Bon Voyage - Helge Timmerberg - E-Book

Bon Voyage E-Book

Helge Timmerberg

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Beschreibung

Mit Papas Benz bis nach Marokko: Helge Timmerberg träumt von der großen Reise über Land, seit ihm sein Vater vor zehn Jahren seinen Wagen vermacht hat, verbunden mit den letzten Worten »Bon Voyage«. Was macht schließlich spontaner und unabhängiger als der eigene fahrbare Untersatz? Was könnte robuster und stilvoller sein als eine alte Mercedes-Limousine? Womit kommt man entspannter ans Ziel? Helge Timmerberg startet zu einer lässigen Tour durch die Schweiz über Italien, Frankreich und Spanien bis nach Nordafrika. Doch schon auf der ersten Etappe bricht er zwei seiner Regeln: »Fahre nie länger als vier Stunden pro Tag!«, »Meide die Dunkelheit!«. Und so wird, was als Genusstour gedacht war, zum Roadtrip mit Hindernissen, auf dem der Autor sich gründlich neu kennenlernt. Er wird ausgebremst und ausgeraubt, sein alter Benz wird zum Rückzugsort und die Reise mit sich allein zur Isolationshaft auf vier Rädern ... »Timmerberg macht selbst aus dem Banalen steile Prosa.« Süddeutsche Zeitung Ein ehrliches Buch über zerstochene Reifen und Gespräche mit dem Navi, über Reisemüdigkeit und Glückshormone, die Freiheit des Automobilisten und das ewige Versprechen, unterwegs zu sein. »Keiner schreibt so herrlich schnoddrig.« Neue Westfälische

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mit 14 farbigen Fotos und einer Karte

© 2025 Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, www.piper.de

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Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Patrick Pierazolli und margouillatphotos / iStock

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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((Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen wie z.B. Schmuckvignetten))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Nachwort

Impressionen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte

Vorwort

Es begann, wie immer in den guten alten Tagen, mit den Sternen. Ihr Licht glänzte wie ein Feenmantel auf dem Benz meines Vaters, der nun meiner war. Der Wagen stand vor seiner Garage in Ostfriesland, aber mir kam es vor wie in einem Märchen. Er hatte mir 100 000 Euro und einen alten Mercedes E 220 CDI Elegance vererbt, und seine letzten Worte waren »Bon Voyage«.

1. Kapitel

Erster Tag

St. Gallen, Mercedes-Niederlassung.

Wer zu spät kommt, den bestraft die Straße. Ich hätte schon vor zehn Jahren losfahren sollen oder alternativ vor zwei Stunden. Wer beginnt eine Fahrt von St. Gallen nach Marrakesch um 17 Uhr und ein paar Zerquetschte? Ich mache vormittags nie etwas und will das auch unterwegs nicht krampfhaft ändern. Immer schön locker bleiben, wie der Nachbar sagt, aber 14 Uhr wäre schon o. k. gewesen. Wenigstens hat Mercedes noch auf.

Ich will den Stern.

Er wurde abgebrochen, was denn sonst. Selbst meine Tochter durchlief Entwicklungsphasen, in denen abgebrochene Mercedessterne als Trophäen der Nacht begehrt waren. Sie hat’s mir neulich mal gestanden. Natürlich entweihte sie nicht den Benz ihres Vaters, das waren andere Schweine. Zwei- oder dreimal sah ich das nicht ein und ließ einen neuen dranschrauben, aber irgendwann gab ich auf und akzeptierte, dass eine Mercedes-E-220-CDI-Elegance-Limousine ohne Stern nicht nur nach nichts mehr aussieht, sondern auch die Markenbotschaft verliert. Der gute Stern muss wieder drauf, für all die Straßen, die nun vor mir liegen, und das hat durchaus auch eine esoterische Komponente. Ich weiß, dass ich den Stern lenke, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es auch umgekehrt laufen könnte. Außerdem brauche ich einen zweiten Schlüssel. Ich habe nur noch einen. Und sollte ich den da draußen zwischen Okzident und Orient verlieren, verlegen oder vergessen, werde ich blöd dastehen.

Der Stern kostet 50 Franken, der Zweitschlüssel 500, sagt man mir, und das sehe ich ein. Das geht halt nicht anders, wenn man zum einen mit Mercedes und zum anderen mit der Schweiz zwei Hochpreisgaranten ausgeliefert ist. Glücklicherweise haben sie den Schlüssel für ein 21 Jahre altes Modell nicht am Lager.

»Der müsste bestellt werden, und das dauert bis morgen«, sagt der Verkäufer.

»Aber ich habe keine Zeit für einen Zweitschlüssel. Ich will die Fête des Gitans in Saintes-Maries-de-la-Mer nicht verpassen.« Und was will ich da? Als Antwort höre ich eine Liedzeile von Eric Clapton in mir.

»Won’t you please read my science, be a gypsy.

Tell me what I hope to find deep within me.«

Wenn man nicht weiß, was die Zukunft bringt, hat das durchaus auch Vorteile. Einer davon liegt in der Überraschung, der positiven, klar. Negative Überraschungen bieten natürlich keinerlei Zugewinn. Aber das unerwartete Glück macht glücklicher als das geplante. Und das war, grob gesagt, mein Konflikt. Sollte ich 3500 Kilometer vorbuchen? Oder sollte ich die Feste feiern, wie sie auf die Straße fallen? Die schlampige Vorbereitung erschien mir irgendwie spiritueller und damit auch professioneller für die Jagd mit dem Mercedes nach dem Reiseglück. Trotzdem plante ich drei Stationen auf der Route fest ein, weil sie mir zwingend erschienen. Zwei davon versprachen Menschen, Tiere, Sensationen, wie die Fête des Gitans in Südfrankreich und der Besuch eines Stierkampfs irgendwo in Spanien, während das dritte Travel-Must-have als eine biografische Meditation angedacht war. Das ist Papas Benz, und der Brennerpass war Papas Lieblings-Weltenscheide und wurde auch meine, auf meiner ersten Reise in den Süden. Am Brenner fing alles an. Aber der Stern ist erst gegen 18 Uhr dran. Und irgendwann wird es ja auch mal dunkel.

Es gibt Regeln. Ich habe sie mir selbst auferlegt, denn ich weiß, wie es geht, und mit dieser Kompetenz wurde festgestellt: Südeuropa ist nicht Südamerika, und Marrakesch ist nicht Lagos. Das wird kein Abenteuertrip. Und Rekorde brechen brauche ich auch nicht. Ich muss nicht nach drei Tagen in der Medina parken und nach vier in der Oase Mhamid. Die Tour ist als Genussreise angelegt, und das sind die Regeln:

Fahre nie länger als vier Stunden pro Tag.

Meide die Dunkelheit.

Ein Mercedes ohne Stern ist wie ein König ohne Krone. Jetzt hat er sie wieder. Seinetwegen können wir los. Doch gemach, mein Guter. Ich bin noch nicht so weit. Ich stehe noch immer neben mir, wie eigentlich schon den ganzen Tag. Und wer neben sich steht, der steht auch neben dem Zauber, der jedem Anfang innewohnt. Der startet, ohne zu starten, fährt, ohne zu fahren, kommt an, ohne anzukommen. Aber das ist das Tolle an unserem Team. Es hängt immer nur einer durch. Und der Benz ist das nie.

On the road again.

Again and again and again, sollte ich sagen. Die Strecke nach Innsbruck bin ich viel zu oft gefahren, um noch auf die Ausschüttung von Glückshormonen zu spekulieren. Links hohe Berge, rechts hohe Berge, und die Abfahrten zu mythischen Kultplätzen wie St. Moritz und Ischl sind für mich mittlerweile so normal wie eine Fahrt mit der Straßenbahn. Wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist, hat mit der Abnutzung der Reiseeindrücke kein Problem. Aber die Musik wird eins. Mein Vater hatte vor 20 Jahren noch die Wahl zwischen Kassette und CD und entschied sich gegen das neumodische Zeug. Der Chefredakteur eines Automobilmagazins erfuhr davon und schenkte mir aus seinem Retro-Tonträgerschatz sechs oder sieben Kassetten. Er beschriftete sie mit Jahrzehnten. White Sixties, Black Seventies, Mixed Eighties. Von Bee Gees bis Prince alles dabei. Und Arthur Conley gefiel mir am besten.

»Do you like good music, yeah, yeah,

Huh, that sweet soul music, yeah, yeah,

Just as long as it’s swinging, yeah, yeah,

Oh yeah, oh yeah.«

Wer da nicht mitsingt, hat keine Stimmbänder, aber wer Kassette sagt, muss auch Bandsalat sagen. Einige leierten aus, und wieder andere wurden einfach immer leiser. Ich weiß natürlich, was mein Smartphone alles kann. Es kann sich, zum Beispiel, per Bluetooth direkt mit meinen Hörgeräten verbinden und good music, yeah, yeah, rüberschicken, aber wenn die Lautsprecher quasi an den Trommelfellen kleben, hört man sonst nichts mehr, und das ist beim Autofahren nicht ratsam. Mir bleibt tatsächlich nur das gute alte Autoradio, und da hört der Spaß wirklich auf. Alle 100 Kilometer ein gutes Stück. Und dazwischen wird man zugeschissen. Natürlich kann man die Sender wechseln, aber das ist auch nicht anders als von Scheißhaufen zu Scheißhaufen zu springen, da höre ich doch lieber dem Techno-Mantra des Motors zu. Vierzylinder, 130 PS, Heckantrieb. Papas Benz ist kein Sprinter, er ist ein Langstreckenbomber, und genauso brummt er dahin.

Paddy ruft an.

»Hallo, Helge, wollte nur mal fragen, ob du gut losgekommen bist.«

»Na klar, aber erst vor einer Stunde.«

»So spät? Wo bist du jetzt?«

»Hundert Kilometer vor Innsbruck.«

»Du trittst also die Hälfte deiner Regeln schon am ersten Tag in die Tonne? Du schaffst es nicht mehr zum Brenner, bevor die Sonne untergeht.«

»Na ja, vielleicht schaffe ich es ja doch.«

»Helge! Es gibt bei Regeln kein ›vielleicht‹. Regeln werden eingehalten. Dafür sind sie da.«

»Ich liebe euch Schweizer.«

»Wir lieben dich auch.«

Paddy behält recht. Kurz hinter dem Ötztal verglüht die Sonne an einer Bergspitze, und ich sehe dem Naturschauspiel eher resigniert als fasziniert zu. Noch vor dem Abzweig zum Brennerpass beginnt die blaue Stunde. Und was von alldem ist bitte das Problem? Warum fürchte ich die Dunkelheit? Weil entweder meine Augen schwächer werden oder meine Scheinwerfer. Außerdem sind sie falsch eingestellt. Sie schielen, genau wie ich. Das wäre was für Stephen King. Auto und Mensch werden gleichzeitig blind. Und kriegen gleichzeitig Hunger, und sollte einer von ihnen mal des Hungertods sterben, verhungert der andere sofort mit. Wie gruselig ist das denn? Hört man nicht immer wieder von Autos, denen plötzlich der Sprit ausging?

Ein Hotel habe ich auch noch nicht. Ich wollte eines auf der letzten Raststätte im Internet suchen und buchen, aber alles, was mir Booking.com präsentierte, war entweder zu teuer oder aus anderen Gründen nicht mein Ding. Lass doch die Straße eins suchen, sagte ich mir. Und jetzt sage ich mir: Wie bekloppt ist das denn?

Mühlbachl am Brenner, »Hotel Stolz«.

Der Parkplatz gefällt mir. Groß, leer, von Bergen gerahmt. Mit einer soliden Kette davor. Auch scheint das Hotel noch geöffnet zu haben, denn es ist im Gegensatz zu denen, die ich bereits in der Dunkelheit passiert habe, noch beleuchtet. Und ich muss pissen. Gründe genug, um am Ende des Tages einzuknicken und jedes Hotel zu akzeptieren, das Toiletten hat. Mit einer jüngeren Blase hätte ich an der Rezeption auf dem Absatz kehrtgemacht. Ich kann dieses Hellholz nur schwer ertragen. Gott strafe die Schweden, meinetwegen mit chronischem Schluckauf. Als ich mit Papa in dieser Gegend war, gab’s Ikea noch nicht. Im Zimmer wird’s noch schlimmer. Das Bettgestell, die Wandverkleidungen, der Schreibtisch, der Stuhl, die Bilderrahmen, selbst die Bretter, die verhindern, dass man vom Balkon fällt, waren mal ’ne Fichte. Die wachsen am schnellsten. Fichten sind billige Bäume, und weil diese Billigkeit nach Bier schreit, das im Zimmer nicht zu finden ist, bin ich schon wieder unten. Aber in der Lobby gibt’s auch keins, und das Hotelrestaurant ist geschlossen.

»In Tirol wird nur beim Après-Ski durchgesoffen«, sagt der Rezeptionist. »Im Sommer sind wir brav.«

»Und was ist mit Essen?«

»Um diese Zeit? Das können Sie vergessen.«

Ich erinnere ihn an das Motto des Hauses. Es ist auf dem Hotelprospekt zu lesen, der zwischen ihm und mir auf der Hellholztheke liegt. »Sterne haben viele, aber Herz nur wenige«, rezitiere ich.

Er scheint einzuknicken.

»Nun, es gibt zehn Kilometer weiter unten noch ein, äh …«

»Ein Äh …?«

»Na ja, ein, äh, Etablissement, aber Speisen bieten die, glaube ich, auch nicht an.«

Ich glaube ihm sein »glaube ich« nicht. Ich glaube, er weiß es.

On the road again, und es ist fast Mitternacht. »Das Gute schläft, das Böse wacht.« Ich liebe Reime, selbst meine, aber der ist von Goethe. Auch der Dichterfürst überquerte die Alpen auf der alten Brennerpassstraße, die in Wahrheit uralt zu nennen ist, denn sie wurde von den alten Römern angelegt, vor mittlerweile 1700 Jahren. Ab dem Mittelalter avancierte sie zum meist genutzten Übergang der Ostalpen, und nachdem sie 1777 auf Geheiß der Kaiserin Maria Theresia zu einer Straße ausgebaut worden war, die auch im Winter befahrbar war, dauerte es nur noch schlappe zehn weitere Jahre, bis auch Johann Wolfgang von Goethe sich blicken ließ.

Meine Fresse, die Straße wirkt im Licht der schielenden Scheinwerferkegel und hier und da auch im Nebel (oder sind das schon Wolken?) noch immer etwas prähistorisch. Da freut man sich über jede rote Laterne in der Ferne. Das ist keine Ampel, das ist der Alpenpuff. Nichts Großes, kein mehrstöckiger Sündenpfuhl, kein Laufhaus, wie man das in Österreich nennt. Klein, aber unfein klebt der Club am Berghang.

Und jetzt?

Will ich Essen oder biografische Meditationen? Papa hätte angehalten. Papa wäre reingegangen. Papa hätte gefragt, wer von den Huren am besten kochen kann. Aber ich lass es sein. Ich fahre langsamer, aber leite nicht den Bremsvorgang ein. Weil ich nicht Manns genug bin? Kann sein. Weil ich ein Moraltrompeter bin? Nein. Weil ich normal bin? Ja. Und kein normaler Mensch will was über den Sex seiner Eltern wissen.

Weiter geht’s deshalb durch Nacht und Nebel auf der alten Brennerstraße bis zum nächsten Licht in der Ferne, einem, das blau ist und eine Tanke verspricht, die noch geöffnet hat. Blaue Lichter halten, was sie versprechen, und ich betrete die Nachttankstelle wie ein Gourmetrestaurant.

Zurück auf 990 Meter Höhe im Hellholz vom »Hotel Stolz« verleihen zwei Dosen Bier, zwei Schokoladenriegel, Butterkekse, Studentenfutter und, ach ja, Zigaretten und Zigarettenpapier dem Zimmer etwas Wohnlichkeit. Ich schaue mir dazu alte Schwarz-Weiß-Fotos an, denn dafür habe ich sie mitgebracht. Papa war ein Hobbyfotograf.

Ich sehe einen sieben- oder achtjährigen blonden Jungen in kurzer Lederhose auf einem Felsen. Hinter ihm schneebedeckte Gipfel. Er steht da breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt. Die klassische Angeberpose. Ich kann nur hoffen, der Fotograf hat sie verlangt. So stand Papa auch gerne. Das nächste Foto zeigt mich wieder in kurzer Lederhose, aber in deutlich schüchternerer Pose vor dem »Haus Renate«. Eine Pension, nehme ich an. Oben die Gästezimmer, unten das »Flößerstüberl«. Keine Ahnung, ob’s das heute noch gibt, und auch keine Ahnung, was diese Bildschau eigentlich bringen soll. Bei aller Romantik, die vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos garantieren, baue ich zu meinem rund 63 oder 64 Jahre jüngeren Ich keine Beziehung auf. Ich weiß, dass ich das bin, oder besser war, aber ich fühle es nicht. Geht das der Baumkrone auch so, wenn sie zu ihren ersten Jahresringen runterblickt?

Bei Papas Karre dagegen klappt der Sprung in die Fünfzigerjahre tadellos. Er fuhr damals nicht den König, sondern den Käfer der deutschen Automobilindustrie. Das Standardmodell, dank Papas Autowaschzwang wie aus dem Ei gepellt, musste man einfach lieb haben. Alles rund, halbrund, oval, nur fließende Formen, keine rechteckigen Winkel, außer am Nummernschild gab es keine geraden Linien an der Karosserie. Nur Nummernschilder unterliegen dem Design der Bürokratie.

Erst im Innenraum des VW Käfers begann der Ernst des Lebens. Für Papa. Nicht für mich. Als Knabe erfreute ich mich großzügiger Beinfreiheit auf dem Beifahrersitz, und auf der Rückbank konnte ich fast ausgestreckt schlafen oder dösen oder durch das ovale Fensterlein in die Sterne über den Brenner schauen. Der Motor brummte, der Fahrwind summte, die Reifen seufzten. Das Wiegenlied der Nomaden. Ich lag für mein Leben gern auf der Rückbank, aber ich musste den Käfer ja auch nicht fahren. Servolenkung war damals Science-Fiction, und einen Käfermotor, der in den Serpentinen nicht überkocht, hatte auch noch niemand gesehen.

Mein Vater konnte gut mit Maschinen, aber dass er nach all dem Rumkurven, Zwischenkuppeln und Kühlwassernachfüllen im »Haus Renate« übernachten wollte, ich aber meiner Mutter davon nichts erzählen sollte, kann ich heute gut verstehen. Oder auch nicht. Er hat’s ja fotografiert und ihr das Foto gezeigt, als wir von unserer Vater-Sohn-Reise zurückkamen. Wahrscheinlich war es ’ne andere Renate oder Beate der Alpen, von der sie nichts wissen durfte. Egal. »Das darfst du aber nicht deiner Mutter erzählen, hörst du?«, ist einer der wenigen Papasätze meiner Kindheit, die ich nie vergaß. Und die wenigen glücklichen Erinnerungen an mein Leben mit ihm spielten alle in Motorfahrzeugen.

Ich leg die Fotos weg und verpiss mich auf den Balkon, von dem man tagsüber auf Berge und Sommerwiesen blickt, nachts blickt man ebenfalls ins herrliche Wipptal hinein, aber sieht nichts davon. Ab morgen halte ich die Regeln ein und werde noch bei Tageslicht ankommen, egal wo. Dann lässt sich auch die dritte Regel leichter einhalten. Ja, es gibt eine dritte, ich hatte sie nur vergessen. Oder zur unverbindlichen Empfehlung runtergestuft. »Gehe am Ende jeder Etappe 10 000 Schritte«, lautet die dritte Regel für Genussreisen, denn darüber freut sich nicht nur der Körper, auch den Reiseeindrücken bringt es viel. Be- und Entschleunigen, Fahren und Spazierengehen, der Fluss und die Details.

2. Kapitel

Benz und Blase

Steffi ist nicht Siri. Die weibliche Stimme meines Billig-Navi klingt nach bedauerlich wenig Östrogenen. Aber das hat auch Vorteile. Ich kann sie besser beschimpfen, verfluchen und schlimme Wörter benutzen. Das schlimmste kommt mir glücklicherweise nie über die Lippen, aber »blöde Kuh« ist immer drin, wenn Steffi wieder mal den schnellsten Weg mit dem kürzesten verwechselt, auch wenn’s ein Ziegenpfad ist. Sie schaltet sich auch gern ohne Vorwarnung ab. Dann schalte ich sie wieder ein, was mir einiges abverlangt. Dies und das Akzeptieren und Warten, bis sich das System aufgebaut hat, um dann das Ziel ein zweites Mal einzugeben. Oder ein drittes Mal. Aber heute ist Steffi brav. Und die brave Steffi sagt, dass ich von Mühlbachl nach Saintes-Maries-de-la-Mer rund zwölf Stunden reine Fahrzeit einplanen muss. Teile ich das durch drei und fahre pro Tag nicht mehr als vier Stunden, halte ich die Vier-Stunden-Regel ein und werde trotzdem rechtzeitig zur jährlichen Wallfahrt der Gitans ankommen. Ein Stopp in Italien, einer an der Côte d’Azur, und als grobe Richtung für heute gebe ich Genua in das Navi ein. Aber Steffi sagt, bis Genua sind’s fünfeinhalb Stunden reine Fahrzeit.

»Blöde Kuh.«

Reine Fahrzeit ist das eine, die Pausen sind das andere, und dann gibt es ja auch noch das Wetter. Semibiblische Regenfälle suchten vor einer Woche Norditalien heim, die Flüsse traten über ihre Ufer und rissen alles mit, was auf den Straßen war. Autos schwammen, Menschen starben, Häuser brachen, Orte wurden evakuiert, Milliardenschaden. Mittlerweile regnet es dort wieder weniger, heute soll sogar hier und da auf der Route nach Genua die Sonne scheinen.

Auf der österreichischen Seite der Alpen tut sie das grad nicht. Es nieselt, aber klar, das Sprichwort stimmt. Es gibt kein schlechtes Wetter. Es gibt nur schlechte Autos. Ich fahr ein gutes, aber auch ein gutes Auto ist nur so gut wie das Auto vor ihm, was das Vorwärtskommen angeht. Steffis fünfeinhalb Stunden reine Fahrzeit bis Genua beachtet also auch nicht den Wandel der Zeiten auf der alten Brennerpassstraße. Der Verkehr hat hier seit den Fünfzigerjahren deutlich zugenommen. Stop and Go in den Kurven, Stop and Go in den Geraden, Stop and Go in den Ortschaften, da könnte ich auch zu Fuß gehen, wenn der Nieselregen nicht wäre.

Nach Steinach habe ich die Faxen dicke und verlasse die Traumstraße meiner Kindheit, um auf der Brennerautobahn mein Glück zu versuchen. Ab sofort stehe ich im Stop ohne Go. Die Österreicher bemühen sich, durch quasi schikanöse Polizeikontrollen an der alten Passstraße die Lkws auf die Autobahn zu zwingen, was offensichtlich prima klappt. Stop ohne Go ist Stau, und »wer gleich sich bleibt bei Freud und Leid, der reift für die Unendlichkeit«, sagt die Bhagavad Gita. Ich dagegen sage, es gibt keine Freud ohne Leid und umgekehrt. Stockt der Fluss, beginnt der Genuss der Details.

Auf dem Lastwagen vor mir steht in großen blauen Lettern »Spedition Walter«. Und Walter heißt nicht nur eines der größten Fuhrunternehmen Österreichs, sondern auch ein Freund, der mich auf der Reise als Beifahrer hatte begleiten wollen, aber nach einer kleinen Proberunde in meinem Raucherauto wollte er es dann doch nicht mehr. Und das ist vielleicht auch gut so. Denn die Frage, ob es besser ist, allein oder in Begleitung zu fahren, beantwortet sich leider immer erst, wenn es zu spät ist. Egal, wie groß das Auto ist, es wird furchtbar klein, wenn die Stimmung kippt oder gar offener Streit ausbricht. Und auch das gegenteilige Missgeschick, das peinliche Schweigen und die eiskalte Erkenntnis, dass man sich über Tausende von Kilometern nichts zu sagen hat, macht jede Reise platt.

Mit Walter wäre das nicht passiert. Wir kennen und schätzen uns seit über 30 Jahren. Wir arbeiteten seit über 30 Jahren zusammen. Wir teilten seit über 30 Jahren dieselbe Leidenschaft. Wir waren Journalisten. Er mein Chefredakteur, ich sein Reporter. Mittlerweile gehen wir es langsamer an, aber es steckt natürlich noch in uns drin. Wenn das Jagdhorn bläst, beginnt die Hatz auf Geschichten. Oder zumindest die Lust darauf. Das Durchspielen des Ernstfalls. Was ließe sich aus einem Stau auf der Brennerautobahn machen? Welche Geschichte versteckt sich hier? Weil ein Chefredakteur dabei eher an die Leser und ein Autor eher an sein Ego denkt, wären wir garantiert eine unterhaltsame Kombination gewesen. Wir hätten immer was zu reden gehabt. Es sei denn, er wäre erstickt.

Spedition Walter rückt vor. Es geht langsam weiter an Baustellen entlang, die den Verkehr nach und von Italien in zwei Fahrbahnen zwingen. Auch beginnt es kurz mal stärker zu regnen, aber der Wolkenhimmel weiter vorn lockert auf.

Lara ruft an. Sie will nur kurz wissen, was ihr Schatz gerade macht und wo er gerade ist, und als ich ihr alles wahrheitsgetreu berichtet habe, ist sie schon nicht mehr so traurig darüber, dass sie nicht mitfahren kann. Ich lerne viel daraus. Wer Frauen nicht auf den Gedanken bringen möchte, einer ungerechten Welt ausgeliefert zu sein, in der einer durch die Gegend gondeln darf und die andere arbeiten muss, der sollte ihnen, egal, was sonst noch passiert, nur von Staus im Regen erzählen.