Todesnetz - Bernd Franzinger - E-Book

Todesnetz E-Book

Bernd Franzinger

4,4

Beschreibung

Ein Jogger wird ermordet, die Studentin Jessica entführt. Kommissar Tannenberg muss feststellen, dass Jessica durch eine E-Mail seiner eigenen Nichte in den Wald gelockt wurde. Wer missbraucht Mariekes Identität für diese Verbrechen? Der ›Spider‹, wie sich der Täter nennt, schickt Tannenberg Fotos einer blutigen Wunde in Form eines Spinnennetzes. Für Wolfram Tannenberg beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Er muss den ›Spider‹ aufspüren, ehe es weitere Opfer gibt …

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Bernd Franzinger

Todesnetz

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

You must kill the spider

Prolog

»Lebst du noch?«, krächzt eine Frauenstimme.

Ich kann nicht sprechen.

Sehen kann ich auch nichts.

Bin ich blind?

Aua, mein Kopf tut so weh.

Wer bist du?

Was ist geschehen?

Wo bin ich?

Wasser läuft mir in den Mund.

Oh Gott, ich werde ertrinken!

Aber es ist kein Wasser.

Es schmeckt nach … Blut.

Blut?

Was ist das für ein Geräusch?

Schritte?

Ja, schwere Schritte.

Also ein Mann.

Kommt er, um mich zu töten?

Die Schritte entfernen sich wieder.

Gott sei Dank!

Eine Tür schlägt zu.

Noch mal Glück gehabt.

Welch ein bescheuerter Albtraum!

Hoffentlich ist die Nacht bald vorüber.

»Lebst du noch?«, fragt die Stimme.

1

Einige Tage vorher

Familie Tannenberg war auf dem Weg zum Dürkheimer Wurstmarkt.

»Ach, Marieke, ich bin ja so froh, dass du schwanger bist«, stieß Wolfram Tannenberg begeistert aus. »Das ist wirklich herrlich, fantastisch – einfach wunderbar!«

Seine Nichte lächelte in den Rückspiegel. »Schön, dass du dich über meinen dicken Bauch so wahnsinnig freust.«

»Vor allem freue ich mich darüber, dass wir nicht in einem versifften Zug oder Reisebus zum Wurstmarkt fahren müssen.« Tannenberg grinste breit. »Schwangere dürfen ja bekanntlich keinen Alkohol trinken.«

»Also daher weht der Wind«, sagte Marieke und schüttelte schmunzelnd den Kopf.

Dr. Schönthaler legte der Fahrerin eine Hand auf die Schulter. »Mach dir nichts draus. Du weißt doch, dass dein Onkel den Charme einer Kettensäge besitzt.«

Marieke nickte und seufzte tief. »Ja, das ist mir durchaus bekannt. Deshalb verstehe ich auch überhaupt nicht, weshalb solch eine tolle Frau wie Johanna dieses Scheusal nicht schon längst in die Wüste geschickt hat.«

»In der Pfalz gibt es keine Wüste«, knurrte Tannenberg.

»Korrigiere«, grinste Marieke: »Wieso sie dich nicht schon längst verlassen hat.«

»Aber das hat sie doch. Schließlich ist sie freiwillig nach Hamburg zu diesem Historikerkongress abgedüst«, tönte Heiner, der auf der Rückbank seines Vans zwischen dem Rechtsmediziner und seinem Bruder eingeklemmt war. »Dort werden ihr bestimmt Dutzende junger, attraktiver, kultivierter und charmanter Männer den Hof machen.«

»Ja, mein liebes Wölfchen, stell dir doch mal bildlich vor, welche fleischlichen Verlockungen Hanne im Wellnessbereich ihres Hotels geboten bekommt«, frotzelte Dr. Schönthaler. Er senkte die Tonlage seiner Stimme und schwärmte: »Gut aussehende, gut gelaunte und gut gebaute Männer mit Astralkörpern und Waschbrettbäuchen. Nicht wie zu Hause in der Beethovenstraße ein altes Wrack mit chronisch schlechter Laune, ekligen Krampfadern, tiefen Falten, schlaffem Hintern und schwabbelndem Waschbärbauch.«

»Es reicht, Rainer«, schimpfte Tannenberg. »Hiermit ist es dir wieder einmal gelungen, mir die Stimmung zu vermiesen.«

»Jedem so, wie er’s verdient«, konterte sein Freund.

»Ruf doch Hanne einfach an und sag ihr etwas Nettes, vielleicht kannst du damit gerade noch verhindern, dass sie sich von irgendeinem Adonis angraben lässt«, schlug Max, Mariekes Ehemann, in dieselbe Kerbe.

Tannenberg ächzte wie eine alte Dampflokomotive. »Wenn man solch eine Familie …«, ein scharfer Seitenblick auf den Pathologen, »und Freunde hat, braucht man wirklich keine Feinde mehr.«

»Nicht den Plural gebrauchen, Wolf«, erwiderte Dr. Schönthaler.

»He?«, fragte sein Freund mit geschürzten Lippen.

»In deinem Falle reicht der Singular bei Weitem aus: Freund statt Freunde. Außer deiner bemitleidenswerten Familie bin ich ja wohl der einzige Mensch weit und breit, der dir immer noch die Stange hält, oder?«

Wolfram Tannenberg grunzte wie der alte Keiler im Betzenberger Wildpark. Er spreizte die Finger und streckte sie in die Höhe. »Ich habe mindestens fünf sehr gute Freunde«, behauptete er.

»Und wem bitte schön sollte diese höchst zweifelhafte Ehre zuteilwerden?«, spottete der Rechtsmediziner. »Namen bitte.«

»Die kannst du haben. Sie heißen: Rainer …«

»Na, so weit waren wir ja schon.«

»Die anderen heißen: Rainer, Rainer, Rainer, Rainer.«

»Sag ich doch, du monogamer, kontaktgestörter einsamer Wolf.«

»Wenn ich die Herren kurz unterbrechen dürfte«, mischte sich Marieke ein. »Zur allseitigen Information: Wir haben gerade das Ortsschild von Bad Dürkheim passiert. Wo soll ich denn hier parken? Die Straßen sind doch jetzt schon verstopft.«

»Fahr weiter bis zum Festplatz«, forderte Tannenberg. »Die Kollegen haben eine Präsenzwache eingerichtet. Direkt davor dürfen wir unser Auto abstellen.«

Marieke reagierte skeptisch. »Bist du dir da sicher?«

»Klar, die Erlaubnis hab ich mir gestern höchstpersönlich beim Dürkheimer Polizeichef eingeholt. Im Gegensatz zu diesem unsympathischen Leichenschinder neben mir ist der liebe Eugen nämlich ein richtig netter Kerl.«

»Ach, der liebe Eugen«, wiederholte Dr. Schönthaler mit angespitzten Lippen. »Das ist ja so ein schnuckeliges Kerlchen.«

Tannenberg huschte ein süffisantes Lächeln übers Gesicht. »Weiß du, Marieke, ich habe nur einen einzigen Satz gebraucht, um ihn von der Brisanz unserer Notlage zu überzeugen. Willst du wissen, welchen?«

»Ich kann es wirklich kaum erwarten«, entgegnete Marieke.

»›Lieber Eugen‹, habe ich gesagt, ›wir haben eine Hochschwangere dabei – und die kann nun mal nicht so weit laufen.‹« Tannenberg klatschte in die Hände. »Und schon hatten wir unseren Promi-Parkplatz.«

Zwei Stunden später hatte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission bereits drei Schoppen Rieslingschorle intus. Die Stimmung im Festzelt war auf dem Höhepunkt angelangt. Seine eigene ebenfalls, denn Johanna von Hohen­eck hatte gerade auf seine SMS geantwortet und ihm eidesstattlich versichert, dass sie nur ihn liebe – woran Tannenberg eh nicht gezweifelt hatte, schließlich war er ein toller Hecht, fand er jedenfalls.

Schmunzelnd steckte er das Handy weg, hakte sich bei Marieke ein und schunkelte wieder mit. Als eingefleischter Hardrockfan ignorierte Tannenberg für gewöhnlich jedes andere musikalische Genre. Denn nach seiner Meinung war die Rockmusik der 70er-Jahre einfach nicht zu toppen. Doch an diesem milden Septemberabend stimmte er in den Chor der weinseligen Festbesucher ein und grölte die Volkslieder lauthals mit.

»Ich muss mal kurz weg, Wolf«, übertönte Marieke die ohrenbetäubende Musik und klinkte sich aus seinem Arm aus.

Tannenberg schunkelte weiter. »Wohin denn?«, wollte er neugierig wissen.

»Auch ein schwangerer Hippie muss ab und an mal Pipi«, rief Marieke und tastete die Bank ab. Sie krauste die Stirn. »Wo ist denn meine Handtasche?«

»He?«, fragte Tannenberg.

»Meine Handtasche ist weg«, brüllte Marieke gegen den Lärm an.

Ihre Begleiter suchten unter dem Tisch und unter den Sitzbänken, befragten Gäste und Bedienungen, doch Mariekes kleine, schwarze Lederhandtasche blieb unauffindbar.

»Dann hat sie wohl irgend so ein Drecksack geklaut«, schimpfte Tannenberg. »Wir müssen den Diebstahl sofort melden.«

In der provisorischen Polizeiwache zeigte man sich nicht sonderlich überrascht. »Das ist nun schon der fünfte Handtaschendiebstahl heute«, stöhnte ein älterer Beamter und verdrehte die Augen. »Immer dieser blöde Schreibkram. Warum passt ihr Frauen denn auch nicht besser auf eure Sachen auf?«

»Jetzt mach aber mal halblang, Kollege«, pflaumte ihn Tannenberg an. »Meine Nichte hat sich ja nicht absichtlich die Handtasche klauen lassen.«

»Aber so sehen es die Versicherungen.«

»Wieso?«, fragte Max.

»Na ja, die berufen sich auf höchstrichterliche Grundsatzurteile. Und die besagen nun mal, dass es sich bei einem Handtaschendiebstahl, so wie Sie ihn mir geschildert haben, um grobe Fährlässigkeit handelt.« Der uniformierte Beamte hob die Schultern. »Und deshalb müssen die Versicherungen den Schaden nicht bezahlen.«

Marieke verstand die Welt nicht mehr. »Das gibt’s doch gar nicht«, empörte sie sich.

»Doch, leider ist es so. Aber vielleicht rückt Ihre Versicherung auf dem Kulanzweg ein paar Euro raus. Probieren würde ich es auf alle Fälle. Drohen Sie einfach mit dem Versicherungswechsel, das wirkt manchmal Wunder«, empfahl der Polizist, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. »Was war denn alles in Ihrer Handtasche?«, wollte er wissen.

»Mein Geldbeutel mit circa 50 Euro Bargeld, mein Personalausweis, die EC-Karte und mein Führerschein«, zählte Marieke auf. »Außerdem mein Handy, ein Schlüsselbund …«

»Mit Ihrem Autoschlüssel?«, warf der Beamte dazwischen.

»Nein, den habe ich in alter Gewohnheit an mich genommen«, erklärte Heiner. »Wir sind nämlich mit meinem Van hierher gefahren.«

»Da haben Sie aber Glück im Unglück gehabt, denn bei uns wurden heute bereits drei Autodiebstähle angezeigt.« Um dem nun Folgenden noch mehr Bedeutung zu verleihen, legte der Polizeibeamte eine kleine Pause ein. »Sie werden es nicht glauben, aber die Zündschlüssel dieser Autos befanden sich in den gestohlenen Handtaschen.«

»Die klauen also zuerst die Handtaschen und dann mit den Schlüsseln die Autos«, schlussfolgerte Max. Er grunzte höhnisch. »Eigentlich eine geniale Masche.«

Während Marieke in der provisorischen Polizeiwache die notwendigen Formalitäten erledigte, ließ Max die EC-Karte und das Handy seiner Ehefrau sperren. Anschließend fuhren die Wurstmarkbesucher zurück nach Kaiserslautern. Die Stimmung war sehr gedrückt. Alle schwiegen betreten vor sich hin und malten sich in Gedanken die möglichen Konsequenzen des Handtaschendiebstahls aus.

Die Parkstraße, in der Marieke mit ihrer jungen Familie im Dachgeschoss ihres Elternhauses wohnte, war wie ausgestorben. Noch nicht einmal die neugierige Schleicherin war unterwegs. Und das, obwohl sie mit ihrem übergewichtigen Hund stets um diese Uhrzeit eine letzte Inspektionsrunde durchs Musikerviertel drehte. Normalerweise konnte man die Uhr nach den beiden stellen.

»Glaubt ihr, die alte Tratschtante hat endlich ins Gras gebissen?«, versuchte Tannenberg einen Scherz zu landen. Doch niemand reagierte auf seine makabere Bemerkung.

Dr. Schönthaler verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu seinem nur einen Steinwurf entfernt in der Glockenstraße gelegenen Domizil. Tannenberg betrat das Haus seines Bruders, verließ es aber sogleich wieder durch den Hintereingang und nahm die Abkürzung über den gemeinsamen Innenhof. Dann betrat er das an die Beethovenstraße angrenzende Zweifamilienhaus, in dem er gemeinsam mit Johanna von Hoheneck das Obergeschoss bewohnte, während seine Eltern im Parterre residierten.

»Komm schnell, Wolf«, hörte er plötzlich Mariekes Stimme in seinem Rücken. Ruckartig drehte er sich um. Seine Nichte stand am Fenster und fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum. »Bei uns ist eingebrochen worden.«

»Wo ist Emma?«, brüllte Tannenberg zurück. Vor ein paar Jahren war der kleine Sonnenschein der Familie von einem Psychopathen entführt worden, der sich an dem Kommissariatsleiter hatte rächen wollen. Seitdem reagierte er hochsensibel auf alles, was auch nur annähernd mit Emma zu tun hatte.

»Sie schläft doch heute Nacht bei Oma und Opa«, erklärte Marieke.

»Bist du dir auch sicher, dass sie wirklich dort ist?«

»Emma schlummert tief und fest in unserem Ehebett«, sagte Jacob, den die lauten Stimmen seiner Familienmitglieder aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, von seinem Schlafzimmerfenster aus

»Gott sei Dank«, seufzte Tannenberg erleichtert.

»Warum macht ihr denn mitten in der Nacht solch einen Höllenlärm? Seid ihr etwa alle besoffen, oder was?«, schimpfte der Senior.

»Nein, Opa, bei uns ist eingebrochen worden«, antwortete Marieke.

»Bin schon unterwegs«, gab der alte Tannenberg zurück.

Höchstens zwei Minuten später traf der als Sherlock Holmes aus der Beethovenstraße stadtbekannte Rentner in der Wohnung seiner Enkelin ein. Neben ihm trottete ein bärenartiger Mischlingshund, der auf den für eine Hündin ungewöhnlichen Namen ›Kurt‹ hörte und das genaue Gegenteil eines wachsamen, scharfen Polizeihundes war. Kurt ging zu Tannenberg, holte sich seine Streicheleinheiten ab und wich seinem Herrchen fortan nicht mehr von der Seite.

Jacob hatte seinen grauen Bademantel übergeworfen und sah ziemlich zerknittert und verschlafen aus. Doch geistig war er voll auf der Höhe. »Was wurde gestohlen?«, riss er sofort die Ermittlungen an sich.

»Nix da, Vater, halte dich zurück. Das ist mein Job«, bremste ihn Tannenberg aus. »Wer von uns beiden ist denn hier der Kriminalbeamte?«

»Du«, gestand Jacob ein. »Aber deiner Fahne nach zu urteilen hast du mindestens 1,5 Promille im Blut und bist somit nicht diensttauglich«, entschied er kurzerhand und klopfte sich auf die Brust. »Ich hingegen bin vollkommen nüchtern und folglich zu kriminalistischen Höchstleistungen fähig.«

Tannenberg schnaubte verächtlich, enthielt sich aber eines weiteren Kommentars.

Während sein Sohn die Spurensicherung benachrichtigte, inspizierte Jacob fachmännisch die Wohnungstür. Selbstverständlich ohne irgendetwas zu berühren, schließlich wollte er den Kriminaltechnikern nicht die Arbeit erschweren. »Keine erkennbaren Einbruchsspuren«, stellte der Hobby-Detektiv fest und zog eine naheliegende Schlussfolgerung: »Also hat der Täter die Tür mit einem Dietrich geöffnet.«

»Oder mit Mariekes Schlüssel«, bemerkte Max und informierte den Senior über den Handtaschendiebstahl.

Jacob knetete nachdenklich das unrasierte Kinn. »Das wirft natürlich ein ganz anderes Licht auf diese Sache. Dann ist der Einbrecher vom Dürkheimer Wurstmarkt hierher gefahren und hat mit Mariekes Schlüsselbund …«

»Woher soll er denn gewusst haben, wo Marieke wohnt?«, fiel ihm Tannenberg ins Wort.

»Hast du besoffener Dödel schon einmal den Begriff ›Personalausweis‹ gehört, he?«, schnauzte ihn Jacob an. »Da steht doch ihre Adresse drauf.«

Der Leiter des K 1 räusperte sich verlegen und wandte sich an Max: »Hast du inzwischen einen Überblick, was gestohlen wurde?«

»Ja, ich habe natürlich gleich nachgeschaut, ob irgendetwas fehlt. Auf alle Fälle sind unsere beiden Laptops weg.«

»Sonst noch was?«, fragte Heiner.

»Nee, auf den ersten Blick nicht«, antwortete Max. »Die Schränke und Schubladen hat der Typ offenbar nicht durchwühlt.« Er zog die Stirn in Falten. »Es ist schon komisch …« Ein langgezogenes Brummen.

»Was ist komisch?«, hakte Tannenberg nach.

»Na ja, mitten auf dem Küchentisch lagen 400 Euro, die ich heute Nachmittag aus dem Geldautomaten gezogen habe. Nicht in einem Kuvert, sondern ganz offen. Warum hat er die liegen gelassen?«

»Vielleicht war der Einbrecher gar nicht in eurer Küche«, spekulierte Jacob. »Der Kerl war bestimmt total in Hektik, schließlich musste er damit rechnen, dass ihr bald nach Hause kommt. Oder er wurde gestört.«

»Von wem denn? Von unserem verpennten Riesenhund garantiert nicht«, entgegnete sein jüngster Sohn und kraulte Kurt hinter den Schlappohren. Der bedankte sich mit einem wohligen Knurren. »Hier in Heiners Haus war niemand. Und du und Mutter habt nichts von einem Einbruch mitbekommen«, rekapitulierte Wolfram Tannenberg. Nach wie vor war er von Jacobs Hypothese alles andere als überzeugt. Er schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Wenn sich einer die Mühe macht, eine Handtasche zu stehlen und danach 30 Kilometer zur Wohnung des Opfers zu fahren …«

»Dann wird er sich auch die Zeit nehmen, die Wohnung gründlich nach Wertgegenständen zu durchsuchen«, ergänzte Heiner.

Sein jüngerer Bruder nickte. »Zumal er die nötige Zeit hatte, denn wir mussten ja zuerst den Diebstahl bemerken, ihn anzeigen und nach Kaiserslautern zurückfahren.«

»Aber das würde ja bedeuten, dass es dieser Kerl womöglich nur auf unsere beiden Laptops abgesehen hat. Weshalb sollte er das tun?«, fragte Marieke. Sie saß auf einem Stuhl und streichelte ihren kugelrunden Bauch. »Was will er denn damit?«

Sie erhielt nur Schulterzucken zur Antwort.

Als erste Amtshandlung verscheuchte Karl Mertel, der Chef der kriminaltechnischen Abteilung, alle aus der Wohnung. Gemeinsam mit seinen Kollegen sicherte er Fingerabdrücke an der Eingangstür, an den Fenstern, Zimmertüren, Schränken und Tischen. Um fremde Fingerspuren identifizieren zu können, nahm einer seiner Mitarbeiter von allen Mitgliedern der Familie Tannenberg Vergleichsabdrücke. Nur die im Schlafzimmer ihrer Großeltern friedlich schlummernde kleine Emma blieb von dieser Prozedur verschont.

Eine halbe Stunde später erschien Mertel in der gemütlichen Wohnküche der alten Tannenbergs, wo ihn Margot mit einer Henkeltasse frischgebrühten Kaffees empfing. »Bitte schön, mein lieber Karl, diese Stärkung hast du dir wirklich verdient. Du Armer, musst mitten in der Nacht arbeiten. Komm, setz dich zu den anderen und bedien dich. Den Hefezopf habe ich heute Nachmittag frisch gebacken.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Tannenberg«, bedankte sich der Spurenexperte und machte sich über den Hefekuchen her. »Ihr müsst natürlich so schnell wie möglich alle Schlösser austauschen, sonst könnte dieser Mistkerl ja noch einmal bei euch einsteigen«, empfahl er schmatzend. »Von beiden Häusern selbstverständlich«, ergänzte er und wandte sich an Marieke. »Ich gehe davon aus, dass dir nicht nur der Schlüssel für deine eigene Wohnung geklaut wurde, oder?«

Marieke seufzte tief. »Nein, leider sind alle meine Schlüssel für unsere beiden Häuser weg.«

»Ich habe leider nur zwei Schließzylinder dabei. Die baue ich euch natürlich nachher ein. Am besten in die beiden Haustüren. Dann kommt keiner mehr rein.« Er fixierte den Leiter des K 1, der ihm direkt gegenübersaß, mit einem fordernden Blick. »Die brauche ich natürlich so schnell wie möglich wieder, Wolf.«

»Klar, ich besorge gleich morgen früh neue Zylinder.«

»Nee, mein Junge, das mache ich«, mischte sich sein Vater ein. »Du gehst zur Arbeit. Schließlich bin ich hier der Rentner, und nicht du! Hoffentlich kriegst du einen richtig schönen Brummschädel, du alter Suffkopp!«

»Jacob, hör endlich auf, den armen Wolfi immer so zu ärgern. Er hat’s schwer genug«, zeterte Margot.

»Warum? Dieser Schmalspur-Kriminalist ist doch schuld an dem ganzen Schlamassel.«

»Wieso denn das?«, fragte Tannenberg gereizt. Sein Gesicht gefror zu einer zornigen Maske.

Wie ein Dirigent mit seinem Taktstock stach der Senior mit dem Zeigefinger auf seinen Sohn ein. »Du hast versagt. Als Polizist hättest du wachsamer sein müssen. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte niemand unbemerkt Mariekes Handtasche stehlen können.«

Tannenberg hatte keine Lust auf eine Kabbelei mit seinem streitsüchtigen Vater. Außerdem war er hundemüde und seine Kopfschmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Gähnend stemmte er sich über die Ellbogen in die Höhe. »Leute, ich muss dringend ins Bett«, verkündete er und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »In sechs Stunden ist die Nacht zu Ende und ich habe morgen einen anstrengenden Tag.«

Jacobs Augen blitzten geradezu vor Neugierde. »Wieso? Hast du etwa einen neuen Mordfall zu bearbeiten, von dem ich noch nichts weiß?«

Der Kriminalbeamte zuckte teilnahmslos mit den Schultern und schlurfte aus der Küche. Am elterlichen Schlafzimmer drückte er sanft die Klinke herunter und lugte durch den Türspalt. Die Flurbeleuchtung warf einen Lichtschein auf die kleine Emma, die eingerahmt von ihren Lieblingsstofftieren im Bett lag.

Oh Gott, wenn dich dieser verfluchte Einbrecher entführt hätte … Das würde ich nicht überleben, dachte er und zog vorsichtig die Tür ins Schloss.

2

»Guten Appetit, mein liebes Flöckchen«, säuselte Tannenberg in das Vorzimmer des K 1 hinein. »Und einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich dir noch obendrauf«, schob er nach.

»Vielen Dank, Chef«, erwiderte die mit einer bunten Bluse und einem dunkelblauen Rock bekleidete Sekretärin. Irritiert zog sie das Kinn zum Hals. »Wieso sind Sie denn so gut gelaunt? Es ist doch Montagmorgen.«

»Ach, Flocke, weißt du, manchmal sind auch Montage wunderbare Tage«, flötete ihr Chef weiter.

»Etwa weil Johanna zurückkommt?«, fragte Petra Flockerzie mit einem verschmitzten Lächeln.

Tannenberg trat an ihren Schreibtisch heran und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Bestimmte Dinge weiß man eben«, orakelte Petra Flockerzie. Ihr dezentes Schmunzeln verwandelte sich in ein triumphales Grinsen. »Eine gute Chefsekretärin hat überall ihre Informanten sitzen.« Abrupt verdüsterte sich ihre Miene. »Deshalb weiß ich auch, dass irgendein Verbrecher Mariekes Handtasche gestohlen hat und danach mit ihrem Schlüssel in ihre Wohnung eingebrochen ist.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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