Böse See - Petra Tessendorf - E-Book

Böse See E-Book

Petra Tessendorf

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Beschreibung

Ein Familiendrama vor atemberaubender Ostsee-Kulisse. Kommissar Paul Lupin, der bei seinem Vater Urlaub an der Ostseeküste machen will, findet dort alles andere als Ruhe. In einer stürmischen Nacht verschwindet die Besitzerin des Hohwachter Hotels, in dem Lupin senior ein Schreibseminar besucht. Haben die anderen Kursteilnehmer etwas zu verbergen? Wenig später kommt es zu einem unvorstellbaren Verbrechen. Lupin stellt Nachforschungen an und stößt auf einen fünfzig Jahre alten Schwur, der vielen Menschen zum Verhängnis wurde.

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Petra Tessendorf stammt aus Wuppertal und hat dort viele Jahre als Reporterin für lokale Medien gearbeitet, bevor ihr erster Roman erschien. Die acht Jahre, die sie in Ostholstein lebte, schenkten ihr tiefe Einblicke in Land und Leute an der Küste, die sie in ihren Geschichten verarbeitet. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Berlin, wo sie als Autorin, Lektorin und Dozentin für Kreatives Schreiben tätig ist.

www.petratessendorf.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Silas Manhood/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-792-7

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch Schoneburg.

Literaturagentur Dr. Patrick Baumgärtel, Berlin.

Für Albert, von dem Johann so manches hat

In der höchsten Stufe des Erkennens basiert das Wisseneines Menschen nicht länger auf Erinnerung oderSchlussfolgerungen. Sein Wissen ist impulsivund unmittelbar und von außerordentlicher Intensität.

Patañjali, Yoga-Sutra 1.49

Sonntag, Anfang Juli

Die Windböe war so heftig, dass Cecilie von Albedyll die Tür des Taxis aus der Hand flog. »Gütiger Himmel«, murmelte sie und kletterte umständlich aus dem Wagen. Vorher hatte sie dem Taxifahrer, einem missmutigen Knochen, ihr letztes Geld in die Hand gedrückt.

Die ganze Fahrt über hatte sie die Anzeige des Taxameters nicht aus den Augen gelassen. An der Golfanlage Hohwacht war sie unruhig geworden, und hinter Haßberg zeigte das verfluchte Ding genau die Summe an, die sich in ihrem zierlichen, perlenbesetzten Portemonnaie befand. Sie hatte »Stopp!« rufen müssen. Ausgerechnet an dem Waldstück, kurz bevor die Seestraße nach links ins Zentrum von Hohwacht abbog.

Natürlich hatte sie gehofft, der Taxifahrer würde sie trotzdem zum Hotel Seewald bringen. Aber sie hätte sich denken können, dass der sofort anhalten und die alte Dame, die sie für ihn war, an der Landstraße aussetzen würde. Er half ihr auch nicht aus dem Taxi. Der einzige kleine Racheakt, der ihr blieb, war, die Wagentür offen stehen zu lassen. Sie lächelte, als sie den Mann fluchen hörte, und stellte sich vor, wie der fette Molch sich aus seinem Wagen hieven musste, um die hintere Tür zu schließen.

Über ihr blitzte das Wetterleuchten, bald würde der Sturm da sein. Der Fahrer hatte sie noch gefragt, ob sie Geld im Hotel habe, was sie hatte verneinen müssen. Ihr ganzes Bargeld war beim Bingo in Lütjenburg draufgegangen; das meiste für den Sekt, von dem sie ein bisschen zu viel getrunken hatte.

Es war halb elf durch und immer noch nicht ganz dunkel. Der Wind pfiff und heulte mehrstimmige Klagelieder, aber Cecilie von Albedyll fürchtete sich nicht. Sie hatte so manche Straße zu Fuß bewältigen müssen, zu anderen Zeiten, unter anderen Umständen. Als Dreizehnjährige war sie zu Fuß und zu Pferd aus ihrer ostpreußischen Heimat Labiau geflohen; nein, Cecilie war furchtlos.

Als ihre Augen sich an das letzte Licht gewöhnt hatten, konnte sie die Seestraße deutlich erkennen, dieser helle Asphaltteppich, den einer ihrer Schutzengel vor ihr ausgebreitet hatte, um sie sicher ans Ziel zu bringen. Sie blieb einen Moment lang stehen und schaute in den Himmel, an dem der Wind schwarze Wolkentürme vor sich herschob. Dazwischen blitzten Sterne und Planeten auf, fest verankert im Universum, als wollten auch sie der alten Frau den Weg weisen. Verbündete ihrer Engel, die sie durch ihr langes Leben geleitet hatten. Cecilie schwankte ein wenig. Das lag wohl am Sekt und an dem Tempo der Wolken. Eine hatte tatsächlich die Form eines dahinjagenden Pferdes.

»Ein apokalyptischer Reiter, wenn das kein böses Omen ist«, raunte sie und ging weiter. Cecilie kannte sich aus mit derlei Botschaften und wusste sie sehr wohl zu deuten. Das aus der Ferne herannahende Donnergrollen unterstrich das ungute Gefühl noch. Sie beschleunigte ihren Schritt und zog die gehäkelte Stola enger um die mageren Schultern. Rechts lag das Ostseehotel Hohwacht, aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Nur ein paar erleuchtete Fenster zeugten von Leben. Niemand, der bei Verstand war, hielt sich jetzt noch draußen auf. Mit kleinen und schnellen Schritten ging sie weiter. Manchmal bekam sie einen Windstoß von hinten, als würden Abgesandte des Sturms sie anschieben, damit sie schneller in Sicherheit war.

Geradeaus führte der Weg zum Strand, doch Cecilie musste links abbiegen. Sie war immer noch keinem Menschen begegnet und hatte den unangenehmsten Teil noch vor sich, ein einsames Straßenstück. Hier gab es keine Häuser mehr, nur noch das Tosen des Windes und der Ostsee, welche sich zu einem einzigen Drohen zusammengetan hatten. Sie zog den Kopf ein und schob sich voran, während der kälter gewordene Wind sie von allen Seiten traktierte. Dabei hatte sie immer die Lichter des Genueser Schiffs im Auge, denn auf dessen Höhe bog links der Weg ab, der zum Seewald führte.

Ein Wagen fuhr an ihr vorbei, verlangsamte das Tempo und bog links ab. Was für ein Fahrzeug das war, konnte Cecilie nicht erkennen, mit Autos kannte sie sich nicht aus. Sie hatte nur bemerkt, dass er nicht geblinkt hatte und dass eines der Bremslichter nicht funktionierte. Bestimmt einer der anderen Gäste, dachte sie, die lassen sich doch ständig mit dem Taxi herumkutschieren.

Der hohe schmiedeeiserne Zaun des Hotelanwesens tauchte jetzt aus der Dunkelheit auf. »Lob und Dank sei ohne End dem Heiligsten und Göttlichen und allen …« Der Wind trug den Rest von Cecilie von Albedylls Dankesgebet hinaus aufs Meer, und sie atmete erleichtert auf. Die alten und windschiefen Laternen in der Auffahrt, von denen zwei kaputt waren, wiesen ihr endgültig den Weg in die sichere Festung.

Sie hatte ihr Nachthemd und den abgetragenen seidenen Hausmantel angezogen, der Piccolo, den sie sich jeden Abend gönnte, stand auch schon auf dem kleinen Tischchen neben den Fenstern ihrer Suite bereit. Sie trank einen Schluck Sekt und wandte sich dem Fenster zu. Jetzt, da sie endlich im Hotel angelangt war, konnte sie in Ruhe dem Unwetter zuschauen. Sie liebte es, von einer sicheren Warte aus die Gefahren des Lebens zu beobachten. Früher war das anders gewesen, ohne Scheu hatte sie sich allem gestellt, was ihr im Weg gewesen war. Aber die Zeiten waren vorbei. Sie hatte viel an Kraft verloren, und das machte ihr Sorgen. Was, wenn sie doch noch einmal einen Kampf aufnehmen musste, für etwas, das ihr sehr am Herzen lag? Für etwas, das sie bewahren musste, solange sie noch Nutzen davon hatte?

Das Wetterleuchten war zu Blitzen geworden, in deren zitterndem Licht die mächtigen Platanen aussahen wie tanzende Fabeltiere. Gerade als sie sich abwenden wollte, um ihr Glas nachzufüllen, sah sie jemanden durch den Park laufen. Sie öffnete einen Flügel des hohen Fensters und spähte hinaus; es war die Sundberg, diese Yogalehrerin, die unter dem Namen Daya irgendwas berühmt geworden war, Daya-Yogama Talati, glaubte sie. Aber auf jeden Fall war sie es, das sah Cecilie sofort, denn mehrere Blitze schossen herab. Die Sundberg ging schnell, lief beinahe. Sie trug die helle weite Hose, die sie schon tagsüber getragen hatte.

Daya, dachte Cecilie und verzog dabei das Gesicht. Wo sie doch eigentlich Miriam hieß, Miriam Sundberg. Cecilie hatte das gelesen, irgendwo in den Klatschblättern, die es leider auch hier gab. Irgendwelche jüngeren Gäste, die in letzter Zeit immer mehr wurden, brachten sie mit und ließen sie draußen auf den Tischen im Garten liegen oder auf den Beistelltischchen unten in der Lobby und in der Bibliothek. Und da hatte sie von der »großen Talati« gelesen, der berühmten Meisterin, Yogini oder wie das hieß. Irgendein indischer Guru hatte sie so getauft. Hieß das bei denen auch »getauft«? Cecilie würde sie aber immer nur Frau Sundberg nennen, dieser nebulöse Räucherstäbchenname war ihr zu albern.

Cecilie stellte sich auf die Zehenspitzen. Warum lief die bei dem Sturm unter den alten morschen Bäumen herum? Die Gefahr, von einem herabfallenden Ast erschlagen zu werden, war viel zu groß. Ihr Blick verfolgte die Frau, deren helles Tuch flatterte im Wind und ließ die Yogatante aussehen wie ein Schlossgespenst.

Cecilie von Albedyll schüttelte nachdenklich den Kopf, und in diesem Moment riss ihr eine Windböe den Fensterflügel aus der Hand. Leise fluchend musste sie sich weit hinausbeugen, um ihn wieder einzuholen. Da sah sie noch jemanden unten entlanggehen, ganz nah am Haus. Sie kniff die Augen zusammen, doch mehr als eine Silhouette war nicht zu erkennen.

Endlich bekamen ihre knochigen Finger den Haken zu packen, aber Cecilie musste ihre ganze Kraft aufbieten, um den schweren Flügel gegen den Wind zu ziehen. Als das Fenster endlich geschlossen war, blieb sie stehen und schaute in den Park hinunter. Der Wind fuhr durch die Baumkronen, das Rauschen und Pfeifen drang durch die Ritzen, dazu kühle Luft, weil die alten Fenster nicht mehr richtig dicht waren. Da sah sie wieder jemanden durch den Park laufen. Gütiger Himmel, dachte Cecilie. Was hier los ist um diese Zeit. Das waren bestimmt diese jungen Leute. Aus Berlin und aus Kopenhagen waren sie gekommen, nur um sich hier mit den Yogakursen der Sundberg wieder auf Vordermann bringen zu lassen. Brachten nichts als Unruhe mit in ihr geliebtes Domizil, ihre Burg. Ihre Insel des Friedens, der Kontemplation, der Kultur. Die Oase der geistigen Vervollkommnung.

Sie seufzte auf, sie war schon wieder abgeschweift, hatte sich wieder Träumereien hingegeben. Aber das mit dieser Unruhe, das musste aufhören. Vorhin erst hatte sie sich mit den anderen darüber beraten, was sie tun konnten. Es sah ganz so aus, als müsste sie die Dinge selbst in die Hand nehmen. Das hatte sie in ihrem langen Leben gelernt. Was man nicht selbst machte, wurde gar nicht gemacht.

Mit einem Stöhnen ließ sie sich in den Sessel fallen. Donnerschläge rollten schwerfällig über die Ostsee, ein erster fetter Regentropfen platschte an die Scheibe. Während sie an ihrem Sekt nippte, schaute sie den Blitzen zu, die wie von einem zornigen nordischen Gott über das Hotel geschleudert wurden. Der Sturm war jetzt angekommen, und Cecilie von Albedyll dachte an die apokalyptischen Reiter, die sie hoch oben mit den Wolken hatte jagen sehen.

Plötzlich klingelte ihr Telefon, und sie griff nach dem Hörer, den sie bequem von ihrem Sessel aus erreichen konnte. Sie meldete sich nicht mit ihrem Namen, sondern hörte einfach nur zu, nickte immer wieder und sagte schließlich: »Aber ja, mein Lieber, du machst dir immer zu viele Sorgen.«

Eine ganze Weile saß sie da und dachte nach. Mit einem schweren Seufzer erhob sie sich wieder. Nein, der Abend war noch nicht zu Ende. Er würde jetzt erst beginnen.

Einige Stunden zuvor

Das vielstimmige »Namaste« war längst verklungen, und der letzte Yogakurs des Tages war zu Ende gegangen. Die Türen des Wintergartens waren noch geöffnet, eine Windböe strich durch die Orangenbäume und ließ die Blätter rascheln.

Es war bereits nach neun, und die Sonne schickte ihre orangeroten Strahlen durch die Glasfront des Raumes, sodass sich die Fensterkreuze auf dem alten Dielenboden abzeichneten. Als Miriam Sundberg die oberen Fenster schloss, flogen bereits erste graue Wolkenfetzen über den blassblauen Himmel.

»Du bist noch hier?«, fragte Zoe überrascht, als sie ihre Mutter erblickte.

»Ich wollte noch einmal nach einem der Fenster sehen.« Miriam ging zu dem Problemfenster und rüttelte daran. »Das hier schließt nicht mehr richtig.« Sie öffnete es noch einmal und zog es dann kräftig zu, bis es hörbar einrastete.

Zoe ging zu den Türen, die hinaus in den Garten führten. »Ich denke, wir sollten die Orangen sichern, damit der Sturm sie nicht umweht.«

»Ich helfe dir«, sagte Miriam, und beide gingen hinaus, um die Pflanzen an die Wand des Hauses zu schieben.

Als sie wieder drinnen waren, deutete Zoe auf die verglaste Front. »Die Fenster machen mir auch Sorgen, sie sind ziemlich verwittert. Apropos Fenster, morgen kommt ja Christopher wegen unserer Umbaupläne. Ich bin schon total gespannt, was er sagen wird.«

»Vermutlich alles Dinge, die wir nicht hören wollen. Du kennst doch die Leute vom Bau, die finden immer was, das unbedingt gemacht werden muss.« Miriam sah kurz auf. »Andererseits, Architekten sollten nicht schon beim Planen den Rotstift ansetzen. Es soll doch gut werden.«

»Wir müssen ja nicht alles auf einmal machen lassen.« Zoe sah sich in dem Raum um. Der Wintergarten war einer der schönsten Räume des Hotels. »Christopher liebt dieses Haus. Jedes Mal wenn er hier ist, kriegt er sich nicht mehr ein. Er wird uns helfen, es wieder auf Vordermann zu bringen.«

»Will er sich eigentlich immer noch an dem Hotel beteiligen?«

»Ich denke, ja, aber er braucht noch Zeit, um alles genau durchzurechnen.« Zoe seufzte. »Es ist ein Wunder, dass wir in den letzten Jahren überhaupt noch Gäste hatten.«

Miriam nickte. »Deine Stammgäste, ja. Das Einzige, was sie von ihrem Urlaub hier abhalten könnte, wäre der eigene Tod.«

»Wenn ich die nur zu deinem Seniorenyoga überreden könnte, dann würden sie uns bestimmt noch länger erhalten bleiben.«

Zwei alte Herren spazierten in diesem Moment im Garten vorbei, anscheinend ohne die Frauen drinnen wahrzunehmen. Einer von ihnen schritt sehr aufrecht mit einem Spazierstock in der Hand, der andere hatte die Hände auf dem Rücken liegen und redete. Beide schauten dabei in die Ferne, als seien sie in ein philosophisches Gespräch vertieft.

Zoe und Miriam beobachteten die zwei Männer eine Weile.

»Die beiden zum Beispiel, die sind auch ohne Yoga noch fit«, sagte Miriam.

»Von denen gibt es hier einige, als wären sie alterslos, beinahe unsterblich. Ich glaube manchmal, dieser Ort ist für sie wie eine Kraftquelle«, sagte Zoe. »Als würden ihnen bei jedem Aufenthalt ein paar Jahre zurückgegeben.«

»Dieser Ort ist was ganz Besonderes, das spüren die Leute«, entgegnete Miriam. »Und sie lieben es so, wie es ist, auch wenn hier nicht alles neu und schick ist.«

»Ich fürchte eher, die sehen das nur nicht, weil ihre Sehkraft nachgelassen hat.«

»Deine Alten wollen es nicht sehen, sie gehören zu der Generation, die Angst vor Veränderung hat«, sagte Miriam, »aber es werden Neue kommen, glaub mir, Christopher und ich werden dir helfen, in ein paar Jahren wirst du dich voll und ganz erholt haben.« Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, als wäre ihr etwas besonders Schönes eingefallen, dabei lächelte sie Zoe an.

»Was ist?«, wollte Zoe wissen.

Miriam wandte sich ab und ging noch einmal durch den Raum. Dabei schaute sie aus dem Fenster, und es schien, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders. »Es wird ohnehin einige Veränderungen geben.«

»Wovon redest du? Was soll sich ändern?«

»Du wirst es als Erste erfahren, wenn es wirklich so weit ist.«

Miriam stand im Gegenlicht der tiefen Sonne, sodass sie wie eine Feenerscheinung wirkte. Zoe bemerkte wieder, wie anmutig sie war. Sie schrieb es ohne Zweifel dem Yoga zu, dessen fließende Bewegungen voll und ganz mit Miriam verschmolzen waren. Sie hielt sich aufrecht und bewegte sich wie eine junge Frau. Die langen weißen Haare trug sie sonst offen, nur zum Yoga band sie sie zu einem einfachen Zopf zusammen. Die klaren blauen Augen und die erstaunlich glatte Haut trugen zum jugendlich frischen Erscheinungsbild bei. In solchen Momenten konnte Zoe nicht glauben, dass sie tatsächlich ihre Mutter war, zumal Miriam sich ihr gegenüber auch nie wie eine Mutter verhalten hatte.

Miriam atmete tief ein. »Es ist schon ziemlich verrückt, aber …«, sie hob die Hand, als wollte sie sich selbst Einhalt gebieten, »wie ich schon sagte, ich habe versprochen, nichts zu verraten, bevor es so weit ist.«

Zoe gab einen resignierten Seufzer von sich. »Hat das irgendwas mit dem Hotel zu tun? Oder mit dem Umbau?«

»Nicht direkt, es hat mit einem Versprechen zu tun.« Miriam lächelte, aber es war nach innen gerichtet. Sie wandte sich ab und griff nach ihren Tüchern, die am Kleiderständer an der Tür hingen. »Ich bin noch im Büro, ich muss eine Menge aufarbeiten. Wir sehen uns dann morgen, wann wollte Christopher kommen?«

»Um elf.«

»Ich werde da sein. Und er ist im weitesten Sinne ja auch davon betroffen.«

Zoe runzelte die Stirn. »Christopher?«

Miriam verließ den Raum, ohne weiter auf ihre Tochter einzugehen.

Zoe blieb noch einen Moment stehen und dachte über das nach, was Miriam gesagt hatte. Das passte zu ihrem sonderbaren Verhalten in den letzten Tagen. Was war nur passiert? Was hatte Miriam vor? Zoe war eigentlich nichts weiter aufgefallen. Miriam gab ihre Kurse, ging in der freien Zeit an den Strand zum Schwimmen oder fuhr nach Lübeck, um Besorgungen zu machen. Aber doch war da etwas. Hatte sie sich verliebt? Dieser Gedanke war ihr schon einmal gekommen, als sie vor einigen Tagen mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Miriam hatte so leuchtende Augen gehabt, rosige Wangen, und sie wirkte so leicht und so ausgelassen. Ja, dachte sie, möglich wäre das. Aber wer sollte das sein? Einer der Hotelgäste vielleicht? Mit nachdenklicher Miene schloss Zoe die Tür hinter sich. Und von welchem Versprechen hatte sie geredet? So viele Fragen schossen Zoe durch den Kopf. Sie würde in den nächsten Tagen verstärkt darauf achten, mit wem sich Miriam traf.

An der Rezeption saß heute Abend Gerrit, ein Student, der in den Ferien im Seewald jobbte und an seiner Masterarbeit schrieb, wenn nichts los war.

»Dann beten wir mal, dass wir vom Schlimmsten verschont bleiben«, sagte sie zu Gerrit. »Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist ein entwurzelter Baum im Garten oder ein abgedecktes Dach.«

»Ich gehe zwischendurch mal gucken.« Gerrit sah von seinem Laptop auf. »Wenn was ist, rufe ich dich an.«

»Tu das, ganz egal, wie spät es ist. Dann also gute Nacht.«

Zoe ging hinaus und schaute sich in dem parkähnlichen Garten um. Die Stühle und Bänke vor dem Haus waren verwaist, es war langsam zu windig, um noch draußen zu sitzen. Es wird Veränderungen geben … Miriams Worte gingen ihr wieder durch den Kopf. Du wirst es als Erste erfahren, wenn es so weit ist.

Hoffentlich würde Miriam sich nicht doch noch in letzter Sekunde aus dem Sanierungsprojekt des Hotels zurückziehen. Sie war die Geldgeberin, ohne die Hilfe ihrer Mutter wären alle ihre Pläne dahin. Als sie das Seewald vor fünf Jahren übernommen hatten, war es in einem noch schlechteren Zustand gewesen, und sie hatten gleich zu Beginn einige kleinere Reparaturen vorgenommen. Doch seit Benjamins Tod vor zwei Jahren war sie allein zurückgeblieben und hatte es nur mit Mühe und Not geschafft, das Hotel weiterzuführen. Wäre ihre Mutter nicht gekommen, um ihr unter die Arme zu greifen, wäre sie längst pleite.

Sie kehrte ins Haus zurück, um in ihre Wohnung zu gehen, die im ersten Stock des Hotels lag. Das ungute Gefühl wurde stärker, und sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht intensiver nachgebohrt hatte. Während sie die Treppen hinaufstieg, dachte sie, dass es keineswegs sicher war, dass Miriam wirklich hierbleiben würde. Sie hat sich zeit ihres Lebens treiben lassen und war ihren Launen gefolgt. Zoe hoffte, dass sie wenigstens jetzt so viel Verantwortungsbewusstsein empfand und ihre Tochter nicht hängen ließ.

Montag

Und so kam es also, dass ich noch einmal die Vaterfreuden erleben durfte. Wenn auch … Johann Lupin hielt inne. Sagte man »wenn auch«? Er schaute auf, im Raum war es still. Ein Räuspern hier und da, ein Magen knurrte, einmal knackte ein Knochen. Sind halt nicht mehr die Jüngsten, dachte er und zupfte gedankenverloren an seinem Kinnbärtchen. »Wenn auch« hört sich irgendwie komisch an, dachte er. »Wenn auch …« Je öfter ich das wiederhole, desto falscher klingt das.

Er musste dringend an seiner Grammatik arbeiten. Es war ihm ein bisschen peinlich, wenn er da Fehler machte und das dann auch noch vorlesen musste. Aber wozu hatte er schon Grammatik gebraucht in seinem Leben? Oder auch nur Rechtschreibung? Er war ja kein Deutschlehrer gewesen. Außerdem gab es doch diese Computerprogramme, die alle Fehler rot anstrichen. Johann hatte sich im Februar den sündhaft teuren Laptop gekauft und beherrschte ihn mittlerweile aus dem Effeff. Am liebsten war er im Internet, fuhr mit Google Street View durch Reykjavík oder Valparaíso oder machte Spiele für die Optimierung der Gedächtnisleistung. Er würde sich aber wirklich mal mit diesem Programm befassen müssen.

Johann kaute an seinem Stift. Wenn auch … Auch wenn wir, also meine Frau und ich … zum Donnerwetter, so ging das nicht!

»So, meine Lieben, kommen wir langsam zum Ende. Sie können natürlich noch den Absatz zu Ende schreiben.«

Die sanfte und warme Stimme Alice Veras riss Johann aus seinen Gedanken. Mist, dachte er. Ich habe schon wieder herumgeträumt und bin nicht fertig geworden. Das ist ja so wie in der Schule damals. Gütiger Himmel, dass ich so was noch mal erleben muss! Doch Johann schrieb unbeirrt weiter, während die anderen natürlich alle schon ihre Stifte beiseitegelegt hatten. Ihn beeindruckte das nicht. Sollen die sich doch schöntun, dachte er. Es entstand eine Stille im Raum, und als Johann aufschaute, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Einschließlich der Alices, den er so sehr mochte, dass es ihm egal war, dass er seine Aufgabe noch nicht zu Ende gebracht hatte. Die lächelte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an.

»Ein Minütchen«, säuselte Johann, »ein winziges.«

»Natürlich, Johann, kein Problem«, erwiderte Alice und ging zur Terrassentür, um sie zu öffnen.

»Sie kommen zurecht?«

Johann wandte sich nach rechts. Neben ihm saß Ida Rossi, die kleine und runde Haushälterin vom Gut Havgart, die Johann bisher nur vom Sehen kannte und die bislang nicht die geringsten Anstalten unternommen hatte, näher mit ihm, dem Zugezogenen, bekannt zu werden. Dies war tatsächlich der erste Annäherungsversuch.

»Natürlich komme ich zurecht.« Was dachte die denn von ihm? Zugegeben, es war die erste Veranstaltung dieser Art, die Johann in seinem Leben besuchte. »Schreiben am Meer für Junggebliebene« hieß der Kurs, zu dem Johann sich in letzter Sekunde angemeldet hatte. Und die Zusage für einen freien Platz hatte er nur bekommen, weil eine Teilnehmerin gestorben war. Dass er jemals in einem Schreibkurs in Hohwacht sitzen würde, hätte er sich jedenfalls vorher niemals vorstellen können. Was sollte er schon seiner Nachwelt in geschriebener Form hinterlassen? Seine Kinder Charlotte und Paul und seine Enkelin Lilli kannten seine Geschichten in- und auswendig, und viel mehr Menschen, die sich für das Leben Johann Lupins, Nachfahre eines Deserteurs der napoleonischen Truppen aus dem Bergischen Land, interessierten, ließen sich bestimmt nicht finden.

Aber als er gelesen hatte, wer diesen Kurs leiten würde, da hatte er es sich doch anders überlegt. Alice Vera war ihm immerhin bekannt, er hatte sie auch schon ein paarmal gesehen. Einmal im Hofladen in Havgart, weil es hier das beste Wildfleisch gab, und dann bei einem Zwischenstopp mit seinem Fahrrad, als er ein Bier im Genueser Schiff in Hohwacht getrunken hatte. Und jedes Mal war er von ihr angetan gewesen. Die Anmut dieser schönen Frau war umwerfend.

Aber da war noch etwas anderes, auf das Johann erst während des Kurses gekommen war. Da war ihm aufgefallen, dass seine Annemarie heute so wäre wie diese Alice. Ihre Stimme, die Bewegungen, die Haare, alles war eine Weiterentwicklung seiner Frau, die vor vielen Jahren gestorben war. So als hätte er sie damals nicht beerdigt, an diesem verregneten Junitag, den kleinen Paul an der einen und dessen ältere Schwester Lotte an der anderen Hand. So als wäre Annemarie damals nur verreist und jetzt, nach sechsunddreißig Jahren, heimgekehrt. Genauso schön wie zu jener Zeit; die langen glatten Haare mit dem geraden Pony tief über den Augen, groß, schlank und vom Alter so gnädig behandelt, dass die Leute voller Bewunderung von ihr sprachen.

Dass Alice unter dem Namen Kira von Lundblad einen Bestseller nach dem anderen schrieb, war für die Gegend hier natürlich von großer Bedeutung. Alle waren stolz darauf, obwohl sie nicht unbedingt an den Büchern mitgeschrieben hatten. Aber all das kümmerte Johann wenig. Er hatte, wenn auch nur in seiner Vorstellungswelt, für einige Stunden seine Annemarie wieder.

Diese Bücher, opulente Sagas, in denen adlige Familien auf Landsitzen residierten, dunkle Geheimnisse hüteten, heimliche Liebesbeziehungen und mysteriöse Verstrickungen über Generationen hinweg vertuschten, hatte Johann noch nie gelesen. Ganz im Gegensatz zu einigen Kursteilnehmern, die während der Vorstellungsrunde am ersten Kurstag beiläufig erwähnt hatten, natürlich alle ihre Bücher gelesen zu haben. Dass Johann viel lieber seine Krimihefte las und dabei Schokolade mit ganzen Nüssen aß und Bier trank, behielt er für sich. »Jerry Cotton« kontra Achthundertseiten-Werke, die jemand aus der Gruppe als Hochliteratur bezeichnete; auf keinen Fall wollte Johann in dieser Runde eine Diskussion darüber anzetteln.

Die acht Kursteilnehmer saßen an einem langen Tisch in der Bibliothek des Hotels Seewald. In der Mitte standen Schalen mit Obst und Keksen und kalte Getränke. Er ließ den Blick an den anderen entlangschweifen und zupfte dabei an seinem Kinnbärtchen. Außer Ida, die, so hatte er in der Vorstellungsrunde erfahren, mit ihren achtundsechzig Jahren die Jüngste war, waren alle anderen Teilnehmer über fünfundsiebzig, manche deutlich jenseits der achtzig. Angehende Autoren und Autorinnen, die ihr Leben als so bedeutsam erachteten, dass es zwischen zwei Buchdeckeln für die Nachwelt bereitgehalten werden sollte. So wie diese »von und zu«, wie hieß sie gleich? Johann spähte auf das Namensschild, Cecilie von Albedyll. Obwohl, die hatte auch wirklich was zu erzählen, war als Kind aus Ostpreußen gekommen, zu Fuß oder zu Pferd, wie diese andere … ach, wie hieß die denn jetzt schon wieder? Ihm fiel nur der Name des Pferdes ein, Alarich.

Und dann war da Ludwig Kaspar, der hatte einen Sohn, und für den wollte er alles aufschreiben. Diedrich Teubner hingegen hatte fünfzehn Enkel, die sein Leben später einmal nachlesen sollten. Dönhoff! Marion Gräfin Dönhoff, jetzt hatte er den Namen wieder von der Frau, die auch zu Pferd, diesem Alarich, aus Ostpreußen gekommen war. Fünfzehn Enkel, für Johann eine der schlimmsten Vorstellungen überhaupt, gleich hinter Ertrinken und Verlust des Führerscheins. Seine einzige Enkelin Lilli schaffte es schon ganz alleine, ihn mundtot zu machen.

Während er noch über den letzten Satz nachdachte und die anderen Kursteilnehmer Unterhaltungen mit ihren jeweiligen Nachbarn aufgenommen hatten, sah er durch die geöffneten Flügel der Terrassentür einen Mann durch den Garten gehen, einen Rollstuhl mit einer Frau darin vor sich herschiebend.

»Das ist Jakob«, flüsterte Ida ihm zu, die offensichtlich beschlossen hatte, das kalte Schweigen, das sie ihm bisher hatte zuteilwerden lassen, zu brechen. »Einer von Alices Söhnen. Ein ganz lieber Junge.«

»Und wer ist die Frau im Rollstuhl?«

»Sofie, sie ist das jüngste der drei Kinder. Sie hat eine schwere Behinderung, schon von klein an.« Ida seufzte auf. »Sie kann zwar auch laufen, aber es fällt ihr doch schwer.«

Johann beobachtete die beiden. Dieser Jakob saß jetzt auf einer Gartenbank und schien seiner Schwester etwas Lustiges zu erzählen. Er hob beide Hände und ließ sie mehrmals herunterfallen, dabei lachte er und redete aufgeregt weiter. Das Gesicht der Frau sah Johann im Profil.

»Sie war Alices ganzes Glück, hat sie sich doch immer so sehr ein Mädchen gewünscht.« Ida seufzte erneut, als würde sie gerade in diesem Moment das ganze Unglück der Schriftstellerin noch einmal durchleben. »Es war ein schwerer Schlag«, sie sah kurz zu Johann hin, »also diese Behinderung ihres Kindes. Sie konnte jahrelang nicht mehr schreiben.« Wieder schaute Ida nach draußen. »Aber Jakob kümmert sich rührend um sie, schon immer, sie sind sehr eng verbunden.«

»Was tun die beiden hier?«, fragte Johann.

»Er wird Alice abholen wollen, nehme ich an. Er hilft ihr ja auch bei der Vorbereitung der Kurse.«

Johann schaute den beiden zu, die ein so harmonisches Bild abgaben, dass es ihn rührte. Er dachte an das Thema, an dem sie gerade geschrieben hatten, das »Elternglück« lautete. Alice hatte betont, dass das Wort auch ironisch oder als Gegenteil von Glück ausgelegt werden könne.

Johann fragte sich, wie Eltern damit zurechtkamen, wenn sich herausstellte, dass das Kind so schwer gehandicapt war, dass ihm ein normales und freies Leben verwehrt war. Wie diese Sofie dort draußen. Was bedeutete das für die Beziehung zum Ehepartner, für das eigene Leben, das der Geschwister? All diese Fragen gingen Johann durch den Kopf, und während er Gott dankte – an den er zwar nicht glaubte, den er aber als Synonym für eine höhere Macht benutzte, an die er sehr wohl glaubte –, dass er mit Paul und Lotte zwei gesunde Kinder in die Welt geschickt hatte, sah er Alice zurückkommen. Und plötzlich hatte er den Faden wiedergefunden und schrieb den Satz zu Ende.

Alice hatte mittlerweile Platz genommen und blickte ihre Gäste einen nach dem anderen an. »Möchten Sie beginnen, Johann?«

Der räusperte sich, setzte sich aufrecht und nahm den Block auf. Er hatte zwei Seiten geschrieben, in denen er schilderte, wie neun Jahre nach dem ersten Kind ein zweites kam. Wie sehr Annemarie ein Wechselbad der Gefühle durchgemacht hatte wegen all der Fragen: Schaffe ich das? Wird mein Kind gesund auf die Welt kommen? Johann bemerkte beim zwischenzeitlichen Aufschauen, wie ihm die anderen aufmerksam zuhörten. Mit dem Ende seines Vortrages war er nicht ganz so zufrieden, aber Alice betonte immer wieder, dass es auf die sprachliche Qualität der Texte erst mal nicht ankäme. Viel wichtiger sei es, sich von äußeren Einflüssen zu lösen, sich auf das Schreiben einzulassen und so weiter.

»… und meine Annemarie wäre so stolz, würde sie unseren Sohn heute sehen können. Paul Lupin, den Kriminalhauptkommissar aus Hamburg, der jeden Morgen aufs Neue auszieht, um den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Und der nun seinen Urlaub bei mir verbringen wird, um sich von seiner aufreibenden und strapaziösen Arbeit zu erholen.« Johann legte den Block ab und sah auf. »Ende!«

***

Paul Lupin war schwimmen gewesen und lag jetzt im Sand, um sich von dem warmen Wind trocknen zu lassen. Der Strand war voll, aber das störte ihn nicht weiter. Irgendwas war ja immer nicht in Ordnung. Auch dass er sich gerade eigentlich rundum wohlfühlte, war ihm nicht geheuer. Es fiel ihm schwer, einen Zustand einfach nur zu genießen. Er dachte dann sofort daran, dass dies nur vorübergehend war, eine Ausnahme. Nichts auf der Welt war immer schön. Schien die Sonne, so war es doch nicht mehr als eine vorübergehende Auflockerung der bedeckten Tage. Das echte, das wahre Leben war nur für die wenigsten schön, denn es spielte sich für die meisten Menschen unter verhangenem Himmel ab. Sein Job gehörte zum Schattenreich, und solange er Polizist war, würde das so bleiben. Nur leider war dieser Schatten auch noch über ihm, wenn er nicht arbeitete, und das machte ihm langsam Sorgen.

Er setzte sich auf und wischte sich den Sand von Armen und Beinen. Als er das T-Shirt anzog, prickelte die von Sonne und Salz gereizte Haut unter dem Stoff. Solange ich Polizist bin. Als er zum Strand hinunterging, drängten sich die Überlegungen von eben wieder auf, aber er wollte davon nichts wissen. Nicht jetzt. Hier war gerade kein Schatten, der alles wieder schlecht machte. Der schwebte noch in Hamburg herum und würde sich schon früh genug über ihn werfen. Bei jedem Anruf konnte sich alles schlagartig verdunkeln. Aber er traute sich nicht, das Smartphone auszuschalten, weil er immer für Johann und Lilli erreichbar sein wollte. Er blinzelte kurz in die Sonne. Obwohl ein bisschen Schatten jetzt gar nicht schlecht wäre, denn sein Gesicht brannte mittlerweile.

Unten angekommen, wanderte er langsam am Wasser entlang. Der Strand war hier, östlich des Ferienzentrums Weißenhäuser Strand, flacher, und es lagen kaum Steine am Spülsaum. Deshalb waren hier mehr Familien mit kleinen Kindern anzutreffen und natürlich die Surfer von Svens Surfstation, die hier einen Kurs belegt hatten und mit ihren Brettern und Segeln hantierten.

Nach dem Sturm, der erst über Hamburg getobt und anschließend eine Spur der Verwüstung bis an die Ostsee hinterlassen hatte, war das Wetter schöner denn je. Er ließ den Blick am Horizont entlangwandern. Es schien, als hätte der Regen allen Staub aus der Atmosphäre gewaschen; die Farben waren so intensiv wie in einem stark kontrastierten Film. Das Meer war kräftig blau, ebenso der Himmel darüber. Selbst die Luft war so klar und durchscheinend, dass er mit bloßem Auge weiter über die Steilküste bis nach Hohwacht sehen und einzelne Häuser erkennen konnte.

Es herrschte ordentlicher Seegang, weiße Schaumkronen lagen auf den Wellenkämmen, und hier unten am Wasser war der Wind stärker und frischer als weiter oben an den Dünen. Paul kramte Johanns Fernglas aus dem Rucksack, und es dauerte nicht lange, da hatte er seine Tochter auch schon im Visier. Sie hatte einen Neoprenanzug an und raste parallel zum Strand übers Wasser, ziemlich weit draußen. Schräg hinter ihr war ein blonder Junge, ungefähr in Lillis Alter. Das musste dieser Rafael sein, von dem Lilli ihm geschrieben hatte. Paul hatte in den letzten Tagen derart viele begeisterte WhatsApp-Nachrichten von ihr bekommen, wie klasse doch der Kurs sei und was sie schon alles könne, dass Paul froh war, dass Anna die Idee mit dem Surfkurs gehabt hatte. Diesen Rafael hatte Lilli gleich am ersten Tag kennengelernt, und seither schienen sie unzertrennlich zu sein.

Paul schaute den beiden eine Weile zu, dabei durchfuhr ihn eine Mischung aus Stolz und Besorgnis, und er dachte an die Zeit, in der er selbst gesurft hatte. Das Wetter heute war eigentlich nicht unbedingt was für Anfängerinnen wie Lilli. Wie würde sie in einer brenzligen Situation reagieren? Der Junge versuchte gerade eine Wende und verlor prompt den Halt, worauf Lilli kehrtmachte und sich ebenfalls fallen ließ. Ein Dritter hatte das Ganze gesehen und hielt auf die beiden zu. Vermutlich Sven, der Lehrer und Besitzer der Surfschule, dachte Paul und setzte das Fernglas ab. Sie waren ganz offensichtlich in guten Händen, das beruhigte ihn für den Moment.

Als er zur Seite blickte, sah er den Mann, der etwas entfernt neben ihm gestanden und immer mal wieder zu ihm herübergeschaut hatte, auf sich zukommen. Er war Paul aufgefallen, weil er keine Strandkleidung trug, sondern eine schmal geschnittene Anzughose und ein fliederfarbenes Hemd darüber. Wie einer, der seinen Geschäftstermin hierher verlegt hatte oder nur zufällig an den Strand geraten war.

»Ist das Ihre Tochter da draußen?«, fragte der Mann und blieb neben Paul stehen.

Paul nickte, und er begriff, wer das sein musste. »Das ist Lilli, ja. Dann sind Sie Rafaels Vater?«

»Sieht so aus, als hätten sich unsere Kinder angefreundet.« Er streckte Paul die Hand entgegen. »Christopher Vera, freut mich, können uns gerne duzen.«

»Paul Lupin, freut mich auch. Sie sind gut, unsere beiden, was?«

Vera lächelte und sah zu, wie Lilli und Rafael wieder Fahrt aufnahmen. Paul betrachtete ihn kurz. Vera hatte dunkles, mit grauen Strähnen durchzogenes volles Haar, das nach hinten gestrichen war, und schien etwa so alt zu sein wie er selbst. Der Mann galt vermutlich als gut aussehend, wirkte allerdings übernächtigt und erschöpft. Dafür war seine Kleidung von ausgesuchter Qualität, ebenso die Uhr, die er am Handgelenk trug, sie sah wie eine Rolex aus.

»Wie lange macht deine Tochter das schon?«, fragte er.

»Sie hat hier mal einen Anfängerkurs gemacht«, sagte Paul, »aber dass sie so gut ist, hätte ich nicht gedacht.«

»In diesem Alter lernen sie erstaunlich schnell, Rafael ist schon etwas länger dabei. Aber Lilli ist wirklich gut.«

Die beiden sahen ihren Kindern eine Weile schweigend zu.

»Wo wohnt ihr? Während des Urlaubs, meine ich?«, wollte Christopher Vera wissen.

»In Havgart, bei meinem Vater.« Paul musterte den Mann und dachte, dass dieser Christopher auch einen Urlaub nötig hätte. Er wirkte fahrig und angespannt, hatte während ihrer Unterhaltung zweimal sein Smartphone aus der Hosentasche gezogen und irgendwelche Nachrichten gelesen. »Ihr bleibt hoffentlich noch ein bisschen, ich glaube, Lilli hat einen echten Freund gefunden.«

»Ich habe geschäftlich hier oben zu tun«, erwiderte Christopher Vera. »Außerdem feiern meine Eltern goldene Hochzeit. Rafael bleibt also auf jeden Fall noch hier.«

»Ah, ein Familienfest.« Paul dachte daran, dass seine eigene Familie in den letzten Jahren nicht größer geworden war. Johann war schon lange allein, er selbst war getrennt, seine Schwester Charlotte war gar nicht erst verheiratet, er wusste noch nicht einmal, ob sie gerade einen Freund hatte oder nicht. Es ist eine Schande, dachte er kurz, mochte er Lotte doch so gerne. Aber jeder war voll und ganz mit seinem Leben beschäftigt, ohne nach rechts und links zu schauen.

»Sommerferien mit der Verwandtschaft«, sagte Christopher und verzog das Gesicht. »Wenn das kein Abenteuerurlaub wird. Na ja, Hauptsache, die Kinder haben ihren Spaß. Für mich wird es eher ein Arbeitsurlaub, ein altes Hotel modernisieren, in Hohwacht.«

»Ach, welches denn?«

»Das Seewald.«

»Von dem habe ich gehört, soll ziemlich marode sein.«

»Allerdings, andererseits hat es auch einen gewissen Charme. Einige der Gäste kommen nur, weil eben gerade nicht alles neu ist. Sie finden dort tatsächlich noch eine vergangene Welt.«

»So sieht es auch aus, wie es da liegt zwischen den alten Bäumen, wie ein verwunschenes Märchenschloss.«

»Wenn du auf so was stehst, solltest du schnell noch buchen, bevor dort Wellness, Spa und Luxussuiten übernehmen.« Er reichte Paul die Hand. »Also, Paul, hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

»Mich auch, bis bald.« Als Christopher Vera gegangen war, suchte Paul mit dem Fernglas noch einmal nach den beiden Surfern. Lilli und Rafael glitten mit derart betörender Eleganz übers Wasser, dass es ihm das Herz weitete. Lilli war vierzehn Jahre alt. Sie war immer noch sein kleines Mädchen, aber mit immer stärkeren Ausschlägen ins Erwachsenwerden. Das war auch ein Grund, warum er diesen Urlaub mit Lilli unbedingt gewollt hatte. Im nächsten Sommer konnte sie schon eine andere sein.

Er kramte zum wiederholten Mal das Smartphone aus dem Rucksack, es war kein Anruf eingegangen. Und vielleicht würde es auch der letzte Sommer sein, den er als Hamburger Kriminalhauptkommissar verbrachte.

***

Zoe Lauritzen hatte sich einen Kaffee gemacht, ging durch die Bibliothek nach draußen und setzte sich damit auf die oberste Stufe der Treppe, die in den hinteren Teil des Gartens führte. Der Rasen war übersät mit abgerissenen Ästen und Blättern, die der nächtliche Sturm von den Bäumen gerissen hatte. Der alte Ebbe Harmsen, der ihnen bei leichten Hausmeisterarbeiten half, war schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen gewesen und hatte den vorderen Teil des Gartens, in dem die meisten Hotelgäste verweilten, einigermaßen wiederhergestellt. Als sie und Benjamin das Hotel gekauft hatten, war Ebbe quasi im Gesamtpaket enthalten gewesen, und sie hatten ihn mit übernommen. Zoe hatte ihn vom Fenster aus gesehen, wie er, wie immer vor sich hin fluchend, mit dem Rechen Blätter und Äste zusammenfegte.

Ebbe war inzwischen mit seiner Schubkarre an den riesigen Holunderbüschen angekommen. Gerade beobachtete sie, dass der Alte etwas Helles aus den Stauden zog, es sah aus wie eine Tüte oder etwas anderes, das der Sturm hergeweht hatte. Er betrachtete es und warf es in die Karre. Dann nahm er den Rechen auf und machte sich wieder an die Arbeit.

Heute war für Zoe ein großer Tag. Christopher Vera, ein befreundeter Architekt, wollte kommen, um gemeinsam mit ihr und Miriam zu besprechen, welche Sanierungsarbeiten am dringendsten waren und welche Erweiterungen oder Umbauten im Anschluss machbar waren, wenn sie die Auflagen des Denkmalschutzes beachteten. Dass sie aufgrund des mittlerweile offensichtlich maroden Zustands des alten Gemäuers nicht längst pleite waren und auch der Ruf des Hotels bisher noch keinen Schaden genommen hatte, war einzig Miriam zu verdanken. Seit sie hier war, stiegen die Besucherzahlen deutlich an, auch außerhalb der Hochsaison. Das Seewald war jetzt über die Grenzen Schleswig-Holsteins bekannt für Miriams Yogakurse. Sie waren so beliebt, dass sich bisher noch niemand über lose Steckdosen, Risse in den Badezimmerkacheln oder klemmende Schiebetüren in der Dusche beschwert hatte. Miriams geistige und körperliche Praktiken schienen die Gäste derart zu entspannen und ins Gleichgewicht zu bringen, dass sie solche Dinge wohl als Nebensächlichkeiten betrachteten.

Zoe warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich hätte ihre Mutter längst hier sein müssen, sie hatten sich, eine Stunde bevor Christopher kommen wollte, verabredet, um noch einmal einige Details zu besprechen. Sie ging erneut in die Empfangshalle, dort saß heute Morgen Stina, eine pummelige Auszubildende im letzten Jahr, die gerade freundlich telefonierte. Stina war immer freundlich. Das komplette Gegenteil von Ebbe, dem Hausmeister. Selbst den unwirschesten Gästen kam sie bei, weil sie niemals die Fassung verlor. Bei Ebbe hingegen musste sie aufpassen, dass dieser nicht die Gäste anblaffte, wenn er besonders schlechter Laune war.

»Stina, hast du Miriam immer noch nicht gesehen?«

Das Mädchen hatte gerade den Hörer aufgelegt und schüttelte den Kopf. Sie hatte die blonden Haare oben auf dem Kopf zusammengebunden, und ihre langen, strassbesetzten Ohrringe flogen samt Zopf hin und her. »Komischerweise noch gar nicht. Ist sie überhaupt hier?«

»Das ist seltsam«, murmelte Zoe und ging hinaus, um auf den kleinen Parkplatz seitlich hinter dem Haus zu schauen. Dort stand Miriams hellblauer Fiat.

Am Empfang war Stina jetzt im Gespräch mit zwei älteren Herrschaften, die sich über den nächtlichen Lärm ihrer jungen Nachbarn aus Kopenhagen beschwerten. Zoe ging an ihnen vorbei in ihr Büro, das hinter der Rezeption lag. Dort nahm sie ihr Handy und wählte Miriams Nummer, doch es meldete sich sogleich die Mailbox. Da Zoe wusste, dass Miriam diese niemals abhörte, legte sie auf.

Als sie zurückkam, sah sie Christopher in die Vorhalle treten.

»Zoe.« Er blieb vor ihr stehen und begrüßte sie mit zwei angedeuteten Wangenküssen. Dann schaute er sie fragend an. »Alles in Ordnung?« Offenbar hatte er gleich ihre besorgte Miene gesehen.

»Hallo, Chris, ich weiß nicht, aber Miriam ist nicht da.«

Christopher runzelte die Stirn.

»Sie ist nirgends. Ans Telefon geht sie auch nicht.«

»Sie weiß aber schon, dass wir eine Verabredung haben?«

»Ja, sicher. Wir haben ja gestern noch davon gesprochen.«

Christopher sah Zoe aufmunternd an. »Sie kommt bestimmt noch. Ich muss mir ohnehin erst mal einen Überblick verschaffen. Gibt sie heute Kurse?«

Zoe nickte. »Um drei beginnt der erste. Bis dahin muss sie spätestens wieder zurück sein, von wo auch immer. Wir warten noch ein paar Minuten, und dann schauen wir uns trotzdem alles in Ruhe an. So hast du ein erstes Bild und kannst mir vielleicht auch eine grobe Hausnummer nennen, in welchem Millionenbereich wir uns hier bewegen.« Sie rollte mit den Augen.

Sie gingen durch die Eingangshalle in die Ecke, in der einige Sessel und Sofas vor den bodentiefen Fenstern zum Garten hinaus standen.

»So schlimm wird das nicht, denke ich. Die Grundsubstanz des Hauses ist gut, es ist ein solider Bunker«, sagte Christopher und zog sein Smartphone aus der Jackentasche. »Es wird also nicht über euch zusammenfallen.«

»Das Dach macht mir Kummer«, sagte Zoe.

»Wir haben eine Drohne, die wird uns verraten, wie es da oben aussieht.« Christopher machte Aufnahmen von den Stuckverzierungen der Decke, dann wandte er sich den Fenstern zu. »Ich hoffe nur, meine Familie lässt mir Zeit zum Arbeiten«, sagte er, während er sich die Rahmen anschaute, von denen die Farbe abgeplatzt war. »Du weißt ja, wie einnehmend die sein können. Vor allem jetzt, vor der Feier.«

»Ach ja, die goldene Hochzeit.« Zoe erinnerte sich daran, dass Jakob ihr davon erzählt hatte. »Feiert ihr denn groß?« Sie setzte sich in einen der Sessel.

Christopher lächelte. »Henrik und Alice hätten diesen Tag am liebsten ignoriert, du kennst sie doch. Aber wir konnten sie wenigstens zu einem gemeinsamen Essen überreden, unten am Strand. Ich hoffe nur, sie überlegen sich das nicht in letzter Sekunde anders und hauen einfach ab, einen Zettel am Kühlschrank – ›Keinen Bock, lasst euch alleine volllaufen‹ – oder so was in der Richtung.«

Zoe lächelte. »So was wäre Miriam auch zuzutrauen, immerhin waren sie und deine Eltern beste Freunde. Aber gestern hat sie mit keinem Wort durchblicken lassen, dass ihr irgendetwas an diesem Projekt nicht passt. Im Gegenteil, ich glaube, sie freut sich darauf. Sie wollte auch wissen, ob du hier mit einsteigst.«

»Ich denke, ja, zu achtzig Prozent. Das hatte ich ihr auch so gesagt.« Christopher lehnte sich an eine der Säulen, die die Sitzecke von der Eingangshalle optisch abtrennten, und sah an ihr hoch. Es war eine Nachbildung der Säulen eines griechischen Tempels mit fein ausgearbeiteten schneckenförmigen Verzierungen am Kapitell. »Das hier sind tragende Säulen. Auf ihnen ruht der ganze Planet Seewald.« Er klatschte mit der flachen Hand auf den glatt polierten Stein. »Die tragen unser ganzes Vorhaben. Es muss halt nur Miriam mitspielen.«

»Sie spielt mit«, sagte Zoe nachdenklich. Ich bete zu Gott, dass sie dabei ist, dachte sie. »Sag mal, wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«

Er dachte kurz nach. »Vor ein paar Wochen vielleicht.«

»Nicht in den letzten Tagen?«

Christopher schüttelte den Kopf. »Wieso?«

»Miriam plant etwas. Ich habe keine Ahnung, was es ist, aber für sie scheint es eine große Sache zu sein. Sie macht ein Riesengeheimnis daraus. Und du hast angeblich irgendwas damit zu tun.«

Er sah sie erstaunt an. »Ich?« Dann lachte er. »Sie meint das Hotel, eine andere Verbindung zu mir gibt es aus Miriams Sicht nicht. Die Alten können schon seltsam werden, hoffentlich wird das nicht noch schlimmer.« Er zückte wieder das Smartphone und deutete darauf. »Sollen wir einen Rundgang machen? Das bringt dich auf andere Gedanken. Wir können später immer noch mit Miriam reden.«

Zoe schaute eine Weile ins Leere. »Lass mich noch kurz telefonieren. Guck dich schon mal um, ich komme gleich nach.«

Zoe ging in ihr Büro, um ihr Telefon zu holen. Du wirst es als Erste erfahren, wenn es so weit ist. Miriams Worte gingen ihr erneut durch den Kopf. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie unberechenbar ihre Mutter war und dass sie sie eigentlich gar nicht richtig kannte.

***

»Alice ist eine faszinierende Frau.«

»Finden Sie?« Idas Ton war spitz.

»Nun ja, wenn man bedenkt, wie erfolgreich sie als Schriftstellerin ist und doch so bescheiden«, erwiderte Johann.

Er wusste mittlerweile, dass Ida Alice sehr mochte, immer mit großer Bewunderung von ihr sprach. Ida kannte sie ihr ganzes Leben lang. Sie waren früher Nachbarn gewesen, und Ida hatte als Hausmädchen bei den Veras gearbeitet, bevor sie von Hohwacht nach Havgart gezogen war, nachdem sie ihre Stellung auf dem Gut bei Felix von Thomsen angetreten hatte.

Johann hatte sich einen Zigarillo angesteckt und saß mit Ida auf einer weißen Bank ganz am Rand des großzügigen Anwesens des Seewald. Nach Ende des Kurses hielten sich die Teilnehmer noch ein Weilchen im hinteren Teil des Parks auf, gingen plaudernd umher oder standen in Grüppchen herum, um ihre Eindrücke des Kurses weiterzugeben oder sich über Literatur auszutauschen.

»Alice ist einer von den Menschen, die Glück im Leben hatten«, führte Ida seine Gedanken fort. Sie streckte ihre kurzen, stämmigen Beine aus und ließ die Füße kreisen. »Mal von dem behinderten Mädchen abgesehen, hat sie alles erreicht, was sich eine Frau ihrer Generation nur wünschen kann.«

Johann dachte darüber nach, während er gemächlich paffte. Eigentlich wie ich auch, dachte er. Trotz des frühen Verlustes meiner Frau und anderer Nackenschläge. Dafür ist mein Lebenstraum in Erfüllung gegangen, und ich habe ein Häuschen mit Meerblick, immer noch den Führerschein und meine neue Bekanntschaft neben mir auf einer Gartenbank aus dem letzten Jahrhundert, auf der bestimmt schon der ein oder andere berühmte Dichter gesessen hatte.

Diese Ida schien viele Facetten zu haben, das hatte er während der gemeinsamen Zeit in den Schreibkursen mitbekommen. Johann hatte die kleine, runde und energische Frau mit dem kurzen Haar, deren Vater Italiener war, immer im Fokus gehabt. Die hingegen hatte ihn links liegen lassen, obwohl sie ihn sehr wohl registriert hatte, im Winkel ihrer wachen dunklen Augen. Was will der denn? Braucht sich nichts einzubilden, dieser zugezogene Piefke, hatte sie ihm vermittelt. Zumal ihr Arbeitgeber Felix von Thomsen, Herr des Gutes Havgart, im Februar in einen tragischen Mordfall verwickelt gewesen war. Und da Paul indirekt an der Aufklärung mitgewirkt hatte, gehörte Johann als Vater des Kommissars, der sich »ihren Jungen« vorgeknöpft hatte, naturgemäß zum Feind Nummer eins. Was Johann später schwer beeindruckt hatte, zeigte sich darin doch die Charakterfestigkeit dieser Frau.

»Schicksalsschläge sind das Salz in der Hühnersuppe«, sagte er nach einer Weile. Er wandte sich Ida zu. »Durch wie viele dunkle Kapitel haben Sie sich in Ihrem Leben schon geblättert, um beim Thema Schreiben zu bleiben?«

Ida lachte auf. Ein kurzes, fettes und kehliges »Haha«, wobei ihr ganzer Körper bebte. »Ich schlage jeden Tag eins auf.« Sie machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung. »Na ja, ist vielleicht ein bisschen übertrieben.« Sie seufzte. »Nennen Sie mir einen, den das Schicksal verschont hat. Und dann hat Alice auch noch den wunderbarsten Mann, der sie auf Händen trägt.«

»So, hat sie?«

»Henrik, ja.«

Johann zuckte mit den Schultern.

»Sagen Sie bloß, Sie kennen Henrik Vera nicht?« Ida klang beinahe empört. Als wäre es eine unverzeihliche Bildungslücke, den Ehemann der berühmten Schriftstellerin, des Aushängeschilds dieser Gegend, nicht zu kennen. »Er ist ein Forscher, Biologe, hat sein halbes Leben in Südamerika verbracht. Ist kreuz und quer durch den Urwald gekrabbelt. Hat sogar eine bis dahin unbekannte Tierart entdeckt, hm … ein Frosch … nein, ich glaube, es war ein Meerschweinchen. Es wurde sogar nach ihm benannt. ›Schweinchen Henrikii Veraii‹ oder so ähnlich.«

Johann zog eine Augenbraue hoch.

Ida schaute auf ihre Armbanduhr. »Ach herrje, ich muss gleich los. Der Yogakurs fängt um drei an, und ich muss mich noch umziehen.«

»Ah, nun gehen Sie zur zweiten Berühmtheit unserer Gegend, zu Miriam Sundberg.«

»Daya, sie heißt doch Daya-Yogama Talati«, korrigierte sie ihn harsch, dann überlegte sie. »Obwohl, Sie haben recht, ich kenne sie ja auch noch als Miriam. So ein Künstlername bringt nur Verwirrung.« Jetzt lächelte sie wieder. »Oh ja. Diese Frau sorgt dafür, dass ich auch noch in zehn Jahren in der Lage sein werde, Ohren und Knie zusammenzubringen.«

Johann betrachtete sie neugierig. »Das können Sie?«

»Aber sicher, wollen Sie mal sehen?« Sie grinste, als sie Johanns Gesicht sah. »Später, wenn wir mal unter uns sind, hier ist es mir dann doch zu vornehm. Ich kann Ihnen gern mal Janu Sirsasana vorführen. Oder Bhastrika, das ist die Feueratmung.«

»Hört sich nicht ganz risikofrei an.«

Ida stand auf, straffte den Rücken und begann nun, geräuschvoll ein- und auszuatmen, sodass sich ihr Bauch noch mehr nach vorne wölbte, als er es ohnehin schon tat, um sich dann wieder zusammenzuziehen. Dabei machte sie dieselben Geräusche wie Johanns Blasebalg im Schuppen, wenn er damit die Glut in seinem kleinen Grill anheizte.

»Und das machen dann alle gleichzeitig?«

»Ganz richtig. Das ist eine Übung aus dem Hormonyoga. Miriam hat ja lange in Indien gelebt, dort hat sie das alles gelernt, von einem berühmten Meister höchstpersönlich. Aber für diese spezielle Form, also die Übungen für uns Alte, dafür ist sie extra nach Brasilien gegangen zu dieser … äh … also Brasilianerin halt.« Sie dachte einen Moment nach. »Rodrigues, Dinah Rodrigues. Die ist mittlerweile dreiundneunzig und sieht aus wie siebzig. So will ich auch mal sein.« Sie musterte Johann. »Wäre das nicht auch was für Sie?«

Ein Bild schoss in Johanns Kopf, wie die Teilnehmer des Schreibkurses, all die runzeligen und morschen Wiedergänger, im Kreis standen und diese Geräusche von sich gaben. Durch den ständigen Druck auf die Eingeweide würde er mit Sicherheit einen fahren lassen, außerdem würde er sich ein Kichern nicht verkneifen können, wenn das jemand anderem passieren sollte. »Vielen Dank, mir reicht mein täglicher Spaziergang die Küste entlang.«

Mit Schaudern dachte er an die Bilder, die sich vor ihm auftaten: verdrehte Körper mit verknoteten Gliedmaßen. Niemals würde er ohne Hilfe in solch einer widernatürlichen Stellung ausharren, geschweige denn wieder aus ihr hinausfinden. Laut sagte er: »Die Senioren sind hier in der Gegend zu einer lukrativen Zielgruppe geworden. Schreibkurse für Senioren, Yoga für Senioren. Es gibt auch Zeichen- und Töpferkurse für unsereins.«

»Es gibt ja fast nur noch Alte hier, schauen Sie sich doch um. Aber Miriam hat mit ihren Kursen das Hotel vor dem Untergang bewahrt und –« Ida hielt inne. »Da ist er, Henrik, meine ich.« Sie deutete nach links, und Johann sah einen Mann den Weg entlanggehen. »Was macht der denn hier? Der ist doch sonst nie hier.«

»Diesen Holzfäller da meinen Sie?«

»Ein toller Mann.«

»Soso.« Johann musterte den Mann der Alice Vera jetzt genauer. Er trug ein rot-braun kariertes Hemd, eine abgewetzte Jeans und hatte sich die langen, ehemals wohl dunklen und jetzt mit Grau durchzogenen Haare mit mehreren Gummis zusammengebunden, die sowohl oben als auch in der Mitte und am Ende des Zopfes saßen. Er war groß und ein wenig schlaksig und hätte auch vierzig oder fünfzig sein können – jedenfalls aus der Ferne betrachtet und von hinten.

Henrik Vera ging langsam mit seiner Frau über den Rasen, und es schien, als unterhielten sie sich über etwas Ernstes. Keiner der beiden hatte ein Lächeln im Gesicht, vor allem Alice wirkte besorgt, fand Johann. Das war ihm aber auch schon im Kurs vorhin aufgefallen. Sie hatte immer wieder aus dem Fenster geschaut, hatte den Blick auf Jakob und Sofie ruhen lassen.

»Er sieht aber ernst aus, vielleicht hat er gerade erfahren, dass das letzte Schweinchen Henrikii ausgestorben ist«, murmelte Johann und drückte den Zigarillo aus.

»Also wirklich.« Ida spähte ebenfalls zu den beiden hinüber. »Aber Sie haben recht, sie sehen bedrückt aus. Möglich, dass es mit der goldenen Hochzeit zu tun hat, die ist ja bald.«

Johann erinnerte sich, dass Ida einen Text dazu geschrieben hatte. »Bei der Hochzeit damals waren Sie ja dabei gewesen«, sagte er.

»Allerdings, wenn auch nur gegen Ende. So was Chaotisches habe ich vorher und nachher nie mehr erlebt.«

»Sie haben viel Anteil am Leben der Familie gehabt.«

»Oh ja«, rief Ida nicht ohne Stolz aus. »Eine Haushälterin bekommt mehr mit als manches Familienmitglied, glauben Sie mir. Ich könnte glatt eine Biografie über die Veras schreiben.«

»Warum tun Sie es nicht? Wir kriegen doch gerade beigebracht, wie man so was macht.«

»Den Teufel werde ich tun. Alles Private breittreten, nur um sich selbst aufzuspielen. Solche Leute kann ich auf den Tod nicht ausstehen.« Ein erneuter Blick auf die Uhr. »Jetzt muss ich aber wirklich los.« Sie hielt Johann den Arm hin. »Monsieur Lupin, begleiten Sie mich zu meinem Fahrrad!«

Johann erhob sich ebenfalls. »Es ist mir eine außerordentliche Ehre, Signora Rossi.«

***

Alice überlegte schon seit Längerem, ob sie diese Kurse noch anbieten sollte, ihr wurde das langsam doch zu viel. Aber sie hatte schon seit einigen Jahren kein neues Buch mehr veröffentlicht, und das, an dem sie gerade arbeitete, war noch lange nicht fertig. Bisher hatten sie keine Geldsorgen gehabt, aber dennoch war jede Einnahme auch wichtig. Die Kurse waren nicht billig und immer ausgebucht. Sie konnte sich das einfach erlauben. Alice glaubte, dass die Leute noch deutlich mehr bezahlen würden, um ein paar Tage gemeinsam mit der großen Lundblad schreiben zu dürfen.

Immerhin hatte sie Jakob, der ihr eine große Hilfe war. Gut möglich, dass sie ohne ihn längst damit aufgehört hätte. Er bereitete alles vor, kopierte die Arbeitsblätter und stellte das Arbeitsmaterial zusammen, stellte die Getränke, Gläser und Snacks bereit und erledigte die Buchhaltung. Er hatte auch die Idee gehabt, die Schreibkurse in der Bibliothek des Seewald abzuhalten, es passte perfekt. Zum einen war die Atmosphäre sehr inspirierend, zudem war der Raum sehr schön, er war hell, und durch mehrere verglaste Türen konnte man auf die Terrasse und in den dahinterliegenden Garten gelangen. Was ebenfalls für die Bibliothek sprach, war, dass fast alle Teilnehmer Gäste des Hotels waren. Das war überhaupt Jakobs Argument gewesen. »Hier geht dir die Kundschaft nie aus, Mama.«

Jakob war ihre rechte Hand, war ihr Auge, ihre Stimme. Seit ein paar Jahren las er außerdem die Hörbücher der Kira von Lundblad ein, denn er hatte sich mittlerweile zu einem professionellen Sprecher und Vorleser entwickelt, obwohl er weiterhin in seinem erlernten Beruf als Landschaftsgärtner arbeitete. Alice konnte sich nicht erinnern, dass Jakob jemals einen Tag ausgelassen hatte, um Sofie vorzulesen. Deshalb verreiste er auch nie allein, sondern immer nur mit seiner kleinen Schwester. Schade nur, dass Jakob und Christopher sich nicht verstanden. Das war damals schon so gewesen, und sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sich das jemals ändern würde. Sie hoffte nur, dass sich die beiden wenigstens bei ihrer Feier zusammenreißen würden. Das war ihre einzige Antwort gewesen, als die Jungen – natürlich jeder für sich – sie gefragt hatten, was sie sich wünschten.

Acht Personen würden sie am Mittwoch sein. Sie selbst und Henrik, Jakob, Sofie und Christopher mit seiner Frau Berit und den Kindern Bennet und Rafael. Acht Leute, das sind nicht viele, ging es Alice durch den Kopf. Acht, für fünfzig Jahre Ehe. Christopher und Jakob hatten viel größer feiern wollen, doch Alice hatte sich überhaupt nur dazu bereit erklärt, wenn sie unter sich blieben. Henrik hatte auf gar nichts Lust, aber sie hatte ihn überreden können. Jaja, wenn ihr gutes Essen habt, komme ich vielleicht.

Der 8. Juli war vor fünfzig Jahren auch ein Mittwoch gewesen, und für einen kurzen Moment erschien es Alice, als wiederholte sich gerade alles, als würden sie an irgendetwas anknüpfen. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese kleine Feier ausgehen würde, da war ein großes Nichts, etwas stand ihren Gefühlen im Wege.

Sie hatten ihren Hochzeitstag nie gefeiert. Drei Kinder, Sofies Behinderung und die Arbeit beider hatten die Jahre nahezu unbemerkt vergehen lassen. Einzig der Blick in den Spiegel hatte ihr gezeigt, dass sie alt geworden war. Siebzig war alt, keine Frage. Und zwanzig war jung; damals hatte sie Henrik Vera geheiratet, einfach so, weil sie Lust auf ein Fest hatten. Und weil sie sich unwiderstehlich fanden. Sowohl sich selbst als auch den jeweils anderen. Es war überbordende Lebenslust und Eitelkeit gewesen, und sie hatten sie ausgekostet bis zum Gehtnichtmehr. Seltsamerweise war Alice dieses Lebensgefühl immer noch sehr nahe, viel näher als zum Beispiel die Geburt der Kinder oder ihre Erfolge als Schriftstellerin. Dieses Gefühl, alles, wirklich alles machen zu können, war nie verschwunden.