Böse Bäume - Markus Bennemann - E-Book

Böse Bäume E-Book

Markus Bennemann

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Beschreibung

Kein Wunder, dass wir Bäume so gernhaben: Schon ein kurzer Spaziergang im Wald oder Stadtpark lädt die Seele auf, das lichte Spiel der Blätter vertreibt düstere Gedanken. Doch egal ob heimische Buche oder exotischer Götterbaum: Bäume haben auch eine finstere Seite, die kaum jemand richtig kennt. Sie bestehlen, töten und verstümmeln einander – oder tun sich im ewigen Kampf um Licht, Wasser und Nährstoffe noch Unglaublicheres an!

In seinem neuen Buch verrät uns der Wissenschaftsautor und passionierte Waldgänger Markus Bennemann die unangenehme Wahrheit über das andere – dunkle – Leben der Bäume. Er erzählt von der tropischen Würgefeige, die ihre Opfer arglistig erdrosselt, und der beliebten Walnuss, die in Wirklichkeit eine fiese Giftmischerin ist. Von zündelnden Eukalyptusbäumen, schmarotzenden Edelhölzern und angriffslustigen Akazien – sowie von vielen anderen nicht ganz astreinen Gesellen.

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Seitenzahl: 284

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Buch

Kein Wunder, dass wir Bäume so gernhaben: Schon ein kurzer Spaziergang im Wald oder Stadtpark lädt die Seele auf, das lichte Spiel der Blätter vertreibt düstere Gedanken. Doch egal ob heimische Buche oder exotischer Götterbaum: Bäume haben auch eine finstere Seite, die kaum jemand richtig kennt. Sie bestehlen, töten und verstümmeln einander – oder tun sich im ewigen Kampf um Licht, Wasser und Nährstoffe noch Unglaublicheres an!

In seinem neuen Buch verrät uns der Wissenschaftsautor und passionierte Waldgänger Markus Bennemann die unangenehme Wahrheit über das andere – dunkle – Leben der Bäume. Er erzählt von der tropischen Würgefeige, die ihre Opfer arglistig erdrosselt, und der beliebten Walnuss, die in Wirklichkeit eine fiese Giftmischerin ist. Von zündelnden Eukalyptusbäumen, schmarotzenden Edelhölzern und angriffslustigen Akazien – sowie von vielen anderen nicht ganz astreinen Gesellen.

Autor

Markus Bennemann konnte sich während des Studiums nicht zwischen Literatur und Biologie entscheiden. Schließlich ist er bei der Literatur geblieben und schreibt heute Bücher über – Biologie. Mehrere Sach- und Kinderbücher sind bereits von ihm erschienen und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Er lebt in Wiesbaden.

Markus Bennemann

BÖSE BÄUME

Wie sie töten, stehlen, Feuer legen – die dunkle Seite unserer liebsten Waldbewohner

Mit Illustrationen von Janine Czichy

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe November 2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2022 by Markus Bennemann

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Redaktion: René Stein

EB ∙ Herstellung: CF

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29489-2V003

www.goldmann-verlag.de

Für Annette,die eigentlich lieber Blumen mag.

Inhalt

Vorwort

1 Die Würgerin im Dschungel

2 Das wahre Gesicht der Walnuss

3 Die Killerbrigade der Akazie

4 Buchen musste nicht suchen

5 Herrscher des Feuers

6 Grausamer Götterbaum

7 Weiße Vampire im Monsterwald

8 Schmarotzende Sandelhölzer

9 Von wegen Weihnachtsbaum

10 Tödliche Tamarisken

11 Eiben sollst du meiden

12 Der Baum der Erkenntnis

Danksagung

Quellen

Zitate im Buch

Vorwort

Ich liebe den Wald. An Wochenenden beginne ich den Tag in der Regel mit einem kurzen Waldlauf. Im Sommer wirft die Sonne sanftes Licht durch die Blätter. Im Winter ist alles still, nur aus dem Norden eingeflogene Bergfinken hüpfen zwitschernd über die Zweige. Eine halbe Stunde genügt, und ich fühle mich wie neugeboren. Als käme ich tatsächlich munter und erfrischt vom »Waldbaden«, von dem jetzt so oft die Rede ist. Als hätte das kurze, hechelnde Bad im Wald Seele und Sinne gereinigt.

Woran das liegt? Schwer zu sagen. Ich könnte es auf die anregende Wirkung des Sports zurückführen. Aber nach einem gemächlichen Spaziergang ist es ähnlich. Die gute Luft? Ätherische Ausdünstungen? Eine uralte Erinnerung daran, wie ich als Steinzeitmensch durch Wald und Flur gestapft bin? Oder einfach nur das Bewusstsein, für einen Moment dem Trubel der Welt entronnen zu sein?

Ganz für mich allein. Mit Erde, Tieren – und Bäumen.

Meine Heimatstadt Wiesbaden liegt am Fuß des Taunus, und der ist zum Glück voller großer und schöner Bäume. Alte knorrige Eichen, duftende Fichten, dunkle Erlen an den Bächen. Hier und da helle Birken, von denen die Rinde abblättert wie feines Papier. Und natürlich jede Menge Buchen.

Ein Biologe hat mir mal erklärt, dass Bäume eigentlich nur »Fahrstühle für Blätter« sind, also im Grunde rein mechanische Vorrichtungen für den Wettkampf ums Licht. Da ich nicht nur den Wald, sondern auch das Meer liebe, amüsiere ich mich manchmal damit, sie wie Korallen zu betrachten. Ihr Wuchs ist ähnlich. Auch sie filtern Stoffe aus dem umgebenden Element. Zwischen ihnen flitzen bunte Wesen umher. Und ab und zu gleitet ein Mäusebussard durch die Kronen wie ein majestätischer Raubfisch.

Korallen gehören immerhin zum Tierreich, aber Bäume sind »nur« Pflanzen. Zum Fühlen fehlen ihnen Nerven und Gehirn, sagen Wissenschaftler. Schmerz, Liebe, Großmut, mütterliche oder väterliche Gefühle – all das sind Illusionen, die wir ihnen andichten, weil wir sie aus irgendeinem Grund so sehr mögen. Auch ich selbst erwische mich oft genug dabei, wie ich glaube, von ihnen ginge eine ganz eigene Präsenz aus. Wie uralte, Spalier stehende Wächter einer tiefen Weisheit, die ihr Leben ruhiger und gelassener macht als unser eigenes.

Ist es aber tatsächlich so, wie manche sagen, und Bäume fühlen viel mehr, als wir denken, dann ist das vielleicht gar keine so gute Sache. Könnten sie tatsächlich Angst und Schmerz empfinden, oder sendeten sogar stumme Schreie aus, dann wäre mein morgendlicher Waldlauf weit weniger friedlich und erholsam.

Dann wäre praktisch der ganze Wald erfüllt von den Schreien der Bäume. Von ihrem stillen Wehklagen, verzweifelten Jammern und stummen Winseln um Gnade. Und das keineswegs nur, weil ein Specht auf ihnen herumhämmert oder wir sie so oft misshandeln.

Nein, auch Bäume selbst tun sich jede Menge Böses, Gemeines und ausgesprochen Grausames an. Sie töten und bestehlen einander, vergiften und verstümmeln sich gegenseitig und saugen andere Bäume aus wie Vampire. Manche gehen sogar so weit, ganze Wälder abzufackeln, nur um sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen.

Bäume sind wunderschön, wohltuend und vielleicht auch weise. Manchmal – oder sogar ziemlich oft – sind sie aber auch alles andere als das.

Auch darin sind sie uns Menschen ähnlicher, als wir es vielleicht gerne hätten.

1 Die Würgerin im Dschungel

Dem ersten – und wahrscheinlich berüchtigtsten – bösen Baum dieses Buches begegne ich auf Bali.

Ich bin nicht zur Recherche dort, sondern aus weniger seriösen Gründen. Ein nach Australien ausgewanderter Freund hat einen runden Geburtstag, und ein paar alte Kumpels wollen mit ihm auf Bali feiern. Für Australier ist die indonesische Insel so etwas wie für uns Deutsche Mallorca, von Deutschland aus liegt sie natürlich nicht ganz so günstig. Sowohl unter Klimaaspekten als auch finanziell ist der Trip ziemlich unvernünftig – aber was tut man nicht alles für seine Freunde.

Unser alter Freund hat seine neuen Kumpels aus Australien mitgebracht, und die machen ihrem Ruf alle Ehre. Ein paar Tage lang gibt sich die deutsche Delegation alle Mühe, sowohl beim Surfen draußen auf dem Meer als auch abends an der Bar nicht vollkommen down under zu gehen. Dann versuchen ein paar von uns, sich durch einen Ausflug ins Hinterland wenigstens eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen.

Auf Bali legt man am besten alle Wege im Taxi oder auf dem Rücksitz eines Taxi-Scooters zurück. Man selbst als Fahrer würde den Verkehr wahrscheinlich nicht überleben. Die Balinesen rasen regelmäßig auf der Gegenfahrbahn aufeinander zu und schlängeln sich durchs Gewusel, wie man es sonst nur aus Verfolgungsjagden im Kino kennt. Jeder deutsche Verkehrsteilnehmer würde hinterm Steuer erst mehrere Tobsuchtsanfälle und schließlich einen Nervenzusammenbruch erleiden. Die Balinesen scheinen das ständige, haarscharfe Vorbeischlittern am Tod nicht mal zu bemerken.

Unser Weg führt uns vom dicht besiedelten Süden über Reisterrassen und Bergstraßen zum Danau Tamblingan, dem kleinsten der drei vulkanischen Kraterseen im Norden. Hier kann man nicht nur einen schönen alten Tempel besichtigen, sondern sich auch durch den dichten Urwald an den Hängen des Kraters führen lassen. Vorher bekommt man einen Kaffee serviert, der schon den Verdauungstrakt einer Schleichkatze passiert hat, aber trotzdem noch so stark ist, dass einem die Hände zittern.

Unser Guide führt uns den schmalen Pfad entlang und erklärt Wissenswertes zu Tieren und Pflanzen. Schließlich gelangen wir zu einem hohen alten Baum, der offensichtlich als »Fotobaum« auf den Touren dient. Er ist hohl und lässt genug Platz im Innern, um sich hineinzustellen. Auf einer Seite hat der Stamm eine Öffnung, durch die man sein Gesicht stecken kann. Gehorsam stellt sich einer nach dem anderen in den Hohlraum und macht das obligatorische Foto.

Etwas an dem Baum ist jedoch seltsam. Trifft man im deutschen Wald auf einen hohlen Baum, geht es ihm oft nicht so gut. Die Blätter sind licht, im Innern leben Pilze, Spinnen und Fledermäuse, und morsches Holz zeugt vom nahen Ende.

Der »Fotobaum« im indonesischen Dschungel wirkt jedoch quicklebendig. Die Krone ist voll, die Rinde glatt, nirgends graben Käfer ihre Gänge, und dankenswerterweise hängt auch kein indonesischer Flughund über unseren Köpfen. Noch etwas anderes fällt auf: Der graugrüne Stamm besteht nicht aus einem Stück, sondern aus vielen dünnen Strängen, die miteinander verschmolzen sind wie eine Art hölzernes Gewebe. Das Ganze wirkt organisch, dynamisch, und fast ein bisschen unheimlich.

Das Loch, durch das wir unsere Gesichter gesteckt haben, ist auch kein altes Astloch, sondern eine von zwei Strängen geformte Öffnung. Sieht man zu lange hin, hat man das Gefühl, sie könnte sich jeden Moment schließen. Vielleicht ist das vom »Katzenkaffee« verursachte Herzflimmern schuld, vielleicht die langen »australischen Nächte«: Der ganze Stamm des Baums wirkt plötzlich wie ein lebendiges Geflecht aus dicken Seilen, das sich jederzeit zuziehen kann wie eine Falle. Drinnen ist man gefangen und wird langsam stranguliert – oder stirbt schließlich an Durst und Hunger.

Unser Guide klärt uns darüber auf, dass es genau so ist – allerdings nur für Bäume. In dem hohlen Schacht in der Mitte des Baums, in dem wir eben standen, reckte sich einst ein stolzer Urwaldriese empor. Doch heute ist nichts mehr von ihm übrig.

Er wurde Opfer der Würgefeige, des mörderischsten Strangulationskünstlers des tropischen Dschungels.

Würgefeigen werden gerne als »parasitärer Albtraum« beschrieben, der anderen Bäumen Wasser, Nahrung und Licht raubt, indem er sich um sie windet wie die Baumversion einer riesigen Würgeschlange. Tatsächlich führt das nicht selten dazu, dass der ursprüngliche Baum im Innern der Würgefeige abstirbt und zerfällt, sodass wie bei uns auf Bali nur der hohle Stamm des Schmarotzers übrig bleibt. Der tut sich dann auch noch an den in den Boden übergehenden Überresten seines Opfers gütlich.

Was vom Baume übrig blieb: Nach langer Zeit sterben die Opfer der Würgefeige ab und nur sie steht noch.

Laut molekularer Analyse sind Feigen eine ziemlich alte Gattung von Pflanzen. Sie begannen bereits vor mindestens 60 Millionen Jahren, die Erde zu bevölkern. Wie vermutet wird, hatte damals gerade der Einschlag eines großen Meteoriten das Ende der Dinosaurier eingeläutet, und der Aufstieg der Säugetiere und Vögel begann. Dass diese gerne Feigen essen, nutzte auch der Ausbreitung der gleichnamigen Pflanzen, und heute wachsen sie in den warmen Regionen der Welt in fast tausend verschiedenen Arten. Es gibt sie als haushohe Urwaldbäume, dazwischen hängende Lianen, hundertstämmige Banyanbäume, Obstbäume, Kautschukbäume und deutsche Büros zierende Gummibäume und Benjamini. Und es gibt sie eben auch als Würgefeigen.

Wenn man mit Biologen über Feigen spricht, leuchten ihre Augen, und das nicht mal unbedingt wegen der zu tödlichen Fesselspielen neigenden Sorten. Alle Feigen nutzen eine ganz eigene Art der Bestäubung. Dabei kriechen winzige Wespen in unreife Feigen, die innen hohl und mit blütenartigen Gebilden ausgekleidet sind. Die Wespe bestäubt diese Blüten, legt in einigen aber auch ihre Eier ab (und stirbt dann, weil sie auf dem Weg in die Feige Flügel und Fühler verloren hat). Die aus den Eiern hervorgehende Wespenbrut paart sich in der Feige, und die Männchen graben Gänge nach draußen, damit die mit Blütenstaub beladenen Weibchen entkommen können. Diese fliegen zum Teil kilometerweit, um irgendwo wie ihre Mutter in eine unreife Feige zu kriechen und das Spiel von Neuem zu starten. Gleichzeitig beginnt in der verlassenen Feige das mit Kernen durchsetzte süße Fleisch zu reifen, das wir von diesen Früchten kennen.

Heißt das, in jeder frischen oder getrockneten Feige, die wir essen, haben erst jede Menge kleine Wespen Inzest getrieben und dann ihre tote Mutter und erschöpften Brüder zurückgelassen? Na ja, nicht ganz. Obwohl es auch deutsche Medien immer wieder berichten, steckt nicht in jeder Feige zwangsläufig eine tote Wespe. Zum einen gibt es viele Sorten von Essfeigen, die sich selbst befruchten und ganz ohne Wespen auskommen. Zwar trifft das auf die am Mittelmeer angebauten Sorten, die hauptsächlich bei uns erhältlich sind, in der Regel nicht zu. Aber auch hier läuft die Bestäubung so ab, dass zumindest keine geschwisterlichen Orgien in den Feigen stattfinden, und selbst die in ihnen sterbenden weiblichen Wespen werden von pflanzlichen Enzymen zersetzt. Knirscht es also beim Kauen oder bleibt was zwischen den Zähnen stecken, keine Sorge: Das sind wirklich nur Kerne.1

Die reifen Früchte von Würgefeigen sind oft kleiner und anders gefärbt als die grünen und violetten Essfeigen mit dem roten Fleisch, die es bei uns frisch zu kaufen gibt. In Florida zum Beispiel, wo Verwandte von mir leben und ich die zugehörigen Bäume schon hundertmal gedankenlos bewundert habe, hängen sie häufig wie dicke gelbe Beeren an den mit großen Blättern besetzten Zweigen. Hier wurden diese Früchte bereits von den Ureinwohnern gegessen, und in den tropischen Regenwäldern der Welt gehören Feigen zur Hauptnahrung vieler Tiere, weshalb Feigenbäume gerne als sogenannte Schlüsselspezies bezeichnet werden. Da immer gerade irgendwo Feigenwespen schlüpfen müssen, damit die Bäume bestäubt werden können, blühen sie nicht wie unsere Bäume und auch viele tropische Arten zu einer bestimmten Zeit alle auf einmal. Stattdessen blüht jeder einzelne Feigenbaum nach seinem eigenen Rhythmus und bis zu fünfmal im Jahr, was dazu führt, dass auch die reifen Früchte immer gerade irgendwo im Blätterdach zu finden sind. Dort wimmelt es dann von hungrigen Affen, Vögeln und anderen kletter- und flugfähigen Tieren.

Betrachtet man das Stammgeflecht vieler Würgefeigen und ihre über den Boden gewundenen Wurzeln, denkt man leicht, sie seien von unten an ihrem Opfer hochgekrochen. Wie Bohnen an ihrer Stange, Efeu an der Wand oder irgendeine andere Kletterpflanze. Fast kann es wirken, als hätte der Baum seine Arme aus der Erde gestreckt wie ein sagenhafter Riesenkrake seine Tentakel aus dem Meer, um ein Schiff zu kapern. Zumindest aber, so meint man, hat sich jeder einzelne Strang langsam am Stamm hochgewunden wie eine Baumschlange auf dem Weg zu ihrer arglosen Beute.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Würger kommt aus der Luft. Und bis er seine kriminelle Energie entwickelt, bildet er erst mal ziemlich lang eine ganz harmlose WG mit seinem Opfer.

Sollen Soldaten hinter feindliche Linien vordringen, werden sie mit dem Fallschirm abgeworfen oder per Hubschrauber abgesetzt. Auch Würgefeigen gelangen meist per Lufttransport in fremde Gebiete. Und zwar im Bauch von Vögeln oder von Baum zu Baum springenden Affen, die sich an ihren Früchten satt gefressen haben.

Wie alle essbaren Früchte dienen auch jene von Würgefeigen nur als Mittel zum Zweck, damit Tiere die darin verborgenen Samen weitertragen.2 Da Bäume wenig mobil sind, könnten sie sich anders kaum neue Lebensräume erschließen. Einige, wie Ahorn, Linde und Birke, bauen auch eigene Hubschrauber und Gleitschirme für ihren Nachwuchs, damit der Wind die Ausbreitung erledigt. Kokospalmen setzen ihre Brut sogar gewissermaßen in Landungsboote, damit sie nach langen Reisen über den Ozean neue Strände erobert.

Mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen ist nicht jedermanns Sache. Doch die Samen von Würgefeigen müssen im gewissen Sinne einen noch unangenehmeren Weg gehen. Während ihr tierischer Weiterträger die Luft oder das Blätterdach durchquert, durchqueren sie seinen Darm. Das umgebende Fruchtfleisch wird oft bereits beim Kauen abgelöst, aber auch dann bleibt den geschluckten Samen eine fleischige Hülle, die sie auf der Reise durch den Verdauungstrakt schützt. Wie bei Misteln, einem bei uns häufig anzutreffenden Baumparasiten, ist diese Hülle geleeartig und klebrig. Dadurch bleiben die Samen besser haften, wenn ein Vogel, Affe oder Flughund sie Stunden nach seinem Mahl auf einem anderen Baum wieder ausscheidet. Forscher vermuten außerdem, dass die Fähigkeit der Hülle, Feuchtigkeit aus der Luft aufzunehmen, die Samen vor dem Austrocknen schützt und ihnen beim nächsten Schritt ihrer Mission hilft: der Keimung.

Am günstigsten für die Samen ist es, wenn sie in einer Astgabel, einem Astloch oder einem Rindenspalt landen. Noch wohler fühlen sie sich, wenn sich hier etwas verfaultes Holz, zerfallene Blätter oder feuchtes Moos gesammelt hat. Wie Blumenerde in einem Balkonkasten kann ihnen solches Substrat als Nährboden dienen. Außerdem hält es die Samen feucht und schützt sie zu einem gewissen Grad davor, von kleinen Tieren verspeist oder von Ameisen abtransportiert zu werden. Bei manchen Würgefeigen scheint es allerdings so zu sein, dass sie auch die Ameisen gezielt zur Ausbreitung einsetzen und ihre Samen durch den Weitertransport erst zum finalen Bestimmungsort gelangen.

Fallen Samen von normalen Feigen auf die Erde, bilden sie zunächst winzige Wurzeln aus, um Nährstoffe aus dem Boden aufzunehmen, erst dann lassen sie die im Samen verborgenen Keimblättchen wachsen. Bei Würgefeigen wurde es genau umgekehrt beobachtet. Da sie nicht immer mit nährreichem Substrat rechnen können, ist es wohl günstiger für sie, erst ihre Keimblätter auszuklappen, ähnlich wie eine auf dem Mars gelandete Sonde ihre Solarpanels. Der Zucker, den sie in ihren Blättern mithilfe des aufgefangenen Sonnenlichts herstellen, dient ihnen in dieser kritischen Phase als wichtige Nahrungsquelle.3

Wer schon mal im Regenwald war, hat sicherlich die schönen Orchideen und Bromelien bemerkt, die hier und da auf den Bäumen wachsen. Wie willkürlich auf Stämme und Äste getupft wirken sie mit ihren bunten Blüten, als hätte sie ein verliebter King Kong aufs Geratewohl im Urwald verteilt. Bei ihnen handelt es sich um sogenannte Aufsitzerpflanzen, im lateinischen Fachjargon Epiphyten genannt, die den ewigen Kampf um einen Platz an der Sonne, der im Dschungel herrscht, geschickt umgehen, indem sie ihn gleich möglichst weit oben beginnen. Die staubfeinen Samen von Orchideen werden vom Wind, aber auch, wie man jüngst herausgefunden hat, im Magen von Insekten weitergetragen; und anders als zum Beispiel Misteln schaden sie ihrem Wirtsbaum nicht, sondern benutzen ihn wirklich nur als Podest. Bei den Würgefeigen, die als Halbepiphyten bezeichnet werden, ist es genauso – zumindest, na ja, in der ersten Phase ihres Lebens.

Als eine Freundin von mir mal länger im Urlaub war, bat sie mich, ihre Orchideen zu gießen, ersparte mir aber gnädigerweise, die Wurzeln jeder einzelnen Blume zu »baden«, wie es sich eigentlich gehört. Als Aufsitzer lebende Orchideen haben spezielle Luftwurzeln, mit denen sie sich nicht nur an ihren Wirt klammern, sondern auch Wasser und Nährstoffe aus der Umgebung aufnehmen (das mir ersparte Baden soll einen tropischen Regenguss nachahmen). Würgefeigen durchdringen erst eventuell vorhandenes Substrat mit feinen Würzelchen, bilden dann aber ebenfalls dickere Luftwurzeln aus, mit denen sie sich wie Orchideen an ihrem luftigen Sitz mehr Halt verschaffen. Ihr Wirtsbaum könnte sie jetzt tatsächlich auch für einen solchen Aufsitzer halten und sich, falls zu ästhetischen Empfindungen fähig, vielleicht sogar über den hübschen Dschungelschmuck freuen.

Bald müsste dem Baum jedoch auffallen, dass was faul ist an der Sache. Zum einen lässt sein Untermieter, obwohl jetzt schon mit einem kräftigen Spross und großen Blättern versehen, keine der hübschen Blüten erblühen, mit denen andere Aufsitzer im Urwald glänzen. Zum anderen fehlt den Luftwurzeln des Gasts der typische Überzug aus schwammigem Gewebe, der zum Beispiel Orchideen das Leben in feuchten Höhen erleichtert. Noch beunruhigender ist, dass die Wurzeln nicht aufhören zu wachsen, sondern eine oder mehrere von ihnen sich langsam, aber stetig den Stamm hinabwinden – oder sich sogar senkrecht zur Erde fallen lassen wie ein sich langsam ausrollender Gartenschlauch. Hätte der Baum nicht nur einen Sinn für Ästhetik, sondern auch Hände, würde er spätestens jetzt alles daransetzen, die Wurzeln seines Besiedlers abzureißen, und sich das kleine Pflänzlein von der Krone schleudern wie ein brennendes Toupet.

Für die junge Würgefeige ist diese Phase nach der erfolgreichen Ablage und Keimung der dritte entscheidende Abschnitt im Leben. Beobachtungen in verschiedenen Urwäldern lassen darauf schließen, dass die Chancen auf weiteres Wachstum sich für die jungen Aufsitzer massiv erhöhen, sobald eine ihrer Wurzeln den Boden erreicht. Tatsächlich hat die scheinbar so schlaue Strategie, sich von Affen oder Vögeln sofort in den oberen Etagen des Walds absetzen zu lassen, ja einen großen Haken: Die jungen Feigen bekommen dadurch zwar mehr Licht, sind aber vom Erdboden und seinem Reichtum an Wasser und Mineralien abgetrennt. Genügen das bisschen Humus in ihrer Astgabel und die per Fotosynthese hergestellten Kohlenhydrate nicht, um ausreichend lange Luftwurzeln aufzubauen, sterben die jungen Aufsitzer oft wieder ab und haben das Spiel verloren. Auch vertrocknen können sie, wenn sich ihr Platz an der Sonne als allzu sonnig herausstellt. Dann darf ihr Wirtsbaum – mit Blick auf das ihm ersparte Schicksal – im wahrsten Sinne des Wortes aufatmen.

Erreicht eine der Wurzeln jedoch den schattigen Urwaldgrund, sieht die Sache anders aus. Jetzt beginnt die junge Würgefeige, gierig Wasser und Nährstoffe durch die erfolgreich angeschlossene Leitung nach oben zu pumpen. Wie in einem Hollywood-Thriller ist der dramatische Moment erreicht, an dem der unauffällige Untermieter sein wahres Gesicht zeigt – und sich vom harmlosen Hausgast zur Bedrohung für Leib und Leben wandelt.

Betrachtet man die vielen verschiedenen Stadien und Formen des netzartigen Geflechts, mit dem sich Würgefeigen um ihre Opfer winden, ist es schwer, nicht an Filmklassiker wie Alien und die bizarren Kulissen des Schweizer Künstlers HR Giger zu denken. Oder an den aus der gleichen Zeit stammenden Pflanzenschocker Die Körperfresser kommen, in dem außerirdische Sporen ähnliche Geflechte nutzen, um sich in das gefühllose Abbild ihrer menschlichen Opfer zu verwandeln.

Einmal mit der Erde verbunden, sprießen die Glieder des Aufsitzers wie die Fäden einer Flechte oder eines sich auf überreifem Obst ausbreitenden Schimmelpilzes – zumindest in der zeitrafferartigen Wahrnehmung, die man so langlebigen Organismen wie Bäumen unterstellen kann. Immer mehr Luftwurzeln streckt der auf dem Baum sitzende Schössling aus. Auch sie winden sich wieder abwärts um den Stamm, kriechen ihn in gerader Linie hinab oder lassen sich von einem Ast senkrecht zu Boden fallen. Rötlich, fein und weich zunächst, werden sie holzig, hart und grau, sobald sie unten im Humus stecken, und schmiegen sich durch Bildung spezieller Holzzellen eng an den Stamm ihres Wirts. Auch immer dicker werden sie, und dort, wo sie sich berühren oder überkreuzen, öffnet sich die Rinde, und die in der Mitte liegenden Leitungen für Wasser, Zucker und Mineralien verbinden sich. Irgendwann ist das Ganze zu einem lebendigen hölzernen Korsett verschmolzen, das den Stamm wie ein grobmaschiges Netz umgibt oder sich sogar komplett schließt. Fast wirkt es, als solle es den Baum stützen, und die senkrecht von den Ästen abgehenden Luftwurzeln, die irgendwann zu dicken Säulen anwachsen, verstärken diesen Eindruck noch. Auch in der Nähe meiner Wohnung, auf dem Wiesbadener Kochbrunnenplatz, stand lange ein schöner alter Trompetenbaum, bei dem man einen ausladenden Ast mit einem Stahlpfeiler abgestützt hatte. Will die Würgefeige ihrem Wirt vielleicht denselben Dienst erweisen?

Nein, will sie natürlich nicht, und der Stamm ist keineswegs der einzige Teil des Baums, den die Feige überwuchert. Auch oben in der Krone schlingen sich ihre Luftwurzeln um die Äste und werden manchmal so schwer, dass sie dem Wirt gleichsam die Arme brechen. Zugleich reckt sich der wohlgenährte obere Teil der Pflanze, also der eigentliche Feigenbaum, immer mehr zum Licht, klettert mit jeder Verästelung weiter gen Himmel und lässt große Blätter sprießen, die jene des Wirts beschatten. Unten streckt die Feige ihre Wurzeln bis zu zehn Meter weit sternförmig über den Boden. Manchmal mit knorrigen Wülsten bedeckt, sehen sie wirklich aus wie die Arme eines Kraken. Doch auch aderartige Geflechte sind möglich, oder hohe Brettwurzeln, die wie Falten im Gewand einer düsteren Dschungelkönigin erscheinen. Noch einen Stock tiefer, im Erdreich, winden sich die hungrigen Stränge auch um die Wurzeln des Wirts und trinken statt ihrer die Säfte und Salze des Lebens.

Wenn wir zum Bild des kriminellen Untermieters zurückkehren, hat der sich nun nicht nur in sämtlichen Etagen breitgemacht. Auch die Dachterrasse beansprucht er für sich allein, und unten an der Haustür fängt er jeden Pizzaboten ab. Eine Räumungsklage verspricht im Urwald wenig Aussicht auf Erfolg, und auch sonst hat der Baum offenbar wenig Möglichkeiten, sich gegen den übergriffigen Mitbewohner zu wehren. Tatsächlich gibt es in Florida und anderen warmen Gegenden Würgefeigen, die sich auch über menschliche Bauten hermachen. Nicht nur Mauern am Straßenrand umklammern sie mit ihren unzähligen Wurzelarmen, sondern oft ganze kleine Schuppen und Gebäude. In Mexiko überwuchern sie zum Teil die alten Maya-Pyramiden, drängen sich mit unerbittlicher Kraft zwischen die Steinblöcke – und bringen die antiken Zeugnisse menschlicher Zivilisation zum Einstürzen.

Vom harmlosen Untermieter zum echten Problem: der üble Werdegang einer Würgefeige.

Trotz ihrer Kraft erwürgt die Würgefeige nicht wirklich ihre pflanzlichen Opfer, indem sie ihr hölzernes Korsett immer fester zieht. Nein, die Wahrheit ist noch schrecklicher: Die Bäume erwürgen sich selbst. Palmen zum Beispiel, deren Stamm nach dem ersten Aufbau nur weiter in die Höhe wächst, aber kaum noch dicker wird, leiden in der Regel weniger unter der ungewollten Umarmung. Andere Bäume jedoch verdicken stetig ihren Stamm, um ihr wachsendes Geäst zu tragen, und viele ihrer für Ernährung und Wachstum nötigen Strukturen liegen unmittelbar unter der Rinde. Hier befindet sich das lebende Bastgewebe, das Zucker von der Krone in die Wurzeln leitet, darunter die Kambium genannte Schicht, die jedes Jahr neue Wachstumsringe aufbaut, und dahinter junges Holz, in dem Wasser und Mineralien aus den Wurzeln nach oben wandern. Mit jedem neu abgelegten Holzring im Innern gerät all das stärker unter Druck, sodass Bast und Kambium zerquetscht werden. Der Baum bekommt vielleicht nicht wirklich die Luft, doch aber Gefäße und Organe abgeklemmt.

Manche Bäume nehmen selbst bizarre Wuchsformen an, um sich aus dem Würgegriff zu winden, und bei Weitem nicht alle sterben. Über die Zeit kann aber die Kombination aus Beengung, Beschattung und Beraubung dazu führen, dass die Äste verdorren, die Wurzeln verkümmern und die Abwehrkräfte gegen Feinde schwinden. Dann geht der Baum ein, der Stamm wird von Pilzen, Käfern und Termiten zerfressen. Und mit den Nährstoffen, die so in den Boden gelangen, düngt das Opfer zuletzt noch die Wurzeln seines Peinigers.

Am Ende bleibt das hohle Wurzelgeflecht, das sich jetzt selbst trägt und wie ein von der Natur geschaffenes Kunstwerk anmutet. Der perfekte »Fotobaum«, in dessen Stamm man sich selbst fühlt wie in einem hölzernen Gefängnis. Während hoch oben in der Krone vielleicht gerade ein Vogel von den Feigen nascht und so das Unheil erneut seinen Lauf nimmt.

In Filmen werden Würgeszenen manchmal ausgedehnt, um den Todeskampf des Opfers eindringlicher zu machen. Aber ein so langes Ringen wie im Urwald würde wohl kein Regisseur seinem Publikum zumuten. Wie schnell die Luftwurzeln von Würgefeigen wachsen, wurde noch nicht untersucht. Doch von anderen Aufsitzern ist bekannt, dass sie bis zu zehn Meter pro Jahr an Länge zulegen können – zwei Zentimeter am Tag, man kann ihnen förmlich beim Wachsen zusehen. Bis sich das Korsett komplett schließt, dauert es in der Regel trotzdem Jahrzehnte. Bis von einem stattlichen Baum wie jenem, der einst am Danau Tamblingan auf Bali stand, am Ende nur noch der unsichtbare Umriss zu erahnen ist, vergehen wohl mindestens 100 Jahre.

Bei der Wahl ihrer Opfer sind Würgefeigen nicht kleinlich. In Indonesien sieht man sie oft auf Eisenholz- und Flügelfruchtbäumen, in Florida auf Palmettopalmen, Eichen und Sumpfzypressen, in Indien auf Dattelpflaumen und Kirschmyrten, in Afrika auf Topffrucht- und Zürgelbäumen, in Australien auf Stinkbäumen und Araukarien, und im Amazonas-Regenwald auf so ziemlich jedem Baum, der nicht bei drei auf den Bäumen ist. Gemütliche Äste sind ein Risiko, ebenso Kuhlen, in denen sich tote Blätter und Tierexkremente anhäufen, und natürlich Früchte, die Tiere anlocken, die auch die Früchte von Würgefeigen gerne fressen. Manche Baumarten werden trotzdem auf rätselhafte Weise verschont, und obwohl auch andere Feigen und Würgefeigen besiedelt werden, verschmelzen die beiden Bäume wohl, wenn es sich um dieselbe Art handelt. Dann strangulieren sie ihr Opfer gemeinschaftlich, und es kommt sogar vor, dass Würger eine Wurzel zum Nachbarbaum ausstrecken, um diesen ebenfalls in den Schwitzkasten zu nehmen.

In Lateinamerika werden Würgefeigen oft schlicht matapalos, also »Baumtöter« genannt. Von allen bösen Bäumen in diesem Buch morden sie auf augenfälligste Weise, deshalb habe ich ihnen dieses schauerliche Anfangskapitel gewidmet. Trotz der bizarren SM-Praktiken, zu denen sie neigen, sind es auch keineswegs Sonderlinge. Bei uns Menschen wird ja oft gesagt, in jedem von uns stecke ein Mörder, bei den Feigen ist es nicht anders: Fast jede kann zum Würger werden, wenn sie als Samen auf einem Baum statt auf dem Boden landet, und diese spezielle Wuchsform wurde bereits bei mehr als der Hälfte der knapp tausend bekannten Feigenarten beobachtet. Das schließt übrigens nicht nur harmlos wirkende Büropflänzchen wie Gummibaum und Benjamini mit ein, sondern auch den heiligen Buddha- oder Bodhibaum, bei uns schnöde als Pappelfeige bekannt, unter dem der Gründer der großen Friedensreligion erleuchtet wurde.

Als tree hugger, also »Baumumarmer«, werden in den USA gerne Menschen bezeichnet, die Bäume lieben und sich für ihren Erhalt einsetzen. Die Würgefeige als pflanzlicher tree hugger ist allerdings dazu angetan, einem genau diese Liebe auszutreiben.

Doch – auch das ist wieder wie bei uns Menschen – kein Mörder ist durch und durch schlecht, und Würgefeigen haben auch ihre guten Seiten. Bei heftigen Stürmen zum Beispiel scheint es als Baum gar keine so üble Sache zu sein, ein Stützkorsett aus starren Wurzeln zu tragen. Das zeigte sich jedenfalls bei Untersuchungen in Australien, nachdem ein Zyklon über einen Nationalpark mit subtropischem Urwald hinweggefegt war. Die Bäume, die danach noch standen, waren auffällig oft von großen Würgefeigen befallen. Der Parasit (den manche Biologen nicht so nennen) stabilisiert sie mit seinen säulenartigen Wurzeln und ringsum verankerten Ausläufern, die sich wie die Spannseile eines Zelts verhalten. Selbst dass er seinem Wirt in der Krone das Licht klaut, hat bei heftigem Wind Vorteile, weil dieser so schlechter in etwaige Lücken greifen kann.

Auch der britische Biologe Mike Shanahan, der jüngst ein sehr lesenswertes (und bisher leider nur auf Englisch erhältliches) Buch über Feigen geschrieben hat, nennt Würgefeigen ausdrücklich »Bäume des Lebens, nicht des Todes«. Er weist darauf hin, dass sie trotz ihres schlechten Rufs immerhin rund 1200 verschiedene Arten von Vögeln und Säugetieren mit ihren Früchten versorgen, und zwar selbst dann, wenn alle anderen Baumbuffets gerade saisonbedingt geschlossen haben. Das lockt all diese Tiere in die verschiedensten Bereiche des Urwalds, wo sie nicht nur die verhängnisvollen Samen des Würgers, sondern auch die anderer Bäume verbreiten. So, sagt Shanahan, können Würgefeigen geschädigte Gebiete des Regenwalds erneuern helfen und ihnen ihre alte Vielfalt wiedergeben.

Bei Projekten in Costa Rica und Ruanda werden als Ableger in den Boden gepflanzte Feigenäste sogar als »Magneten für Biodiversität« eingesetzt. Auf noch erstaunlichere Weise wird jedoch eine als Würger bekannte Feigenart in Indien verwendet, und das schon seit Jahrhunderten. Im Nordosten des Landes liegen die Khasi-Berge, wo zwölf Meter Regen im Jahr fallen und der Monsun die steilen Bäche jeden Sommer in reißende Ströme verwandelt, die viele Stellen des dichten Bergwalds unpassierbar machen. Verirrt man sich als Tourist hierher, trifft man auf eigenartige Brücken, die ganz aus gewundenen Stämmen und Wurzeln bestehen. Das Ganze wirkt noch unheimlicher und märchenhafter als der hohle Baum, in den meine Freunde und ich uns damals auf Bali gestellt haben. So als hätten die Bäume am Ufer den Menschen diese Brücken mit Absicht wachsen lassen – mit Geländern, Querstreben und allem Drum und Dran!

Ganz so märchenhaft ist es nicht, aber fast: Die Einheimischen leiten die Würgearme am Rand stehender Gummibäume entlang von Palmstämmen über den Abgrund und verknüpfen die abgehenden Wurzeln nach und nach zu den lebendigen Bauwerken. Bis alles fest verwachsen ist, können drei Jahrzehnte vergehen, doch die Brücken rosten nicht, kosten nichts und halten besser als welche aus Bambus. Die längste ist 50 Meter lang, und die älteste bietet Menschen bereits seit 500 Jahren sicheres Geleit über die Fluten.

1 Veganer, die ihre Sache sehr ernst nehmen, müssen allerdings aufpassen. Bei einem kurzen Check im Supermarkt habe ich sowohl getrocknete Feigen gefunden, bei denen offenbar bewusst auf das Vegansiegel verzichtet wurde, als auch welche, die eins trugen, sich aber auf der Webseite des Herstellers als eindeutig von Wespen bestäubt entpuppten. Der sicherste Weg zu tausendprozentig veganen Feigen ist zweifellos, sich selbst ein Feigenbäumchen zu ziehen: An denen wachsen in unseren Breiten grundsätzlich nur selbstbefruchtende Sorten, weil es für Feigenwespen zu kalt ist.

2 Der Einfachheit halber nenne ich Feigen Früchte, doch eigentlich ist jede von ihnen ein sogenannter Fruchtverband, der aus vielen winzigen, im Innern der Feige liegenden Früchten besteht. Wie bei einem nach innen gewendeten Obstbaum sind diese aus den vielen einzelnen Blüten im Innern der Feige entstanden. Die winzigen länglichen Früchte bilden zusammen das Fruchtfleisch, das beim Öffnen einer Feige zum Vorschein kommt. Die darin eingebetteten Kerne, sprich Samen, sind in Wirklichkeit in den oberen, dickeren Teil jedes einzelnen Fruchtstrangs eingelagert.

3 Manchmal kommt es auch vor, dass die Samen von Würgefeigen erfolgreich in der Erde keimen. Dann schlingt sich die spätere Pflanze tatsächlich am nächsten Baum hoch wie eine Würgeschlange.

2 Das wahre Gesicht der Walnuss

Der Schatten eines Walnussbaums ist Gift für alle Pflanzen in seinem Umkreis.

Plinius der Ältere

Der Baum ist ein anderer, aber der Geruch ist der gleiche.

Ich bin abends nach dem Sport in meiner alten Wohngegend vorbeigefahren, die von einer langen Grünanlage durchzogen ist. Gleich am Anfang des unteren Teils der Anlage, praktisch direkt vor dem großen Mietshaus, in dem ich aufgewachsen bin, steht ein kleiner Walnussbaum. Früher stand hier ein großes Exemplar, mit runder, durch die fehlende Konkurrenz im Park in die Breite gegangener Krone. Natürlich bin ich erst mal verwirrt, aber später werde ich im Internet den Grund für die wundersame Verjüngung herausfinden: Der alte Baum war mit 70 Jahren krank geworden und musste gefällt werden. Dank der Spende netter Anwohner wurde er direkt durch einen neuen ersetzt.

Trotz des dürren Stamms und der mickrigen Krone hängen schon ein paar dicke grüne Kugeln zwischen den Blättern. Es ist erst Anfang September, und bis sie richtig reif sind, dauert es noch ein paar Wochen. Trotzdem verströmen sie beim Anritzen mit dem Daumen schon ihren typischen Duft, der mich sofort wieder in alte Tage versetzt.

Im Herbst zog meine Großmutter immer vor allen anderen mit einer Plastiktüte los, um die herabgefallenen Walnüsse aufzusammeln und köstlichen Nusskuchen daraus zu machen. Im Sommer ruhten wir uns im Schatten des Baums aus und stellten dort unsere Limoflaschen ab, wenn wir Fußball spielten. Und einmal saß ich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft, in das ich furchtbar verschossen war, oben in den Ästen.