Tod am Steinernen Meer - Markus Bennemann - E-Book

Tod am Steinernen Meer E-Book

Markus Bennemann

5,0

Beschreibung

Nationalpark-Ranger Veit Brenner hat in einem verwaisten Luchs einen neuen Freund gefunden und in einer Tierärztin vielleicht seine große Liebe. Doch dann kommt es zu einem seltsamen Akt der Wilderei und geheimnisvolle Geschehnisse nehmen ihren Lauf, die bis in die entlegensten Winkel der Berge führen. Ein alter Freund Brenners ist im Spiel, eine faszinierende Künstlerin - und auch ein großer Hirsch, der jenseits des Steinernen Meers wie ein Geist durch die Wälder wandelt.

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Djanna

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Ein leicht zu lesender Krimi. Der Prokurist ist Mal was anderes als die üblichen depressiven, geschiedenen Kommissare.
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Markus Bennemann

Tod am Steinernen Meer

Kriminalroman

Zum Buch

Blutiges Berchtesgaden  Es ist Frühling in den Alpen, und nach den düsteren Erlebnissen seines letzten Abenteuers sind für Veit Brenner wieder sonnigere Zeiten angebrochen. Der kernige Nationalpark-Ranger, von dem viele im Tal sagen, er dürfte eigentlich gar nicht mehr am Leben sein, hat in einem verwaisten Luchs einen neuen Gefährten gefunden. Die zuständige Tierärztin ist eine alte Bekannte – und auch hier scheint sich ein neues Glück anzubahnen. Doch da ist noch Lenz Grandl, der wilde Exfreund der schönen Mene, mit dem Brenner ein tragisches Ereignis aus der Jugend verbindet. Und da ist das Geheimnis in den Bergen, das den mit ungewöhnlichen Kräften „gesegneten“ Naturburschen weiter in seinem Bann hält. Als ein bizarrer Akt der Wilderei das frühlingshafte Bergidyll stört und kurz darauf eine faszinierende Künstlerin auftaucht, scheint sich endlich die Chance zu bieten, etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Doch wer ist Freund, wer Feind?

Markus Bennemann, geboren 1971, fühlt sich der Natur stark verbunden – wenn zum Glück auch nicht auf so unheimliche Art wie der Held seiner Krimi-Reihe. Nach dem Studium hat er als Journalist für eine Tageszeitung, Krimischreiber fürs Fernsehen und Autor vieler Sachbücher und Romane gearbeitet, bei denen die Natur immer eine Hauptrolle übernimmt. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Hauptberuflich arbeitet Markus Bennemann heute als Wissenschaftsredakteur in Wiesbaden. Wie für die zwei vorigen Teile der Reihe hat er auch für »Tod am Steinernen Meer« intensiv vor Ort recherchiert und eng mit einem Kenner der lokalen Geschichte und Bergwelt zusammengearbeitet.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Wolfsbiss (2014)

Adlerblut (2014)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © matop / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6312-9

Zitate

Fern wär er gern und ist doch nah. Nur zusehen will er

Der Meute wütendem Tun, es aber nicht selbst empfinden.

Ringsum drängen sie und senken die Mäuler ins Fleisch

Und zerreißen ihren Herrn im falschen Kleid des Hirsches.

Ovid, Metamorphosen

*

Larysa Unleasheds Mission ist es, die allgemeine Bevölkerung darüber aufzuklären, warum Menschen jagen und fischen und wie wichtig Naturschutz, kulturelle Erfahrungen und die Regeln und Vorschriften zu allem sind. Jede Show informiert kurz über die gejagten Arten, ihren Lebensraum, ihr Verbreitungsgebiet sowie den Grund, wieso sie gejagt werden; zugleich wird das Interesse von Jugendlichen und Frauen an der freien Natur gefördert.

Von der Website Larysaunleashed.com

Im Herzen der Finsternis

Als er aufwachte, dauerte es einen Moment, bis ihm aufging, wo er war.

Es war stockdunkel, feucht, und ihn umgab ein uralter Geruch nach Moder und Staub. Irgendwo aus der Dunkelheit drang auch ein leises, vertrautes Tropfen herüber. Doch bis er all diese Wahrnehmungen in seinem dröhnenden Brummschädel zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen konnte, brauchte er eine Weile.

Brummschädel war er ja gewohnt, aber das hier war noch mal etwas anderes. Auch der Rest seines Körpers fühlte sich an, als hätte er ein paar Stunden in der Schellenberger Kugelmühle verbracht. Als noch bedenklicher für seine Gesundheit war jedoch vermutlich zu werten, dass er mit Armen und Beinen an einen Stuhl gefesselt war.

Einen Knebel hatte man ihm unnötigerweise ebenfalls verpasst, und als er diesen im Mund spürte, verlor er kurz die Nerven und versuchte, die breiten Lederriemen in seinen Mundwinkeln durchzubeißen. Doch selbst seine Kräfte reichten dazu nicht aus.

Es dauerte auch nicht lang, bis er Besuch bekam – und eine noch bessere Übersicht über seine Lage.

Um ihn herum war mit Kreide ein Drudenfuß auf den Boden gemalt, dessen fünf Spitzen nun nach irgendeiner rituellen Vorschrift befüllt wurden. In die Spitze vor seinen Füßen wurden zwei große Gegenstände gelegt, die ihm nur allzu vertraut waren – dazwischen ein Akkuschrauber.

Es wirkte wie die Vorbereitung für die Art von Strafe, wie sie hier in früheren Zeiten gang und gäbe war, diente zugleich aber wohl als grausames Vorspiel für eine noch dunklere Tat.

Eine Beschwörung.

Eine Suche.

Eine Jagd.

TEIL I: EIN NEUER GEFÄHRTE

1

Die Sache verlief ganz anders, als die Zuschauer sich das vorgestellt hatten.

Bestimmt 100 Leute waren auf der großen Lichtung am Westhang des Wimbachtals versammelt. Es war später Morgen, und die Sonne war bereits so weit über den Watzmann aufgestiegen, dass sie das mittlere Tal des Berchtesgadener Nationalparks fast vollständig in klares, warmes Frühlingslicht tauchte.

Auf der Mitte der Lichtung war mit Absperrband ein weitläufiges Rechteck abgesteckt. An der dem Hang zugewandten Seite war es offen, sodass es ein wenig wirkte, als würden dort gleich die erschöpften Läufer irgendeines Bergmarathons in Empfang genommen. Auch die vielen Zuschauer und Fotografen hinter dem Band passten zu diesem Eindruck. Sogar zwei Kamerateams hatten ihre Ausrüstung das lange, von griesartigem Geröll durchzogene Tal hinaufgeschleppt und sich zu beiden Seiten des abgesperrten Bereichs in Stellung gebracht.

Der Jenner-Berglauf fand jedoch immer erst im Oktober ein Tal weiter statt. Und außer dem Reporter des »Berchtesgadener Anzeigers« machte dort auch selten jemand Presseaufnahmen.

Statt Läufern hatten sich eben zwei Mitarbeiter des Nationalparks von der höheren Hangseite aus dem Rechteck genähert. Sie waren mit einem großen, mit Luftlöchern versehenen Kasten beladen, den sie etwas umständlich unter dem rot-weißen Band hindurchmanövrierten und in der Mitte der freien Fläche abstellten.

Danach sahen die zwei in die braunen Uniformen des Nationalparks gekleideten Männer zu dessen Direktorin Gerlinde Stoll hinüber. Die große, kräftige Frau mit den strengen Gesichtszügen und der eleganten Strickjacke hatte eben in einer kurzen Ansprache erklärt, warum das bevorstehende Ereignis etwas ganz Besonderes wäre. Doch jetzt stand sie wie alle anderen am Rande des Geschehens und scherzte auf ihre knappe Art mit den örtlichen Lokalpolitikern. Durch ein kurzes Nicken ihres an die Büste einer bedeutenden Staatsfrau erinnernden Kopfes gab sie zu verstehen, dass es losgehen konnte, und die zwei Männer lösten die Riegel, die an der Vorderseite des Kastens angebracht waren.

Mehrere der Fotografen erlebten so ein Spektakel nicht zum ersten Mal. Etliche von ihnen waren auf Natur- und Umweltthemen spezialisiert und hatten ähnlichen Veranstaltungen auch schon im Pfälzerwald und anderswo beigewohnt. Sie wussten, dass es jetzt darauf ankam, voll da zu sein. Auf Sportmodus, mit dem sich mehrere Bilder pro Sekunde schießen ließen, hatten alle ihre Kameras längst gestellt und hoben sie sich nun ans Auge. Auch die Kameramänner der Fernsehteams waren den raschen Schwenk, zu dem sie vermutlich gezwungen wären, schon mehrmals zur Probe abgefahren und legten den Finger auf den Zoom, damit sie den Bildausschnitt möglichst schnell aufziehen konnten.

Alle Gespräche verstummten, erwartungsvolle Stille legte sich über die Lichtung. Am blauen Himmel kreiste eine kleine Gruppe Alpendohlen, die vermutlich darauf wartete, dass die Menschenmenge sich verzog und sie die Wiese nach liegen gelassenen Semmeln und anderen Leckereien absuchen konnte.

Die zwei Männer zogen die vordere Wand des Kastens mit einem Ruck hoch und traten ein Stück zurück. Die geballte Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich auf die dunkle, rechteckige Öffnung sowie auf das, was gleich mit vorsichtig tastenden Schritten oder – und das hielten die meisten für wahrscheinlicher – in heller, wild über die Wiese flüchtender Panik daraus hervorkommen würde.

Doch der Luchs, der aus dem Kasten trat, wirkte so gelassen, als käme er gerade irgendwo tief im Wald aus seinem eigenen Bau.

Das Tier war so groß, dass ein überraschtes Raunen durch die Menge ging; mehrere Zuschauer wichen sogar erschrocken einen Schritt von der Absperrung zurück. Die Nationalparkdirektorin hatte erwähnt, dass sich das Männchen, das jetzt etwas über ein Jahr alt war, während seiner Aufzuchtphase ungewöhnlich gut entwickelt hatte. Doch was sich da unter dem Rand der hölzernen Transportbox hervorduckte, wirkte selbst auf einige der anwesenden Experten im ersten Moment eher wie der Vertreter einer bisher unbekannten Großkatzenart als wie das, was normalerweise bei einem Exemplar der Spezies Lynx lynx – des Eurasischen Luchses, der auch Nordluchs genannt wurde – zu erwarten war.

Unter dem schwarz getüpfelten Fell, bei dem es sich bereits um das kürzere Sommerkleid handeln musste, traten deutlich die Muskeln hervor und verliehen dem Tier besonders im Bereich von Schultern und Hinterläufen ein auffallend athletisches Aussehen. Auch die Größe der gewaltigen runden Pranken stach noch mehr ins Auge, als es schon bei gewöhnlichen Exemplaren der Fall war. Selbst der Kopf, der im Vergleich zum Körper normalerweise eher klein wirkte, hatte trotz des unverkennbaren Backenbartes und der Pinselohren eine fast löwenartige Schwere. Das schwarze Senderhalsband, das man der wuchtigen Kreatur um den Hals gelegt hatte wie einem Hauskater, hätte beruhigend wirken können – tat es aber irgendwie nicht.

»Ist das ein Luchs oder ein Säbelzahntiger?«, flüsterte der Abgesandte der Berliner NABU-Zentrale seinem Nebenmann zu. »Ich hatte schon gehört, dass das Vieh groß sein soll. Aber so was hab ich noch nicht gesehen.«

»Schau nur, wie er guckt«, erwiderte der Nebenmann, ebenfalls im behutsamen Flüsterton. »Sollte es nicht eigentlich so sein, dass er Angst vor uns hat?«

Der Luchs war nicht weit von der Box stehen geblieben und ließ den Blick selbstbewusst und forschend übers Publikum schweifen. Im hellen Morgenlicht funkelten seine schwarz-weiß umrandeten Katzenaugen wie frisch geschliffener Bernstein. So schön sie waren, atmete trotzdem jeder innerlich auf, wenn sie nicht allzu lange auf der eigenen Person verweilten.

»Er hat wohl noch nicht gefrühstückt«, scherzte einer der Fotografen, worauf ein erleichtertes Lachen durch die Runde ging.

Genau in dem Moment setzte sich der Luchs in Bewegung und begann, die Zuschauer an der tiefer gelegenen Längsseite abzulaufen. Bei jedem geschmeidigen Schritt zeichneten sich die dicken Muskelpakete ab; auch Miene und Blick wirkten auf kurze Distanz noch ehrfurchtgebietender. Die ganze tierhafte Anmut und Kraft des Geschöpfes, das man hier hatte freilassen wollen wie einen Stallhasen, trat hervor und hatte aus nächster Nähe einen weit stärkeren Effekt, als sich die Zuschauer vorm Fernseher später vorstellen konnten. Selbst die leidenschaftlichsten Vertreter der These, dass Menschen von Luchsen und anderen »Rückkehrern« in deutsche Wälder keinerlei Gefahr drohe, machten vorsichtshalber ein, zwei Schritte nach hinten.

»Keine Angst, der tut ihnen nichts«, rief Direktorin Stoll über die Lichtung.

Das hörte sich in den Ohren der meisten Betroffenen jedoch so sehr nach dem an, was auch die Besitzer von bissigen Hunden immer wieder gerne behaupteten, dass es die Unruhe eher noch beförderte.

Endlich drehte das Tier ab und lief quer über die mit blauem Frühlingsenzian und rosa Lichtnelken gesprenkelte Bergwiese auf die andere Seite des abgesperrten Bereichs zu. Es war wirklich, als würde es in den Reihen der Zuschauer nach etwas suchen.

Auch auf der anderen Seite wich das Publikum zurück, als sich die etwas zu stark nach Raubkatze aussehende Wildkatze näherte – und verhielt sich damit genau so, wie man es laut jeder Luchsbroschüre gerade nicht tun sollte. Nur ein Kameramann bewegte sich nicht von der Stelle. Entweder fühlte er sich hinter dem Stativ, auf das er seinen Profi-Camcorder geschraubt hatte, sicher, oder er wollte seine Aufnahme nicht verderben.

Der Luchs blieb genau vor dem Kameramann stehen. Er reckte den Kopf, legte ihn etwas schief und schien geradewegs in das mit einer quadratischen Sonnenblende ausgerüstete Objektiv zu blicken.

»Respekt, Frau Stoll«, sagte einer der Lokalpolitiker, die neben der Parkdirektorin standen. »Den haben Sie aber gut trainiert.«

Diesmal lachte jedoch niemand, weil alle wie gebannt auf die unglaubliche Szene starrten, die sich vor ihren Augen abspielte.

Der Luchs hatte sich leicht geduckt, sodass sich die eindrucksvollen Partien an Gesäß und Schultern noch stärker vorwölbten. Vom Anlegen der Ohren begleitet, wirkte die Bewegung so gelassen und unaufgeregt wie bisher die ganze eigenartige Parade des faszinierend anmutigen Geschöpfes. Doch musste man kein Luchsexperte sein, um zu wissen, was sie bedeutete.

Die Raubkatze setzte zum Sprung an.

»Das ist der Super-GAU«, murmelte der Berliner NABU-Mann, der sich vorhin schon gefragt hatte, ob es angesichts der Ängste der örtlichen Bergbauern wirklich so klug war, hier ausgerechnet so ein Monstrum auszusetzen. »Und ich bin dabei. So eine Scheiße.«

2

Hirlinger hatte bereits früher ein paarmal mit Parkdirektorin Stoll zu tun gehabt.

Einmal hatte er versucht, sie von den lauteren Absichten eines chinesischen Investors zu überzeugen, der die Verwaltungsgebäude des Nationalparks zum Spottpreis mit Solarpanelen ausstatten wollte. Bei anderer Gelegenheit war es um die Nutzung des Nationalparklogos für die Bergschuhe eines international tätigen Kletterausrüsters gegangen.

In beiden Fällen hatte die Direktorin, die als Nordlicht hier im Grunde noch weitaus weniger heimisch war als er selbst, schnell durchschaut, dass es ihm nicht so sehr um das Wohl des Nationalparks als um den schönen Schnitt ging, den er bei den Projekten gemacht hätte.

Das hatte Hirlinger, der es mit Stolls eitlem und charakterschwachem Vorgänger erheblich leichter gehabt hatte, bereits Respekt abverlangt. Doch die Nummer mit dem Luchs, das musste er zugeben, war gleich in mehrerer Hinsicht ein Geniestreich, den selbst er nicht besser hätte hinbekommen können.

»Da kommt er, dein Kumpel«, sagte er, während das mächtige Tier, das tatsächlich noch etwas gewaltiger geworden zu sein schien, seit Hirlinger es das letzte Mal gesehen hatte, mit leicht fragendem Blick auf sie zugetrottet kam. »Hab ich dir doch gleich gesagt, dass er sich nicht einfach so aus dem Staub macht.«

»War aber eigentlich so abgesprochen«, erwiderte Brenner, der neben ihm an dem Quad lehnte, mit dem er die Transportbox – und auf dem Sozius netterweise auch Hirlinger – hier herauf befördert hatte.

»Das glaubst du tatsächlich, dass du mit ihm reden kannst, nicht wahr?«, fragte Hirlinger und schüttelte resigniert den Kopf. »Wir denken immer alle, du machst nur Witze. Aber du bist wirklich davon überzeugt.«

Brenner zwinkerte ihm zu, machte dann zwei Schritte nach vorn, ging in die Hocke und breitete die Arme aus.

»Natürlich bin ich das. Na komm her, du Strolch! Dass du aber auch nie zuhörst, wenn ich dir was sage.«

Sofort wich der Anflug von Verwirrung aus dem backenbärtigen Gesicht. Mit zwei Sätzen war der Luchs bei Brenner, stieß ihn um und begann wie das Jungtier, das er streng genommen immer noch war, mit ihm auf der Wiese zu balgen.

Hirlinger sah von dem raufenden Paar zu den Zuschauern hinüber, die das Schauspiel von weiter unten aus verfolgten, und sagte sich, dass sich allein schon für den Anblick die Fahrt auf dem unbequemen Teufelsgerät gelohnt hatte.

Er hatte es von ihrem Platz am Saum des Bergwalds nicht eindeutig erkennen können, aber anscheinend hatten eben einige der Anwesenden tatsächlich gefürchtet, der Luchs könnte sie angreifen. Kaum weniger hatten sie gestaunt, als das Tier dann kurzerhand das Hindernis aus ängstlich zurückweichenden Naturfreunden und Presseleuten, das ihn von seinem geliebten »Herrchen« trennte, mit einem hohen, über alle Köpfe hinweggehenden Sprung hinter sich ließ.

Selbst jetzt schauten ein paar der Großstadtaffen (denn so hatte Hirlinger sie trotz seiner langen Zeit in München inzwischen selbst schon begonnen zu nennen) noch so dämlich aus der Wäsche, dass es die reine Freude war. Etliche schienen nach wie vor nicht sicher zu sein, ob sie nicht gleich Zeuge eines grässlichen Blutbades würden, und blieben wohl schon aus dem Grund weiter auf Abstand.

Parkdirektorin Stoll hingegen war bereits auf dem Weg zu ihnen nach oben, gefolgt von ihrer Entourage aus Berchtesgadener Honoratioren und Kreisoberen.

Gut, dachte Hirlinger, die »Freilassung« lief etwas anders, als sie und Brenner das geplant hatten, und da würde sich die kluge Parkchefin jetzt spontan noch einen neuen Dreh einfallen lassen müssen. Aber ansonsten hatte sie mit dem Projekt Luchs, das wie die Wiederansiedlung anderer »großer Beutegreifer« schon lange auf der Agenda des Nationalparks stand, von vorne bis hinten alles richtig gemacht.

Vor einem Jahr noch war der drahtige Parkranger, der sich jetzt lachend zu Hirlingers Füßen im Gras tummelte wie ein junger Hund, ein ganz anderer gewesen – was nur zu gut verständlich war, wenn man wusste, was er alles mitgemacht hatte. Schon die jungen Jahre des inzwischen etwas über 30-jährigen Einheimischen waren nicht ganz einfach gewesen (woran Hirlinger ehrlich gesagt nicht vollkommen unschuldig war). Später jedoch war er hier in diesem idyllischen Landstrich, der zu einem der schönsten und friedlichsten Deutschlands zählte, in so seltsame und blutige Geschichten hineingeraten, wie sie sonst eigentlich nur im Fernsehen oder in billigen Romanen vorkamen.

Zuerst war da die Sache mit den Adlern gewesen, die heute noch dafür sorgte, dass jeder im Tal zweimal hinsah, wenn einer der Vögel zu lange über ihm kreiste. Am Ende hatte Brenner von jemandem drei Kugeln verpasst bekommen, von dem das im Grunde wirklich nicht zu erwarten gewesen wäre, und dass er trotzdem weiterhin unter ihnen weilte, war eigentlich das Merkwürdigste an der Angelegenheit (Hirlinger dachte über solche Dinge nicht gerne nach, aber von dem, was Brenner manchmal andeutete und was aus seinen Blicken und seiner ganzen Art herauszulesen war, konnte man in gewissen Momenten das Gefühl haben, es sei dabei tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugegangen).

Kaum ein Jahr später hatte das »Ungeheuer vom Untersberg« sein Unwesen in den Berchtesgadener Bergwäldern getrieben, und dass Hirlinger Brenner dabei geholfen hatte, den Weg zu den echten Ungeheuern zu finden, bereitete ihm heute noch ab und zu Gewissensbisse. Nach dem, was die Schweine ihm angetan hatten, hatte Brenner eigentlich keinen Tropfen Blut mehr im Leib gehabt (trotz der großen Anstrengungen, die zur Vertuschung der näheren Umstände unternommen wurden, hatte Hirlinger herausbekommen, dass es wirklich so gewesen war). Aber auch dieses Massaker hatte der junge Parkranger wieder auf wundersame Weise überlebt – und es waren andere, die nicht mehr vom Waldboden »auferstanden« waren.

Mitgenommen hatte all das den braven Kerl natürlich trotzdem, da konnte er noch so sehr aus anderem Holz geschnitzt sein als der Rest der Welt. Und als Hirlinger ihn in der Zeit danach im Krankenhaus besuchte und später seine väterliche Freundschaft aufdrängte, war er oft überzeugt gewesen, dass er sich auch nicht mehr davon erholen würde.

Vielleicht noch nicht mal wegen all des Grauens und der Gewalt, die andere anderen antaten. Sondern wegen der Möglichkeiten (und auch die waren manchmal nur schwer zu übersehen), die in Brenner selbst in dieser Hinsicht schlummerten.

3

»Na, Herr Hirlinger, was schauen Sie so düster? Unsere kleine Aktion geht zwar nicht so glatt über die Bühne, wie wir uns das vorgestellt hatten. Aber an Unterhaltungswert muss sie doch gerade für Sie kaum zu überbieten sein.«

Trotz ihrer beträchtlichen Körperfülle hatte es Parkdirektorin Stoll irgendwie geschafft, ein ganzes Stück vor den anderen den Ort zu erreichen, an den sich das Geschehen des Events unvorhergesehenerweise verlagert hatte. Hirlinger schaute ihr kurz ins Gesicht und dann zu dem Punkt zurück, wo Brenner inzwischen gut 30 Meter weiter rechts mit seinem Liebling herumtollte.

»Ich habe nur darüber nachgedacht, was für ein schlaues altes Biest Sie sind«, erwiderte er leise, trotz seiner erheblichen Übung in solchen Dingen für den Moment unfähig, sich aus seinem wahren Gedankengang zu lösen. »Schauen Sie nur, wie glücklich er ist. Können Sie sich noch erinnern, wie er vor einem Jahr ausgesehen hat?«

Stoll war sichtlich überrascht von Hirlingers Worten. Doch dieser hatte schon länger das Gefühl, dass nicht nur der Luchs, den sie Brenner damals zur Aufzucht anvertraut hatte, sondern auch der Parkranger selbst ihr mehr bedeutete, als sie gerne zugeben mochte. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter, sah dann in dieselbe Richtung wie Hirlinger und antwortete im gleichen, nachdenklich gesenkten Ton.

»Ja, ich kann mich erinnern«, sagte sie. »Ich habe ständig erwartet, dass er von einer seiner tagelangen Touren durch die Wälder nicht mehr zurückkommen würde. Als ich ihn bat, unseren kleinen Findling bei sich aufzunehmen, hat er die Sache glaube ich sofort durchschaut – vollkommen dämlich ist er ja leider nicht. Ich musste ihm erzählen, dass der arme Kerl sein Leben wahrscheinlich in einem Tierpark verbringen müsste, wenn er bei meinem Plan nicht mitmacht.«

Stoll konnte sich ein feines Lächeln nicht verkneifen, und auch Hirlinger ging es so – eine verschwörerische Geste, die wahrlich nicht oft zwischen ihnen vorkam. Offensichtlich in Sorge, sie könnte beim Schäkern mit einer so fragwürdigen Gestalt wie Hirlinger erwischt werden, warf die Parkdirektorin erneut einen schnellen Blick über die Schulter.

Doch sie konnte beruhigt sein: Sepp Angerer und Flore Pfnür, die bei dieser Veranstaltung gewissermaßen die gute Gesellschaft Berchtesgadens vertraten, waren wie der Rest des Publikums auf halbem Weg den Hang hinauf stehen geblieben, um das Schauspiel auf der Bergwiese zu beobachten.

Dass die beiden Wortführer der örtlichen Almbauernschaft überhaupt anwesend waren und der Aktion damit ihren Segen gaben, war der zweite Grund, warum Stolls Schachzug mit dem Luchswaisen Hirlinger so viel Hochachtung abverlangte.

Die vom Nationalpark gehegte Absicht, Bär, Wolf und Luchs wieder anzusiedeln, stieß bei den Almbauern verständlicherweise auf wenig Begeisterung. Auch viele Jäger, Waldbesitzer, Gastwirte und einfache Bürger standen dem Vorhaben skeptisch gegenüber. Und die bizarre Tragödie mit den Adlern vor drei Jahren, bei denen es sich noch nicht mal wirklich um »große Beutegreifer« handelte, hatte den Bedenkenträgern ja eigentlich mehr als recht gegeben.

Jetzt, wo das Tier ein ganzes Jahr mit Brenner umhergezogen und sozusagen zu »seinem« Luchs geworden war, hatte sich die Lage jedoch geändert. Das hatte zum einen sicher mit dem Auswilderungskandidaten selbst zu tun, der als Jungtier ein sehr putziges Bild abgegeben hatte, wenn er neben Brenner einhertapste, und dem Parkranger besser gehorchte als Sepp Angerer jeder seiner aufwendig abgerichteten Jagdhunde. Einige ganz Mutige hatten sogar gefragt, ob sie den Luchs streicheln durften, wenn Brenner mal wieder wie selbstverständlich mit ihm über den Berchtesgadener Marktplatz spazierte, und das Tier hatte es jedes Mal ohne Murren über sich ergehen lassen und auch gegenüber kläffenden Pinschern und Modehunden nie eine aggressive Regung gezeigt.

Vor allem aber lag die allgemeine Akzeptanz oder zumindest stillschweigende Duldung, die dem bisher nie gewagten Experiment entgegengebracht wurde, natürlich an Brenner. Der kernige Naturbursche und einstige Bauernbub hatte früher schon durch manche Tat den Respekt oder sogar die Bewunderung der Einheimischen gewonnen. Und obwohl er nie am Königsschießen oder ähnlichen Veranstaltungen teilnahm, wuchs bis heute jeder junge Kerl aus Berchtesgaden und den umliegenden Gemeinden im klaren Bewusstsein auf, dass er sich in keiner der Disziplinen, die bei der ländlichen Jugend gerne als Ausweis besonderer Männlichkeit angesehen wurden, nur annähernd mit ihm messen konnte.

Bei der Angelegenheit mit den Adlern hatte Brenner das Leben einer jungen Studentin mit dem eigenen beschützt. Und bei dem Gemetzel auf der anderen Seite des Untersbergs, das dann doch nicht komplett unter den Tisch gekehrt werden konnte, aus Sicht von Leuten wie Angerer und Pfnür auf heldenhafte Weise im »Salzburger Sündenpfuhl« aufgeräumt.

Ein bisschen unheimlich war er den Leuten natürlich auch, und besonders die paar alten Urbauern, die es in der Gegend noch gab, schauten den ungewöhnlichen Waldhüter manchmal mit einem Blick an, der Hirlinger genau solchen Anwandlungen zu entspringen schien, wie er sie selbst gelegentlich in Bezug auf Brenner spürte. Insgesamt hätte Stoll aber niemanden im gesamten Landkreis finden können, mit dem ihr die Durchsetzung des lang ersehnten Nationalparkprojekts leichter gelungen wäre.

Auch jetzt bot Brenner mit seinem »Luchs«, dem er nie einen anderen Namen gegeben hatte, wieder einen Anblick, der zwar wie aus einer anderen Welt wirkte, dabei aber von so zauberhafter Freundschaft zwischen Mensch und Tier zeugte, dass es für das Projekt und die Berichterstattung darüber eigentlich nur von Vorteil sein konnte.

Vom schlichten Raufen waren die beiden abgekommen und amüsierten sich mit Scheinangriffen, bei denen der Luchs in hohen Sprüngen auf Brenner zuflog und dieser ihn im letzten Moment beiseiteschob oder wie ein Judoka über den eigenen Körper katapultierte. Das Spiel war ungestümer und akrobatischer als ähnliche Szenen mit Raubkatzen, die man aus dem Fernsehen kannte, und der sehnige Parkranger bewegte sich so geschickt, dass es fast eher wirkte, als würden zwei halbstarke Luchsgeschwister ihre Kräfte miteinander messen. Auch Brenners wuchernder blonder Bart und Haarschopf, die Hirlinger ihm vergeblich auszureden suchte, fügten sich in diesen Eindruck, ebenso wie die paradieshafte, von goldenem Licht überflutete Bergwiese, auf der sich das Ganze abspielte.

Der Kameramann, der vorhin tapfer draufgehalten hatte, bevor das Tier über ihn hinweggesetzt war wie über ein Jägerzäunchen, ließ sich keine Sekunde der märchenhaften Darbietung entgehen. Der andere jedoch musste erst von der begleitenden Reporterin an seine Pflicht erinnert werden, bevor er aus dem Staunen aufwachte.

Über der Lichtung lag die gleiche Stille, wie sie vorhin vor dem Öffnen der Transportbox geherrscht hatte. Statt mit professioneller Anspannung und Erwartung war sie nun aber mit andächtiger Verzauberung und Versenkung erfüllt. Selbst die frechen Alpendohlen, die Hirlinger vorhin über den Zuschauern hatte kreisen sehen, hatten sich unweit der Stelle, wo Brenner mit seinem Luchs spielte, auf einem verdorrten Bergahorn niedergelassen und schienen dem Scheinkampf der beiden aufmerksam zuzusehen.

»Wo hat man das Tier noch gefunden?«, fragte Hirlinger mit rauer Stimme, plötzlich von der gleichen seltsamen Stimmung erfasst wie zuvor. »War es nicht unter einem umgefallenen Baum?«

»In der Grube unter einem Wurzelteller«, erwiderte Stoll – allerdings nicht, ohne ihm erneut einen irritierten Blick zuzuwerfen. »In solchen Verstecken legen die Weibchen die Jungen oft ab, wenn sie auf Futtersuche gehen.«

»Richtig«, erinnerte sich Hirlinger. »Und die anderen waren alle schon tot, sie hatten nicht so lange ausgehalten. Deshalb verstehen sich die zwei wahrscheinlich auch so gut. Es sind beides verlorene Seelen, die sonst niemanden haben auf der Welt.«

Wie Hirlinger durchaus verstehen konnte, legte Stoll die Stirn noch tiefer in Falten. Sein sentimentales Geschwätz war ihm ja selbst peinlich, plätscherte aber beim Anblick der irrealen Szene einfach so aus ihm heraus.

»Ja, vielleicht«, sagte die Parkdirektorin unbestimmt, räusperte sich dann und nutzte hastig einen Moment, in dem der Luchs verschnaufen musste (selbst er an Energie und Ausdauer seinem unverwüstlichen Gegner scheinbar unterlegen).

»Brenner! Brenner!«, rief sie. »Jetzt lassen Sie endlich ihre Show und verabschieden Sie sich von Ihrem Kumpel. Die Leute glauben ja so schon, wir würden ein dressiertes Zirkustier in die Freiheit entlassen. Und das Senderhalsband kriegt ihr zwei auch noch kaputt, wenn ihr so weitermacht.«

Brenner hatte natürlich keine Sekunde irgendeine Show abgezogen. Die vielen Zuschauer waren ihm genauso wenig bewusst gewesen wie dem Luchs, der jetzt ebenfalls mit regelmäßig auf und ab gehendem Brustkorb zu ihnen herübersah.

Der Parkranger blickte von Stoll in die große, vom schroffen Wimbachkarst überragte Runde und runzelte für einen flüchtigen Moment die Stirn. Dann überzog sich sein kantiges Bergführergesicht jedoch mit einem offenen Lächeln, das seit seiner Freundschaft mit dem Luchs noch einnehmender wirkte. Er nickte Stoll kurz zu und wendete sich dann zu seinem Gefährten um.

Hirlinger wusste, dass Brenner seinen Schützling in den vergangenen Wochen gründlich auf das Leben in Freiheit vorbereitet hatte und dieser bereits vor seiner offiziellen Auswilderung zum Teil tagelang allein durch den Bergwald gestreift war. Auch diesmal würde es wahrscheinlich nicht lange dauern, bis der Luchs wieder aus eigenen Stücken bei Brenners schäbiger Behausung am Reitbichl vorbeischaute oder Brenner ihn in seinem neuen Reich besuchen ging (wozu er, wie Hirlinger insgeheim vermutete, nicht mal das GPS-Signal benötigte, das regelmäßig vom Halsband des Tiers ausgesendet wurde).

Trotzdem spürte Hirlinger, wie sich sein Herz zusammenzog, als Brenner vor dem Luchs in die Hocke ging und ihm freundschaftlich die Hand an den Hals legte. Selbst aus der Ferne war zu erkennen, wie sich der Atem des Tiers plötzlich beruhigte. Brenner flüsterte seinem Freund etwas zu – am Ende, ging es Hirlinger durch den Kopf, konnte er tatsächlich mit dem verdammten Vieh reden! Der Luchs legte Brenner ebenfalls eine seiner mächtigen Pranken aufs Knie, was das Rattern der Fotoapparate auf den Gipfel trieb und die Herzen der Kamerateams mit Sicherheit auch einen Takt schneller schlagen ließ.

Dann machte Brenner eine kurze Bewegung mit dem Kopf, und der Luchs sprang mit zwei Sätzen davon und lief anschließend gemächlichen Schrittes auf den am Ende der Lichtung liegenden Wald zu.

»Da geht er hin«, murmelte Hirlinger – er musste wirklich aufpassen, dass er sich auf seine alten Tage nicht in einen weinerlichen Narren verwandelte. Doch auch auf den Augen der strengen Parkdirektorin glaubte er, einen feuchten Glanz auszumachen, der sie bestimmt nicht allzu häufig schmückte.

Einige Fotografen liefen dem tierischen Protagonisten der Veranstaltung noch ein Stück hinterher, um auch die letzten Schritte seines feierlichen Wegs in die Freiheit zu dokumentieren. Die Reporterin, die eben ihren Kameramann zur Pflicht gerufen hatte, eilte aber bereits auf den menschlichen Star des Events zu. Ihr hübsches, von üppigen roten Haaren umspieltes Gesicht trug einen Ausdruck, der Hirlinger nur allzu vertraut war und die eigenartige Melancholie, welche die Szenen der letzten zehn Minuten in ihm hervorgerufen hatten, rasch wieder in Belustigung umschlagen ließ.

»Die fällt jetzt über ihn her und lässt ihn nicht mehr aus den Klauen, bis er sie in ihr Hotelzimmer begleitet hat«, sagte er mit boshaftem Grinsen. »Gut für die Publicity bestimmt. Aber wenn unsere liebe Frau Doktor das mitbekommt, gibt es ein gebrochenes Herz mehr, um das Sie sich kümmern müssen.«

Stoll warf ihm einen tadelnden Blick zu – ob wegen seiner Anspielung auf die junge Tierärztin, die sich um das medizinische Wohl von Brenners Gefährten gekümmert hatte, oder wegen der Parkangestellten und Praktikantinnen, die sich regelmäßig in den urwüchsigen Waldschrat verguckten, das wusste er nicht genau.

Bevor die Parkdirektorin jedoch einschreiten konnte, hetzte einer der uniformierten Parkmitarbeiter, der vorhin die Transportbox getragen hatte, an der Reporterin vorbei. In der Hand hatte er eins der gelben Funkhandys, welche die Parkangestellten seit der Tragödie mit den Adlern benutzten, und im Gesicht einen Ausdruck der Bestürzung, der nichts Gutes verhieß.

Der junge Kerl hielt zuerst auf Brenner zu, doch als er die Parkdirektorin sah, wurde ihm wohl klar, dass er sie nicht einfach übergehen konnte. Außer Atem baute er sich vor ihr auf, blickte dabei aber über die Schulter immer wieder zu dem bärtigen Parkranger hinüber, der die Szene auch schon bemerkt hatte und auf dem Weg zu ihnen war.

»Es ist schon wieder passiert«, sagte der Bursche stammelnd. »Oben am Steinernen Meer. Die alte Traudl hat sie gefunden. Sie ist völlig mit den Nerven fertig. Sie sagt … sie sagt, der Brenner soll kommen und der Sache ein für alle Mal ein Ende bereiten.«

TEIL II: EINE SELTSAME TAT

1

Die alte Traudl wurde von allen stets nur »alte Traudl« genannt, doch wie alt sie war, wusste sie oft selbst nicht mehr genau. »So alt wie die Berge selbst«, war ein Satz, der ihr dann immer in den Sinn kam. Das war natürlich Schmarrn, aber trotzdem musste sie darüber lächeln.

Als das noch eine ehrenwerte Tätigkeit war und keine Sommerbeschäftigung für Frauen, die mit dem Leben nicht zurechtkamen, hatte sie lange als Sennerin gearbeitet – nicht hier in Berchtesgaden, sondern drüben in Tirol, wo es mehr Almen gab. Später hatte sie dann die Liebe zurück ins Tal getrieben, und sie hatte mit ihrem Mann mehr als 20 Jahre einen Gasthof für Wandertouristen geführt. Fast genauso lang war er jetzt tot, und weil sie nach ihm keinen anderen mehr wollte, hatte sie selbst mit dem Wandern begonnen.

Einfach so durch die Berge zu spazieren, hatte ihr jedoch ein schlechtes Gewissen bereitet – sie hatte zu lange dort gearbeitet, um sie als Ort des reinen Vergnügens zu betrachten. Also hatte sie angefangen, Müll aufzusammeln. Bunte Hüllen von Müsliriegeln, Zellophanfetzen, die aus der Ferne wie feuchte Spinnweben glänzten, auch mal die eine oder andere Bierdose. Viel war es nicht, was die Touristen liegen ließen, dafür waren die meisten doch zu anständig. Ein kleiner Beutel war trotzdem jedes Mal zusammengekommen, und der war den Leuten natürlich irgendwann aufgefallen, als sie Tag für Tag damit ins Tal zurückkehrte.

Vor zwei Jahren hatte ihr dann die Parkdirektorin feierlich das hübsche gelbe Funkgerät überreicht, das sie jetzt in ihren immer noch leicht zitternden Händen hielt. Die Direktorin hatte eine richtige kleine Zeremonie daraus gemacht, sie ins Haus der Berge eingeladen und alle Mitarbeiter zusammengerufen. Sie sei ja quasi eine von ihnen, hatte sie gesagt und ihr sogar eine der wenig ansehnlichen Jacken des Nationalparks umgehängt. Traudl hatte mitgespielt, obwohl ihr klar war, dass das Gerät mehr so etwas war wie einer der Notrufknöpfe, mit denen man allein lebende alte Menschen manchmal ausstattete – was entweder mit der fürchterlichen Geschichte mit den Adlern zu tun hatte, die nicht lange davor passiert war, oder einfach mit der Sorge, dass sie sich bei ihren Touren übernahm. Eine schöne Geste war es trotzdem gewesen.

Eigentlich wollte sie es nicht, aber dennoch schaute Traudl von dem Funkgerät, mit dem sie kurz zuvor den Park alarmiert hatte, und von dem halb gefüllten Jutebeutel, der auch heute wieder neben ihren Wanderstiefeln ruhte, zu der albtraumhaften Szene auf, die vor ihr ausgebreitet lag wie ein altes Schlachtengemälde.

»So a Irrsinn«, flüsterte sie kopfschüttelnd und merkte, wie heiße Tränen über ihre wettergegerbten Wangen liefen. Das passierte nicht oft, und normalerweise höchstens, wenn sie an ihren guten Konrad dachte, und wie schade es war, dass sie schon zu alt für Kinder gewesen waren, als sie sich kennengelernt hatten.

Die Stelle am westlichen Rand des Steinernen Meers gehörte seit drei Sommern zu den Orten, die sie am liebsten auf ihren Wanderungen besuchte. Das lag vor allem an den Steinböcken, die sich hier angesiedelt hatten. Normalerweise fand man sie eher im Hagengebirge oder auf dem Funtenseetauern. Doch vor drei Jahren war Traudl ihnen plötzlich auf dieser abseits gelegenen, von grauen Felsbuckeln durchbrochenen Bergwiese in der Nähe des Großen Hundstods über den Weg gelaufen.

Zuerst waren es nur eine Geiß und ein Bock gewesen, der stets ein ganzes Stück höher graste oder seine Hörner an einer Latsche rieb, während das weibliche Tier in den saftigen Matten weiter unten nach schmackhaften Knospen und Kräutern suchte. Im zweiten Jahr war dann eine weitere, trächtige Geiß hinzugekommen, die ihr Kitz gerade erst am Anfang dieses Frühlings abgesäugt hatte. Die erwachsenen Tiere hatten meist einen gewissen Abstand gewahrt, aber das Kleine war mit der Zeit so zutraulich geworden, dass es Traudl ein paarmal sogar aus der Hand gefressen hatte, bevor es von seiner Mutter mit einem hohen, pfeifenden Laut zur Ordnung gerufen wurde.

Die Augen von Steinböcken waren nicht wirklich schön. Wie bei Ziegen waren es waagerechte Schlitze in glubschigen gelben Äpfeln, die wachsam und misstrauisch in diese Welt zu blicken schienen, in deren gottgegebener Grausamkeit allein die schwer zu erklimmenden Gipfel der Berge eine gewisse Sicherheit boten. Doch kamen die Tiere näher und fassten Zutrauen, konnte genauso viel Güte und Treue in ihrem Blick liegen wie in dem der kleinen Kälber, die Traudl als Sennerin manchmal mit der Flasche hatte aufziehen müssen. Und das Schwarz der geweiteten Pupillen schien so tief wie das des stillen Funtensees in der Dämmerung …

»Draudl, Draudl. Is ois in Oadnung?«

Traudl schreckte hoch und merkte, dass Brenner neben ihr stand. Er hatte ganz leise gesprochen und ihr behutsam die Hand auf die Schulter gelegt. Trotzdem pochte im ersten Moment ihr Herz, als hätte der Leibhaftige sie angefasst.

»Brenna, guada God, warum musst di oiwei so oschleichn! Ma kannt glatt glam, dass du wirklich a Geist bisd. Manche sogn des jo.«

»Song sie des, Draudl, wahrhoftig? I bin koa Geist, sondern aus Fleisch und Bluat wia jeda andere. Schau, do, i hob dia an Schluck Wassa mitgebracht. Du hosd jo nie wos dabei.«

Brenner schaute sie mit dem gleichen freundlichen und freien Lächeln an, das ihr vor 20 Jahren schon an dem wilden Bub aufgefallen war, bevor sich das mit seinem Vater zugetragen hatte. Dass es genau dasselbe Lächeln war wie damals, glaubten aber wie sie die wenigsten Alten in der Gegend.

»Wossa gibt’s do om genug, wenn ma woass, wo ma’s suchn muas. A Enzian wär ma liaba gwen, wenn du dia scho de Mia machst.«

Traudl nahm die kleine geriffelte Plastikflasche entgegen, die genau so eine war, wie sie sie manchmal auf ihren Touren fand, und von der Brenner schon den Verschluss abgedreht hatte. Es war ihr ein bisschen peinlich, so mit zitternden Händen vor Brenner zu trinken, und mehr als ein paar kleine Schlucke bekam sie nicht runter. Als sie sich mit dem Handrücken ungeschickt das Kinn abwischte, merkte sie, dass auch aus ihren Augen wieder dünne Rinnsale liefen.

»Gäd’s, Draudl? Konn i di oan Moment aloa lossn?«, fragte Brenner mit noch sanfterer Stimme als zuvor. »I schau ma grod schnei ois an, und dann gengan mia mitanand zrugg ins Toi.«

»Jo, geh grod und schau dia ois o«, erwiderte Traudl, ihr Ton jetzt mit bitterer Wut gemischt. »Scheene Viecher warn’s. Und friedlich wia de Lambln.«

Sie sah zu, wie Brenner zuerst an den Rand der Steilwand ging, neben der der Aufstieg verlief. Am Fuß lag das Junge mit verdrehten Gliedern auf einem Vorsprung – Traudl hatte es auf dem Weg hierher als Erstes entdeckt. Wie viel Angst das arme kleine Wesen gehabt haben musste, um mit seinen geschickten dünnen Beinchen bei der Flucht ins Straucheln zu kommen! Traudl erinnerte sich wieder, wie es ihr damals keck die Kräuter aus der Hand gerupft hatte, und schüttelte traurig den Kopf.

Als Brenner sich dann der großen Lache aus getrocknetem Blut näherte, in der die Mutter lag, flogen mehrere Dohlen mit ärgerlichem Kreischen aus dem Gras auf. Traudl hatte gar nicht gemerkt, dass die schwarzberockten Totengräber schon bei dem Kadaver gelandet waren.

Brenner befühlte zuerst den Kopf, wahrscheinlich an den Stellen, wo man die Hörner abgesägt hatte. Dann untersuchte er den weit klaffenden, bereits von summenden Fliegen bedeckten Bauch. Auch die eigenartig aussehende Wunde, die Traudl weiter oben aufgefallen war, betastete er aufmerksam und schob sogar prüfend die Finger hinein. Schließlich hob er den schweren Körper kurz an, sodass die Beine starr wie Stöcke in die Höhe ragten, und ließ mit gerunzelter Stirn den Blick über das freigegebene Gras und die verkrusteten Büschel in der Umgebung schweifen.

»Hosd du irgendwas gehört?«, fragte er, den Kopf zu Traudl umwendend.

»Wos gehört?«, fragte sie erschöpft. »Wos moanst du, Brenna?«

Der sehnige Parkranger blickte einmal mehr suchend auf der besudelten Grasmatte umher und schaute dann den Hang hinauf, wo in einiger Entfernung die anderen Tiere lagen.

»Schüsse«, sagte er. »Oda Stimma. Host du vielleicht jemandn redn gehört, auf am Weg noch obm? Stimma drogn am Berg jo oft ziemlich weid.«

»Na, es war ois genau wia sonst«, erwiderte Traudl. »Und ois i okemma bin, san sie schon do glegn. Geseng hob i koan, des hob i üba Funk scho gsogt. Wieso? Is irgendwos merkwiadig?«

Brenner sah zu ihr hinüber und setzte schon zum Sprechen an. Dann schaute er aber auf ihre an die Flasche geklammerten Hände und winkte ab.

»Na, war nua so a Frog. Ruh di a bissal aus und denk da nix.«

Er erhob sich aus der Hocke, blieb noch kurz nachdenklich vor dem toten Muttertier stehen und stieg dann zu den anderen Kadavern auf, die nicht weniger schlimm zugerichtet waren.

So wie der Bock lag, hatte er die anderen vielleicht sogar zu verteidigen versucht, dachte Traudl, während sie der Untersuchung aus der Ferne zuschaute. Das wollte sie jedenfalls gerne glauben, auch wenn sie wusste, dass es wahrscheinlich nicht so war.

Die zweite Geiß hatte es am weitesten geschafft – fast bis dorthin, wo über den grün schimmernden Bergmatten die Felsen begannen. Nur ein paar Meter weiter, und sie hätte vielleicht im Zickzack über die zerklüfteten Schrunde ins Steinerne Meer flüchten können.

Als Brenner fertig war, zog auch er sein gelbes Parkhandy aus der Tasche und ging noch etwas höher den Hang hinauf. Wahrscheinlich wollte er Traudl ersparen, erneut bis ins Detail beschrieben zu hören, was hier an diesem schönen abgelegenen Ort geschehen war. Schließlich kam er zurück und wischte sich noch mal gründlich die Hände an der Hose ab, bevor er mit demselben sanften Lächeln wie zuvor nach Traudls Jutebeutel griff.

Traudl packte ihn am Arm und sah ihm eindringlich ins Gesicht.

»Nua weil i oid bin und nix gseng hob, hoasst des ned, dass i ned woass, wer fia de Schweinerei vaantwoatlich is«, sagte sie.

Brenner erwiderte mit seinen eisblauen Gamstöteraugen ihren Blick, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Was moanst du, Draudl?«, fragte er im unschuldigen Ton. »Hosd wen im Vadacht?«

»Stäi di ned dümma, ois du bisd, Brenna«, erwiderte Traudl, rupfte ihm zornig den Beutel aus der Hand und setzte sich Richtung Tal in Bewegung.

»Du woasst genau, wovon i red.«

2

»Sind das nicht die Steinböcke, die Hermann Göring im Dritten Reich für seine Jagd in Berchtesgaden ausgesetzt hat? Kann das etwas mit der Tat zu tun haben?«

Um Brenner Zeit zu verschaffen, sich alles genauer anzusehen, hatte Parkdirektorin Stoll die offizielle Stellungnahme zu dem Vorfall ins Haus der Berge verlegt – den modernen, an den Hang geschmiegten Bau an der Einfahrt zu Berchtesgaden, der dem Nationalpark nun schon seit etlichen Jahren als neues Informationszentrum diente. Anders als die aufwendig gestalteten, über mehrere Stockwerke gehenden Ausstellungsräume des Zentrums bot der kleine Konferenzsaal auf Straßenniveau, in dem der Termin stattfand, zwar keinen Blick auf den Watzmann. Dafür musste man nur zu den Fenstern hinaussehen, um auf dem Grundstück gegenüber die alte Kaufmannsvilla zu erkennen, in der die Polizeiinspektion von Berchtesgaden untergebracht war.

Stoll schien es, als hätten sich alle gut zwei Dutzend Journalisten, die sich dankenswerterweise zu der Auswilderung eingefunden hatten, auch hier wieder versammelt. Obwohl es Samstag war und der verpatzte Ortstermin im Wimbachtal nur etwas mehr als drei Stunden zurücklag, waren es offenbar sogar ein paar Berichterstatter mehr geworden.

Derjenige, der die Frage zu den Steinböcken gestellt hatte, saß in der ersten Reihe und war durch seine Kleidung sowie sein Vorwissen und Interesse an allem, was mit der Nazizeit zu tun hatte, leicht als Besucher aus der Großstadt zu erkennen. Wahrscheinlich hatte er gehofft, die Berchtesgadener Almbauern würden im letzten Moment doch noch ihre Meinung ändern und den im Nationalpark ausgesetzten Luchs, kaum dass er die Transportbox verlassen hatte, kurzerhand über den Haufen schießen. Aus der Story mit Görings Privatwild, das hier gut 70 Jahre nach Kriegsende der unerlaubten Jagd zum Opfer fiel, ließ sich aber natürlich auch etwas machen.

»Tatsächlich wurden die ersten Steinböcke in den 30er-Jahren wieder neu in Berchtesgaden angesiedelt«, antwortete Stoll mit freundlichem Lächeln. »Da die Tiere allerhöchstens 20 Jahre alt werden, sind es aber natürlich nicht mehr dieselben wie damals.«