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BonnTastik V. Texte zu Bildern - Bilder zu Texten ist die Anthologie zur Fortsetzung des gemeinsamen Projekts des Künstlers Martin Welzel mit Autorinnen und Autoren der BVjA Regionalgruppe Bonn. Die Autorinnen und Autoren lassen sich von den Werken des Malers für phantastische Kunst zu Geschichten und Gedichten inspirieren und umgekehrt. Mit Illustrationen von Martin Welzel und Texten von Erika Altenburg, Marita Bagdahn, Tatjana Flade, Heike Klein, Carsten Kubicki, Diandra Linnemann, Vera Menzel, Mina Mitsuoka, Iris Sander, MC Schulz, Dana Schuster und Lea Waldsee.
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Seitenzahl: 153
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Die Eier des letzten Drachen
Vorwort I – BonnTastik, die Fünfte
Grünfuß
Vorwort II – Die Emanzipation der Träume
Der ewige Stau
Tatjana Flade:
Der ewige Stau
Transformation I
Lea Waldsee:
Polizeimeisterin Samantha Kabore und das Geheimnis um die größte Blüte der Welt
Transformation II
MC Schulz:
Transformation
Heavy Bird light
Marita Bagdahn:
Herrscher der Lüfte
Drachenland
Vera Menzel:
Der sprechende Felsen
Der Weg in den Nördlichen Wald
Iris Sander:
Der grüne Kobold
Wohin
Carsten Kubicki:
Unbekannt verzogen
Das Ende von Staub und Wasser
Heike Klein:
Das Ende von Staub und Wasser
UnterWasser
Erika Altenburg:
Medusa
Meditation
Mina Mitsuoka:
Prinzessin Hydrangea
Peas on Earth
Dana Schuster:
Das Portal
Xmas Robot
Tatjana Flade:
Weihnachtsgeschichte
Phyto-Kosmos
Vera Menzel:
Steine und die gelbe Blume
Berge des Wahnsinns
Heike Klein:
Berge des Wahnsinns
Ulmo
MC Schulz:
Ulmo
Das Tal
Vera Menzel:
König Abend
Die Reise in das Land hinter der Zeit
Tatjana Flade:
Im Schatten der Zeit
Der irre Prediger und der Wolf
Diandra Linnemann:
Bald
Nicht bang
Iris Sander:
Der Anruf
Künstler- und Autorenvitas
Es ist wieder soweit: Wir freuen uns, die neueste BonnTastik zu präsentieren. Es ist bereits die fünfte seit 2018, also feiern wir in diesem Jahr ein kleines Jubiläum. Die Autorinnen und der Autor der Bonner Regionalgruppe des Bundesverbandes junger Autoren und Autorinnen e.V. haben sich wieder von den einmaligen Bildern von Martin Welzel zu ganz unterschiedlichen Geschichten und Gedichten inspirieren lassen. Es wird nachdenklich, witzig, unheimlich, spannend, phantasievoll und in jedem Fall bonntastisch. Gemeinsam haben wir das Motto der BonnTastik „Texte zu Bildern – Bilder zu Texten“ mit viel Spaß an der Sache umgesetzt.
Besonders schön ist es, dass sich uns immer wieder neue Autorinnen und Autoren anschließen oder auch nach einer Pause wieder zurückkommen. Wir haben diesmal zwölf BonnTastikerinnen und Bonn-Tastiker auf der schreibenden Seite versammelt und begrüßen insbesondere Iris Sander und Carsten Kubicki, die erstmals dabei sind.
Heike Klein und ich wirken von Anfang an ohne Unterbrechung bei der BonnTastik mit. Erika Altenburg, Marita Bagdahn, Diandra Linnemann, Vera Menzel, Mina Mitsuoka, Dana Schuster, MC Schulz und Lea Waldsee beteiligen sich zum wiederholten Male. Wir danken Martin Welzel für die stets neuen Inspirationen, die er uns mit seinen im wahrsten Sinne des Wortes phantastischen Bildern schenkt, sowie unserem Layouter Joachim Speidel und Marcel Schmutzler, der diesmal keine Geschichte beigesteuert hat, uns dafür aber beim Korrektorat unterstützt.
Das Leseabenteuer beginnt auf den nächsten Seiten und wir wünschen viel Freude mit der BonnTastik V.
Für die Autorinnen und Autoren
Tatjana Flade
Regionalgruppenleitung & BVjA Geschäftsführung
Ich freue mich sehr, dass es eine weitere Ausgabe der BonnTastik-Reihe gibt und ich auch in diesem Jahr Gelegenheit habe, einige begleitende Gedanken dazu zu formulieren.
Unser Thema ist die Phantasie und wir machen daraus Bilder und Texte, die wir hier in Wechselwirkung miteinander treten lassen. Von daher ist es sicher sinnvoll, das Thema Phantasie einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Nicht selten muss sich der in diesem Bereich als Künstler und Autor Tätige den Vorwurf gefallen lassen, eskapistische Neigungen zu bedienen und auch der Leser der phantastischen Literatur gerät leicht in den Ruf, vor der Realität entfliehen zu wollen. Aber ist die Phantasie wirklich Realitätsflucht? Nur eine Scheinwelt?
Erst einmal: Jede Art von Fiktion, z. B. im klassischen Roman, ist pure Erfindung, das macht die Sache ja auch erst so richtig interessant. Und es ist unbestreitbar für viele von uns ein Hochgenuss, in diese mehr oder weniger erfundenen Welten abzutauchen und dort ein wenig Urlaub zu machen. Auch ich gehöre zu dieser Spezies.
Die Worte und Bilder unserer Kunst bilden darüber hinaus die Brücke in unsere Innenwelt und die ist mitnichten Fiktion oder Scheinwelt. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Erweiterung der Realität. Von diesem Standpunkt aus ist unsere Alltagserfahrung nur die Spitze des Eisbergs und ein nicht unwesentlicher Teil des Lebens spielt sich auf tieferen Ebenen ab.
Wie wäre es denn, wenn wir uns der Wirklichkeit in seiner Gesamtheit stellen würden? Jeder Mensch trägt unendliche Größe in sich, warum sollen wir uns auf die Kleinheit der vorgegebenen Konventionen beschränken? So gesehen bedeutet die Phantasie Freiheit und nicht Flucht.
Also: Habt Mut zum Phantasieren und genießt die Emanzipation der Träume.
Martin Welzel
Er hasste seinen Job. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in den Augen. Unwillig wischte er sich mit der Hand über die Stirn und die Wange. Diese Arbeit war schlimm genug, selbst ohne diese verdammte Hitze. Das Rattern des Presslufthammers dröhnte in seinem Kopf und sein ganzer Körper vibrierte. Es stank nach Abgasen. Links und rechts standen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Manchmal bewegten sie sich ein paar Zentimeter, dann standen sie wieder. Bei laufendem Motor, sonst würde ja die Klimaanlage nicht mehr funktionieren. Er warf einen bösen Blick in das Innere des nächsten Autos. Ein dunkler Geländewagen, massig, teuer. Da hockte ein alter Mann mit verbissenem Gesichtsausdruck, das Lenkrad hielt er fest umklammert. Brauchst dich nicht zu stressen, Alter, dachte der Arbeiter mit einem gehässigen Grinsen. Du wirst noch früh genug ans Ziel kommen.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Die Fahrbahn musste erneuert werden, damit der Verkehr rollen konnte. Die Chefs legten größten Wert auf Qualität. Aber bei dieser starken Belastung litt der Asphalt und die Arbeit nahm kein Ende. Waren sie an einer Stelle fertig, tauchten an einer anderen neue Schlaglöcher und Furchen oder Risse auf. Der Highway war eine ewige Baustelle. Der Straßenbauer machte weiter. Die Meißelspitze bohrte sich erbarmungslos in den schwarz-grauen Asphalt, Staub und Splitter flogen durch die Luft. Er musste husten. Er hob den Blick und sah über die Schlange der Autos hinweg, die sich endlos hinzog, bis sie mit dem Horizont verschmolz. SUVs und Kleinwagen, Luxuskarossen und schäbige Altautos – im Stau waren sie alle gleich. Sein Blick fiel auf einen gelben Sportwagen, darin saß eine junge Frau. Wieso sie wohl hier stand, fragte er sich, aber normalerweise machte er sich keine Gedanken um die Menschen in den Autos. Um die kümmerten sich andere, er war für die geschundene Straße zuständig. Und die musste hergerichtet werden, damit die Leute schneller und bequemer ans Ziel kamen. Das bläuten ihnen die Chefs ständig ein, fast schon mit der Intensität des Presslufthammers. Die Menschen im Stau konnten ihm egal sein. Jeder hatte seinen Grund, weshalb er hier war. Sein Mitleid mit ihnen hielt sich daher in Grenzen.
Trotzdem. Manchmal fiel ihm jemand in der Masse der Leute auf und er würde gerne mehr wissen. Er hatte ein weiteres Stück der alten Asphaltdecke aufgebrochen und trat beiseite. Der Kollege mit dem Bagger rollte heran, um die Brocken zu beseitigen. Weiter hinten trugen sie den Asphalt auf. Die schwarze, heiße Masse quoll auf die Straße und die Walze presste sie glatt. Der Geruch von Bitumen schwängerte die Luft. Die Menschen in den Autos hatten keinen Blick für die Maschinen und die Arbeiter, sondern starrten nach vorn, als ob sie mit ihrer Gedankenkraft den Verkehr wieder ins Rollen bringen könnten. Da war wieder der Alte in seinem Geländewagen, weit war er nicht gekommen. Der Straßenbauer zog mit seinem Presslufthammer weiter. Die Hitze ließ nicht nach, sie wurde immer unerbittlicher. Er war sie gewohnt und dennoch lief der Schweiß in Strömen. Hoffentlich kam er bald an einer anderen Stelle des Highways zum Einsatz, weiter vorn, wo es nicht so heiß war. Und er wartete auf seine Pause. Die Baustelle war rund um die Uhr in Betrieb und trotzdem dauerte es ewig. Wenigstens konnte bald wieder ein Streckenabschnitt frei gegeben werden, dachte der Arbeiter zufrieden, während er die Asphaltwalze beobachtete. Sein Blick blieb wieder an dem kleinen gelben Auto hängen und an der jungen Frau darin, die etwas verwirrt und verloren aus dem Fenster schaute. Sie sah anders als die anderen nicht nur stur nach vorn. Fast hätte sich doch etwas Mitleid in ihm geregt, aber nur fast. Der dumpfe Klang des Horns riss ihn aus seinen Gedanken und war Musik in den Ohren des Straßenbauers. Mittagspause.
Er marschierte zu den Kollegen und packte wie sie seine Stullen aus. Schmatzend saßen sie auf ein paar Steinen zusammen, viel geredet wurde nicht.
„Wann wird der Teil hier fertig?“
„Morgen Abend.“
„Wo geht’s dann hin?“
„Abwarten. Wir fangen irgendwo wieder von vorn an, wenn wir hier durch sind.“
Der Highway war lang. Zu lang und zu stark befahren.
„Habt ihr auch das Gefühl, dass es immer schlimmer wird mit dem Verkehr hier?“, fragte der Straßenbauer und biss in sein Brot.
Die anderen nickten zustimmend. Ein heißer Wind fegte über die Baustelle und wirbelte Staub auf. Die Autoschlange verschwand kurzzeitig hinter einem Vorhang aus Dreck.
„Vierundzwanzig und achtundsiebzig, herkommen“, befahl der Vorarbeiter. Er stand ein paar Meter entfernt an der Walze.
Vierundzwanzig schluckte seinen letzten Bissen herunter und sprang auf. Achtundsiebzig folgte ihm.
„Der Wegweiser an der Auffahrt auf unseren Highway ist mal wieder beschädigt worden“, informierte der Vorgesetzte sie. „Fahrt hin und richtet das.“
Straßenbauer Vierundzwanzig rieb sich heimlich die Hände. Seine Hoffnung auf einen anderen Einsatzort war schneller als gedacht wahr geworden, selbst wenn es nur für ein paar Stunden war. Sie schwangen sich auf ihr Baustellenfahrzeug und fuhren los, vorbei an der Blechlawine in die andere Richtung, in der alles frei war.
Es war fast dunkel, als sie ankamen. Hier herrschte kein Stau, aber ein stetiger Strom an Autos floss zielstrebig an ihnen vorbei in die Richtung ihrer Baustelle. Die Arbeiter kamen an die Auffahrt und stellten ihr Fahrzeug auf dem Standstreifen ab. Es war angenehm kühl, die Luft frisch und sauber. Vierundzwanzig sah sich um. In der Tat, der Wegweiser war umgeknickt und verbeult, als hätte ihn jemand mehrmals mit Absicht gerammt. Wahrscheinlich war genau das passiert. Immer wieder dieser Vandalismus. Kopfschüttelnd stieg er aus. Achtundsiebzig griff sich die Werkzeugkiste. Sie nahmen das Schild ab und hämmerten es wieder gerade. Beim nächsten Mal müssen wir wohl das komplette Ding ersetzen, dachte der Straßenbauer flüchtig. Sie richteten den Pfosten wieder auf und befestigten ihren Wegweiser daran. Sie nahmen sich Zeit. Keiner von ihnen hatte es sehr eilig, wieder auf die Baustelle zurückzukehren, auch wenn ihre Schicht jetzt eigentlich zu Ende war. Einige der Autofahrer glotzten die Arbeiter im Vorbeifahren an.
„Jetzt gibt es hier gleich noch einen Gafferstau“, bemerkte der Kollege und fletschte die Zähne beim Lachen.
„Wir sind gleich fertig. Die stehen noch früh genug in aller Ewigkeit im Stau, aber das wissen sie noch nicht“, antwortete Vierundzwanzig.
Er trat ein paar Schritte zurück, um den Wegweiser besser sehen zu können. Der Scheinwerfer ihres Fahrzeugs fiel auf die reflektierende Oberfläche.
Highway to Hell.
Vierundzwanzig nickte zufrieden und rieb sich die kleinen Hörner auf der Stirn.
„Lass uns zurückfahren.“
Trotz des Sonnenscheins und strahlend blauen Himmels an diesem Junimorgen fröstelte es Samantha Kabore, als sie auf ihrem Rad über den Rheindeich von Niederkassel Richtung Mondorf fuhr. Sie wollte in die Bonner Innenstadt zum Einkaufen. Es war neun Uhr und kaum zehn Grad, brrr. Samantha ließ den Blick schweifen. Wow, war der Rhein hoch, es war ein nasser Frühling gewesen. Klar tat die Feuchtigkeit der Vegetation nach den trockenen Jahren immer noch gut, aber ein paar schöne Tage, die auch ein bisschen mehr Wärme brachten, ließ sie sich schon gefallen. Als sie an der Brücke zum Rheidter Werth vorbei radelte, traute sie ihren Augen kaum, denn diese war verschwunden. Versunken sozusagen, man konnte das weiße Brückengeländer unter den Wassermassen nur erahnen.
Samantha hielt kurz an und betrachtete vom Deich aus das Hochwasser, während die Vögel in dem Wäldchen auf dem Werth, das sich nun aus den Rheinfluten zu erheben schien, ein fröhliches Spektakel veranstalteten. Nachdem sie einige Schlucke Kaffee aus ihrer to go Tasse getrunken hatte, stieg sie wieder aufs Fahrrad. Was war das für ein absonderlicher Abend gestern. Sie war mit einer Freundin aus Niederkassel im Staatenhaus in Köln in der Zauberflöte gewesen und hatte dann bei ihr übernachtet. Samantha liebte die Zauberflöte, seit sie ein Kind war und besuchte eine Aufführung wann und wo es ihr nur möglich war. Ja, auch gestern Abend war Mozarts Musik phantastisch, aber musste man in einer Stadt, die sich gerne als Weltstadt präsentieren würde, Pamina unbedingt in ein rosa Prinzessinnenkleidchen stecken? Hatte Köln es nötig, so barbiehafte Klischees zu erfüllen? Na ja, offensichtlich. Während sie Slalom um Jogger, Spaziergänger und Hunde in jeder Größe fuhr, umrundete sie die Lux Werft und radelte weiter durch das Naherholungsgebiet Richtung Fähranleger, wo sie mit der Mondorfer Fähre übersetzen wollte. Als sie den Fähranleger fast erreicht hatte, sprang sie mit einem wütenden, „Samantha, wie kann man nur so blöd sein“, vom Rad. Natürlich hatte die Fähre bei diesem Hochwasser ihren Betrieb längst eingestellt und die rotweiße Schranke verschloss die Zufahrt zum Anleger. Also blieb ihr nur der weitere und ungeliebte Weg entlang der L269 und dann über die Nordbrücke, mit ihren unzähligen rasenden Fahrzeugen.
„Tschuldigung, gehört der kleine Junge zu ihnen?“ Samantha fuhr herum und konnte gerade noch verhindern, dass ein quirliger Husky sie und ihr Rad mit seiner Leine zu Fall brachte. Ganz offensichtlich hatte das Herrchen des Huskys, ein zierlicher älterer Mann, kaum eine Chance, das kräftige Energiebündel in Schach zu halten. „Dort drüben“, sagte der Mann und wies auf einen vielleicht achtjährigen Jungen im weißen Karateanzug mit schwarzem Gürtel, der auf einem Einrad balancierte, während er wild in ihre Richtung gestikulierte.
„Nein“, sagte Samantha und brachte ihr Rad und sich rasch aus der Gefahrenzone der Husky-Leine, dann schaute sie genauer hin und rief: „Robin, Robin Liebeskind bist du das?“
Der Junge auf dem Einrad machte eine übertrieben tiefe Verbeugung, ohne im Geringsten aus dem Gleichgewicht zu geraten. Langsam ging Samantha auf ihn zu, und je näher sie kam, umso weniger traute sie ihren Augen. Das Einrad, war das wirklich ein Einrad oder doch etwas ganz Anderes? Nein, sie blinzelte, sowas gab es doch nicht; falsch, korrigierte sich Samantha, in ihrer Welt gab es sowas durchaus.
Samantha war zwar Polizeimeisterin bei der Hundertschaft der Bundespolizei in Sankt Augustin, allerdings war sie dort in der EBMA genannten Einheit, die für Ermittlung und Bevölkerungsschutz bei magisch und/oder mystischen Verbrechen und/oder Bedrohungslagen zuständig war, denn Samantha hatte magische Fähigkeiten. Sie war eine Werwölfin, oder wie es neuerdings korrekt hieß, Walkürwölfin, und sie erkannte das Wesen vor ihr. Während alle anderen einen Jungen auf einem Einrad sahen, erblickte sie ein Geistchen in Gestalt eines Jungen, der in die volle Rüstung eines indonesischen Kriegers aus dem Mittelalter gekleidet war und auf einem prachtvollen weißen Hirsch mit üppigem, fein geschwungenem Geweih saß. Unglaublich schön und erhaben sahen die beiden aus. Samantha erwiderte die Verbeugung des kleinen Kriegers, der daraufhin mit glockenheller Stimme zu singen begann:
„Süße Rose aus Obsidian, ein schnelles Werk will sein getan. Tethys lässt dir sagen, Ka soll dich tragen“, er wies auf den Hirsch, „denn deine Menschenmagie“, er spreizte den kleinen Finger und Daumen von seiner Faust und hielt sie ans Ohr, „könnt nötig sein, allein die Königin hat Kunde, es könnte sein, der größten Blüte der Welt droht Gefahr.“
Jetzt war Samantha hellwach. „Tethys, die Königin des Feenreiches schickt abermals nach mir?“
Robin nickte.
„Wie klasse ist das denn.“ Es freute Samantha ehrlich, und sie ärgerte sich nur ganz kurz über die offensichtlich unerlässliche Anspielung auf ihre schwarze Hautfarbe bei jeder Begegnung mit Robin. Letztes Jahr hatte ihr Tethys schon mal einen direkten Auftrag erteilt und sie konnte die Fürstin Ida zur Flammensäule geleiten. Der kleine Krieger auf dem weißen Hirsch nickte so heftig, dass alle Glöckchen an seiner Rüstung leise klingelten. „Was soll ich tun?“ fragte Samantha nun ganz aufgeregt. „Die größte Blüte der Welt blüht doch gerade im Botanischen Garten der Uni Bonn, was ist mit ihr?“
„Die Devas der Pflanzen, ob groß oder klein, besuchen ihre Kinderlein, wenn sie blühen, auch die welche in weiter Ferne wachsen. Auf Sumatra ist der Titanwurz daheim, seine Deva wird bald bei ihrem Schätzlein in Bonn sein. Mächtig ist die Deva und Hüterin der größten aller Blüten. Der Dämon Long will sie fern ihrer Heimat, wo sie zu gut geschützt ist, jagen und sich ihre immense Kraft einverleiben. Komm Samantha, wir können nicht bleiben und du kannst diesmal nicht mit deiner Wölfin reisen, spring hinter mich auf Ka.“
Das ließ sich Samantha nicht zweimal sagen und saß hinter Robin mit einem kräftigen Sprung auf. Devas, das wusste Samantha, waren in der fernöstlichen Kultur ungefähr das, was bei uns die Feen der Pflanzen waren, sozusagen die Hüterinnen der Pflanzenseele. Klar war die Hüterin der größten Blüte der Welt eine mächtige Deva. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn ihr etwas zustieß. Alle ihre Kinder würden sofort verwelken und nie wieder erblühen. Samantha schaute nach unten, der Hirsch galoppierte gerade über den Rhein, folgte dem Lauf des Flusses eine Weile, bog dann in den Bonner Hofgarten ab, bezwang mit einem mächtigen Sprung das Gleisgewirr am Hauptbahnhof und schon eilten sie die Poppelsdorfer Allee hinab, vorbei am Schloss und kurz darauf standen sie am Eingang des Botanischen Gartens der Universität Bonn. Der Kies knirschte, als Samantha von dem Hirsch sprang, der kleine Krieger schwebte einfach zu Boden. Robin fasste nach Samanthas Hand. „Schnell, ruf deine Einheit an, ich spüre, der Dämon Long ist hier.“
Sofort zückte sie ihr Handy und rief den Leiter von EBMA an. Kurz berichtete sie, was vorgefallen war.
„Die Kollegen werden in wenigen Minuten hier sein.“
„Komm“, sagte Robin und zerrte an Samanthas Hand. Sie eilten zu den Gewächshäusern, und Samantha steuerte zielsicher das Viktoriahaus an. Oft hatte sie den Amorphallus Titanum, wie die größte Blüte der Welt botanisch hieß, in den vergangenen Jahren schon während des einzigen Tages seiner Blüte besucht. Tropisch warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen, und sogleich erblickte Samantha die wunderbare Blüte. Vor einem Teich mit Riesenseerosen erhob sich die majestätische Blume, über zwei Meter war sie groß, unten umwogte ein Blütenblatt aus feinstem, purpurnen Plissee einen riesigen Fruchtstand, der in der Farbe von purem, reinen Gold schimmerte. Samantha rümpfte die Nase. Da war ein Gestank. Nein, nicht nur die Botenstoffe, mit der die Pflanze ihre Bestäuber anlockte, es roch verbrannt.