Adlerblut - Markus Bennemann - E-Book

Adlerblut E-Book

Markus Bennemann

4,7

Beschreibung

Im Nationalpark Berchtesgaden zerreißt ein Schuss die Stille. Die junge Studentin Anna will eigentlich nur ein Praktikum hier machen, doch dann gerät sie an den gewalttätigen Parkranger Veit Brenner. Er scheint den Naturschutz etwas zu ernst zu nehmen. Ist er wirklich so gefährlich, wie die Leute sagen? Sind es die Adler, die angeblich Menschen angreifen? Oder lauert eine andere, tödliche Gefahr in den schönen Tälern um den Königssee?

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Markus Bennemann

Adlerblut

Kriminalroman

Zum Buch

Mord unterm WatzmannAm südöstlichsten Zipfel Bayerns, tief im Berchtesgadener Land, liegt der einzige deutsche Nationalpark, der zu den Alpen gehört. Mehr als eine Million Menschen strömen pro Jahr hierher. Sie kommen, um auf den Watzmann zu klettern, mit dem Boot über den schönen Königssee zu schippern oder einfach eine Wanderung in einem der umliegenden Täler zu machen. Doch nicht alle kehren von ihrem Ausflug zurück.

Die junge Studentin Anna möchte im Nationalpark eigentlich nur ein Praktikum absolvieren. Doch dann kommt es zu einem beinahe tödlichen Unfall, und sie muss sich entscheiden, wer gefährlicher ist: der aufbrausende Parkranger Veit Brenner, sein opportunistischer Chef oder ein riesenhaftes Adlerweibchen, von dem manche behaupten, es greife Menschen an.

Gleichzeitig unternimmt eine Familie eine Mountainbiketour durch den Park, die viel größere Risiken birgt, als sie denkt.

Denn Erholung ist nicht das Einzige, was man dort finden kann, und in den Tälern lauert der Tod …

Markus Bennemann, geboren 1971, hat Geschichte und Englische Literatur studiert. Er war Redakteur bei einer Tageszeitung, hat Krimis fürs Fernsehen geschrieben und arbeitet heute als Autor, Übersetzer sowie freier Journalist in Wiesbaden. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Einer der bisher schönsten Momente seiner Autorenlaufbahn war, als er in den finnischen Abendnachrichten den Todestanz des Kurzschwanzwiesels vorführen durfte.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Anweber / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4316-9

Gedicht

Ein Berghirt hing in Todsgefahr

am steilen Firnenrand,

ihn stieß hinunter dort der Aar,

wo keiner mehr ihn fand.

Gottfried Keller, Aroleid

 

Wanderfreunde Freilassing 1923 e.V.

Das Bein, Himmel, tut das weh – so ein Mist …

Manfred Schöttl humpelte hastig durch die Tannen. Der Regen, der sie am Morgen fast zum Umkehren gezwungen hätte, lag noch auf den Zweigen, und sie klatschten ihm nass und stachlig ins Gesicht. Gar nicht erst lange suchen, dachte er verzweifelt und stürzte sich unter den ersten größeren Baum, den er sah.

Oh Gott, das Bein! Wie kann so was nur so wehtun?

Unter den Zweigen war es trocken, und es roch nach Erde und Harz. Manfred, der nichts dagegen hatte, wenn die Leute ihn Manni nannten, fasste sich an den Rücken. Jetzt konnte er es ja zugeben: Das Einkehren hatte ihm eigentlich immer mehr Spaß gemacht als das ewige Rumgekraxel. Trotzdem kam er weit genug mit der Hand, um eine feuchte Stelle an seiner Funktionsjacke zu spüren. Er zog die Hand wieder zurück, betrachtete kurz das Blut an seinen Fingern und übergab sich auf das braune Bett aus Nadeln unter ihm.

Scheiße, es hat mich erwischt – so eine elende Scheiße!

Ihm stiegen Tränen in die Augen, seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, und als er sich wieder an die Szene erinnerte, die sich eben abgespielt hatte, platschte auch der Rest des Frühstücks auf den Boden. Flüchtig fuhr er sich mit dem Ärmel über den Mund und betastete dann vorsichtig sein Knie, das bereits auf die Größe einer Bowlingkugel angeschwollen war. Gleichzeitig robbte er auf dem Ellbogen wieder ein Stück weiter nach vorn.

Nein, nichts zu sehen. Und still ist es auch …

Um mehr erkennen zu können, schob er seine mit einem glänzenden Edelweiß bestickte Baseballkappe noch etwas weiter unter den Zweigen hervor. Da flog unmittelbar vor ihm ein Vogel auf – schnell und flatternd wie eine aufgeschreckte Schnepfe –, und er packte sich entsetzt ans Herz, das nicht weniger plötzlich im engen Käfig seines Brustkorbs aufzuflattern schien.

»Himmel Herrgott!«, fluchte er leise und betrachtete vorwurfsvoll den zwei Meter entfernt wippenden Zweig. »Verdammtes Mistvieh, verdammtes. Hast mir einen Riesenschrecken eingejagt.«

Wieder wagte er sich etwas weiter vor und lauschte angespannt in die sommerliche Stille hinein. Grillen zirpten, der Wind fuhr sanft durch die Zweige, und irgendwo ein Stück hinter ihm zwitscherte leise ein anderer Vogel, aber ansonsten war nichts zu hören. Manfred reckte den Kopf ganz heraus und ließ einmal im großen Bogen den Schirm seiner Mütze schweifen.

Nein, nichts, dachte er wieder erleichtert – da hörte er auf einmal doch etwas.

Ein Knirschen, so leise erst, dass er glaubte sich zu täuschen, dann aber immer lauter. Manfred lag wie erstarrt unter den Zweigen, bis der Mann, zu dem die Schritte gehörten, unmittelbar vor ihm stand.

»Oh Gott, bin ich froh, Sie zu sehen«, sprudelte es aus Manfred hervor. »Sie werden nicht glauben, was uns passiert ist. Mein Bein ist verletzt, allein hätte ich es bestimmt nicht mehr weit geschafft, und meine Frau … aber … aber, was soll denn das?«

Manfred hatte noch nie in die Mündung eines Gewehrlaufs geblickt, mit Waffen hatte er nichts am Hut. Doch als er jetzt die glänzende runde Öffnung vor sich sah, kam sie ihm zugleich überraschend klein und fürchterlich groß und dunkel vor. Er schaute den Mann in der grünen Jacke verwirrt an und begann, entrüstet den Kopf zu schütteln.

»Aber sind Sie denn verrückt? Sie können doch nicht … Das ist doch … Sie wollen doch wohl nicht …«

Dann ertönte ein Schuss, auch von den anderen Tannen flogen noch ein paar Vögel auf, und für Manfred Schöttl war die Wanderung vorüber.

 

Erster Tag: Ein schlechter Start

 

1

Ohne Fernglas war nur eine winzige Silhouette zu erkennen. Sie kreiste hoch oben am Himmel, die Flügel starr wie bei einem Flugzeug.

»Wie hoch fliegen sie, haben Sie gesagt?«

»Na, so 2.000 bis 2.500 Meter ungefähr. Halt so, dass sie alles gut überblicken können.«

»Und von der Entfernung entdecken sie hier unten ihre Beute?«

»Sehen noch ’ne Maus, die durchs Gras läuft. Könnten aus 100 Metern Entfernung Zeitung lesen.«

Anna setzte wieder den Feldstecher an und erwischte den Adler genau in dem Moment, als er die Flügel anlegte und wie ein Pfeil vom Himmel niedersauste. Sofort nahm sie das Fernglas herunter und sah, wie das dunkle Geschoss in der Sonne kurz braun aufblitzte und dann mitten in eine grüne Bergflanke einzuschlagen schien.

Im nächsten Moment stieg der Steinadler wieder auf. Jetzt schlug er kräftig mit den Flügeln, war offensichtlich mit Beute beladen. Noch einmal hob Anna den Feldstecher an die Augen. Zuerst sah sie nur die schmalen Tannen der Baumgrenze. Doch dann flog das prächtige Tier direkt auf sie zu – plötzlich groß wie ein Ungeheuer aus dem Märchenbuch –, und sie drehte hastig am Fokus.

»Er hat was!«, sagte sie aufgeregt. »Einen Hasen, glaube ich. Er trägt ihn in den Krallen.«

»Na, wird wohl eher ein Murmeltier sein«, erwiderte Brenner nüchtern. »Die haben da oben ihre Löcher.«

Erneut verlor Anna den Adler aus dem Blickfeld der vergrößernden Linsen. Doch jetzt war er auch mit bloßem Auge bereits gut zu erkennen, ebenso das schlaffe Fellbündel in seinen Fängen. Er hielt auf eine Felswand zu, die senkrecht über dem dichten Mischwald aufragte, der den größten Teil des Tals mit seinem sommerlichen Grün bedeckte. Dann schien der Vogel mitten in der grauen, von dunklen Rissen und Rinnen zerklüfteten Steilwand zu verschwinden.

Anna, die gar nicht genug vom Anblick der stolzen Kreatur bekommen konnte, wollte abermals das Fernglas ansetzen. Doch Brenner winkte sie zu dem Spektiv, das er auf ihrem leicht erhöhten Aussichtspunkt auf der linken Seite der Talsohle aufgestellt hatte.

»Hier«, sagte er. »Ich hab’s für Sie auf den Horst gerichtet.«

Anna beugte sich zu dem wie ein großes Teleobjektiv wirkenden Fernrohr hinunter und legte ein Auge auf die dafür vorgesehene Gummimuschel, die noch warm vom Auge ihres Vorgängers war. Gegen ihren Willen jauchzte sie laut auf wie ein Schulmädchen.

»Oh Gott, sind die süß! Die sind einfach zu niedlich!«

»Demnach sind es immer noch zwei?«, fragte Brenner. »Ich hab’s eben nicht eindeutig erkennen können.«

»Ja, zwei große weiße Küken, die aussehen, als kämen sie direkt aus der Muppet Show«, erwiderte Anna, während die zwei ulkigen Federknäuel erregt an den Rand des Nests gehüpft kamen. »Sie freuen sich anscheinend, ihren Vater wiederzusehen.«

»Was studieren Sie noch mal?« Der Ton des Parkaufsehers war so unfreundlich, dass Anna automatisch von dem Fernrohr aufblickte. »Vorhin bei der Begrüßung habe ich es nicht richtig mitbekommen.«

»Umweltmanagement«, antwortete Anna mit einem breiten Lächeln.

Bei dem Lächeln kamen ihre makellosen Zähne zur Geltung und bildeten einen schönen Kontrast zu ihrer braunen Haut und ihren dunklen Augen. Es war ihre Universalantwort auf unfreundliche Fragen, besonders von Männern, und normalerweise funktionierte sie auch ziemlich gut. Nur bei Brenner zog sie anscheinend nicht.

»Umweltmanagement«, wiederholte er, als würde allein schon das Wort ihm einen schlechten Geschmack im Mund verursachen. »Heißt das jetzt, Sie wollen Umweltschützerin oder Managerin werden?«

»Ein bisschen von beidem«, erwiderte Anna, richtete sich auf und drückte die Brust durch. »Ich will dafür sorgen, dass Wirtschaftlichkeit und Naturschutz keine Gegensätze mehr sind. Dass sie sich gegenseitig nicht im Wege stehen, sondern Hand in Hand gehen.«

»Ah, so wie Künzl.«

»Ja, wie Nationalparkdirektor Künzl. Wegen ihm und seinem Berchtesgadener Weg mache ich das Praktikum hier unten.«

Brenner zog einen Mundwinkel leicht nach oben. Es war das erste Mal an diesem Morgen, dass Anna so etwas wie ein Lächeln bei ihm sah. Sie bezweifelte jedoch, dass es wirklich als solches gemeint war.

»Aber ja, natürlich, der berühmte Berchtesgadener Weg«, sagte der Parkranger mit unverhohlener Ironie in der Stimme. »Und dass Sie ausgerechnet heute Ihr Praktikum anfangen, am Tag der Preisverleihung, ist purer Zufall?«

»Ja, das ist Zufall. Es hat sich einfach so ergeben.«

Das war gelogen: Bei ihrem Bewerbungsgespräch hatte der Nationalparkdirektor ihr ausdrücklich empfohlen, schon heute anzufangen, damit er sie bei der Verleihung gleich ein paar wichtigen Leuten vorstellen konnte. Das war genau die Art von Aufmerksamkeit, die Anna von Männern mittleren Alters in solchen Positionen gewohnt war, auch bei ihren Profs an der Uni lief es nicht anders. Als Gegenleistung musste sie sich nur ab und zu etwas zu vertraulich an Ellbogen oder Hüfte anfassen lassen und brav lächeln, wenn die alten Knaben sie stolz bei ihren Kollegen rumzeigten. Aber das würde sie Brenner bestimmt nicht auf die Nase binden.

Der lächelte allerdings so spöttisch, als wisse er es sowieso. Er beugte sich zu dem Spektiv hinunter, sah kurz durch und gab es dann wieder für sie frei.

»Hier«, sagte er. »Jetzt werden die süßen Kleinen gefüttert.«

Auf dem großen Horst aus Zweigen, den die Adler sich in ihrer Felsnische gebaut hatten, lag das Murmeltier mittlerweile mit offenem Bauch zwischen den Vögeln. Mit dem Schnabel zerrte die Adlermutter blutige Fleischfetzen aus den Eingeweiden und reichte sie an die Küken weiter, die auch sofort gierig danach schnappten. Anna fand den Anblick nicht gerade appetitlich – aber auch das behielt sie lieber für sich.

»Das eine drängelt sich ständig in den Vordergrund«, sagte sie stattdessen. »Es hält das kleinere mit den Flügeln von der Mutter fern. Da – jetzt hat es sogar nach ihm gehackt.«

»Kainismus«, sagte Brenner.

Anna richtete sich wieder auf: »Wie bitte?«

»Kainismus. Nach Kain, aus der Bibel.«

»Entschuldigung, ich kenne mich mit der Bibel nicht so aus. Ist das der, der seinen Bruder …«

»Genau: der seinen Bruder erschlägt, weil er neidisch auf ihn ist. Das wird auch hier passieren. Das größere, erstgeborene Küken wird das kleinere irgendwann aus dem Nest schieben oder tothacken. Oder es hält sein Geschwisterchen einfach so lange vom Fressen ab, bis es verhungert.«

Ja, wirklich niedlich, die zwei Kleinen, dachte Anna ernüchtert. Dann runzelte sie die Stirn: »Aber … aber gibt es das nicht nur bei anderen Adlern? Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, das sei nur bei Seeadlern so.«

»Bei Schreiadlern und Kaffernadlern ist es immer so«, erklärte Brenner. »Aber auch bei Steinadlern kommt es manchmal vor.«

Wieder war da dieses spöttische Funkeln in den Augen des Parkwächters, und Anna hatte das unangenehme Gefühl, er mache sich über sie lustig. Künzl hatte sie vor ihm gewarnt: ›20 Jahre jünger als ich, aber Ansichten wie aus den 80ern. Würde am liebsten eine große Käseglocke über den ganzen Park stülpen und niemanden mehr reinlassen. Und dass er sich hier von einem Oberfranken rumkommandieren lassen muss, passt ihm natürlich auch nicht.‹Der Parkleiter schien keineswegs glücklich darüber zu sein, dass Anna die erste Station ihres Praktikums ausgerechnet bei dem 28-jährigen Ranger absolvierte, der im Nationalpark und im daran angeschlossenen Biosphärenreservat für die Steinadler zuständig war. Aber es hatte sich nicht anders einrichten lassen.

»Und die Eltern tun überhaupt nichts dagegen?«, fragte sie. »Sie überlassen ihr Kind einfach so seinem Schicksal?«

Kurz schien in Brenners Blick so etwas wie ein Gefühl aufzukommen. Er zog die Brauen zusammen, und seine Augen überzogen sich mit dem Anflug eines weichen Schimmers. Doch dann wurde seine Miene wieder hart, kühl und abweisend.

»Nein, sie tun nichts dagegen«, sagte er. »Der Stärkere gewinnt, so ist das nun mal in der Natur. Auch hier im schönen Nationalpark.«

Erneut hatte Anna den Eindruck, Brenners Worte hätten einen doppelten Boden, den sie nicht begriff. Der Mistkerl nimmt mich doch irgendwie auf den Arm, dachte sie und blickte ihr Gegenüber verwirrt an.

Was doppelt schade war, weil der Mistkerl leider verdammt gut aussah. Brenner – ja, irgendwie was von einem Gebirge hatte sein Gesicht, kantig und wettergegerbt. Und der Ausdruck seiner eisblauen Augen passte auch dazu: kalt und einsam, als würde er hier schon seit 3.000 Jahren allein durch die Berge ziehen.

»Anna«, sagte Brenner – so unvermittelt, dass Anna kurz erschrocken dachte, er könne Gedanken lesen. »Anna Khadiri, richtig?«

»Ja, genau«, sagte sie und runzelte verdutzt die Brauen.

»Gibt es den Vornamen auch in …« Er machte eine vage Handbewegung.

»Marokko. Meine Eltern kommen aus Marokko. Nein, den gibt es dort nicht.«

»Aha, und warum …?«

»Sie haben mich einfach so genannt«, erwiderte Anna. »Sie fanden den Namen schön. Wieso, stört Sie irgendwas daran?«

Normalerweise reagierte Anna auf solche Fragen gelassener. Doch von diesem blonden Naturburschen, der ohnehin schon komisch zu ihr war, so unverblümt auf ihren Namen angesprochen zu werden, reizte ihr sonst so gut unter Kontrolle gehaltenes Temperament. Ihr ärgerlicher Ton sorgte dafür, dass auch in seinen Augen sofort ein wütendes Funkeln aufflammte – heftig und rasch, wie sie es bisher selten bei einem Deutschen gesehen hatte. Doch dann wurden die kleinen blauen Scheiben sofort wieder zu Eis.

»Nein«, sagte er. »Es hat mich nur interessiert, das ist alles.«

Er zuckte mit den Schultern und legte die Hand auf das Spektiv.

»Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte«, sagte er. »Das jüngere Küken lebt, noch zumindest. Sie wollen sich das blutige Schauspiel bestimmt auch nicht weiter ansehen …«

»Doch, will ich wohl«, erwiderte Anna sofort, immer noch nicht wieder ganz Herrin ihrer selbst. »Wenn dieser … dieser Brudermord so untypisch für Steinadler ist, dann sollte ich mir dieses Verhalten schon etwas genauer anschauen. Oder glauben Sie, dass ich zum Spaß hier bin?«

Anna beugte sich wieder über die Augenmuschel und hätte sich am liebsten selbst in den Arsch getreten. Immer nett zu jedem sein, alle um den Finger wickeln, egal, wie sie zu dir sind, betete sie sich innerlich ihr altes Erfolgsrezept vor. Und dann machst du dir gleich am ersten Tag deinen Betreuer für die nächsten zwei Wochen zum Feind! Wütend und frustriert, ja so sind wir eben, wir Araber. Hochempfindlich, wenn einer ein falsches Wort sagt, und immer gleich bereit, dafür auf ihn loszugehen.

Mitansehen zu müssen, wie das größere Küken das kleinere mit Schnabelhieben von der Nahrung wegtrieb, während die Mutter seelenruhig zusah, hellte Annas Stimmung auch nicht gerade auf – machte den schlechten Start sozusagen perfekt. Nicht ihre Eltern hatten sie Anna genannt, sondern allein ihre Mutter: So wollte sie Anna, die nicht nur das jüngste Kind der Familie war, sondern auch die einzige Tochter, dem Einfluss ihres Vaters und ihrer größeren Brüder entziehen. Nah genug an arabischen Vornamen wie Alia oder Amina, dass die Verwandtschaft sich nicht lustig machte, aber eben doch deutsch. So deutsch wie die tapfere kleine Balletttänzerin im Fernsehen vor 20 Jahren, durch die ihre Mutter auf den Namen gekommen war.

Und die Magie hatte tatsächlich gewirkt: Anna hatte weder Kopftuch tragen noch sich vollkommen anders anziehen müssen als ihre deutschen Mitschülerinnen, einfach nur, weil sie hieß wie sie. Es war wie in der Geschichte von dem als Hauptmann verkleideten Häftling, die sie irgendwann im Deutschunterricht durchgenommen hatten, und der Trick funktionierte so gut, dass selbst dabei niemand auf die Idee gekommen war, ihn mit Anna zu vergleichen. Schließlich hatten sie und ihre Mutter ihren Vater nicht nur überzeugen können, dass sie mit ihren guten Noten studieren sollte, sondern ihn sogar dazu bekommen, etwas so Exotischem wie Umweltmanagement seinen Segen zu geben. ›Umweltschutz‹, hatte ihr jüngster Bruder im verächtlichen Ton des Türkenslangs gesagt, den bei ihr zu Hause jeder Junge auf der Straße lernen musste: ›Das ist doch nur was für so bescheuerte Deutsche, die drei verschiedene Mülleimer in der Küche haben.‹

Deswegen war es umso wichtiger, dass Anna mit ihrem Umweltschutz irgendwann gutes Geld verdiente, am besten schon gleich nach dem Bachelor. Sich dafür ein bisschen von geilen alten Böcken betatschen zu lassen, damit hatte sie kein Problem. Und wenn dieser komische Brenner sie nicht mochte, na und: Er war hier nur Parkaufseher – und Direktor Künzl konnte ihn sowieso nicht leiden.

Trotzdem machte Anna das überlegene Getue des Rangers wütend. Und als sie jetzt auch noch vor sich sah, wie hässlich und gemein sich die angeblich so edlen Geschöpfe verhielten, die hier im Nationalpark geschützt werden sollten, hatte sie das schreckliche Gefühl, ihr Bruder könnte recht gehabt haben: Vielleicht ist Umweltschutz wirklich nur was für Deutsche. Und egal, wie ich heiße, ich bin nun mal keine …

Plötzlich jedoch flog erneut der männliche Adler durchs Bild, der ihr vorhin auf seinem Weg durchs Tal so majestätisch vorgekommen war. Schau ich mir doch lieber den wieder an, dachte sie und drehte trotzig den von Brenner auf den Horst eingestellten Zoom größer.

»Was macht der da?«, fragte sie nach einem Moment. »Wieso fliegt der so komisch?«

Sie blickte zu Brenner auf. Der Parkwächter hatte offensichtlich nicht seine gefiederten Schützlinge im Auge behalten, sondern – was sie trotz allem insgeheim freute – ihre über das Fernrohr gebeugte Gestalt.

»Girlandenflug«, sagte er, als er sah, wie der Adler in wellenförmigen Linien vor der Steilwand hin und her flog. »Das bedeutet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Geben Sie mir mal Ihr Fernglas.«

Er ging ein paar Meter nach vorn und stieg auf einen mit Gras bewachsenen Gesteinsbrocken, der bei irgendeinem längst vergangenen Felssturz bis auf ihren kleinen Hügel gerollt war.

»Verdammt!«, sagte er durch die Zähne.

Er gab ihr das Fernglas wieder und packte hastig das Spektiv zusammen. Dann stapfte er zu dem Geländewagen zurück, der etwas weiter unten am Ende einer schmalen Schotterstraße geparkt war.

»Was ist denn?«, fragte Anna, während sie ihm verwirrt hinterherlief. »Weswegen ist der Adler so aufgeregt?«

Brenner antwortete nicht, sondern machte nur stumm die Tür zum Rücksitz auf, wo – wie Anna mit leichtem Schreck erkannte – unter seiner grünen Rangerjacke ein glänzendes braunes Jagdgewehr versteckt lag. Mit routinierter Geste schlang sich der Parkaufseher die Waffe um den Rücken und ging dann mit zügigen Schritten Richtung Wald davon.

»Ist da etwa ein wildes Tier oder so?«, fragte Anna und blieb zögernd am Auto stehen. Am liebsten wäre sie sofort in den schützenden Innenraum gestiegen, wollte sich aber vor dem überlegen tuenden Parkwächter wieder keine Blöße geben.

»Nein, etwas viel Gefährlicheres«, antwortete dieser und stapfte hastig weiter, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. »Etwas viel, viel Gefährlicheres.«

2

»Aber … aber das sind ja Menschen«, sagte Anna verblüfft, nachdem sie etwa eine Viertelstunde hinter Brenner durch den stillen Wald gelaufen war.

Sie hatte sich keinen Reim auf seine Antwort machen können, aber da sie keine Lust hatte, wie ein Feigling dazustehen, war sie ihm schließlich hinterhergegangen. Jetzt runzelte sie jedoch irritiert die Stirn.

»Warum um Himmels willen haben Sie denn dann das Gewehr mitgenommen?«

»Warum?«, fragte Brenner zurück, erneut ohne sich umzudrehen oder sein Tempo auch nur ein bisschen zu verringern. »Um diesen Arschlöchern Angst einzujagen, natürlich.«

Die drei Freeclimber, die ungefähr in Annas Alter waren, hatten gerade ihre Ausrüstung angelegt und wollten mit dem Aufstieg beginnen. An der Felswand über ihnen glänzten kleine Stahlringe in der Sonne, und der größte der drei hielt ein in Schlaufen gelegtes Seil in der Hand. Als er sie kommen sah, legte er es wieder ab und wartete mit in die Seiten gestemmten Händen, bis sie ihn und seine zwei Gefährten erreicht hatten. Er hatte kurzgeschnittene braune Haare und wirkte eigentlich zu groß und bullig für den Sport. Freundlich lächelte er ihnen entgegen und sagte einem der anderen, er solle eine Chipstüte wegpacken, die vor einem der als Sitzgelegenheit ausgelegten Baumstämme den Boden verunzierte.

»Hallo, einen wunderschönen guten Morgen«, sagte er mit leicht bayrischem Akzent. Als er Anna aus der Nähe sah, drückte er seine Brust raus und ließ sein selbstsicheres Lächeln noch etwas freundlicher strahlen. »Haben wir irgendwas falsch gemacht?«

»Ja, alles«, sagte Brenner schroff. »Ihr packt jetzt sofort euren Kram zusammen und verschwindet von hier.«

Der Große runzelte die Brauen und sah kurz erstaunt zu seinen Gefährten hinüber. »Aber wir sind noch gar nicht geklettert«, sagte er. »Wir wollten gerade erst anfangen.«

»Ihr dürft hier nicht klettern. Klettern ist an dieser Stelle verboten.«

»Aber da sind doch Bohrhaken«, erwiderte ihr Gegenüber und zeigte auf die Steilwand. »Und in unserem Kletterführer steht …«

»Was in eurem Führer steht, interessiert mich einen Scheißdreck. Wenn ihr hier im Nationalpark klettern wollt, seid ihr verpflichtet, euch vorher zu informieren, wo ihr es dürft. Und hier dürft ihr es nicht.«

Der große Kerl sah Hilfe suchend Anna an, doch sie konnte nur verlegen mit den Schultern zucken. Ihr war Brenners unfreundlicher Ton peinlich, aber was sollte sie tun? Kooperation statt Konfrontation lautete Künzls Motto für den Umgang mit Touristen, Jägern, Bauern und allen anderen, deren Interessen im Nationalpark mit denen der Natur abgestimmt werden mussten. Doch Brenner schien von diesem Motto wenig zu halten.

»Aber weshalb ist es hier denn verboten?«, fragte der Kletterer. »Die Haken sind doch schon ewig in der Wand. Und wir haben sie auch nicht reingemacht.«

»Weil da oben Adler brüten«, erwiderte Brenner und zeigte auf den dunklen Fleck, der gut 200 Meter über ihnen in der hellen Karstwand zu erkennen war. »Die stört ihr, wenn ihr hier klettert.«

»Was, Adler?«, fragte der Große und blickte mit gerunzelten Brauen den Fels hinauf. »Aber die sind doch ewig weit weg. Denen kommen wir doch gar nicht in die Quere. Wir wollen hier nur 30, 40 Meter die Wand hoch.«

»Sie sind sehr empfindlich. Und wenn sie gestört werden, geben sie ihren Horst auf und ihre Küken sterben.«

»Ihre Küken sterben?«, sagte der Große ungläubig. »Weil wir hier ein bisschen an der Wand rumkraxeln?«

Er drehte sich zu seinen Kumpanen um, und sein Blick sagte: Das kann ja wohl alles nicht wahr sein! Was ist das nur für ein Unsinn? Auch auf Anna wirkte der Horst für eine Störung eigentlich zu weit weg, obwohl sie das aufgeregte Verhalten des Adlermännchens ja gesehen hatte. Sie kam sich ein bisschen wie früher auf dem Schulhof oder beim Spielen auf der Straße vor. Wegen ihres Namens hatte sie sich dort auch immer verpflichtet gefühlt, auf der Seite der unlockeren Regelfanatiker zu stehen – der Spießer, der Deutschen.

»Aber sie fühlen sich doch gar nicht gestört«, meldete sich jetzt zum ersten Mal einer der anderen zwei Freeclimber zu Wort. Er zeigte auf einen großen, nicht weit entfernt stehenden Bergahorn, wo sich das Adlermännchen auf einem kahlen Ast niedergelassen hatte, der oben vom knorrigen Stamm abstand. In der Stimme des rotwangigen Burschen schwang die gleiche Begeisterung über den Anblick des stolzen Tiers mit, wie Anna sie vorhin gespürt hatte. »Sehen Sie nur«, sagte er. »Er sitzt ganz ruhig auf dem Baum dort und schaut uns zu.«

Ja, weil er weiß, dass Brenner sich jetzt um die Sache kümmert, ging es Anna unwillkürlich durch den Kopf.

»Genau, schauen Sie doch«, wiederholte auch der Anführer der Gruppe. »Der Adler sitzt ganz friedlich da. Und wenn wir leise sind, werden bestimmt auch die Küken …«

»Willst du mir etwa meinen Job erklären, du kleiner Wichser?«

Brenner machte einen so plötzlichen Schritt auf den Hünen zu, dass dieser überrascht einen Schritt zurückwich. Auch wurde er bestimmt nicht oft ›kleiner Wichser‹genannt, und eigentlich war das auch absurd: Brenner war nur etwas größer als mittelgroß, und der bullige Kerl überragte ihn beinah um einen vollen Kopf.

»Nein, ich meine doch nur …«, sagte er verwirrt. »Ich meine doch nur, dass wenn wir leise sind …«

Brenner hob das Seil vom Boden auf, das der Kletterer eben abgelegt hatte, und zog ein großes Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel. Dann durchtrennte er die dicken roten Schlaufen mit einem einzigen, glatten Schnitt.

»Ich hab genug vom Diskutieren«, sagte er. »Ihr Wichser verpisst euch jetzt und haltet euch das nächste Mal an die Regeln, wenn ihr in meinen Park kommt.«

Jeder starrte auf die riesige, oben gezackte Klinge in Brenners Hand. Anna fühlte sich wie in einem dieser amerikanischen Filme, wo irgendwelche harmlosen Städter auf verrückte Hinterwälder oder einen größenwahnsinnigen Sheriff treffen und um ihr Leben fürchten müssen. Nur stand sie in diesem Fall auf der Seite der Hinterwäldler.

Der Kerl ist doch komplett geistesgestört, dachte sie. Warum hat Künzl mir nicht gesagt, dass ich mit einem Psychopathen zusammenarbeiten muss? Automatisch ging ihr Blick zu dem Adler hinauf, der das bizarre Schauspiel ruhig von seinem Ast aus beobachtete, als sei es das Normalste der Welt.

»Der Typ hat einfach unser Seil durchgeschnitten«, sagte der mit den roten Wangen mit hoher Stimme. In seinem Ton schwang halb ungläubige Empörung mit, halb Angst; vermutlich auch ein wenig das Bemühen, die Situation dadurch zu entschärfen, dass er ihre Absurdität aussprach.

»Ja, du Depp«, sagte dann jedoch der Hüne in anderem Ton zu Brenner. »Bist du denn total narrisch?«

»Nenn mich nicht Depp, sonst mach ich dich fertig.«

Brenner hatte die Stimme so weit gesenkt, dass er in der sonnigen Mittagsstille nur eben so zu hören war. Obwohl Anna das nicht für möglich gehalten hätte, klang er dadurch noch aggressiver. Auch seine Augen leuchteten wieder auf wie blaue Diamanten.

Von wegen Gebirge, dachte Anna, dieser Brenner ›brennt‹ tatsächlich, genau wie sein Name sagt. Innerlich, lichterloh – aber frostig kalt wie irgendein seltsamer Eismensch …

»Scheiße, leg dich nicht mit ihm an, Sammy«, sagte der Rotwangige. »Der Kerl hat ein Messer.«

Er und der Dritte im Bunde, ein pockennarbiger Typ mit schwarzem Scheitel, standen ein ganzes Stück hinter dem Anführer, vor den auf dem Boden liegenden Holzstämmen. Kaum war die Warnung ausgesprochen, machte Brenner eine beiläufige Bewegung mit der Hand und das Messer schlug in einen der Stämme ein – höchstens ein Meter vom Bein des Rotwangigen entfernt.

»Fuck! Shit!«, rief dieser entsetzt. »Der ist ja total irre!«

Alle drei Kletterer wichen automatisch ein Stück zurück. Der mit dem schwarzen Scheitel stolperte beinah über den Baumstamm hinter ihm.

»Jetzt habe ich keins mehr«, sagte Brenner ruhig, und Anna erkannte auf seinen Lippen das gleiche spöttische Lächeln, das sie vorhin so verwirrt hatte.

Was passiert hier nur?, dachte sie. Was geht hier nur vor? Ich muss doch irgendwas tun.

»Brenner, hören Sie«, sagte sie. »Die haben doch nur einen Fehler gemacht. Deswegen können Sie doch nicht …«

»Halten Sie sich da raus.« Mit der gleichen routinierten Art wie vorhin griff er sich an die Brust und schnallte den Gurt des Gewehrs auf, sodass es hinter ihm zu Boden fiel. Gleichzeitig machte er einen weiteren Schritt auf den Hünen zu. »Ich tu hier nur meinen Job.«

Er ist tatsächlich verrückt, dachte Anna. Er will wirklich auf die drei losgehen. Irgendetwas brachte sie dazu, erneut einen raschen Blick zu dem Adler hinaufzuwerfen – und diesmal hatte sie das unheimliche Gefühl, einen Ausdruck der Genugtuung in den von strengen geraden Brauen überschatteten Augen des Vogels zu erkennen.

»Brenner, das ist doch Irrsinn. Die wollten hier doch nur ein bisschen klettern.«

»Mag sein. Aber wenn ich sage, sie sollen verschwinden, dann haben sie das zu tun. Sonst muss ich eben dafür sorgen.«

»Brenner, hallo, hören Sie mich? Brenner, wenn Sie mich hören, gehen Sie dran: Es geht um einen Adler.«

Die Stimme wurde von heftigem Knacken und Rauschen verzerrt und kam aus dem Funkgerät an Brenners Gürtel. Dass sie wie aus dem Nichts hier zwischen ihnen ertönte, schien die Situation komplett der Realität zu entheben. Es war Nationalparkleiter Künzl, und er klang ziemlich aufgeregt.

Brenner sah erst nicht so aus, als wolle er auf den Funkspruch antworten. Doch als das Wort ›Adler‹ fiel, nahm er sich das kleine schwarze Gerät vom Gürtel.

»Ja, hier Brenner«, sagte er, blickte dabei jedoch die zu Salzsäulen erstarrten Kletterer weiter finster an. »Was sagen Sie – ein Flugzeug? Verdammt … Nein, ich möchte dabeisein. Ich mache mich gleich auf den Weg. Warten Sie dort auf mich.«

3

»Na kommt, ihr lahmen Enten, die letzten Meter schafft ihr auch noch! Jetzt lasst euch nicht so hängen! Da muss man sich ja schämen, vor den ganzen Leuten!«

Simon stand mit seinem Vater am Geländer der Terrasse und rief laut zu Kathrin und Sophie herab. Gernot hatte schon ein Hefeweizen in der Hand und lächelte verschmitzt. Neben dem staubigen Schotterweg lagen große braune Kühe im Gras und schauten ihrer mühsamen Strampelei gelangweilt zu. Über der hübschen Almhütte, wo sie endlich Mittagspause machen würden, spannte sich makelloser blauer Himmel.

»Dieser kleine Mistkerl«, knurrte Sophie, die sich ein paar Meter vor Kathrin die letzte Biegung hochquälte. »Immer muss er uns blamieren. Wenn ich oben bin, bring ich ihn um.«

Sophie war Anfang des Jahres 13 geworden und so aus langer pubertärer Tradition verpflichtet, ihren zwei Jahre jüngeren Bruder aus tiefstem Herzen zu verabscheuen. Kathrin und Gernot hatten sie praktisch an den Haaren in diesen Urlaub mitschleifen müssen, und letzten Endes hatte sie sich nur breitschlagen lassen, weil sie danach mit den Eltern ihrer besten Freundin, denen Kathrin nicht wirklich traute, drei Wochen an die Algarve fahren durfte. Strand, Jungen, Freiheit: Die Vorstellung hing wahrscheinlich vor ihrem geistigen Auge wie die Karotte vorm Muli. Mit Sport hatte sie eigentlich genauso wenig am Hut wie mit jeder anderen halbwegs vernünftigen Freizeitbeschäftigung, die Kathrin und Gernot ihr vorschlugen. Trotzdem schaffte sie es an jeder Etappe, ein Stück vor ihrer Mutter ins Ziel zu kommen.

»Gleich sind wir da und können uns ausruhen«, sagte Kathrin. »Und übermorgen hast du’s dann endlich hinter dir.«

»Jetzt komm mir bloß nicht wieder mit deinem gönnerischen Ton und tu so, als würdest du meinetwegen ganz hinten fahren«, erwiderte Sophie. Die Hitze, die Anstrengung und vor fremden Leuten von ihrem kleinen Bruder ausgelacht zu werden machte sie reizbar und ehrlich. »Ich ziehe dich mit hoch und nicht umgekehrt. Nur, damit das klar ist.«

Tja, ein bisschen war es wohl tatsächlich so. Nicht so, wie Gernot Simon hinter sich herzog – als wolle er den Jungen im nächsten Jahr zur Olympiade anmelden. Aber Sophies stolligen Hinterreifen vor sich zu sehen und sich zu zwingen, nicht auch noch an sie den Anschluss zu verlieren, half Kathrin tatsächlich durch manch kritische Phase.

Eigentlich hatte sie sich immer für ganz fit gehalten. Als Jugendliche hatte sie Tennis gespielt, sogar in der Mannschaft, und konnte sich noch erinnern, wie es war, eine Gegnerin nach und nach mit ihren Schlägen in die Knie zu zwingen. Doch während des Studiums und erst recht, als die Kinder gekommen waren, hatte das aufgehört. Vor nicht langer Zeit hatte sie sich in einem Fitnessstudio angemeldet und vormittags ab und zu mal einen Kurs besucht. Doch selbst beim Yoga hatte sie immer schon nach kurzer Zeit eine Erschöpfung gespürt, die bis in die letzte Faser ihres Körpers zu reichen schien – ja, sogar irgendwie noch tiefer. Oft hatte sie mitten in der Stunde einfach ihre Matte eingerollt und den Raum verlassen; es war ihr so peinlich gewesen, dass sie irgendwann nicht mehr hingegangen war.

Auch jetzt musste Kathrin einen Gang runterschalten; das allerletzte Stück war besonders steil, und Sophie zog mit wütenden Tritten vor ihr davon. Wie eine Welle lief das lähmende Gefühl durch Kathrins Köper, und wieder musste sie an die grauenvolle Geschichte denken, die eine Freundin ihr kürzlich erzählt hatte. Eine Bekannte, gerade einmal 37 wie sie, die sich auch ständig müde und erschöpft gefühlt hatte: Krebs, hatte der Arzt ihr gesagt, als sie endlich zu ihm gegangen war – schon so weit fortgeschritten, dass der Körper außer für den Kampf gegen den schrecklichen Feind keine Energie mehr übrig hatte.

Aber was soll dann aus den Kindern werden?, dachte Kathrin, während sie verzweifelt nach der Kraft suchte, ihr breitlenkriges Rad auch die letzten Meter den elenden Berg hochzuzwingen. Nein, das ist undenkbar.

»Komm, Mama«, sagte Simon von oben, jetzt in viel zärtlicherem Ton, »Papa hat dir schon ein Radler bestellt« – und dann war es endlich geschafft. Kathrin lehnte ihr Rad gegen Sophies, die sich für ihren Auftritt auf der Terrasse noch schnell die verschwitzen braunen Strähnen aus der Stirn wischte, und stieg hinter ihrer Tochter die alten Holzstufen hinauf.

»Bravo!«, sagte Gernot, als sie sich ihm gegenüber auf die Bank setzte, und schob ihr das in der Sonne leuchtende Gemisch aus Bier und Limonade hinüber. »Das hast du dir wirklich verdient, meine tapfere Bergziege. Auf dein Wohl!«

Kathrin stieß mit ihrem Mann an und trank dankbar aus dem mit kleinen Kondenströpfchen bedeckten Glas. Dann runzelte sie jedoch die Stirn.

»Ob das eine so gute Idee ist? Wir haben schließlich noch die Abfahrt vor uns.«

»Ach was, die wird heute noch harmloser als sonst. Außerdem macht dich das vielleicht ein bisschen mutiger, was bestimmt gar nicht so schlecht ist.«

Wieder lächelte Gernot sein verschmitztes Lächeln. Doch bevor Kathrin ihm antworten konnte, schaltete sich Sophie ein.

»Und was ist mit mir?«, fragte sie mit der seltsamen chronischen Vorwurfshaltung, die sie gegenüber Gernot noch stärker an den Tag legte als gegenüber Kathrin. »Mir hast du nichts bestellt? Ich muss jetzt hier verdursten?«