Einer kriegt sie alle - Helge Timmerberg - E-Book

Einer kriegt sie alle E-Book

Helge Timmerberg

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Beschreibung

Polizeiarbeit im Untergrund: Die Abenteuer von Tommy, dem Bullen Schon als Kind wollte er beim Spielen immer derjenige sein, der sucht, anstatt sich zu verstecken. Tommy ist der geborene Bulle! Und so beginnt er mit 18 Jahren seine Karriere bei der Polizei und arbeitet sich nach und nach zum international agierenden Spezialisten für Zielfahndungen hoch. Als er zufällig dem Bestsellerautor Helge Timmerberg begegnet, ist dieser fasziniert von den Geschichten des Polizisten. Sechzehn davon sind in diesem True-Crime-Buch versammelt. - Verbrecher auf der Flucht: Tommy verfolgt sie, vom Wiener Prater bis nach London und in die Dominikanische Republik - Ein Blick auf Fahndungs-Erfolge in wahren Kriminalfällen, von einem Insider - Die Realität der Verbrecherjagd: Was einen guten Zielfahnder ausmacht - True Crime: Spannende Einblicke in die Erfolgsgeheimnisse der Polizeiarbeit Hinter den Kulissen: Worauf es bei der Verbrecherjagd ankommt Seit seinem Karrierebeginn bei der Wiener Kriminalpolizei in den 80er Jahren hat Tommy nicht nur viel Erfahrung gesammelt, sondern auch zahlreiche Erfolge verbucht. Seine Fälle haben ihn gelehrt, dass untergetauchte österreichische Kriminelle im Ausland an ihren zum Lüften geöffneten Fenstern erkannt werden können. Sie lehrten ihn auch, dass Wiener Sandler auf öffentlichen Plätzen mindestens so viele Informationen aufschnappen, wie Überwachungskameras. Diese und viele andere Anekdoten hat er Helge Timmerberg erzählt, der aus dem Wissen des Zielfahnders zu wahren Verbrechen ein Buch gemacht hat, das niemand mehr aus der Hand legen kann! Gibt es einen Gott? Nein. Aber Gottseidank gibt es die Polizei.

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Seitenzahl: 187

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HELGE TIMMERBERG

EINERKRIEGT SIE ALLE

Von London bis Nizza: Ein WienerZielfahnder auf Verbrecherjagd

Dieses Buch dient der Unterhaltung, aber auch der öffentlichen Kritik und der Diskussion von für die Öffentlichkeit und Gesellschaft wichtigen Themen. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden weitgehend verändert und/oder frei erfunden, Geschehnisse teilweise erdacht und anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt bzw. sollen nicht deren tatsächliche Handlungen und/oder Eigenschaften widerspiegeln.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Herausgebers und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2024

Copyright dieser Ausgabe © 2024 ecoWing Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – Wien, einer Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, PF Fuel Decay, Sunflower Regular

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Mann, Himmel: © plainpicture/Tim Robinson

Weltkarte: © Anton Lyaskovskyy/shutterstock

Autorinnenillustration: Claudia Meitert/carolineseidler.com

ISBN: 978-3-71100357-7

eISBN: 978-3-71105372-5

INHALT

1GUTER BULLE

2BÖSER BULLE

3WUNDERBARER BULLE

4SCHÖNER BULLE

5TREUER BULLE

6POLIZISTIN DES JAHRES

7GOTTES BULLE

8TEUFELS BULLE

9HULK-BULLE

10 SMARTER BULLE

11 FLYING BULL

12 GLOCK SEI DANK

13 SAUBERER BULLE

14 KULTURSCHOCK-BULLE

15 FLÜSTERBULLE

16 BUDDHAS BULLE

17 BABY-BULLE

NACHWORT

1

GUTER BULLE

Tommy geht über ein Kopfsteinpflaster, das ihm Stein für Stein Geschichten erzählen will, die nichts mit seinem Fall zu tun haben. Gehört Genua zu den Städten, die seine Seele wiedererkennt? Aus einem anderen Leben? Aus einer anderen Zeit? Tommy glaubt an Seelenwanderung, seitdem er mit einem Gott im Aufzug gestanden hat. Vier Tage als Personenschützer des Dalai Lama in Wien eröffneten ihm diese Möglichkeit. Nizza gehört zu seinen Seelenstädten, Beirut, Krumau in Tschechien und jetzt Genua. Seine Zielpersonen beweisen nicht immer, aber oft genug guten Geschmack. Auch Intelligenz.

Wie weit muss man fliehen, um vor Leuten wie Tommy sicher zu sein? Die meisten glauben, so weit wie möglich. In einer Zeit, in der es nur Segelschiffe gab, stimmte das sogar. Heute fliegt der Bulle einfach nur sechs Stunden länger, und das war’s dann auch schon an Fluchtvorteilen. Entfernungen spielen keine Rolle mehr, Unübersichtlichkeiten dagegen sehr. Deshalb sind Italien und Spanien für Österreicher die besten Länder, um unterzutauchen, und Genua ist schlicht ideal, weil wie geschaffen dafür mit seiner Altstadt der tausend dunklen Gässchen und deren Gefahrenpotenzial für die Polizei. Es ist noch gar nicht so lange her, da trauten sich die Carabinieri nur zu fünft und mit Maschinenpistolen in die dunkelsten Enden des urbanen Labyrinths hinein. Na ja, was heißt »nicht lange her«? Und was das Gegenteil? Columbus war mal ein Sohn der Stadt und Genua der große Konkurrent der Venezianer. Das ist lange her.

Wann lohnt sich eine Flucht? Wenn die Alternative der Tod ist oder lebenslange Gefangenschaft, dann sollte man es schon mal versuchen. Bei zwanzig Jahren Hafterwartung auch. Aber bei fünf? Und in welchem mentalen Gefängnis sitzt stattdessen der Flüchtende, weil er keine Zukunft sieht und sich die Gegenwart paranoid gestaltet? Jeder könnte ein Bulle sein, einfach jeder – das brennt sich wie ein Wahn in die Gehirne ein und wird zum neurotischen Imperativ. Aber die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden, denkt Tommy und grinst.

Die Zeit ist sein Partner. Weil in ihrer paranoiden Phase die Flüchtenden zu vorsichtig sind, verringert Tommy, wenn er sie nicht sofort fasst, gern den Fahndungsdruck, damit sie sich in Sicherheit wiegen. Er lässt sie in Ruhe, er wendet sich anderen Fällen zu, schenkt ihnen und ihren Lieben Atempausen, nur die Telefonüberwachung läuft Tag und Nacht.

Oberstes Gebot für den Flüchtenden: Ruf nie zu Hause an. Was immer dieses Zuhause ist. Deine Familie, deine Freundin, dein Hund. Egal, ruf nicht an. Und die meisten halten das auch bis Weihnachten durch. Bei seiner aktuellen Zielperson hat es drei Jahre gebraucht, bevor sie zum verfluchten Telefon griff. Seitdem weiß Tommy, wo sein Mann ist.

Genua hat etwas mehr als eine halbe Million Einwohner und ist damit die viertgrößte italienische Stadt. Na prima. Aber Genua hat auch ein paar abertausend Telefonmasten, die jedes Handy orten, das nicht weiter als 300 Meter von ihnen entfernt ist. Ab da übernimmt der nächste Mast. Und niemand muss telefonieren, damit das klappt. Das Handy braucht nur angeschaltet sein.

Dreimal hat er angerufen und jedes Mal aus der Altstadt. Aber sie ist die größte zusammenhängende Altstadt Europas, zweitausend Jahre wuchs sie vom Meer den Hügel hinauf, und rund 40.000 Menschen leben in ihr. Hätte sich die Zielperson wenigstens die Mühe gemacht, mal von hier, mal von dort und mal von ganz woanders aus dem Gewirr der Gassen endlich mal seine liebe Mutter im Burgenland zu kontaktieren, wäre Tommy weniger zuversichtlich unterwegs. Doch es war zweimal der fucking selbe Mast, der seinen Standort verraten hat, und das dritte Mal war es gleich der nächste. Das grenzt die Suche auf ein Revier von 600 Meter Durchmesser ein.

Es gibt Menschen, die einen Job machen. Es gibt Menschen, die einem Beruf nachgehen. Und es gibt Menschen mit einer Berufung. Wenn sie Glück haben, kriegen sie das früh genug mit. Schon beim Räuber-und-Gendarm-Spielen wollte Tommy nie der Räuber sein. Das Verstecken hat ihn nie interessiert. Er wollte immer nur suchen. Und das mit einer Leidenschaft, die man Wunderkindern nachsagt.

Um zu wissen, wo, muss man wissen, wen man sucht. Dann wird’s leichter. Tommy weiß, welche Musik seine Zielperson liebt, welche Bücher, welche Filme, welche Art von Lokalen. Tommy weiß, was er gern isst, Tommy weiß, was er trinkt, Tommy weiß, wie seine Frauen aussehen, jene, die er hat, jene, die er gern hätte, und die, mit denen er sich fotografieren lässt, und das alles und mehr weiß er von Facebook. Natürlich hatte die Zielperson zu Beginn der Flucht ihr Facebook-Profil gelöscht, aber das wieder aufzurufen ist für die Polizei kein Problem, wenn ein Richter mitmacht. Das Internet weiß mehr als Gott, und die Telefonüberwachung bietet dem Fahnder so etwas wie Familienatmosphäre, manchmal sogar Familienersatz. Er wird ein Teil von ihr, wenn aus dem heimlichen Zuhörer ein heimliches Familienmitglied wird, ein heimlicher Primärverwandter im Schatten, der weiß, wo man den Flüchtenden suchen muss, weil er ihn wie ein Bruder kennt.

Das kann Tommy. Was er nicht kann – noch nicht –, ist, die Distanz aufzugeben und den Beobachter abzulegen. Wie seine Zielperson zu denken, zu fühlen, zu hoffen, zu fürchten, zu irren, das hat Tommy noch nicht drauf, aber er ist zuversichtlich, dass er es eines Tages hinkriegen wird. Dann wird er wissen, wo er suchen muss, nicht weil er die Zielperson wie einen Bruder kennt, sondern weil er zum Klon der Zielperson geworden ist. Sein zweites Ich. Wenn das Schauspieler mit ihren Rollen können, Schriftsteller mit ihren Protagonisten und es bei Schizophrenen von selbst geht, warum sollen das nicht auch Bullen schaffen, man sagt den Guten unter ihnen ohnehin nach, sie hätten kriminelle Energie.

Und was wäre dann?

Dann hätte die Suche ein Ende. Der Gesuchte und sein Fahndungsklon müssten sich in der Altstadt von Genua zwangsläufig bald über den Weg laufen, das ginge gar nicht anders, wenn ihre Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten synchron ticken, dann würden sie sich auch vor dieselbe Cafeteria setzen, um bei einem Heißgetränk auf den Fluss des Lebens zu schauen, der in allen Farben und Größen an ihnen vorbeirauscht, Marokkaner, Schwarzafrikaner, Genuesen.

Die Hälfte der Altstadtbewohner sind Ausländer, und davon die Hälfte müssen Kiffer sein, bei all den Marihuana-Duftwölkchen, die um die Ecken ziehen. Männer, Frauen, Transvestiten, sogar Nichttätowierte sind zu sehen, denn Genua ist wie alle Hafenstädte tolerant, trotzdem muss sich ein alter Knacker mit X-Beinen nicht unbedingt einen Minirock anziehen, denkt Tommy, denn das tut ihm in den Augen weh. Und was ist mit den Augen der Zielperson, schmerzt sie das ebenfalls synchron?

Zwei Stühle, zwei Spiegel, zwei Brüder. Jedenfalls steht es so an der Fensterscheibe des winzigen Friseursalons: Due Fratelli – Barbiere. Tommy muss ein bisschen warten, aber das ist für ihn kein Problem, da tickt er wie Siddharta, er kann warten, fasten, denken. Der Kunde vor ihm lässt sich seinen Irokesenschnitt perfektionieren, und Tommy freut sich auf die Nassrasur mit dem Messer, denn das macht kaum noch einer in Wien. Außerdem reden die Friseure seiner Heimatstadt zu viel Blödsinn und nennen das Schmäh. Möglicherweise reden die hier auch Blödsinn, aber er versteht kein Italienisch, und ihm gefallen die Stimmen. Die Brüder scherzen tief und rau miteinander. Ihre Kehlen sind nicht milchverwöhnt. Schwul sind sie wahrscheinlich auch nicht, dafür bewegen sie sich zu beherzt maskulin. Aber man weiß ja nie. Und was ist mit dem Irokesen? Mafioso, Musiker, Matrose?

Tommys Wissensdurst ist ’ne Art Berufskrankheit, aber auch privat kaum abstellbar. Außerdem hat der Polizist außerhalb von Österreich nicht mehr Rechte als ein Tourist. Er darf observieren, suchen, sich umsehen, aber irgendwen verhaften, zum Beispiel, darf er nicht. Rein dienstlich kann ihm das also ganz egal sein, ob der Irokese das ist, wonach er aussieht: irgendein Bandenmitglied, irgendein Soldat der kriminellen Unterwelt von Genua. Und sollte seine Zielperson jetzt zufällig am Friseursalon vorbeigehen oder gar reinkommen, kann er ihr auch keineswegs Handschellen anlegen. Nicht mal festhalten darf er sie. Dafür braucht er seine italienischen Kollegen. Und warum machen die nicht gleich den ganzen Job? Das Suchen, das Aufspüren, die Schnüffelschwein-Recherche? Das fragt sich nur, wer italienische Polizisten nicht kennt. Mit einem hat er heute gefrühstückt. Ein Giovanni. »Ruf uns an, wenn du ihn gefunden hast. Wir kommen dann«, hat er gesagt, und Tommy hat »Mit der Vespa?« gefragt, woraufhin Giovanni nur noch »Ciao bello« sagte.

Tommy ist dran.

Der Barbier wechselt die Klinge aus, legt Schaum auf Tommys Wangen auf und setzt das Rasiermesser an. Wird er ihn schneiden? Nur wenn er gute Gründe dafür hätte, aus Versehen sicher nicht. Er führt das Messer präzise und sicher, und er führt es schnell. Er macht keine Figaro-Diven- Oper daraus, eher erinnert sein Tun an die Hochgeschwindigkeitsprofessionalität der Reifenwechsler in der Formula Uno, aber sollte der Mann sich mal wehren müssen, gnade Gott seinen Feinden, egal wie viele es sind. Das Messer ist ohnehin eine viel zu unterschätzte Waffe, denkt der Bulle, während der Figaro seine Barthaare abmäht und schöne gerade Linien zieht. In Beirut wäre es fast einmal danebengegangen, weil Tommy am Fenster eine extrem gebaute Schönheit vorbeiziehen sah und mit dem Barbier ein Männergespräch über die Erscheinung beginnen wollte. Es stellte sich heraus, dass er ihr Vater war. Seitdem verkneift sich Tommy Gespräche über Frauen, wenn das Messer an seinen Wangen schabt oder gar an seinem Hals, wie jetzt gerade.

Die Nassrasur von Meisterhand wird an allen Küsten des Mittelmeers sowie im vorderen, mittleren und hinteren Orient gepflegt, und jede Kultur, jede Region hat ihre eigenen Zugaben über das Kerngeschäft hinaus. Kopf- und Schultermassagen, warme Tücher fürs Gesicht, Cremes und Duftwässerchen, mal herb, mal süß, und vor allem in Indien bringen sie gern mit einem gezielten Doppelruck die Halswirbel auf Trab. Das lehnt Tommy ab. Dafür ist er zu fantasiebegabt, denn der Ruck, der ein Genick bricht, sieht ganz ähnlich aus. Die Wellness-Wohltaten kann man bei den Due Fratelli getrost vergessen. Stattdessen holt sein Barbier einen Baumwollfaden hervor. Das obere Ende hält er mit den Zähnen, das untere zwischen Mittelfinger und Daumen, mit der anderen Hand schlägt er den Takt, was den Faden, straff gespannt, vibrieren lässt. Damit zieht er über Tommys Gesicht, um die feinen, winzig kleinen, allerletzten Härchen aus der Haut zu reißen. Für Tommy das erste Mal, die Fadenrasur hat noch keiner vor Genua mit ihm gemacht, und sie tut durchaus auch weh, aber Tommy zuckt nur einmal zusammen und dann nicht mehr, denn erstens kann er mit Schmerzen umgehen, zweitens gönnt er der rauen, tiefen Stimme des Barbiers keine auf Italienisch vorgetragenen Witze über ihn, und drittens weiß er jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass sich seine Zielperson in diesem Friseurgeschäft nicht sehen lässt. Dafür ist der Künstler zu weich.

Die Empfindlichkeit der Künstler ist ein zweischneidiges Schwert. Die Seite, welche die Oberhand behält, entscheidet über ihren Erfolg und ihr Scheitern. Blues oder Wehleidigkeit, Jazz oder Jammern, Leiden in Schönheit oder Flüchten in Scham. Verstecken hat immer etwas Peinliches, Erniedrigendes, Anti-Heldenhaftes an sich, weil man sich seinem Schicksal nicht stellen will, sein Karma nicht akzeptiert. Karma unterscheidet sich vom Schicksal durch seine Eigenverantwortung.

Dafür, dass er sich als Schauspieler finanziell nur schwer über Wasser zu halten vermochte, konnte seine Zielperson nichts, weil Talentlosigkeit ganz klar Schicksal ist, aber diese Schwäche durch Betrug, schweren Betrug, wieder wettzumachen versuchen schafft ganz klar Karma, und Karma bringt Tommy ins Spiel.

Karma pflastert seinen Weg.

Die Wege in der Altstadt von Genua erinnern ihn an die Medina von Marrakesch. Weil sie so schmal sind. Und weil die Sonne es nie bis ganz runter schafft, nicht mal zur Hälfte dringt sie in die Gassen, keine Chance, hier wie da. Und möglicherweise würde ihnen die Sonne auch gar nicht guttun, weil sie so schmutzig sind. Dem Pflaster, den Fassaden, den Wellblechtoren, Eisentüren und verwitterten Fensterläden steht das Halbdunkel fabelhaft. Und sie knicken ständig ab, nie weiß man, was hinter der nächsten Ecke lauert. Touristen gibt es, aber nur wenige, und sie gehen nah beieinander und nur selten durch das Quartier der Nigerianer, wie Tommy gerade. Es ist ja noch Nachmittag, am Abend würde er es lassen, in der Nacht auch. Das unterscheidet Bullen von Abenteurern. Sie akzeptieren die Gefahr, suchen sie aber nicht.

Klein Lagos rastert ihn mit Blicken ab, wie ein ständig präsentes Laserstrahlennetz, das ihn in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Tommy fühlt es auf der Haut, aber es stört ihn nicht, im Gegenteil, es belebt ihn und macht ihn wacher für den Moment. Wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum sich Menschen ins überschaubare Risiko verlieben, es eignet sich für Aufmerksamkeitsübungen. Mehr als Taschendiebstahl hat er hier tagsüber nicht zu fürchten, aber immerhin. Tommys Kamera, Tommys Handy, Tommys Kreditkarten, Tommys Bargeld lohnen die Aktivierung sämtlicher Sinne, auch die des sechsten, und er muss sich dabei nicht um jeden gesondert kümmern, er schaltet zentral seine Sicherheitssysteme ein, der Hauptschalter liegt im Atem, die Kraft im Bauch, das limbische Quartier im Gehirn wertet die Flut der Eindrücke aus. Lachende Huren, schwatzende Zuhälter, kleine Dealer und selbstverständlich auch nichtkriminelle Einwanderer aus der Subsahara, also gute Menschen und böse, wie überall, nur stehen sie hier aus Platzmangel dichter gedrängt als anderswo.

Das Viertel der Afrikaner, die Gassen der Sizilianer, die Latino-Ecken der Peruaner, und dann das schwere Straßenparfüm des grünen Marokkaners. Drei Männer, ein Mädchen, ein Joint, und die superschmale Gasse verhält sich zu den Rauchschwaden wie ein begehbares Pfeifenrohr. An ihrem Ende öffnet sie sich zu einem kleinen Platz, und Tommy bleibt stehen. Er ist auf den letzten Metern eh immer langsamer geworden, was möglicherweise an dem hohen THC-Gehalt der Atemluft liegt, möglicherweise aber nimmt auch seine Bullennase eine Witterung auf, die damit ursächlich nichts zu tun hat, und ebenso könnte es der klassischen Musik, die plötzlich über ihm erklingt, geschuldet sein, dass Tommy plötzlich stehen bleibt und an den Häusern hochschaut.

Drei Häuser im offenen Quadrat, unten versaut mit Graffiti und Katerpisse, oben verliehen Wind und Wetter den Fassaden Charakter. Keine Balkone, nur eine leere Wäscheleine, und alle Fenster sind geschlossen, denn im November ist es auch in Norditalien ziemlich kalt. Nur eins ist offen. Nur eins von roundabout siebzig Fenstern lässt das Scheißwetter zur guten Stube hinein. Das macht kein Italiener, das macht kein Tunesier, das macht kein Spanier oder sonst wie Mediterraner, das machen Nordeuropäer, wenn sie mal durchlüften wollen, und nur Österreicher machen das dauernd.

Ein paar Stunden später im Hafenviertel.

Inoffizielles Treffen mit seinem italienischen Kollegen. Er hat die Bar ausgewählt, Tommy die Getränke. Cuba Libre, und Giovanni verzieht das Doppelkinn. Er war, wie viele dicke Italiener, mal ein gutaussehender Mann. Aber spätestens ab seinem vierzigsten Lebensjahr zeigte sich, was Pasta, Pizza und Pomodoro aus Menschen macht. Gleichzeitig sind sie die am besten gekleideten Leute der Welt. Zu denen gehört wiederum Tommy nicht. Braucht er auch nicht. Tommy ist schlank, blond und auch größer als Giovanni. Um es kurz zu machen: Cuba Libre hält der Italiener für einen Fastfood-Cocktail und Tommys Spürnase für, höflich gesagt, schwer erkältet, also verstopft.

»Ist das wirklich alles? Ein offenes Fenster. Mehr haben Sie nicht?«

»Nein, mehr habe ich nicht. Brauche ich auch nicht. Er hätte genauso gut eine österreichische Fahne raushängen können. Jedes Volk hat seine Marotten, oder? Die Russen sind zu laut, die Franzosen zu versaut, die Deutschen zu pünktlich, und die Österreicher reißen dauernd ihre Fenster auf. Ich auch. Meine Frau, meine Tochter, meine Freunde, meine Nachbarn und alle anderen in meiner Straße, meiner Stadt, meinem Land, sind Frischluftfanatiker. Ich sag Ihnen was, Giovanni, wir sind ein deppertes Volk.«

»Wir auch.«

»Was?«

»Wir machen auch manchmal unsere Fenster auf.«

Der Commissario aus Genua schaut zum Meer hinaus. Der Porto Antico bei beschissenem Wetter. Und seine Laune ist auch nicht besser. Er hat in dieser Stadt noch nie an Unterbeschäftigung gelitten und wird auch morgen keine Zeit für die Überprüfung von Leuten haben, die ihre Fenster nicht schließen. Und sollte er stattdessen blaumachen, um in Marias großartigen Brüsten abzuhängen, dann hätte er ganz sicher auch keine Zeit für Tommy. So oder so, Giovanni erweist sich als harte Nuss, darum erzählt ihm Tommy eine von seinen Nussknacker-Geschichten.

Sie handelt von dem Tag, an dem er sich entschied, Polizist zu werden. Er war dreizehn und fuhr mit seinem Rad durch den Wiener Prater, als er von einer türkischen Jugendgang gestoppt und seiner nagelneuen Handschuhe beraubt wurde. Er wollte ihnen das nicht durchgehen lassen und verfolgte sie so lange schreiend mit seinem Fahrrad, bis sie ihm die Luft aus den Reifen ließen. »Das hätte auch schlimmer ausgehen können, denn die Jungs waren zu fünft und alle älter und größer als ich. Aber es waren ja auch nicht irgendwelche Handschuhe, um die es ging, es waren Tormannhandschuhe, und willst du wissen, von wem, Giovanni? Es waren die Tormannhandschuhe von Dino Zoff. Ich bekam sie zwar nicht wieder, aber dafür die beste Idee meines Lebens. Seitdem wollte ich zur Polizei.«

Dino Zoff gehört zu den Erzheiligen des italienischen Fußballs. Sechsmal italienischer Meister mit Juventus Turin, davon zwei Jahre ohne Gegentor, 112 Länderspiele, vier Weltmeisterschaften, und bei seiner letzten 1982 wurde er mit vierzig Jahren der älteste Weltmeister aller Zeiten. »Tutto okay«, sagt deshalb nun Giovanni, das heißt »alles klar«, aber er sagt es nicht als Bulle, sondern als Fußballfan. Wer wegen »Dino Nazionale« Schläge riskiert, hat in Italien jede Amtshilfe verdient, auch die bescheuertste.

Am nächsten Tag klopft Tommy mit Giovanni und einem zweiten italienischen Polizisten an die Wohnungstür des Frischluftfanatikers, sie wird geöffnet, und voilà, da steht seine Zielperson. Etwas dicker als vor Jahren, etwas länger die Haare, auch sein Gesicht könnte einen Besuch bei den »Due Fratelli« vertragen, aber das Traurigste an ihm sind seine Augen. Und er gibt sofort auf.

»Ja, ich bin es«, sagt er, als Tommy ihn mit seinem alten Namen anspricht, nicht mit dem neuen, dem ungarischen, der neben der Klingel geschrieben steht sowie in seinem falschen Pass und dem Dokument, das ihn als Arzt ausweist. Wie sich herausstellt, hat er tatsächlich praktiziert und Patienten konsultiert. Ein falscher Arzt, ein falscher Name, ein falsches Leben. Alles darin ist falsch gewesen. Der Betrug, die Flucht, die Überschätzung der Wohltaten von frischer Luft. Und fast reagiert er erleichtert, dass es vorbei ist. Tommy erstaunt das nicht. Langgesuchte freuen sich oft, wenn sie verhaftet werden.

Das Spiel ist aus, aber es war ein Scheißspiel, also was soll’s. Die ewige Angst, entdeckt zu werden, und keine Rente. Die ewigen Lügen und keine Krankenkasse. Die ewigen Sünden und keiner, dem man sie beichten kann. Er hat viele Leute betrogen, auch die kleinen, er hat nicht nur den Reichen genommen. Auch nicht nur den Unsympathen. Ob seine Opfer, er nannte sie Publikum, gute oder böse Menschen waren, interessierte ihn nicht. Hauptsache, sie waren dumm. Oder dumm genug für ihn. Betrüger sind die intelligentesten Kriminellen, die finden immer wen. Außerdem war er Schauspieler. Ins Burgtheater hat ihn das nicht gebracht, aber zum Bescheißen reichten seine Talente. Zwei Millionen erstunken und erlogen, das meiste davon beim Pokern verloren und mit dem Rest nach Genua geflohen, wo er seit drei Jahren ziemlich einsam lebt. Die Wohnung sieht nicht wie ein Liebesnest aus und er nicht wie einer, der sich selber liebt. Nicht mal Selbstmitleid hat er für sich. Er ist einfach nur angepisst von dem Nichts, in das ihn die Flucht geführt hat. Und Tommy, der gute Bulle, holt ihn da raus. Und bringt ihn nach Haus.

2

BÖSER BULLE

Der alte Mann war nicht nur schockiert, sondern auch verwirrt, denn er hatte immer geglaubt, dass er vor ihr stirbt. Die Statistik bestätigte ihm das. Frauen leben durchschnittlich länger als Männer. Trotzdem saß er nun allein in dem Haus, das für zwei gebaut worden war. Und ihm auch plötzlich nur zu zweit erträglich schien.

Der alte Mann war vor dem Tod seiner Frau noch kein Pflegefall. Nachher auch nicht. Aber er vernachlässigte sich. Weil es ihm keinen Spaß machte, allein zu essen, und er auch nicht kochen konnte, das hatte immer sie getan, ernährte er sich im Wesentlichen von Butterbroten und Kaffee oder von Erdnüssen und Bier. Viel an die frische Luft ging er auch nicht mehr, obwohl das Dorf von Wanderwegen umzingelt war. Hygiene? Auch kein schönes Thema, und von dergestalt Themen gab es bald genug, um das große