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»Reisen ist Bungee-Jumping für die Seele«: Helge Timmerberg lebte schon als globaler Nomade, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Er fand als Siebzehnjähriger in Indien zu seinem Beruf, berichtet von überall auf der Welt, geht immer aufs Ganze, probiert alles aus. Nach seiner Autobiografie »Die rote Olivetti« kehrt er mit diesem Band zurück zu Reportagen, aus denen ungebremste Neugier und Leidenschaft fürs Unterwegssein spricht: auf den Straßen, auf denen er sich lebendig fühlt - wie Barcelonas Rambla, die die Altstadt in Legal und Illegal, in Gut und Böse teilt. In Palermo schreibt er sich kräftezehrenden Liebeskummer von der Seele. In Fukushima erlebt er tiefste Demut - und in Rio einen grandiosen Filmriss. Er geht zwischen Amsterdam, Neukölln, Ostwestfalen und dem Hohen Atlas auf Heimatsuche. Und klärt die Frage, wie man ein Hotelzimmer in Handumdrehen in ein Zuhause verwandelt.
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Seitenzahl: 255
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.malik.deISBN 978-3-492-97760-9© Piper Verlag GmbH, München 2017Redaktion : Fabian Bergmann, MünchenCovermotiv: Lisa SchwabDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
»Als ich zum ersten Mal ein Original-Manuskript von Timmerberg in der Hand hatte, dachte ich, der will mich veralbern. So was von Legastheniker – schlimm wie meine Tante Lilli. Darauf angesprochen, sagte Timmerberg: ›Das muss an meinen Hörgeräten liegen.‹«
Uwe Kopf
Die Straßen der Lebenden
Barcelona
Ich ging mit Ferdinand durch das Gotische Viertel von Barcelona. Es war Abend, ich hatte noch kein Hotel und wollte in seinem fragen, ob sie noch ein Zimmer für mich hätten. Ich fühlte mich seltsam frei. »Seltsam«, weil dieses Gefühl seit geraumer Zeit so selten vorkam.
Ferdinands Zweisternehotel erwies sich als ausgebucht, aber gleich gegenüber gab’s ein anderes, ein komplett sternenloses, und an der Rezeption saß ein fettleibiger Mann, dessen Herkunft sich mir nicht auf Anhieb erschloss. Ägypter? Libanese? Pakistani? Er war gut drauf. Er hatte ein Zimmer. Und als ich fragte, ob ich dort rauchen dürfe, sagte er etwas sehr Schönes und sehr Wahres.
»It’s your room!«
Mein Herz hüpfte kurz vor Freude, wie immer, wenn es nach Hause kommt. In einem Raum, für den man bezahlt, kann man machen, was man will. Aber weil es nur 35 Euro waren, mochte ich ihn mir nicht ansehen, bevor wir gegessen und getrunken hatten. Ein entspannter Abend in Barcelona lag vor uns, und ich wollte nicht, dass er durch den Ausblick auf ein möglicherweise verlaustes Ende an Leichtigkeit einbüßt. Wir verließen das Hotel und gingen zur Rambla zurück. Die Prachtchaussee, die an der Plaça de Catalunya beginnt und am Meer endet, teilt die Altstadt in Legal und Illegal, manche sagen auch, in Gut und Böse, weil sie Dealer und Huren moralisch verurteilen, ohne zu wissen, wie es sich anfühlt, Dealer oder Hure sein zu müssen. Das ist eine billig erworbene Moral, und wir teilten sie Gott sei Dank nicht. Wir suchten ein Restaurant in untouristischer Atmosphäre, und sonst suchten wir nichts. Es war ja alles da. Die Gassen, das Leben und der Mond darüber. Vollmond, wie mir schien. Früher hätte ich das als Warnung verstanden, denn ich wäre bei diesem Licht nicht unbeschadet durch ein Hurenviertel gegangen. Schnee von gestern, Koks von gestern, das Bungee-Jumping der Seele reizte mich heute nicht mehr, wie ein Schuss ins Knie.
Eine Mulattin löste sich von einer Gruppe aus drei Männern, als sie uns vorbeispazieren sah. Sie winkte uns mit einer Zigarette, die noch unangezündet war. Sie hätte sich auch von ihren Freunden Feuer geben lassen können, denn sie rauchten alle. Aber es war klar, dass sie hier in ihrer Nikotinsucht eine Chance für bezahlten Geschlechtsverkehr sah. Außerdem war ich schneller, auch schneller als Ferdinand.
Sie kam ganz nah heran, als ich ihr Feuer gab, und weil sie eine kleine Mulattin war, musste ich an ihr hinuntersehen, damit sich niemand verbrannte. Unter der Zigarette, die nun zu glühen und zu dampfen begann, sah ich prall mit Milch und Honig gefüllte Brüste. Drei ewige Sekunden lang gab ich mich dem Anblick hin, und »thank you« sagte dann nicht sie, sondern ich. Es war ein aufrichtiges Dankeschön, aus tiefster Seele und reinstem Herzen, und es galt nicht nur ihr, sondern auch der Kraft, die solche Momente arrangiert. Die Hure verstand das. Und war berührt. Von dieser Mischung aus guten Manieren, optimaler Chancenverwertung und niedlicher Ehrlichkeit fühlte sie sich respektiert. Und sie respektierte mich. Es wurde nicht weiter gebaggert. Sie trat lächelnd zurück in die Finsternis und nahm ein bisschen von der Liebe mit.
Harmloser geht Vollmond nicht.
Wir wählten schließlich ein Touristenrestaurant. Für die Lokale, in denen Einheimische essen, war es noch zu früh, und zu warten verbot uns der Hunger. Aber auch hier waren wir die einzigen Gäste. Ich wählte das einzige vegetarische Gericht, Ferdinand wollte Fischsuppe, und die hatten sie nicht. Fisch schon, jede Menge Fisch, aber nun war die Qual der Wahl das Problem, Ferdinand konnte sich nicht entscheiden. Er fragte den Ober, ob es nicht möglich wäre, eine Auswahl verschiedener Fische in verschiedenen Zubereitungsformen auf den Tisch zu stellen, damit er mal von dem und mal von jenem probieren könnte, und der Mann verstand ihn nicht so recht. Hör mal, hätte ich jetzt gern zum Ober erklärend gesagt, mein Freund ist nicht gaga, sondern ein Mitglied des verarmten K.-u.-k.-Hochadels. Die Slowenen haben seiner Familie in etwa so viele Schlösser weggenommen, wie ihr Fische auf eurer Speisekarte anbietet, aber die Tischsitten konnte man Ferdinands Leuten nicht rauben. Verstehen Sie mich? Doch ich sagte es nicht, ich lächelte es nur in mich hinein, und da klingelte Ferdinands Telefon, und er verließ mich. Ein Botschafter hatte ihn zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Fast ohne Übergang allein in einem ansonsten leeren Touristenlokal zu sitzen ist nicht jedermanns Sache. Das Essen war schlecht, der Wein zu sauer, der Preis zu hoch, aber als gelernter Einzelgänger steckte ich das erst mal weg.
Allein ging ich ans Meer. Die Luft kam süß daher. Unzählige Lichter illuminierten den Hafen. Er war zweigeteilt. Drehte ich mich nach links, wurde ich traurig, denn da schaukelten sanfte Wellen kleine Jachten in den Schlaf, und das ist eine Romantik, die ich teilen muss. Nicht mit Ferdinand, dafür brauche ich eine Frau in meinem Arm. Und ich hatte grad keine mehr. Die Trennung war etwa drei Monate her. Nicht die erste Trennung in meinem Leben. Und ich mochte sie nicht zählen. Wer listet schon gern an einem milden Vorweihnachtsabend in Barcelona seine Fehler auf. Besser ist es, auch in seinen Fehlern die Fügung Gottes zu sehen. Denn Schicksal ist auch nicht immer schön, aber man hält es aus.
Nun drehte ich mich nach rechts. Dort lagen nicht unzählige Jachten zärtlich in Familienverbünden, sondern nur ein einziges großes, weißes Schiff. Der Bug zeigte in die Richtung, in die Kolumbus weist. Er steht in Stein und übergroß vor dem Hafen und streckt seine rechte Hand dem Horizont entgegen, und darüber hinaus. In die Ferne, zu den neuen Welten. Und schon war wieder Schluss mit meiner Traurigkeit. Denn das Abenteuer funktionierte für mich nur allein. Und während ich das Abflauen der Melancholie genoss, schwoll ein Gefühl an, dass ich eigentlich ausgelebt zu haben glaubte, weil ich zu abgebrüht vom Reisen war. Aber plötzlich war es wieder da. Dieser Wunsch, an Bord zu gehen und mit dem weißen Schiff nach irgendwo zu fahren, ohne eine Rückkehr einzuplanen. Open End ist das Markenzeichen jeder wirklich großen Reise. Das Comeback des Fernwehs übermannte mich übrigens nicht, es riss mich nicht fort, es kam in keiner Sturmwelle daher, sondern zog in meine Brust so selbstverständlich wie ein neuer Atemzug ein.
Etwa 600 Atemzüge später hatte ich mein Blind Date mit dem Hotelzimmer. Die Gewissheit, auf die bereits bezahlten 35 Euro pfeifen und in ein richtiges Hotel umziehen zu können, nahm diesem Schritt den Schrecken der Endgültigkeit. Die Zimmertür aus Metall, die Wände nackt und früher mal weiß, kein Fernseher, keine Zimmerbar, und statt mit frischen Linnen bezogenen Daunen wartete eine dieser kratzigen Decken auf meinen Schlaf, von denen man nie weiß, was genau da kratzt, die Decke oder das, was darinnen lebt. Ich will es nicht kratziger schildern, als es war. Es gab noch ein sauberes Bettlaken zwischen der Decke und der ebenfalls mit einem sauberen Laken bezogenen Matratze. Wenn man sich zwischen die beiden Laken legte und sich im Schlaf auch nicht allzu viel bewegte oder gar strampelte, könnte man vielleicht ungekratzt davonkommen. Außerdem plante ich, vollständig bekleidet zu Bett zu gehen. Damit sind die schlechten Nachrichten erzählt.
Die guten machten das alles wieder wett. Die erste kennen wir bereits: Ich durfte rauchen. Die zweite: gutes Feng-Shui, aus Zufall wahrscheinlich, denn ich hatte hier keine Chinesen gesehen, was wieder einmal beweist, dass man Chinesen generell überschätzt. Hin und wieder vermittelt ein Zimmer auch ohne Konfuzius ein tadelloses Raumgefühl. Die dritte gute Nachricht betrifft den Schreibtisch. Klein, aber in der richtigen Höhe, schlicht, aber aus Holz, und er stand nicht vor dem Fenster, sondern daneben, was ziemlich wichtig für das Schreib-Feng-Shui ist. Konfuzius sagt: Wenn man beim Schreiben aus dem Fenster sieht, fliegen die Gedanken davon statt aufs Papier, und das Fenster selbst wurde dann zur besten aller guten Nachrichten. Ich sah aus dem zweiten Stock direkt auf eine der Hauptgassen des Viertels. Ich liebe diese Art Gassen, weil es alles darin gibt. Kleinhandel, Imbisse, Straßenverkäufer, Hunde Katzen, Kot und Kinder, Mönche und Mädchen, Touristen und Polizisten, Sänger, Tänzer und Gitarristen und der Blick darauf aus einem Fenster im zweiten Stock ist noch einmal eine Dimension voyeuristischer, als es sich aus einem Kaffeehaus heraus anzusehen. Wozu brauche ich Fernsehen, wenn Nahsehen besser ist? Wozu brauche ich hier Internet? Die Gassen des World Wide Web sind, verglichen mit diesen, ein langweiliger Dreck. Außerdem macht das Internet das Reisen kaputt. Du kommunizierst nicht mehr mit der Welt, in der du bist, sondern mit deinem Alltagsmist. Da brauchst du gar nicht erst loszufahren. Online ist offline on the road.
So hing ich noch etwa zwei Stunden aus dem Fenster und sah dem gassenansässigen Dealer interessiert bei der Arbeit zu, bevor ich mir vornahm, ab sofort das Internet während des Reisens zu meiden, und dann nahm ich mir noch vor, es ab sofort auch während der Arbeit an einem Buch zu ignorieren, und schließlich wurde mir das Wichtigste klar: In diesem Zimmer kannst du schreiben. Nach den Brüsten der Mulattin und dem Atem des Hafens war es das dritte Geschenk an nur einem Abend.
Aber wer schenkte sie mir? Barcelona? Das glaube ich nicht. Eine Stadt ist nur der Tisch, nicht die Gaben. Der liebe Gott? Sicher, aber an den glaube ich auch nicht. Beschenkte ich mich selbst? Weil ich genau hinsah, keine Eile hatte und in Geberlaune war? Bin ich meiner eigenen Geschenke Schmied? Das war die letzte Frage vor dem Einschlafen in meinem halb koscheren Bett.
Der Morgen brachte Ferdinand zurück. Er stand in der Tür und fand mein Zimmer genauso inspirierend wie ich. Er ist halt auch ein Schreiber, aber ein größerer als ich, denn er scheiterte spektakulär. Beim Frühstück im »Cafè de l’Òpera« erzählte er es mir. Ferdinand hatte bis zu seinem 17. Lebensjahr alles getan, was man tun muss, um ein Schriftsteller zu werden. Camus gelesen, Sartre, Kafka, und natürlich auch Baudelaire, Voltaire und die Russen, und danach begab er sich an einen einsamen Strand in der Bretagne und suchte nach dem ersten Satz.
»Als ich ihn nach drei Monaten noch nicht gefunden hatte, gab ich es für immer auf«, sagte Ferdinand und lächelte schwach.
»Na ja, was heißt für immer? Korrekt wäre es, wenn du sagst, dass du es bis jetzt aufgegeben hast. Vielleicht fängst du ja morgen wieder an.«
»Das wäre dann etwa 60 Jahre später.«
»Gut Satz will Weile haben, Ferdinand.«
Das »Cafè de l’Òpera« ist das schönste und wahrscheinlich auch älteste Café an der Rambla. Das Interieur, die Atmosphäre und die lässige Professionalität der Ober kommen dem Wiener Kaffeehaus sehr nahe. Aber man darf nicht rauchen. Wir setzten deshalb vor der Tür unser Gespräch fort. Auch ich hatte mit 17 so ziemlich alles aus dem Clan der Existenzialisten gelesen, aber nicht, weil es mich interessierte, sondern weil es Mode war. Ich saß mit den richtigen Büchern in den richtigen Lokalen und hoffte, dass es jemand bemerkte. Weil Ferdinand so höflich ist, versuchte er, die Missbilligung meines Leseverhaltens in seinem Blick zu verschleiern, aber es gelang ihm nicht zu 100 Prozent, der Schleier verriet ihn.
»Nur ein Buch hatte mich wirklich gepackt«, sagte ich, um nicht ganz wie ein Depp dazustehen. »›Das Spiel ist aus‹ von Sartre. Kennst du es?«
Nein, das kannte er nicht.
Es war Zeit für eine zweite Zigarette. Bis zur dritten erzählte ich ihm die Kurzfassung der Geschichte. Ein Revolutionär wurde erschossen. Er musste daraufhin zum Amt für Tote, um sich aus dem Leben ausstempeln zu lassen. Danach ging er zur Hintertür hinaus und trat auf eine Straße, die fast so aussah wie seine Straßen vorher. Meinetwegen wie La Rambla. Aber keine Menschen flanierten auf ihr. Nur noch Geister, nur noch Schatten, nur noch traurige Erinnerungen von irgendwem bewegten sich auf der Chaussee der Toten sinn- und ziellos hin und her. Wenig später lernte der tote Revolutionär eine tote Schönheit kennen, und beide fanden schnell heraus, dass sie füreinander geschaffen gewesen wären. Sie war die Frau seines Lebens, die er aber lebend nie getroffen hatte. Da war offensichtlich etwas schiefgelaufen, und das konnte nur ein Versehen sein. Für solche Fälle gab es im Amt der Toten ein Reklamationsbüro. Sie suchten es auf, beschwerten sich und bekamen recht. Beide durften wieder zur Vordertür hinaus und noch mal leben. Sie liebten sich, wenn ich mich recht erinnere, nur einen Tag und einen Abend lang, dann klingelte das Telefon, und ein Revolutionskumpel rief zu einer Demonstration. Die Frau versuchte mit all den Mitteln, die einer Frau zur Verfügung stehen, ihren Geliebten daran zu hindern, aber er bestand darauf, dass ein Mann tun muss, was ein Mann tun muss, und wurde auf der Demonstration ein zweites Mal erschossen.
»Ach«, sagte Ferdinand, »ich kenne das Buch doch. Ich habe es auf Französisch gelesen. Da hat es einen anderen Titel: ›Les jeux sont faits‹, ›Die Würfel sind gefallen‹. – Aber ich glaube, du musst langsam los, wenn du dein Flugzeug nicht verpassen willst.«
Um ehrlich zu sein, jetzt hätte ich es gern verpasst. Wir standen schon eine ganze Weile vor dem »Cafè de l’Òpera«, und ich hätte das auch noch eine ganze Weile länger gekonnt, denn einfach nur so herumzustehen, mit der Wintersonne im Gesicht, dem vollen La Rambla- Programm im Blick und einem knallblauen Himmel obendrüber, ist das Ziel jeder Reise, denn es bedeutet, dass man angekommen ist. Ich machte mich dann trotzdem auf den Weg, weil es eigentlich egal ist, ob man bleibt oder weiterzieht, solange man es genießt, auf den Straßen der Lebenden zu gehen.
Wiedersehen mit Khalil el Maula II
Beirut
Das Einzige, was uns möglicherweise in Beirut zum Glück fehlt, ist die Musik von Rory Gallagher. Im alten Benz durch zerschossene Häuserschluchten rollen, mit diesem wunderbaren Mittelmeerlicht, das über die Wunden fließt, und dazu harter irischer Rock’n’Roll. Die Stadt sieht zwei Jahre nach Beendigung des libanesischen Bürgerkriegs aus, als wären Feuersbrünste, Stahlgewitter und alle Reiter der Apokalypse über sie hergefallen. Mit einer Einschränkung. Kein Krieg aus der Luft. Kein Bombenteppich, der alles plattmacht. Die Bausubstanz steht noch, das Rückgrat der Stadt ist nicht gebrochen, es erstaunt den Laien immer wieder, wie viel Zement zu ertragen fähig ist.
Es dauert natürlich eine Weile, bis man das romantisch findet.
Soll ich von den weggefetzten Fassaden berichten, den Wohnungen ohne Außenhaut, mit freiem Blick auf Küche, Klo und Kinderzimmer? Soll ich von den Einschusslöchern erzählen? Was sagt man von den Sternen am Himmel? Unzählige sind es. Und es wäre ein Telefonat nach Hollywood wert. Ridley Scott würde weinen in Beirut und »Blade Runner« noch mal drehen. Real existierende Science-Fiction vom Ende der Zivilisation. Einfach die Kamera drauf und Harrison Ford von der Leine lassen. Oder Bruce Willis oder Sly Stallone. Und dazu, wie gesagt, Heavy Blues. Ich liebe den Film jetzt schon. Ich mag Beirut im Jahr des Herrn 1992. Frag mich keiner, warum.
Normalerweise würde ich sagen, ich will in der Ferne entweder einen schönen Strand oder schöne Kaffeehäuser. Aber hier ist grad nichts normal. Einmal ging ich mit Badehose an den Strand und fragte den nächstbesten deutschsprachigen Palästinenser, wie sie es mit den Abwässern der verbliebenen 500.000 Einwohner halten würden. »No problem«, sagte er. »Wenn der Wind von Süden kommt, gehen wir möglichst weit links in der Bucht baden, kommt er von Norden, bleiben wir rechts.«
Und die Kaffeehäuser? Man stellt Tische, Stühle und Sonnenschirme zwischen den Ruinen, Sandsackburgen und verbliebenen Maschinengewehrstellungen auf, die Espressomaschinen blubbern in den Kofferräumen alter VW-Bullis, der Tee ist zu süß, die Cola zu warm, und die Luft, die wir atmen, ist so kaputt wie die Auspufftöpfe, aus denen sie zu kommen scheint. Zwei Jahre nach Beendigung des Bürgerkriegs steigt der libanesische Phönix aus der Asche auf, und das Erste, woanach er schreit, sind alte Autos aus Deutschland. Weil sie Hitler und Mercedes lieben. Fragt man bei uns im Gebrauchtwagenmilieu herum, kann man schnell erfahren, dass einige Benz-Baureihen fast völlig vom libanesischen Markt aufgesaugt sind. Der Strich-Achter, die 123er-Serie, geniales deutsches Ingenieurwesen. Wie Baukästen konstruiert. Jedes Teil problemlos auswechselbar. Und genau das tun sie. Kaufen unsere Schrottplätze leer, zerlegen die Karren in 1000 und 1 Wiederverwertbarkeit und schiffen die übers Mittelmeer.
Die andere Triebkraft des nach vorne peitschenden libanesischen Bruttosozialprodukts ist der Sextourismus. Beirut wurde vor dem Bürgerkrieg gern und auch euphorisch das Paris des Ostens genannt. Prachtvolle Universitäten, Casinos, Kabaretts, Peter Scholl-Latour hatte hier studiert. Muss man noch mehr sagen? Jetzt machen sie ihr Paris wieder auf, aber es sieht so aus, als würde Bangkok daraus. Die Miezen-Oase schlechthin, für alle, die in der Wüste leben. Für alle Saudis, Kuwaitis, Bahrainis und Emiratis, die übers Wochenende mal ganz schnell um die Ecken gehen müssen. Das hat natürlich auch grobe Nachteile.
Da kommt man in ein Nachtlokal und findet eine halbe Hundertschaft richtig schöner Frauen, richtig schön angezogen, mit alpinen Dekolletés und weißblonden Haaren. Aha, denke ich, sie haben ihre Huren eingefärbt, das steht den Libanesinnen gar nicht schlecht. Und dann harrt eine ganze Reihe Überraschungen meiner. Zunächst die Tischsitten. Es ist nicht erlaubt, die Damen zu grüßen, es sei denn, man spendiert ihnen ein Getränk. Und den Damen ist es nicht erlaubt, etwas anderes zu trinken als Champagner, flaschenweise, für 120 US-Dollar Als Nächstes fällt auf, dass es sich weder um Champagner noch um Damen handelt, sondern um Sekt und schwarze Löcher. Das macht 240 USD für ein 10-Minuten-Gespräch.
Sie heißt Helena, und sie kommt aus Bukarest. Und ihre Freundin heißt Dana und kommt auch aus Bukarest. Die Freundin am Nachbartisch heißt Susan, die stammt aus Sofia, die daneben nennt sich Lili, und sie ist in Belgrad zu Haus. Rumäninnen, Bulgarinnen, Serbinnen, das ist die eine Hälfte des Ladens, die anderen sprechen russisch. O wie schlau, aus Deutschland holen sie sich die Autos, aus Osteuropa die Frauen, aber die nicht in Einzelteile zerlegt. Ich glaube, ich weiß jetzt, was mir an den Libanesen so gefällt. Ihr Humor. Den Club mit den durchgehend weißblonden Mädchen nennen sie »White Horse«, der Laden mit den rüdesten Preisen heißt »Dr. Dollar«, und im »Heaven & Hell« ist das Koks-Klo. Jeder Taxifahrer bietet Kokain an. In jeder Menge und bester Qualität, zu 50 USD das Gramm. Und die Toilettenfrau klopft dreimal an der Tür, wenn die Polizei erscheint, und will nur fünf Dollar Trinkgeld dafür.
Das Volk, das wir seit 1926 Libanesen nennen, galt schon im Altertum als besonders gerissen. Damals hießen sie Phönizier. Danach rollten zahlreiche inspirierende Eroberungen und Einwanderungswellen über sie hinweg. Die Armenier, Hebräer, Kurden und Ägypter, die Griechen und die Türken, volles Rohr die Araber sowie, ziemlich spät, die Franzosen. Libanesen sind deshalb vielsprachig, geschäftstüchtig, lebenslustig, tolerant und gefährlich im Straßenverkehr. Einem BMW-Fahrer wurde neulich auf der Hauptgeschäftsstraße Beiruts von einem 500er Mercedes die Vorfahrt genommen. Sofort sprang der Entrechtete aus seinem Wagen, riss die MP hoch und durchlöcherte mit drei, vier kurzen Feuerstößen den Benz.
Libanesische Manieren, herübergerettet aus dem Bürgerkrieg. Fünfzehneinhalb Jahre lang haben zwei christliche und drei moslemische paramilitärische Milizen aufeinander eingedroschen, dazu die 8000 Krieger des Drusenfürsten Walid Dschumblat, die PLO mit Arafat, die PLO contra Arafat, diverse Privatarmeen, die Israelis, die Syrer, und aus Teheran kam jener Musa as-Sadr mit 300 Mann, der zunächst im Libanon die schiitische Amal-Miliz (Amal heißt Hoffnung) ins Leben rief und dann in Libyen spurlos verschwand. Weil er, wie man sich in Beirut erzählte, Gadaffi beim Kartenspiel betrogen hat.
Wer nun als Erster den Apfel der Zwietracht in die bis dahin friedlich multikonfessionelle Gesellschaft gerollt hat, wissen sie selber nicht mehr. Legenden entstehen. Ein libanesischer Arzt wollte mir im Ernst erzählen, die Palästinenser hätten zuerst ein paar Moslems umgebracht und den Leichen Kreuze auf die Brust geschnitten, was die Moslems zur Raserei gebracht habe. Dann hätten die Palästinenser ein paar Christen kastriert, das habe die Maroniten, die Griechisch-Orthodoxen, die Jakobiten und die Katholiken aufgebracht, der Drusenfürst sei die Berge runtergekommen, weil die PLO das Gerücht verbreitet habe, er werde in Offizierskreisen der libanesischen Armee als Tunte verlacht, und zwischen den islamischen Großsekten der Schiiten und Sunniten Unfrieden zu stiften sei nun wirklich für niemanden ein Problem.
Über 15 Jahre war also in Beirut der Teufel zu Haus, dann kamen die Syrer mit 20.000 Soldaten und 800 Panzern und trieben ihn aus. Entwaffneten, wer sich ergab, erschossen den Rest. Und jetzt verstehen sich plötzlich wieder alle. Bummeln am Wasser zum Sonnenuntergang, Palmen flüstern, Mädchen kichern, Kinder wollen Schokoladeneis. Und hin und wieder machte es BUMM, und dann wackeln die Häuser. Das sind die Israelis. Die machen 50 Kilometer südlich von Beirut gerade 72 libanesische Dörfer platt. Doch als es dann noch mal BUMM macht, wackelt nur die Tür, und wir hoffen schwer, dass nicht der Drogenbaron in Pension vor der Tür steht, den wir gestern im Beeka-Tal kennengelernt und dem wir vom »White Horse« erzählt haben. Sein Name war Khalil el Maula. Die Hoffnung trügt. Er ist es, mit einer Flasche Whiskey und einer Flasche Wodka als Gastgeschenk. Er will mehr oder weniger sofort zu den weißblonden Huren und außerdem noch mal vernünftig mit uns reden.
Der Zufall hatte uns im Beeka-Tal zusammengeführt, aber Khalil el Maula glaubte nicht an Zufälle. Er glaubte, wir wollten im großen Stil Drogen kaufen, wie das im Beeka-Tal üblich ist, und er wollte raus aus dem Ruhestand, sonst würde er, wie er sagte, seinen Bauch nie loswerden. Ich wiederum hielt es nicht für angebracht, ihm zu gestehen, dass ich ein Journalist bin, denn ein bewaffneter Hisbollah-Mann saß mit zu Tisch in Khalil el Maulas Haus. Der glaubte auch nicht an Zufälle. Wir kamen mit einer Halbwahrheit aus der Klemme raus. Ich sagte, mein Freund Pit und ich seien Investoren-Scouts, die sich für deutsche Geschäftsleute im neu erwachten Nachtleben von Beirut umgeschaut hätten und nach getaner Arbeit nun ein bisschen mit dem Taxi durch die Berge gondelten. Außerdem seien wir Kiffer und wollten kiffen, und der Taxifahrer habe gemeint, dass er in der Nähe jemanden kenne, der genauso viel kiffe wie wir. So seien wir in sein Haus gekommen, dem größten in diesem Hisbollah-Dorf. Alles ziemlich irre, und obwohl der Kiffer-Teil meiner Erzählung stimmte, glaubte er das am wenigsten, und das andere glaubte er auch nicht, aber es schien ihn auch nicht mehr zu interessieren. Khalil el Maula wollte nur noch von den Frauen im »White Horse« hören. Ob sie wirklich alle blond seien. Nachdem ich das bestätigt hatte, verabredete er mit uns einen zeitnahen gemeinsamen Besuch des Lokals.
Wir fanden das schon gestern keine gute Idee. Und heute finden wir sie kein Stück besser. Er ist also tatsächlich die Berge runtergekommen und sitzt jetzt auf unserem Balkon im »Carlton«. Das Hotel steht direkt am Strand von Beirut und war mal sehr teuer, aber augenblicklich geben sie Rabatt, weil fünf Stockwerke noch zerschossen sind, nur eins ist renoviert. Und Khalil el Maula fängt nach dem ersten Schluck Whiskey natürlich sofort wieder damit an.
»Also, was nun? Heroin oder Kokain? Und wie viel? 10 Kilo, 100, eine Tonne? No problem. Wie ich schon sagte, wir bringen es bis Warschau. Da übernehmt ihr.«
»Khalil, zum letzten Mal, wir wollen und werden nicht den Krieg der Hisbollah gegen Israel mitfinanzieren. Wir sind keine Großdealer. Wir sind nicht mal kleine.«
»No problem, ich mache nur Spaß. Ich bin ja nur wegen den Blondinen hier. Ich habe so lange keine mehr gesehen.«
»Das sind keine echten Blondinen, Khalil.«
»No problem.«
»Und auch nicht immer echte Titten.«
»No problem.«
Er hat ja recht, das sind alles keine Probleme. Deshalb verlassen wir wenig später angetrunken und angekifft das Hotel und fahren mit seinem Beulen-Toyota auf der Stadtautobahn zu der Vorstadt, in der alle Nachtclubs sind. Sie heißt Jounieh, und als wir am »White Horse« angekommen sind, fangen, wie ich vermutet hatte, sofort die echten Probleme an. Jounieh ist eine Hochburg der Christen, die Türsteher des Clubs sind vor nicht langer Zeit christliche Milizen gewesen, und Khalil el Maula kommt aus dem Beeka-Tal, der Hochburg der Hisbollah. Todfeinde während des Bürgerkriegs, so sieht man sich wieder, und weil die christlichen Türsteher bewaffnet und in der Überzahl sind, sollte man da als Moslem eher die Klappe halten. Khalil el Maula reißt sie aber auf, als stünde eine Armee hinter ihm. Doch da sind nur Pit und ich. Was heißt »nur«. Ich kläre mit Bakschisch die Missverständnisse, und wir sind drin.
Da geht’s gleich weiter. Die Preise, die Sitten, die Champagner-Löcher. Khalil kann nicht glauben, dass die Mädchen so schnell trinken, er glaubt vielmehr, der Barkeeper leere die Flaschen aus, während er selbst an seiner Blondine klebt. Möglich wäre es. Die Flasche steht nicht bei Khalil auf der Theke, sondern dahinter, und der Keeper schenkt auf Verlangen nach. Ich bitte Khalil, sich zu beruhigen, denn ich werde die Rechnung übernehmen, aber das regt ihn nur noch mehr auf. Er ist ein Mann von Ehre, er lässt nicht zu, dass seine Freunde von Christen betrogen werden. Mir ist das komplett egal, der »Spiegel« muss die Party bezahlen. »Es geht sowieso auf Spesen, Khalil«, sage ich, aber jetzt wird’s eine Frage des Prinzips. Wie wir das sähen, sei unsere Sache, aber Khalil el Maula lässt sich nicht von Christen verarschen.
Schlechte Nachricht: Wir werden rausgeworfen. Gute Nachricht: aber nicht erschossen. Flüche, Beschimpfungen und Massaker-Ankündigungen werden hin und her geworfen, bevor wir Khalil endlich wieder in seinem Schrott-Japaner haben und zurück gen Zentrum brausen.