmelte er in ein unterdrücktes Lachen hinein.

Margot wandte sich kopfschüttelnd zum Herd um und rührte die Kartoffelsuppe noch einmal durch. Anschließend hob sie nacheinander die beiden schweren Deckel von den großen, gusseisernen Töpfen, wischte mit einem Geschirrhandtuch eilig das Kondenswasser ab und verschloss sie wieder.

Tannenberg kroch eine verführerische Duftspur in die Nase. »Mutter, wie lange dauert’s denn noch?«, fragte er ungeduldig. Wenn er nur daran dachte, was in diesen antiquiert anmutenden Gusstöpfen gerade in einer Salzlake vor sich hinbrutzelte, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Und dann auch noch dieser wunderbare Geruch.

»Ich halt’s wirklich kaum mehr aus«, jammerte er weiter.

»Ach, geht es dir mal wieder nicht schnell genug? Du sollst mich doch nicht so hetzen«, beschwerte sich die alte Dame.

Sie liebte ihre Söhne zwar abgöttisch, aber beim Kochen ertrug sie nun mal keine Hektik. »Du weißt genau, dass die Dampfnudeln eben ihre Zeit brauchen. Wenn ich sie zu früh raushole, bekommen sie nicht die dicke Kruste, die gerade du doch immer haben willst, Wolfi.«

Wie stets, wenn sie ihn mit dieser ungeliebten Koseform seines Vornamens titulierte, stellten sich bei Wolfram Tannenberg auch diesmal sofort die Nackenhaare. Aber seit einiger Zeit ließ er diese Verunglimpfung kommentarlos über sich ergehen. Zähneknirschend hatte er einsehen müssen, dass es überhaupt keinen Zweck hatte, seine Mutter um Unterlassung zu bitten, denn sie ließ sich partout nicht von ihrer Marotte abbringen.

Margot füllte die dampfende Kartoffelsuppe in eine Terrine und stellte sie auf den Tisch. Heiner, der inzwischen ebenfalls am Küchentisch Platz genommen hatte, schnappte sich den Schöpflöffel.

»Hei-ner«, versetzte Mutter Tannenberg in rügendem Tonfall, »wir warten, bis deine Frau und meine Enkel da sind.«

So als ob die restlichen Mitglieder der Großfamilie die ganze Zeit über vor der Tür auf diesen Satz gewartet hätten, betraten nun Betty Tannenberg und ihre beiden Kinder Marieke und Tobias die Küche.

Betty, mit einem farbenfrohen, indischen Gewand bekleidet, überreichte zuerst ihrem Mann mehrere Briefe und dann dem Senior ein größeres Couvert. Doch ehe es sich die beiden Männer versahen, hatte Margot die Post wieder eingesammelt und den kleinen Stapel links neben der Spüle abgelegt. Sie stemmte die Arme in die Hüften. »Jetzt wird erst mal gegessen«, stellte sie unmissverständlich klar.

Während sie vorsichtig eine Dampfnudel nach der anderen aus den gusseisernen Töpfen kratzte, nahm Jacob plötzlich seinen jüngsten Sohn mit einem prüfenden, nachdenklichen Gesichtsausdruck in Augenschein.

Tannenberg fing den seltsamen Blick auf. »Was ist denn los, Vater, warum guckst du mich so komisch an?«

»Also, wenn ich mir den Herrn Hauptkommissar näher anschaue«, bemerkte der Senior mit langgezogenen Worten. Er stockte, fasste sich ans Kinn und knetete es ein wenig. »Dann ist es wirklich so, wie’s in der Bildzeitung steht.« Er kratzte sich am Kopf, betrachtete nun auch noch seinen anderen Sohn mit derselben skeptischen Miene.

»Was denn?«, fragte Heiner verwundert.

»Na ja«, seufzte der Senior, »als Mann kann man sich eigentlich nie sicher sein, ob die Kinder, die man großzieht, auch tatsächlich die eigenen sind – also solche, die man selbst gemacht hat.«

Margot riss entsetzt Augen und Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus.

Heiner schürzte die Lippen. »Selbstgemacht? Ich versteh nicht, was du meinst.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Wolfram Tannenberg seinem Bruder bei.

Jacob nahm nun wieder seinen jüngsten Sohn ins Visier. Er deutete mit dem Zeigefinger auf ihn und sagte: »Du zum Beispiel hast doch überhaupt nichts von mir. Vielleicht bin ich ja gar nicht dein Vater.«

Für ein paar Sekunden kehrte Grabesstille in der Wohnküche ein.

Margot brach als Erste das Schweigen. Ihre Augen funkelten vor Zorn: »Was willst du damit sagen? Willst du mir etwa unterstellen, dass …«

»Ich will dir gar nichts unterstellen«, versuchte ihr Mann zu retten, was noch zu retten war. »Das ist doch nur Spaß gewesen, was ich eben gesagt habe. Aber hier steht’s halt.«

Er tippte auf den Zeitungsartikel und las daraus vor: »›Hunderttausende Kuckuckskinder in Deutschland‹ – Fragezeichen. Die Genforschung macht’s möglich: Väter wehren sich mit geheimen Vaterschaftstests gegen untergeschobene Kinder. Die Justizministerin will schon bald diese Tests verbieten und uneinsichtige Männer mit Haft bis zu einem Jahr bestrafen.«

»Das ist ja wohl auch richtig so«, mischte sich Betty ein. Sie warf ihre kupferfarbene Lockenpracht in den Nacken und verkündete. »Wo kämen wir denn hin, wenn die Männer ungestraft ihre Frauen ausspionieren dürften!«

Wolfram Tannenberg holte gerade tief Luft, um zur engagierten Gegenrede zu starten, aber sein Vater war schneller: »In Afrika sagen die: ›Motters Babi, Vatters Maibi‹.«

»Hmh?«, brummte Tannenberg verständnislos. »Maibi? Was soll’n das sein? Zeig mal her.« Bevor der Senior seiner Aufforderung nachkommen konnte, hatte sein jüngster Sohn sich bereits erhoben und neugierig über die Zeitung gebeugt. Er lachte auf: »›Maybe‹ heißt das.«

»Mach dich nur über deinen alten Vater lustig«, schimpfte Jacob. »Wir haben diesen Amikram in der Volkschule halt nicht gelernt.«

Ohne auf diese vorwurfsvolle Bemerkung zu reagieren, amüsierte sich Tannenberg weiter: »Guter Spruch«, stieß er nickend hervor: »Mother’s baby, father’s maybe.«

»Und was heißt das jetzt?«, knurrte der alte Mann. Über seine Lesebrille hinweg feuerte er einen forschen Blick hinüber zu seiner Schwiegertochter.

Betty, von Beruf Englischlehrerin, trat nun mit geballter Fachkompetenz auf den Plan. In tadellosem Englisch wiederholte sie den von ihrem Schwager vorgetragenen Satz. Anschließend übersetzte sie ihn: »Wörtlich heißt das: ›Mutters Baby, Vaters vielleicht. Das wiederum …«

»Ich weiß schon, was das heißt, liebe Elsbeth. Ich komme ja nicht vom Mond. Spiel dich mal nicht so auf«, fuhr ihr der Senior über den Mund. »Wer von uns beiden stammt denn von einem Hinterpfälzer Bauernhof, he? Du oder ich? Pariser Schühchen für Sippersfelder Füße. Pass ja auf, dass du dir dabei nicht die Haxen brichst!«

Tannenberg grinste schadenfroh in sich hinein, denn normalerweise war er derjenige, der seine streitbare Schwägerin mit ihrem Geburtsnamen und ihrer rustikalen Herkunft provozierte.

»Kommt, hört endlich auf zu streiten«, versuchte Margot zu schlichten. »Wir wollen jetzt in Ruhe essen.«

Doch bereits Sekunden später missachtete sie als Erste ihren eigenen Appell. Die Ursache lag wohl darin begründet, dass sie anscheinend noch eine kleine Rechnung mit ihrem Mann offen hatte: »Jacob, schlürf nicht so laut und schlingt die Dampfnudel nicht so schnell runter«, giftete sie von der Seite her.

Aber der Senior ließ sich von diesem Einwurf nicht sonderlich beeindrucken. Er schlürfte weiter die heiße Kartoffelsuppe und verleibte sich dazu schmatzend abgebrochene Dampfnudelstückchen ein. »Ich hab’s halt eilig«, gab er kurz angebunden zurück.

»Wieso hast du es eilig? Es ist doch Samstag«, entgegnete Margot.

Tannenberg nahm das kleine verbale Scharmützel seiner Eltern nur am Rande wahr. Seine Sinneskanäle konzentrierten sich nahezu vollständig auf den Genuss der über alles geliebten Leibspeise. Er hielt sich eine intensiv nach Hefe und Salz duftende Dampfnudel unter die Nase und schnuffelte mit geschlossenen Augen daran. Dann schlug er seine Fingerspitzen in die zähe, ölig glänzende Haut, riss einen Fetzen der weißen Masse heraus, dippte ihn unter den missbilligenden Blicken seiner Schwägerin in die Kartoffelsuppe und schob ihn langsam in seinen Mund. Diese Prozedur wiederholte er so lange, bis nur noch die dicke, schwarzbraune Salzkruste übrig war. Dann strich er sich reichlich Butter auf die ungebratene Seite und vertilgte mit kleinen Bissen genüsslich den tellerartigen Rest der Dampfnudel.

Währenddessen erhob sich Jacob und ging zum Küchenschrank.

»Wir sind noch nicht alle fertig«, protestierte Margot in scharfem Tonfall.

»Ihr nicht, aber ich«, konterte der alte Herr trotzig. »Außerdem ist das Schreiben vielleicht sehr, sehr wichtig. Und zwar für uns alle.«

Heiner hob neugierig die Augenbrauen. »Wichtig? Für uns alle? Von wem ist es denn?«

Sein Vater antwortete nicht. Er schnappte sich das große Couvert, öffnete es mit fahrigen Händen, zerrte mehrere Blätter heraus und überflog den Text. Kurz danach ballte er die rechte Hand zur Faust und schmetterte »Jawohl!« in die Küche.

Während Kurt erneut aufjaulte, bombardierten sich die Familienmitglieder gegenseitig mit staunenden Blicken.

»Endlich: Wir haben’s geschafft!«, fuhr Jacob mit sich überschlagender Stimme fort. Seine Augen füllten sich mit Flüssigkeit, er schniefte auf. »Ach Gott, dass ich das noch erleben darf. So viel Geld.«

Als Tobias das letzte Wort hörte, schnellte er wie von einem Katapult abgeschossen von der Sitzbank hoch und hechtete zu seinem Großvater.

»Opa, haben wir etwa Geld gewonnen? Du weißt, ich brauch dringend einen neuen Scooter.«

»Ja, ja, ich weiß Tobi«, entgegnete Jacob mit verklärtem Blick. Reflexartig drückte er sich die Schriftstücke an die Brust. »Komm, setzt dich mal wieder hin. Ich erzähle euch das jetzt mal alles schön der Reihe nach.«

»Sag uns doch erst, was wir gewonnen haben, Opa, bitte«, flehte Tobi.

Doch der Senior ließ sich nicht erweichen. Er faltete die Blätter zusammen und steckte sie mitsamt des Couverts in die Hosentasche. Dann nahm er wieder am Küchentisch Platz.

Die Spannung war kaum mehr zu ertragen. Bis auf Kurt, der unbeeindruckt weiter seine arttypischen Geräusche produzierte, war es mucksmäuschenstill. Alle Blicke hingen gebannt an Jacobs Lippen.

Der alte Tannenberg schien offensichtlich die Situation noch eine Weile auskosten zu wollen. Schmunzelnd trank er einen großen Schluck Mineralwasser. Langsam stellte er das Glas ab, umschloss es mit beiden Händen. »Wollt ihr wirklich wissen, was in diesem Brief steht?«, fragte er eher beiläufig.

»Jaaa«, antworte ein mehrstimmiger Chor.

»Also gut, dann will ich mal nicht so sein«, verkündete er mit gönnerhafter Mimik. »Ihr kennt doch sicherlich alle diese Sendungen im Fernsehen, die Mutter und ich uns oft anschauen.«

»Meinst du diese Gameshows?«, fragte Heiner.

»Gameshows? Immer dieser Amikram!«, schimpfte Jacob. Er wandte sich zu seiner Frau. »Früher hieß das ›Ratesendung‹, gell Mutter?«

Margot nickte eifrig.

»Zum Beispiel ›Dalli, Dalli‹ mit dem guten, alten Hanns Rosenthal – oder ›Einer wird gewinnen‹ mit dem Kuhlenkampff. Wie hieß der nochmal mit Vornamen?«

»Der heißt immer noch so: Hans-Joachim«, gab Margot zurück.

»Ja, richtig. Aber am besten war der Robert Lembke.« Er warf einen amüsierten Blick in die Runde seiner sich immer ungeduldiger gebärdenden Familienmitglieder. »Welches Schweinderl hätten’s denn gern?«, ergänzte er mit schalkhaftem Lächeln. »Fünf Mark gab’s damals für eine richtige Antwort – läppische fünf Mark!«

»Vater, komm jetzt endlich mal zur Sache!«, forderte Heiner sichtlich genervt.

Doch der Senior schien seine Familie noch ein bisschen länger auf die Folter spannen zu wollen. »Erst wenn ihr mir die folgende Frage beantworten könnt«, bemerkte er schmunzelnd: »Wer war der Gastgeber der Sendung ›Der goldene Schuss‹?«

Jacob sondierte nacheinander alle Anwesenden. Einige warfen grübelnd die Stirn in Falten, andere reagierten mit Schulterzucken oder Kopfschütteln. Aber keiner von ihnen schien eine Antwort parat zu haben.

»Na los, ich warte.«

»War das nicht irgendso ein grauhaariger Holländer?«

»Nicht schlecht, Mutter!«, lobte ihr Ehemann.

»Rudi Carell«, packte Betty ihren Geistesblitz in Worte.

Der alte Tannenberg lehnte sich grinsend zurück, schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er gedehnt, »der war es nicht.«

»Ich hab’s: Lou van Burg«, frohlockte Tannenberg.

Jacob riss erstaunt die Augen auf. »Woher weißt denn ausgerechnet du das?«

»Na ja, wir mussten uns diesen langweiligen Kram schließlich immer samstagabends gemeinsam mit euch anschauen«, erwiderte sein jüngster Sohn.

»So langweilig war das doch gar nicht, Wolf, wenn ich mich richtig erinnere«, meinte Heiner, wechselte dann aber gleich das Thema: »Lass jetzt endlich die Katze aus dem Sack, Vater.«

Großzügigerweise erbarmte sich nun Jacob. Er zog das mehrseitige Schreiben aus der Tasche, faltete es gemächlich auseinander und wedelte damit wie mit einem Fächer ein paar Mal vor seinem Gesicht herum. Dann hielt er die Rückseiten der Blätter mit spitzen Fingern seiner Familie entgegen und begann zu erläutern: »Das hier ist eine Einladung zur nächsten Folge der Ratesendung mit Marco Kern, die genau heute in vier Wochen hier bei uns in der Fruchthalle stattfindet.«

Margots Gesicht leuchtete auf. »Der ist ja so goldig«, schwärmte sie und ließ ihrem emotionalen Auswurf einen langen Seufzer folgen.

»Ist das nicht diese Quizshow, in der mehrere Familien gegeneinander antreten müssen?«, fragte Betty mitten in den Gefühlsausbruch ihrer Schwiegermutter hinein.

»Genau«, stimmte Jacob zu. »Das Besondere an dieser Ratesendung ist, dass die Teilnehmer einer Familie aus drei Generationen stammen müssen.« Er richtete sich auf und sagte, während er mit seiner flachen rechten Hand auf die betreffenden Personen wies: »Die Kandidaten der Familie Tannenberg heißen: Jacob, Heiner und Tobias.«

»Geil, Opa«, gab der Junior begeistert zurück. »Und was können wir gewinnen?«

Jacob lachte. »Das hängt natürlich ganz davon ab, wie weit wir kommen.«

»Warum hast du eigentlich nicht mal die Frauen in deiner Familie gefragt, ob sie in diesem Team mitmachen möchten?«

Diese Frage traf den Senior wie ein Keulenhieb. Aus seiner versteinerten Miene konnte man schließen, dass er an diese Möglichkeit bislang noch nicht einmal einen einzigen Gedanken verschwendet hatte.

»Ähm, na ja, …«, stammelte er, »ich hab halt … gedacht, dass ihr auf so was … keine Lust hättet.« Sein flackernder Blick streifte seine hochschwangere Nichte. »Und, und Marieke könnte das in ihrem Zustand sowieso nicht mitmachen.«

»Da hast du recht, Opa«, versetzte Marieke mit einem versonnenen Lächeln. Sie streichelte sanft über ihren prallen Kugelbauch. »Für uns zwei wäre das wirklich ein klein bisschen zu anstrengend. Aber dabei wäre ich schon gerne. Ich meine, als Zuschauerin in der Halle.«

Jacob Tannenberg atmete erleichtert auf. Geistesgegenwärtig packte er die sich bietende Chance am Schopf. »Natürlich, ich kümmere mich gleich am Montag um Tribünenkarten für euch alle.« Er zählte die in Frage kommenden Personen an seinen Fingern ab. »Das wären dann vier, wenn ich …«

»Opa, du hast Max vergessen«, warf Marieke dazwischen.

»Entschuldige. Natürlich darf dein Freund auch mit. Der gehört schließlich inzwischen zur Familie. Also brauchen wir fünf Karten.«

»Nein, vier«, versetzte Tannenberg.

Der Senior krauste verständnislos die Stirnpartie. »Wieso?«

»Weil ich mir das garantiert nicht antun werde. In so einer überfüllten Halle krieg ich bloß Platzangst. Außerdem müsste ich andauernd daran denken, was bei einer Massenpanik passieren würde.« Er schüttelte sich. »Ein Albtraum. Und dann auch noch dieser emotionale Stress – nee! Ich drück euch lieber von meiner Couch aus die Daumen.«

Er packte Kurt an beiden Ohren und wiegte den schweren Hundekopf ein paar Mal hin und her. »Außerdem muss ja auch einer von uns auf diesen wilden Kerl hier aufpassen, damit der keinen Blödsinn macht.«

3

Für gewöhnlich begrüßte Tannenberg den bevorstehenden Arbeitstag nicht gerade mit ausgelassenen Freudentänzen. Auch an diesem frühen Freitagmorgen, als er kurz vor acht Uhr sein Elternhaus in der Beethovenstraße verließ und sich zu Fuß auf den Weg zu seiner am Pfaffplatz gelegenen Dienststelle machte, breitete sich keineswegs Euphorie in ihm aus. Eher war das Gegenteil der Fall: Müde und übellaunig schlappte er am zähflüssigen Berufsverkehr vorbei durch die engen, in trübes Novemberlicht getauchten Straßen des Musikerviertels.

Doch als er an der Marienkirche die Königstraße überquerte, verirrte sich plötzlich ein dezentes Lächeln in das verkniffene Gesicht des chronischen Morgenmuffels. Er hatte eine Plakatwand entdeckt, auf der Event-TV für ihre in genau 36 Stunden in der Fruchthalle stattfindende Fernsehsendung warb.

Gedanklich ließ er die letzten vier Wochen Revue passieren, die nun seit dem Empfang des Einladungsschreibens vergangen waren. Schmunzelnd erinnerte er sich an diesen Samstagmittag, an dem Heiner der Familie sein neuestes kriminalpoetisches Meisterwerk präsentiert hatte. Was ist mein Bruderherz doch für ein verrückter Kerl!

Bereits kurz nach dem Mittagessen hatten die ausgewählten Quizshow-Kandidaten gemeinsam mit der professionellen Vorbereitung auf die Ratesendung begonnen. Seit diesem Zeitpunkt drehte sich bei den Tannenbergs alles nur noch um dieses eine Thema.

In jeder freien Minute wurden die von Event-TV gegen Entrichtung einer beachtlichen Geldsumme erworbenen Trainingsprogramme durchgearbeitet, Videoaufzeichnungen von vorherigen Sendungen analysiert, das Internet nach hilfreichen Tipps und Erfahrungsberichten anderer Kandidaten durchstöbert, Lexika und Zeitschriftenberge gewälzt. Alle diese verstreuten Informationen wurden zu verschiedenen Themenblöcken gebündelt, für die jeweils einer der drei Kandidaten als Experte auserkoren und zur individuellen Vorbereitung verpflichtet wurde.

Schon sehr bald war Wolfram Tannenberg dieser hektische Aktionismus ziemlich auf die Nerven gefallen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich durch die ständige Konfrontation mit dem immer näher heranrückenden Liveauftritt seiner Familie die eigene Anspannung mehr und mehr steigerte. Schließlich wurden sie zur besten Sendezeit Millionen Fernsehzuschauern präsentiert. Hoffentlich blamieren sie sich nicht, schickte er mehrmals täglich Stoßgebete gen Himmel.

Um sich von diesem Psychostress abzulenken, blieb er in diesen Wochen viele Stunden länger als nötig im Kommissariat. Und das, obwohl er eigentlich seine Überstunden abfeiern sollte, die sich wegen des Einsatzes bei der Fußball-WM auf seinem Dienstzeitkonto angesammelt hatten.

Sein Beruf bot ihm allerdings in dieser aufregenden Vorbereitungsphase nicht die gewünschte Zerstreuung, die er sich erhofft hatte. Denn es war in dienstlicher Hinsicht eine sehr unspektakuläre, um nicht zu sagen ausgesprochen langweilige Zeit: Im Zuständigkeitsbereich des K1 war seit mehreren Monaten kein einziger Mord mehr passiert. Lediglich eine Körperverletzung mit Todesfolge und zwei Suizidfälle hatten die Mitarbeiter des K1 zu bearbeiten gehabt – kriminalpolizeiliche Routinearbeit eben.

Irgendwann fasste Tannenberg den Entschluss, dem häuslichen Dauerstress zumindest für ein paar Tage zu entfliehen. Deshalb war er vor zwei Wochen nach Nettetal gefahren, um seinem holländischen Freund Benny de Vries einen spontanen Besuch abzustatten. Das letzte Wochenende hatte er gemeinsam mit Ellen Herdecke in den Hochvogesen verbracht.

Eigentlich wollte ich mich dort von meiner Familie erholen, dachte er, während er ungeduldig an der Ampel wartete. Aber Erholung war das ja wohl nicht. Fragt mich Ellen doch tatsächlich, ob ich nicht bald zu ihr ziehen möchte. Aber das will ich nicht! Das ist mir ein viel zu großer Schritt. Die gehen mir zwar manchmal ganz schön auf den Keks zu Hause, aber ausziehen? Nee!

Das geht ja auch schon deshalb nicht, weil Ellen keine Hunde mag und eines ihrer Kinder eine Tierhaarallergie hat. Und ein Leben ohne Kurt – nee, nee. Das kommt gar nicht in Frage! Dann lassen wir doch lieber alles so, wie es ist. Oder wir lassen es ganz. Wäre sowieso vielleicht das Beste für uns beide.

In einem tiefen Zug sog er die nasskalte Novemberluft in die Lungen und entließ sie seufzend wieder in die Freiheit.

Irgendwie passen wir auch einfach nicht richtig zusammen. Ja, sie ist zwar unheimlich lieb und verständnisvoll, sagte er zu sich selbst, so als wolle er sich mit Durchhalteparolen Mut für eine Fortdauer der Beziehung machen.

In Gedanken versunken schob er mit seiner Schuhspitze einen Zigarettenstummel in den Rinnstein.

Aber immer und überall dieser nervige Kulturkram: In jedem Kaff in die Kirche rein, hier ein Museumsbesuch, dort eine Galerie. Sogar im Elsass! Ich wollte eigentlich nur durch die Vogesen wandern, die Natur genießen, gut essen und trinken. Verdammt, ich bin einfach nicht mehr fähig zu einer dauerhaften, tiefen Beziehung. Ich hab auch keine Lust mehr auf diese andauernden Begründungen, warum ich das und das nicht will, warum ich schon wieder schlecht gelaunt bin.

»Hal-lo, Che-ef«, polterte Petra Flockerzie unvermittelt in Tannenbergs Selbstgespräch hinein.

Verdutzt riss der Leiter des K1 seinen Blick vom nassen Asphalt nach oben. Auf der anderen Straßenseite stand seine Sekretärin und winkte ihm zu. Sie trug eine beige, lässig geschnittene Übergangsjacke, die ihre Körperfülle geschickt verbarg.

Die Ampel wurde grün und Tannenberg überquerte die mehrspurige Hauptverkehrsstraße.

Ein wenig außer Puste begrüßte sie ihn: »Guten Morgen, Chef. Nehmen Sie mich mit zum Pfaffplatz?«

»Klar, Flocke«, sagte er so freundlich, wie es ihm angesichts der frühen Morgenstunde und des gerade gedanklich von ihm bearbeiteten Themas möglich war. Er stemmte den Ellbogen nach außen, damit sie sich bei ihm einhängen konnte.

Aber ganz gleich wie Tannenberg sich ihr gegenüber auch gebärdet hätte, Petra Flockerzie hätte ihm auch diesmal wieder sein Fehlverhalten nachgesehen. Sie war seit vielen Jahren nicht nur die zuverlässige und kompetente Sekretärin des K1, sondern auch die gute Seele der Mordkommission. Sie hatte ein riesengroßes Herz, verfügte über eine Engelsgeduld und hatte stets ein offenes Ohr für die Probleme ihrer Kollegen. Darüber hinaus besaß sie eine Beobachtungsgabe, vor der man nichts verheimlichen konnte. Sensibel wie ein Seismograph regis-trierte sie jedes kleine emotionale Beben, jede atmosphärische Störung.

Sie kannte Tannenberg bereits aus einer Zeit, als er noch ein völlig anderer Mensch war: fröhlich, ausgeglichen, belastbar, freundlich. Doch dann war er mental regelrecht zusammengebrochen, wurde verbittert, verschlossen und haderte fortan mit sich selbst und der Welt. Der einzige Mensch, der damals außer seiner Familie überhaupt noch Zugang zu ihm hatte, war sein bester Freund, der Gerichtsmediziner Dr. Rainer Schönthaler, der ihm in diesen dramatischen Monaten als treuer Wegbegleiter zur Seite stand.

Petra Flockerzie wusste nur allzu gut, worauf die Veränderung seiner Persönlichkeit zurückzuführen war, was sich hinter seiner Launenhaftigkeit, seinen Alkoholexzessen und seinem rüpelhaften Verhalten versteckte. Auch die vor etwa einem Jahr plötzlich aufgetretenen und als Fibromyalgie diagnostizierten körperlichen Probleme ihres Vorgesetzten hatten sie nicht sonderlich verwundert. Eigentlich hatte sie schon viel früher damit gerechnet, dass Tannenberg auf seine gravierenden seelischen Probleme mit psychosomatischen Symptomen reagieren würde.

Die Ursache für all diese Eruptionen, die ihm das Leben so unendlich schwer machten, ließen sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen: Lea. Er konnte den Verlust seiner vergötterten Traumfrau einfach nicht verwinden. Sie war nun schon seit fast zehn Jahren tot, aber die Erinnerungen an sie lagen immer noch wie ein dunkler Schatten auf seiner Seele.

Jedes Mal, wenn er sich dem weiblichen Geschlecht zwar eher zögerlich, aber nicht unbedingt erfolglos näherte, war Lea mit von der Partie. Obwohl er ernsthaft versuchte, sich dagegen zu wehren, waren die Vergleiche mit ihrer Person und ihrem Wesen allgegenwärtig und verhinderten eine tiefere emotionale Bindung an irgendeine andere Frau.

Bei Ellen Herdecke, die Lea von ihrem Erscheinungsbild her stark ähnelte, hatte er eine Zeit lang fest geglaubt, dass er sich mit ihrer Hilfe endlich von Leas dominantem Einfluss befreien könnte. Aber diese Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Nach dem verlängerten Wochenende in den Vogesen war er nun noch ein wenig skeptischer als zuvor, ob seine Beziehung zu Ellen überhaupt eine Zukunft hatte. Irgendwie wollte der Funken zu ihr einfach nicht richtig überspringen, auch an diesen Tagen nicht. Seine emotionale Energie ihr gegenüber verpuffte zusehends.

»Was treibt Sie denn schon so früh hierher?«, fragte Petra Flockerzie, deren pralle Gesichtshaut von stark geröteten Wangen dominiert wurde. »Sonst kommen Sie freitags doch immer erst um neun Uhr zur Dienstbesprechung.«

»Moin, Flocke«, gab der Leiter des K1 kurz angebunden zurück.

Kommentarlos akzeptierte die feiste Endvierzigerin Tannenbergs Verweigerung. »Ich denke, ich sollte Sie jetzt gleich mal mit einem doppelten Espresso verwöhnen«, sagte sie lächelnd. »Chef, Sie werden sehen: Der weckt sofort Ihre Lebensgeister wieder auf.«

Tannenberg nickte dankbar. Schweigend begaben sich die beiden zum Dienstgebäude der Kriminalinspektion am Pfaffplatz. Während seine Sekretärin den Aufzug benutzte, nahm er den Weg übers Treppenhaus. Im K1 angekommen, zog er sich, ohne ein weiteres Wort verlauten zu lassen, in sein Büro zurück und schloss demonstrativ die Tür.

Petra Flockerzie empfand dieses Verhalten weder als außergewöhnlich noch gar als besorgniserregend. Es war eben eine seiner Marotten, die alle Mitarbeiter des K1 mehr oder weniger stillschweigend akzeptierten. An diesem Morgen kam ihr sein Rückzugsbedürfnis sogar sehr zupass, denn schließlich hatte sie dadurch ein paar Minuten Zeit für sich und den interessanten Diätratgeber gewonnen, den ihr am Freitag eine Kollegin aus dem K 5 geliehen hatte, den sie aber vergaß, mit nach Hause zu nehmen.

Sie schaltete die Espressomaschine ein und schlug das Buch auf. Als sie gerade den Untertitel ›Warum Diäten ab 40 immer ins Leere laufen‹ las, schnarrte das Telefon. Das Gespräch dauerte nicht lange. Sie legte auf und betätigte die Gegensprechanlage: »Chef, eben hat der Herr Kriminaldirektor angerufen und gefragt, ob Sie schon im Hause sind. Sie sollen sofort zu ihm kommen.«

Das einzige Geräusch, das an ihr Ohr drang, war ein mürrisches Brummen. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Nur wenig später erschien Tannenberg im Büro des Dienststellenleiters. Kriminaldirektor Eberle saß an seinem Schreibtisch, ihm direkt gegenüber Dr. Hollerbach, seines Zeichens Oberstaatsanwalt und nicht gerade jemand, mit dem Tannenberg freiwillig in Urlaub fahren würde. Die beiden Männer hatten sich anscheinend gerade angeregt miteinander unterhalten, denn als Tannenberg nach kaum hörbarem, kurzem Anklopfen das Dienstzimmer betrat, hatte er den Eindruck, mitten hinein in ein wichtiges Gespräch geplatzt zu sein. Sie erhoben sich und begrüßten den Leiter des K1.

Klaus Eberle trug eine Bluejeans, ein farblich darauf abgestimmtes Sakko und ein offenes, sportliches Karohemd. Dagegen war der lang aufgeschossene, etwa einen Kopf größere Dr. Hollerbach wie stets weitaus distinguierter gekleidet: Sein silbergrauer Nadelstreifenanzug entsprach dem topaktuellen Business-Look und wurde durch eine silberfarbene Seidenkrawatte optisch abgerundet.

Kriminaldirektor Eberle erhob sich und bot Tannenberg einen Platz am Besuchertisch an. Der aber wollte lieber stehen bleiben.

»Sie haben recht, Herr Hauptkommissar, wir sitzen sowieso viel zu lange auf unseren Beamtenhintern herum. Das ist wirklich nicht gesund«, begann Eberle. Er räusperte sich. »Na, mein lieber Herr Kollege, was macht denn so die Arbeit?«

Tannenberg krauste skeptisch die Stirn. Aus der Vergangenheit wusste er nur allzu gut, dass sein Vorgesetzter stets dann mit solchen floskelhaften Bemerkungen aufwartete, wenn er irgendetwas im Schilde führte. Für gewöhnlich handelte es sich dabei um Aufträge oder Forderungen, von denen er befürchten musste, dass der störrische Kommissariatsleiter darauf abweisend reagieren würde. Auch die Anwesenheit seines Busenfreundes Dr. Hollerbach, der sich inzwischen ebenfalls erhoben hatte, ließ bei Wolfram Tannenberg umgehend die Alarmglocken schrillen.

»Nicht gerade viel los bei uns im Moment, nicht wahr, Herr Hauptkommissar?«, fuhr der Kriminaldirektor scheinbar nebensächlich fort. Er bedachte den Oberstaatsanwalt mit einem verschwörerischen Blick. »Kaiserslautern ohne Mord und Totschlag? Das wäre ja wohl auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Schließlich würden wir ja dann alle arbeitslos werden.«

Das ist garantiert nur die berühmte Ruhe vor dem Sturm, dachte Tannenberg bei sich. Der hat bestimmt was ganz Fieses in petto. Vielleicht wieder irgendeine dieser schwachsinnigen Fortbildungen. Quatsch! Er weiß doch ganz genau, dass ich an keiner mehr teilnehme. Hollerbach hat doch selbst mal gesagt, ich sei nicht nur fortbildungsresistent, sondern fortbildungsrenitent.

»Warum denn so schweigsam, Herr Hauptkommissar?«, versetzte der Oberstaatsanwalt mit provokativem Unterton.

Tannenberg reagierte nicht auf die spitze Bemerkung, sondern ging nun selbst in die Offensive. »Herr Kriminaldirektor, warum wollten Sie mich denn nun eigentlich so dringend sprechen?«

»Also gut, Kollege Tannenberg«, erwiderte Eberle recht zögerlich. Er brach ab, faltete die Hände vor dem Körper und ging ein paar Schritte durch sein geräumiges Dienstzimmer. Ihm schien diese Angelegenheit ziemlich unangenehm zu sein. Dann gab er sich einen Ruck, postierte sich direkt vor dem Leiter des K1 und fixierte ihn mit einem stechenden Blick. »Was ich Ihnen jetzt sage, unterliegt strengster Vertraulichkeit.« Er räusperte sich geräuschvoll und schluckte hart. »Haben wir uns da verstanden?«

»Ja.«

»Gut.« Erneut stockte Eberle, während er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenkniff. »Wie Sie wissen, stattet in gut zwei Wochen der US-Präsident anlässlich seiner Europareise dem Landstuhler Militärkrankenhaus einen Besuch ab.«

Tannenberg nickte stumm.

»Für diese Sache sind natürlich wie immer vor allem das LKA und das BKA zuständig. Trotzdem mussten wir auf Anordnung von ganz oben auch einige Kollegen unserer Dienststelle dazu abordnen.«

»Ist mir durchaus bekannt.«

Eberle ließ einen Stoßseufzer verlauten. »Obwohl unsere Personaldecke zur Zeit sowieso extrem dünn ist.« Mit einer flüchtigen Geste strich er über sein sehr gepflegtes, leicht angegrautes Kinnbärtchen. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Und zu allem Übel nimmt auch noch der Kollege Schauß an dieser Interpol-Fortbildung in Brüssel teil.«

»Auch das ist mir hinlänglich bekannt, Herr Kriminaldirektor«, entgegnete der Leiter des K1. Anscheinend riss ihm gerade der Geduldsfaden. Er rollte die Augen, hob die Schulterblätter, drehte die Handinnenflächen nach außen. »Nur was hab ich denn damit zu tun, verdammt nochmal?«, blaffte er mit anschwellender Stimme.

»Bitte sachlich bleiben«, mahnte der ranghöchste Vertreter der Staatsanwaltschaft.

»Auf was wollen Sie denn nun eigentlich hinaus? Wenn Sie mir jetzt nicht augenblicklich sagen, was Sache ist, gehe ich«, setzte Tannenberg unbeeindruckt nach. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. »Ich hab nämlich nicht mehr viel Zeit. In einer halben Stunde beginnt die Frühbesprechung und ich muss mich noch darauf vorbereiten. Auch wenn gegenwärtig tatsächlich nicht …«

»Gut, dann bringen wir die delikate Angelegenheit nun auf den Punkt«, warf Dr. Hollerbach mit energischem Tonfall dazwischen. Mit einem gequälten Seitenblick auf den Kriminaldirektor schob er nach: »Ich hab meine Zeit ja schließlich auch nicht gestohlen.«

Eberles Telefon läutete.

»Es ist für Sie, Tannenberg.«

»Wer?«

»Ihre Mutter.«

»Meine Mutter? Ich hab jetzt keine Zeit.«

Der Kriminaldirektor hielt ihm den Hörer entgegen. »Sagen Sie es ihr bitte selbst. Die gute Frau erscheint mir ziemlich aufgelöst. Vielleicht ist ja irgendwas mit Ihrer Familie.«

Dieses Wort versetzte Tannenberg sofort einen Stich ins Herz. Er riss Eberle das Mobilteil aus der Hand. »Was ist passiert?«, fragte er mit bebender Stimme. »Vater – Herzinfarkt?« Er wurde kreidebleich, schien von der einen zur anderen Sekunde um Jahre gealtert. »Um Gottes willen.« Plötzlich entspannte sich seine schreckverzerrte Mimik wieder. »Ach, er hat gar keinen Herzinfarkt.«