Brachland - William Boyle - E-Book

Brachland E-Book

William Boyle

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Beschreibung

Gleich zu Anfang geschieht ein Mord. Ein Spieler schuldet dem Mafioso Tony Ficalora Geld. Der Polizisten Donnie Parascandolo soll den Rückstand für ihn eintreiben. Doch Donnies besitzt ein leicht aufbrausendes Temperament, ist vor kurzem durch den Selbstmord seines Sohnes völlig aus der Bahn geraten. Donnie wirft den Spieler von einer Brücke. Angeblich ein Selbstmord. Zwei Jahre später wird er aus dem Polizeidienst entlassen, weil er einen Vorgesetzten geschlagen hat, und arbeitet von da an Vollzeit für Tony Ficalora. Der Sohn des Opfers, Mikey Baldini, hat das College abgebrochen und ist nach Hause zu seiner Mutter zurückgekehrt, die für die Schulden ihres Mannes gerade stehen muss und sie in kleinen Raten abbezahlt. "Brachland" erzählt von einer Nachbarschaft, die der Willkür ausgesetzt ist. In der ein Mord lange Schatten wirft und das Leben Unschuldiger zerfrisst. Sie alle ringen mit sich, hoffen oder haben längst aufgeben. Zwei Generation gefangen zwischen Sackgassen, die allesamt auf der Flucht sind. Vielleicht Boyles liebevollster Blick auf "Gravesend" und seine Nachbarstraßen.

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EPUB

Seitenzahl: 463

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William Boyle

Brachland

Aus dem Amerikanischen von Andrea StumpfHerausgegeben von Wolfgang Franßen

Die Übersetzung wurde gefördert durch:

Originaltitel: City of Margins

Copyright: © William Boyle 2020

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2022

Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf

Mit einem Nachwort von Ulrich Noller

© 2022 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Sven Koch, Gabriele Werbeck

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © FitchGallery / Adobe Stock

Autorenfoto: © Katie Farrell Boyle

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-48-2eISBN 978-3-948392-49-9

Dem Andenken von David Berman gewidmet.Danke für die Songs und Gedichte.

Inhalt

Prolog

Juli 1993

Ava Bifulco

Nick Bifulco

Mikey Baldini

Rosemarie Baldini

Ava Bifulco

Donnie Parascandolo

Mikey Baldini

Donna Rotante

Nick Bifulco

Antonina Divino

Rosemarie Baldini

Mikey Baldini

Ava Bifulco

Donnie Parascandolo

Nick Bifulco

Donna Rotante

Donnie Parascandolo

Antonina Divino

Rosemarie Baldini

Ava Bifulco

Nick Bifulco

Donnie Parascandolo

Mikey Baldini

Ava Bifulco

Antonina Divino

Donnie Parascandolo

Rosemarie Baldini

Ava Bifulco

Mikey Baldini

Donna Rotante

Donnie Parascandolo

Antonina Divino

Nick Bifulco

Ava Bifulco

Donna Rotante

Mikey Baldini

Nick Bifulco

Donnie Parasandolo

Antonina Divino

Ava Bifulco

Mikey Baldini

Epilog

Antonina Divino

Mikey Baldini

Danksagung

Das Ganze – in seinen Teilen

From a distance,The city looks like broken glass.

Joe Bolton: »Little Testament«

I’m the fire, I’m the fire’s reflectionI’m just a constant warning to take the other direction.

Jim Carroll: »City Drops into the Night«

She believed that all life from the womb to the grave was a coincidence. She knew that in the womb it was indubitably coincidence; in fact, everything about the womb was coincidence, from what went in it to what came out of it. She believed in coincidence as a pilot believes in air. He doesn’t see it, but he’s flying many tons of steel on it, so it must be there.

Her whole life was a series of coincidences, one stumbling after another.

Chester Himes, Pinktoes

Prolog

Juli 1991. Südbrooklyn

Donnie Parascandolo

»Ich war bei Suzy, als es passiert ist«, sagt Donnie Parascandolo und tritt mit dem Bier, das in seiner Hand langsam warm wird, von der Küchentheke weg. »Ehrlich. Ich kapier die Frau nicht. Sie mag Boxen. Sie mag Grillkäse. Sie mag Rudolph das Rentier. Und sie ist immer in der Nähe, wenn was Seltsames passiert.«

»Echt, sie mag Rudolph?«, ruft Sottile vom Sofa und tippt sich an die Brust. »Ich mag Rudolph auch.«

»Sag bloß«, sagt Pags und holt sich ein frisches Bud aus dem Kühlschrank.

»Schau ihn dir doch an«, sagt Donnie. »Klar mag er Rudolph. Wahrscheinlich wichst er auf Rudolph. Wichst du auf Rudolph, Sottile?«

»Einmal hab ich’s versucht«, antwortet Sottile, ohne mit der Wimper zu zucken. »Hat mir nichts gegeben.«

Alle lachen.

Sie sind in Donnies Wohnzimmer. Für einen allein ist das Haus ziemlich groß. Er hatte mal Frau und Kind. Seine Frau hieß Donna. Donnie und Donna. Perfekt. Eine Verbindung, die im Meerschweinchenhimmel geschlossen worden war. Sie hatten sich ein großes Schild mit ihren Namen machen lassen. Ihr Sohn hieß Gabe. Der Name war Donnas Idee. Für Donnie klang Gabe nach einem First Baseman, der im Schnitt traurige .232 und praktisch keine Homeruns schlug, pro Saison nur um die vierzig Runs erzielte und seine Position bloß behielt, weil er gut fangen konnte. Gabe war kein einfaches Kind. Schwermütig. Vor etwas mehr als einem Jahr, in seinem zweiten Highschooljahr, hat er sich umgebracht. Soweit Donnie weiß, gab’s keinen bestimmten Auslöser. Es steckte in Gabe drin, eine Depression oder so. Er hat sich im Keller an einem Wasserrohr aufgehängt. Donna hat ihn gefunden. Nach der Beerdigung haben sie es noch zwei Monate miteinander ausgehalten, dann haben sie die Scheidung eingereicht.

Donna ist im Viertel geblieben, sie wohnt ein paar Straßen weiter in der Eighty-Fourth Street. Sie hat gesagt, dass sie nichts von ihm will, nicht mal Geld. Sie wollte einfach neu anfangen und hat nur ihre Platten – sie liebt ihre Platten – und ein paar von Gabes Sachen in Kisten gepackt. Damit ist sie in eine kleine Wohnung im Haus einer alten Frau gezogen, die mit ihrer Mutter hin und wieder Binokel gespielt hat. Er ließ sie gehen. Blieb ihm auch nichts anderes übrig. Bis auf die Sachen, die Donna mitgenommen hat – einige Bücher, Baseballkarten, Kinderspielzeug, sogar ein paar Klamotten – ist Gabes Zimmer noch genau so, wie er es verlassen hat. Donnie betritt es nie und öffnet auch nie die Tür.

Seit ungefähr einem halben Jahr führt er jetzt eine On-off-Beziehung mit Suzy. Nichts Ernstes. Dass sie bei ihm einzieht, kommt gar nicht infrage. Mit vierundvierzig und einem toten Kind im Gepäck hat er keine Lust, sich noch mal zu binden. Er ist gerne Cop. Er geht gerne mit Sottile und Pags was trinken. Er hat nichts dagegen, jeden Tag dasselbe zu essen, solange es was Chinesisches oder Pizza oder Butterbrötchen ist. Wenn er ehrlich ist, ist er auch froh, sich keine Sorgen mehr um ein Kind machen zu müssen. Ein Kind bedeutet Stress. Schule, Ärzte, Ausgaben ohne Ende. Nicht zu vergessen, dass man verantwortlich ist. Was das bedeutet, hat er auf die harte Tour lernen müssen.

Zum Glück haben Sottile und Pags keine Kinder. Das haben sie sich erspart. Gut, Sottile hätte beinahe eins gehabt. Zu der Zeit kannte Donnie ihn noch nicht. Sein Kind kam tot auf die Welt. Kurz darauf ist seine Frau gestorben. Wie sie hieß, weiß Donnie nicht. Sottile findet nicht, dass er und Donnie viel gemeinsam haben, weil sein Kind ja nicht gelebt hat. Pags geht schon die Muffe, wenn ihm eine Frau zu nah kommt. Für Donnie macht das den Umgang mit ihnen leichter. Wenn die anderen verheiratet wären und Kinder hätten, hätte er wegen Gabe ziemlich zu knabbern. Er redet nicht darüber, aber die Bilder sind ihm ständig präsent. Gabe als Baby in seinen Armen, schlafend auf seiner Brust, auf dem Wohnzimmerboden spielend, an Weihnachten als Engel verkleidet. Solche Erinnerungen wischt man nicht einfach weg.

Inzwischen haben er, Sottile und Pags es sich ganz gut eingerichtet. Zum einen ist da die Arbeit. Nach Dienstschluss die Blue Sticks Bar oder das Wrong Number, oder sie gehen auf ein Bier zu ihm nach Hause und schauen ein Yanks-Spiel. Und dann sind da die Jobs für Big Time Tommy Ficalora. Donnie hat sie immer schon gemacht, aber seit Gabes Tod sind es mehr geworden. Tommy ist eine kleine Größe im Viertel, und besonders gerne lässt er Cops und Ex-Cops für sich arbeiten. Sie sind vor allem fürs Grobe zuständig, Schulden eintreiben und so. Manchmal transportieren sie was, manchmal lassen sie was verschwinden, das wegmuss. Manchmal machen sie auch richtige Drecksarbeit. Darauf ist Donnie spezialisiert, einen Arm brechen, jemandem die Luft abdrücken, bis er bewusstlos ist, wenn nötig auch mehr. Er hat kein Problem damit, auf beiden Seiten des Gesetzes zu stehen. So gut wie kein Cop, den er kennt, ist wirklich sauber. Entweder sind sie bestechlich, oder sie langen gleich selbst in die Kasse. Die meisten kassieren Schutzgeld. Manche beteiligen sich an Versicherungsbetrug und fackeln für die Mafia irgendwelche Schuppen ab. Die Verheirateten betrügen ihre Frauen oder schlagen sie, aber so was hat Donnie nie gemacht. Er kennt wenigstens einen, der regelmäßig Nutten vergewaltigt, aber hinhängen wird das kranke Arschloch keiner. Nach Dienstschluss arbeiten viele Cops für die andere Seite, manche auch vorher. Sie haben alle jede Menge Dreck am Stecken und verraten sämtliche Überzeugungen, die sie mal hatten. So ist das eben.

Wie dem auch sei, inzwischen fühlt sich Donnie in dem großen Haus ganz wohl. Nach der Trennung hat er überlegt, es zu verkaufen und wie Donna in eine kleinere Wohnung zu ziehen, aber er geht gerne durchs Haus, öffnet und schließt Türen, schläft in verschiedenen Zimmern, sieht aus den verschiedenen Fenstern auf die Straße und den Schulhof der P.S. 101 auf der anderen Straßenseite. Nur in den Keller und in Gabes Zimmer geht er nicht.

»Und dann?«, fragt Sottile.

»Und dann was?«, fragt Donnie.

»Du wolltest gerade erzählen, was passiert ist, als Suzy dabei war.«

»Scheiße, stimmt.« Donnie kippt den Rest seines Biers und rülpst laut.

Pags applaudiert mit der Dose in der Hand. Er hat sich wieder neben Sottile auf das Sofa gesetzt. Hinter ihnen läuft der Fernseher mit leisem Ton, die Werbepause ist zu Ende, und die Spielübertragung wird fortgesetzt. Es ist die zweite Hälfte des zehnten Innings. Die Yanks versuchen, den Deckel drauf zu machen.

»Ich erzähl gleich weiter, aber lasst uns das erst noch schauen«, sagt Donnie. Er macht die Kühlschranktür auf, um sich ein weiteres Bier zu holen. Ein Trauerspiel. Nur noch sechs Bud. Irgendwas aus Oliven von Pastosa. Ein bisschen Parmesan. Der Rest von einem Roastbeefsandwich. Die Box mit dem Lo Mein von gestern hat ein Leck, und die ganze Glasplatte ist versaut. Er öffnet die Bierdose und schlägt die Tür zu. Dann setzt er sich zu Sottile und Pags auf das Sofa.

Die Yanks nehmen Howe raus und bringen Farr.

»Also?«, sagt Sottile.

»Okay«, sagt Donnie. »Wir sitzen grad im Lombardo. Ich hab Kalb. Suzy Fisch. Dazu ein Gläschen Wein.«

»Und in dem Moment kommt wer?«

»Dunbar, der Sesselfurzer. Spaziert einfach rein. Am Arm ’ne hübsche Braut.«

»Und was sagt er?«, fragt Pags.

»Er sagt: ›Das hätt ich dir gar nicht zugetraut, Parascandolo.‹ Dann dreht er sich zu Suzy und sagt: ›Wie viel zahlt er dir? Bestimmt zu wenig.‹ Und wiehert los.«

»Du hast ihn doch hoffentlich ignoriert?«

»›Guten Abend, Captain‹, hab ich gesagt. Jedenfalls was Höfliches.«

»Schleimscheißer.«

»Hey, was hätt ich denn tun sollen?«

Das Spiel geht weiter. Donnie schlägt auf die Sofalehne. Die Yanks brauchen einen. Kommt schon.

»Das war’s?«, fragt Sottile.

»Das war erst der Anfang«, sagt Donnie.

»Und? Wie ging’s weiter?«

»Moment, Moment. Er hat den Ball. Zwei Outs.«

»Oh Mann, du machst es echt spannend.«

Farr schafft die Outs. Donnie steht auf, stellt das Bier auf den TV-Tisch neben die Videokassetten, die er bei Wolfman’s besorgt hat. Fremde Schatten und Cobra und wieder mal Young Guns II. Eigentlich leiht er sich ständig dieselben Filme aus.

»Also«, sagt Pags.

»Na ja, nach dem Nachtisch geh ich aufs Klo, und da steht Dunbar und pisst. Er sagt, dass er weiß, was ich von ihm halte, was ihr beide von ihm haltet, was die ganzen weißen Cops aus dem Department von ihm halten. Genau so hat er’s gesagt: ›die ganzen weißen Cops‹. Also wir alle.«

»Da hast du ihm bestimmt gesagt, dass er nur einen mickrigen Al-Sharpton-Verschnitt abgibt, oder?«

»Ich hab ihm gesagt, dass ich immer fair bin. Dass jeder bei mir eine faire Chance kriegt. Darauf er: ›Du hältst dich wohl für ganz toll. Du hältst dich wohl für Stallone höchstpersönlich.‹«

»Du siehst ja auch aus wie Sly. Nur nicht mehr so frisch. Dauert noch ein paar Jährchen, bis Sly dich spielen kann.«

»Leck mich«, sagt Donnie, muss aber lachen. Sottile und Pags reißen ständig Witze über sein Aussehen. Gut, er ist etwas verbraucht, aber er macht immer noch was her. Sottile und Pags dagegen sehen aus wie die hässlichen Brüder von Danny DeVito, Wabbelbäuche, Schweißflecken unter den Armen, Walrossschnauzer, in denen immer Krümel hängen, und Boxershorts, die riechen, als hätten sie sie mit einer Portion Corned Beef gewaschen.

»Okay, weiter mit Captain Dunbar«, sagt Sottile.

»Dunbar bohrt also seinen Zeigefinger in meine Brust. Seine Augen sind blutunterlaufen. Er sieht aus wie Yaphet Kotto. Sonnenklar, dass er sich ein paar hinter die Binde gekippt hat.«

»Sly und Yaphet Kotto«, sagt Sottile. »Showdown vorm Pissoir. Die Spannung steigt.«

»Wer ist Yaphet Kotto?«, fragt Pags.

»Du kennst Yaphet Kotto nicht? Der hat in Alien und Midnight Run mitgespielt.«

Pags nickt.

»Also«, fährt Donnie fort, »er sagt: ›Ich weiß, dass das letzte Jahr schwer für dich war, aber wenn du dich nicht zusammenreißt, putzt du bald an der nächsten Straßenecke Windschutzscheiben.‹ Dann sagt er noch in diesem, ihr wisst schon, affigen italienischen Tonfall: ›Capisce?‹«

»Echt jetzt?«, fragt Pags.

»Wenn ich’s doch sag.«

»Dreist. Und was hast du gemacht?«

»Ich pack ihn am Arm, als er mir wieder den Finger in die Brust bohren will, und wünsch ihm einen guten Abend. Dann schenk ich ihm mein freundlichstes Fick-dich-Grinsen.«

»Cool«, sagt Pags. »Ich wette, er hat gekocht.«

»Du traust dich was, das muss man dir lassen«, sagt Sottile.

Donnie steht auf und geht zum Fernseher. Als er sich vorbeugt, um ihn auszuschalten, fangen die Nachrichten an. Heute Abend ist die Hübsche dran. Sie trägt ein rotes Kleid und blutroten Lippenstift. Aber schon ist sie wieder verschwunden, und ein Reporter im Trenchcoat steht an irgendeinem Tatort vor einer blinkenden Ampel. Donnie knipst den Fernseher aus.

Er tritt an das Fenster hinter dem Fernseher und zieht die Gardine auf. Wenn’s nach ihm ginge, hätte er keine Gardinen. Er hätte Rollos oder überhaupt nichts. Die Gardinen sind dünn, wie aus Papier, seine Mutter hat sie genäht. Deshalb nimmt er sie nicht ab, außerdem lohnt es nicht die Mühe.

Er blickt auf den Schulhof auf der anderen Straßenseite. Die Straßenlampe neben dem Basketballkorb wirft einen Lichtkegel auf den Asphalt, auf den etwas mit Kreide gekritzelt ist. Das Ganze erinnert an ein trauriges Gemälde, denkt er. Die Dunkelheit um den Lichtkreis, der gebrochene Ring des Korbs, die Stille.

In dem Moment sieht er, wie die kleine Antonina Divino aus der Dunkelheit tritt. Na ja, klein war mal. Sie wohnt mit ihrem Vater Sonny und ihrer Mutter Josephine um die Ecke. Früher hat Donnie sie oft gesehen, wenn sie auf ihrem Rad um den Block gekurvt ist. Er hat sie mit ihrem Hula-Hoop-Reifen auf dem Schulhof oder mit ihren Freundinnen Himmel und Hölle spielen gesehen. Süßer Fratz. Ein Energiebündel. Inzwischen dürfte sie vierzehn oder fünfzehn sein, und sie hat nichts an außer einem weißen Bustier und pinken Shorts. Lacht. Ihre braunen Haare fallen ihr bis über die Schultern. Er traut seinen Augen nicht. Sie muss Drogen genommen haben. Beinahe hätte er Sottile und Pags gerufen.

In dem Moment tritt Mikey Baldini aus dem Schatten und legt seine Arme um Antonina. Mikeys Dad Giuseppe ist bei Big Time Tommy mit fünfundzwanzig Riesen in den Miesen. Wie’s der Teufel will, steht morgen ein Besuch bei Giuseppe an. Big Time Tommy hat angeordnet, dass sie ihm eine Kniescheibe zertrümmern, falls er nicht mit der Kohle rüberkommt. Dann sind die Arme dran. Und wenn das nichts hilft, muss er ins Wasser. Am liebsten würde Donnie Schritt eins und zwei überspringen. Giuseppe ist ein Jammerlappen. Man muss nur seinen Jungen anschauen. Ein richtiger Freak. Donnie kennt ihn bloß aus der Ferne. Er ist von seinem ersten Semester in dem Upstate-College zurück, mit diesen Dingern in den Ohren, diesen komischen Stöpseln, und dem tätowierten schwarzen Strich das Kinn runter – was soll der Scheiß? In der Schuluniform von Our Lady of the Narrows mag er ja mal ganz nett ausgesehen haben, aber jetzt ist er völlig versifft. Die Haare sehen aus wie ein festgewachsener Wischmopp. Der Hoodie ist speckig. Und so einer hat was mit der kleinen Antonina? Außerdem ist sie gar nicht alt genug.

»Was ist los?«, fragt Sottile, als Donnie in das leere Zimmer auf der Rückseite des Hauses marschiert. Ohne eine Antwort schnappt sich Donnie den Baseballschläger, den er hinter der Kommode deponiert hat.

»Was ist denn da draußen?«, fragt Pags.

»Herrgott noch mal.« Sottile kämpft sich hoch. »Und ich wollt mir gemütlich einen ansüffeln.«

»Die kleine Antonina aus der Nachbarschaft«, erklärt Donnie. »Sie ist fünfzehn, wenn’s hochkommt. Giuseppe Baldinis Sohn ist bei ihr. Sieht so aus, als würde er sie gleich unter dem Baseballkorb flachlegen.«

»Ja und?«, sagt Sottile.

»Gehen wir«, sagt Pags.

Schon sind sie zur Tür raus, Donnie vorneweg, den Schläger an der Seite, Sottile und Pags einen Schritt hinter ihm. In Formation laufen sie über die Straße und an einem abgestellten Van vorbei zu der Ecke, wo der Haupteingang des Schulhofs liegt.

Donnie wirft einen Blick durch den Maschendrahtzaun. Mikey küsst Antoninas Hals. Seine Hände liegen auf ihren Hüften. Beim Klang ihrer Schritte sieht er auf. Antonina auch.

Die drei Männer treten durch das Tor. Sie befinden sich im dunklen Teil des Schulhofs.

»Wer ist da?«, fragt Antonina.

»Keine Bewegung«, sagt Donnie.

»Was soll der Scheiß?«, sagt Mikey.

Donnie tritt ins Licht, neben ihm Sottile und Pags. »Weg von dem Mädchen. Heb die Hände hoch.«

Mikey macht den Eindruck, als würde er sich jeden Moment in die Hose scheißen, vielleicht hat er ja den Schläger gesehen.

Antonina erkennt Donnie. »Mr. Parascandolo«, sagt sie und verschränkt die Arme über der Brust. »Es ist alles in Ordnung. Er ist mein Freund.«

»Das soll dein Freund sein?«, sagt Donnie zu ihr. »Wie alt ist er denn, dein Freund? Du bist fünfzehn, oder? Er ist achtzehn oder neunzehn, richtig? Das ist nicht erlaubt.«

»Wer ist das?«, fragte Mikey.

»Du kennst mich nicht?«, fragt Donnie.

»Das sind Cops«, sagt Antonina zu Mikey, und dann zu Donnie: »Lassen Sie ihn bitte in Ruhe. Wir unterhalten uns nur.«

»Hat er dir was gegeben?«, fragt Donnie.

»Gegeben?«

»Drogen?«

»Ich nehm keine Drogen, Mr. P.«

»Du gehst auf die Kearney, oder?«

»Ja.«

»Bringen sie dir das dort bei? Dass du dem erstbesten Freak, der dir übern Weg läuft, einen runterholen sollst? Schau dir die Witzfigur doch an.«

Jetzt erst sieht Donnie Mikeys Gesicht richtig. Die schwarze senkrechte Linie von seiner Unterlippe bis zum Kinn ist von kleinen schwarzen Punkten gesäumt.

»Was soll das überhaupt für ein Tattoo sein?«, fragt er den Jungen.

Mit unsicherer Stimme antwortet Mikey. »Ich war in New Paltz mit ein paar Crust Punks befreundet. Die haben mir das gemacht. Sieht ziemlich fies aus, was?« Er entspannt sich etwas, überlegt, dass der Schläger vielleicht nur Eindruck schinden soll.

»Crust Punk? Was soll ’n das sein?«, fragt Donnie. »Du hast sie ja nicht mehr alle. Ich nenn dich von jetzt an Chin. Und was soll der Schrott in deinen Ohren?«

Mikey zuckt die Achseln und streicht mit dem Daumen über die schwarzen Stöpsel, die seine Ohrläppchen auf die Größe von 50-Cent-Stücken dehnen.

»Er mag’s«, sagt Donnie und imitiert dabei die Stimme des Jungen aus der Life-Cereal-Werbung. Pags und Sottile lachen.

Mikey, dieser miese Freak, der so gar nichts mit dem süßen Jungen aus der Frühstücksflockenwerbung gemein hat, holt eine Flasche MD 20/20 aus der Tasche seines Hoodies, schraubt den Verschluss ab und nimmt einen großen Schluck. Einen langen, großen Schluck. Dieser Penner mit seinem Pennerwein lebt, und Gabe ist für alle Zeiten tot, denkt Donnie mit ein paar Bier intus.

Mit dem Schläger in der Hand geht Donnie zu Mikey und reißt ihm die Flasche aus der Hand.

»Wollen Sie was?«, fragt Mikey. »Nur zu. Ich bin gerade in Spendierlaune.«

»Ein kleiner Witzbold«, sagt Donnie über die Schulter zu Pags und Sottile.

»Ja, zum Totlachen«, erwidert Pags.

Donnie sieht auf das Etikett. Rotweingeschmack. Ein paarmal hat er schon MD 20/20 getrunken, aber nur den Orange Jubilee und den Peaches & Cream. In seiner Jugend war’s Thunderbird. Er dreht die Kappe ab und nimmt einen großen Schluck. Dann reicht er die Flasche Pags, der sie kurz ansetzt und an Sottile weitergibt, der zögert, den Hals mit seinem Ärmel abwischt und daran nippt, als wäre es Dom Perignon.

»Hast du davon getrunken?«, fragt Donnie Antonina. »Hat er dir von dem Zeug zu trinken gegeben?«

»Nein«, sagt Antonina.

Donnie hält den Schläger quer über die Brust. »Du gibst einer Fünfzehnjährigen Pennerwein?«, fragt er Mikey.

»Fünfzehn?«, sagt Mikey. »Ich dachte, sie ist sechzehn, ich schwör’s.«

Sottile gibt Donnie die Flasche zurück. Donnie gluckert den Rest weg, rülpst und wirft die Flasche über seine Schulter. Die Flasche zerspringt auf dem Asphalt hinter dem Basketballkorb.

Mikey schluckt. Er schwitzt.

»Lass uns gehen«, sagt Antonina.

»Wo ist dein T-Shirt?«, fragt Donnie.

»Da drüben«, sagt sie und deutet ins Dunkle.

»Dann hol’s. Oder willst du, dass das ganze Viertel denkt, du wärst eine puttana?«

Antonina verschränkt die Arme über der Brust und rennt zum Schulhaus. Donnie sieht ihr nach. In der Dunkelheit ist sie nur ein heller Schatten, der sich bewegt. Sie erreicht einen Türeingang, bückt sich und hebt ihr T-Shirt auf. Rasch zieht sie es über den Kopf und kommt zurück. Das T-Shirt ist pink, und quer über der Brust steht in weißer Schrift ASTROLAND.

»Wissen deine Eltern, wo du bist?«, fragt Donnie Antonina.

Sie schüttelt den Kopf.

»Vielleicht sollte ich rübergehen und mich mit deinem Dad unterhalten. Bestimmt interessiert es ihn, was du hier draußen treibst.«

»Bitte nicht. Bitte tun Sie den Schläger weg. Mikey hat mir nichts getan.«

»Ich mach dir Angst, was? Vielleicht ist es ja ganz gut, wenn dir jemand mal Angst macht.«

»Donnie«, sagt Sottile, »lass sie in Ruhe. Sie ist doch noch ein Kind.«

»Und der?«, sagt Donnie, hebt den Schläger und macht einen Schritt auf Mikey zu. »Er ist schon im College. Mr. Fucking Chin. Eins kann ich euch sagen, durch seine Adern fließt das Blut eines Feiglings.«

Er spricht von Mikeys Vater, diese Lusche, aber er nennt ihn nicht beim Namen. Mikey kennt Donnie nicht, weiß nicht, dass er nebenher für Big Time Tommy arbeitet, vielleicht weiß er nicht mal, wie tief die Scheiße ist, in der Giuseppe steckt.

»Hören Sie, Mr. Parascandolo«, sagt Antonina ruhig. »Es war meine Idee, mit Mikey hierherzugehen. Ich dachte, um die Zeit ist es auf dem Schulhof dunkel und keiner ist da. Ich bin heimlich von zu Hause weg, um ihn zu treffen. Das war dumm von mir.«

»Das war es«, sagt Donnie. »Sogar sehr dumm.«

»Wir werden’s nicht mehr machen. Wir tun, was Sie sagen. Lassen Sie uns bitte gehen.«

»Ja, lass uns gehen«, sagt Sottile. »Hier gibt’s nichts mehr zu tun.«

Donnie sieht Pags an. »Was sagst du?«

»Ich find’s nicht okay«, erwidert Pags. »Der Wein. Der Schrott in seinen Ohren. Außerdem find ich auch, dass er zu alt für sie ist.«

Donnie macht einen Schritt auf Antonina zu. »So ein Mädchen wie du sollte eigentlich schlauer sein. Du bist jung. Du hast noch genug Zeit, Fehler zu machen. Streng dein Hirn mal ein bisschen an. Nicht alle Cops sind so nett wie wir.«

»Gut, ich merk’s mir«, sagt sie.

Donnie richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf Mikey. »Du hättest nicht herkommen dürfen, das weißt du, oder?«

Mikey nickt und schwankt leicht. Vielleicht ist er von dem Pennerwein besoffen.

»Hast du mich verstanden?«, fährt Donnie fort. »So ein Mädchen ist nichts für dich. Das weißt du, ja? Sie ist zu jung. Sie kommt aus einem anständigen Elternhaus.«

Erneutes Nicken.

»Das nächste Mal hast du nicht das Glück, von so großzügigen Cops aufgegriffen zu werden. Darauf kannst du einen lassen. Die führen dich in Handschellen ab und buchten dich ein. Ist nämlich Missbrauch, wenn du eine Fünfzehnjährige fickst.« Donnie hält inne. »Aber vielleicht ist dir das ja egal. Und vielleicht sind dir auch Cops egal. Vielleicht scheißen du und deine ›Crust Punk‹-Kumpel ja auf Cops, hm? Hm? Tut ihr das?« Er spuckt auf den Boden. »Scheißbullen, das denkst du doch gerade, oder?«

Donnie genießt die Angst in Mikeys Augen. Ihm gefällt der Gedanke, dass der Abend für den Penner ganz anders angefangen hat, dass er dachte, er würde bei der Kleinen zum Zug kommen, und jetzt steht er da mit hängendem Schwanz und scheißt sich vor Angst fast ein. Donnie fühlt sich prima, so gut wie schon ewig nicht mehr. Pags findet’s auch klasse. Es gibt doch nichts Schöneres, als diesen Freaks zu zeigen, wo der Hammer hängt. So wie früher. Nur Sottile wirkt nicht besonders begeistert. Aber so ist er eben. Sottile ist einfach ein bisschen zu nett, ein bisschen zu soft, wobei Donnie das an ihm mag. Manchmal ist es gut, wenn einem ein dicker, gemütlicher Engel auf der Schulter sitzt und einen davon abhält durchzuticken.

»Komm«, sagt Sottile und stupst Donnie in die Rippen. »Wir sind hier fertig.«

Antonina sieht ihn erleichtert an, so als könnte Sottile dafür sorgen, dass sie mit heiler Haut davonkommen.

Donnie denkt, dass das Mädchen es vielleicht doch nicht kapiert hat. »Du wolltest dich von diesem Punk ficken lassen, oder?«, sagt Donnie zu ihr.

Antonina ist schlau genug, auf eine Antwort zu verzichten.

Als Mikey den Mund aufmacht und etwas sagen will, reißt Donnie automatisch den Schläger hoch und lässt ihn seitlich gegen Mikeys Kopf krachen.

Mikey sinkt auf die Knie, eine Hand auf sein Ohr gepresst, die Finger über der Schläfe, die andere Hand auf den Asphalt gestützt, um nicht umzukippen. Blut sickert in seine Haare. Donnie hat ihn voll erwischt.

»Herrgott«, sagt Sottile.

Antonina geht zu Mikey und legt ihm die Hand auf den Rücken. Donnie sieht sie an. Sie bringt kein Wort heraus, aber ihre Miene spricht Bände. In ihren Augen stehen Angst und Bedauern.

»Alles in Ordnung?«, fragt sie Mikey schließlich.

»Lass dir das eine Lehre sein«, sagt Donnie zu Mikey. »Darüber, was du nicht tun sollst. Wie du nicht sein sollst. Komm in die Spur, bevor’s zu spät ist.«

»Das war scheiße, Donnie«, sagt Sottile.

»Mann, du bist eine echte Heulsuse, weißt du das?«, fährt Donnie Sottile an.

»Mikey, alles in Ordnung?«, fragt Antonina wieder.

Mikey ist immer noch auf den Knien und stöhnt. Kneift die Augen zusammen.

»Er wird’s überleben«, sagt Donnie. Er dreht sich um und marschiert vom Schulhof, Pags und Sottile stolpern hinter ihm her. Antonina beugt sich über Mikey. »Gehen wir ins Wrong Number«, sagt Donnie zu Pags und Sottile.

»Unbedingt«, erwidert Pags und lacht. »Das war echt schön anzuschauen, wie du Minigolf mit seiner Murmel gespielt hast, Donnie. Vielleicht hilft’s ja.«

»So ein Pack«, sagt Donnie und denkt an Mikeys Gesichtstattoo, seine ausgeleierten Ohrläppchen, seinen speckigen Hoodie, seine Crust-Punk-Kumpel oder wie sie heißen, und an seine Hände auf der kleinen Antonina Divino. Es wird schlimm enden mit ihnen, das kann er jetzt schon sagen. »Ich könnt jetzt ein paar Zigtausend Bier vertragen.«

Das Blue Sticks, wo sie auch manchmal hingehen, ist ein Cop-Treffpunkt, während das Wrong Number eine stinknormale Nachbarschaftskneipe ist. Dort hat Donnie Suzy kennengelernt. Seit Gabe gestorben und Donna ausgezogen ist, verbringt er immer mehr Zeit im Wrong Number. Es ist nur ein paar Querstraßen von seinem Haus entfernt.

Dort angekommen, stolzieren er, Pags und Sottile mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht hinein, so als hätten sie gerade ein Softballmatch haushoch gewonnen. Donnie stellt den Schläger wie einen Regenschirm in der Ecke ab.

Auf einem Barhocker neben der Kasse lümmelt Maddie, die Barfrau, wie immer eine Fluppe im Mund. Sie ist drahtig, hat eine Wollmütze über die grauen Haare gestülpt, obwohl es nicht kalt ist, und trinkt Gin aus einer leeren Olivendose. In der Brusttasche ihres Bowlingshirts steckt eine Packung Pall Mall ohne. Drei alte Säufer sitzen vor ihrem Bier am Tresen. Bis auf die Neon-Bierreklame und die trüben Funzeln, die in losen Fassungen von der Decke baumeln, ist es dunkel. Im Fernsehen laufen Nachrichten, eine weiße Linie zittert über den Bildschirm. Mehr als das Brabbeln der Reporter ist nicht zu hören.

»Was habt ihr Trottel angestellt, eine Katze aus dem Baum gerettet?«, fragt Maddie und grinst mit der Zigarette im Mundwinkel.

»Das machen Feuerwehrmänner«, sagt Pags.

»Wir haben einen Anfänger-Benimmkurs gegeben«, sagt Donnie und schiebt sich an den Tresen. »Gib uns drei Bud und drei Jack.«

Pags und Sottile lassen sich auf den Barhockern links und rechts von ihm nieder.

Im Schneckentempo holt Maddie das Bier und stellt es vor sie, dann gießt sie Whiskey in drei Gläser. Die waren vorm Spülen bestimmt sauberer, denkt Donnie.

Er hebt sein Whiskeyglas und wartet, bis Pags und Sottile so weit sind. »Chin-chin«, sagt er, stößt mit ihnen an und kippt den Whiskey. Dann stürzt er das halbe Bier hinterher.

Pags und Sottile lassen sich mit ihrem Whiskey Zeit.

»Gehört, ihr beiden?«, sagt Donnie. »Chin-chin, zu Ehren unseres neuen Freundes Chin.«

»Glaubst du, das Tattoo hat irgendwas mit Sex zu tun?«, fragt Pags.

»Hä?«, sagt Donnie. »Was soll das mit Sex zu tun haben?«

»Weiß nicht. Vielleicht was Magisches. Er treibt sich doch upstate mit Hippies rum. Vielleicht ficken sie da im Wald ja Ziegen?«

Donnie lacht und schiebt sich auf seinen Barhocker. »Das sind doch nur versoffene Arschlöcher, die sich abschießen und beim Aufwachen feststellen, dass sie wie Frankensteins Monster aussehen. Wie soll man mit so einer Bremsspur am Kinn jemals einen Job kriegen?«

»Und erst die Ohren. Wenn du dir solche Riesendinger reinbohrst, sind die doch für alle Zeiten hinüber.«

»Vielleicht lässt er sich ja ins Ohr ficken«, sagt Donnie.

Sie lachen.

»Du hättest ihm den Schläger nicht drüberziehen müssen«, sagt Sottile.

»Dein ewiges Genörgel geht mir langsam auf den Keks«, sagt Donnie und grinst ihn an. »Außerdem ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Junge dort endet, wo sein Vater geendet hat. Apropos, sieh das von vorhin einfach als Aufwärmübung für Giuseppe morgen.«

Donnie gibt Maddie einen Wink, damit sie die Gläser wieder auffüllt. Sie kommt mit der Flasche Jack Daniel’s. Donnie wirft zwei Zwanziger auf den Tresen. Maddie gießt ein, nimmt das Geld für die zwei Runden und stapelt die Rausgeldmünzen vor ihm auf. Donnie mag den Anblick von Geld auf dem Tresen. Sein Onkel Pencil Pat – dürr wie ein Zaunpfahl und immer schick – hat das in seiner Stammkneipe, dem Cockroach Inn, so gemacht. Hat ein paar Scheine auf den Tresen gelegt und es dem Barmann überlassen, das Geld für seine Drinks wegzunehmen. Wenn Donnie das macht, hat er immer das Gefühl, Oberwasser zu haben.

»Chin-chin«, sagt er wieder und kippt das zweite Glas. Pags und Sottile tun es ihm nach.

Im Fernsehen laufen nach wie vor die WPIX-Nachrichten. Das Logo des Senders breitet sich auf dem Bildschirm aus. Donnie starrt gebannt darauf, zwei Einsen, die wie die Twin Towers aussehen, drum rum ein Kreis. Richtig hypnotisch. Wahrscheinlich ist das Absicht. Vielleicht geht es im Fernsehen nur darum. Hypnotisieren.

Auch Pags und Sottile schauen jetzt auf den Fernseher und schlürfen an ihrem Bier.

Eine Werbung für die Fitnessstudios von Lucille Roberts. Elasthanschnepfen beim Hüpfen. Dann wird ein Alter mit alberner Brille eingeblendet, der Frühstücksflocken in eine Schüssel schüttet und etwas sagt, das Donnie nicht versteht. Werbung für Total Cereal.

Donnie weiß nicht mal, wie viel Uhr es ist. Elf vielleicht. Im Wrong Number hängt netterweise keine Uhr. Maddie sperrt irgendwann zu, an manchen Abenden auch gar nicht. Einige der Gäste schlafen dann am Tresen oder in einer der Sitznischen, oder sie trinken einfach die Nacht durch. Vielleicht wird das so eine Nacht für ihn, Pags und Sottile. Morgen haben sie keinen Dienst. Das Einzige, was sie vorhaben, ist die Sache mit Giuseppe für Big Time Tommy.

Cheers fängt an. Also ist es elf. Noch früh. Donnie legt den Kopf in den Nacken und schaut ein paar Minuten lang zu. Kirstie Alley mag er.

»Von mir aus bräuchten sie nichts als diese Lucille-Roberts-Werbung zeigen«, sagt Sottile. »Die könnte ich mein ganzes Leben lang anschauen. Besonders die eine Braut auf dem Hometrainer.«

»Eines Tages zeigen sie im normalen Fernsehen Pornos«, sagt Page. »Wartet’s nur ab.«

»Ich nehm Rebecca«, sagt Donnie.

»Wen?«, fragt Sottile.

Donna deutet auf den Fernseher. Kirstie Alley steht in einem blauen Kleid und mit offenen langen Haaren am Fuß einer Treppe und macht Sam Malone wegen irgendwas die Hölle heiß.

»Ich bin eher für Diane«, sagt Sottile.

»Was sonst.«

Mehr Whiskey, gefolgt von einer weiteren Runde Bier. Langsam nimmt der Abend Gestalt an. Donnie fühlt sich locker, entspannt.

Bis der dritte Whiskey ihn auf eine Idee bringt.

»Wir sollten ihn uns gleich vornehmen«, sagt Donnie.

»Wen?«, fragt Pags.

»Kannst du nicht einfach mal die Füße stillhalten?«, sagt Sottile.

»Ich trinke.«

Donnie senkt die Stimme, obwohl Maddie sie sowieso nicht hören kann, ganz zu schweigen davon, dass sie ihr Gequatsche interessieren würde. »Wir sollten uns Giuseppe jetzt gleich vornehmen. Zwei zu eins, dass er mit Pete Wang im Hinterzimmer von Augie’s Karten spielt.«

»Glaubst du?«, fragt Pags.

»Bei seiner Frau zu Hause ist er garantiert nicht. Dafür ist es noch zu früh. Beim Wetten ist er auch nicht, wenn er bei Big Time Tommy in den Miesen ist. Wo sonst soll er also sein? Du warst letzte Woche dabei, als wir uns an seine Fersen geheftet haben. Glaub mir. Er spielt mit Pete Wang Karten.«

»Warum sollten sie ihn mitspielen lassen, wenn er keine Kohle hat?«, fragt Sottile.

»Immer du mit deinen blöden Fragen.« Donnie gluckert sein drittes Bier und den Rest von Pags’ Bier weg. Dann schiebt er die übrigen Münzen an den Rand des Tresens. Ein schönes Trinkgeld für die gute alte Maddie mit ihrem Olivendosen-Gin und ihren Filterlosen. Er steht auf und führt den Trupp aus dem Wrong Number. Beim Hinausgehen schnappt er sich seinen Schläger.

Den ganzen Weg schimpft Sottile, er habe gerade angefangen, sich warmzutrinken, und dass sie ihre Energie lieber darauf verwenden sollten, ein paar Bordsteinschwalben in Coney aufzureißen.

Das Augie’s liegt ein paar Querstraßen weiter. Es ist eine Eckkneipe mit einem Hinterzimmer, in dem der Besitzer Pete Wang an mehreren Abenden die Woche Kartenspiele organisiert. Donnie hat keine Ahnung von so was. Sie könnten alles Mögliche spielen, Poker, Blackjack, Mau-Mau.

Aber Sottile hat recht mit seiner Frage. Warum sollten sie Giuseppe mitspielen lassen, wenn er pleite ist?

Trotzdem setzt Donnie darauf, dass Giuseppe im Augie’s ist. Diese kranken Arschlöcher schaffen es immer, sich reinzuzecken. Donnie hat das oft genug mitgekriegt, sowohl bei seiner Arbeit bei der Polizei als auch bei der für Big Time Tommy. Wenn man für die Bahn aufs Abstellgleis zahlen müsste, dann würden die übers Drehkreuz springen. Wie sein alter Herr gerne gesagt hat: A chi vuole, non mancano modi. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Giuseppes Frau, sie heißt Rosemarie, sitzt wahrscheinlich zu Hause am Küchentisch und betet mit gesenktem Kopf den Rosenkranz. Ihr nichtsnutziger Ehemann verspielt derweil alles, was sie haben, während ihr versiffter Sohn versucht, ein Mädchen flachzulegen, das wahrscheinlich gerade erst aus seinem Trainings-BH rausgewachsen ist.

Das Augie’s liegt dunkel da, als sie dort eintreffen, aber das heißt nichts. Sie lehnen sich gegen die Mauer des Friseurladens an der Ecke gegenüber.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Sottile. »Rumstehen und warten? Oder reinstürmen?«

Donnie klopft mit dem Schläger auf den Gehweg. »Ich muss nachdenken.«

Letztlich beschließen sie zu warten. Sottile ist genervt und sagt, sie hätten wenigstens so schlau sein sollen, eine Flasche Jack mitzunehmen. Donnies Plan ist, sich Giuseppe zu schnappen, sobald er aus dem Augie’s tritt, ihn nach Hause zu schleifen, in den Kofferraum seines Ford Tempo zu verfrachten und zur Marine Parkway Bridge zu bringen. Kniescheiben zertrümmern ist doch albern. Ihn gleich ins Wasser werfen findet Donnie besser. Dann sind sie diese Nervensäge ein für alle Mal los. Und geben seinem versifften Sohn Mikey mit einem toten Daddy und einem Berg Schulden was zu denken. Er will jemandem was wegnehmen, so wie ihm Gabe weggenommen wurde.

»Das ist Schwachsinn«, sagt Sottile.

»Geh heim«, sagt Donnie. »Nimm deinen Tampon raus und gönn dir deinen Schönheitsschlaf.«

Pags wiehert los.

»Sehr lustig«, sagt Sottile.

Es dauert eine halbe Stunde, bis Giuseppe aus der Seitentür des Augie’s rausstolpert, die Kappe in der Hand, die Schultern gebeugt. Es ist die Haltung der Dauerlusche. Wahrscheinlich zündet der Trottel am Schrein der heiligen Maria der Dauerluschen regelmäßig eine Kerze an. Er hat Bartstoppeln und dunkle Ringe unter den Augen. Im echten Leben ist der Mann Mathelehrer – geht er etwa so zum Unterrichten in die Schule?

»Seht ihr?«, sagt Donnie. »Ich hab den sechsten Sinn.«

»Und jetzt?«, fragt Pags. »Gehen wir aufs Ganze?«

»Folgt mir.«

Donnie hebt den Schläger und läuft auf Giuseppe zu. Pags und Sottile wanken hinterher. Aus dem Klang ihrer Schritte hört Donnie den Whiskey raus.

Giuseppe sieht sie kommen und sinkt auf die Knie, die Kappe gegen die Brust gepresst, im Gesicht nackte Angst. Er weiß sofort, wer sie sind. Er hat sie in letzter Zeit oft gesehen.

»Sagen Sie Big Time Tommy, dass ich in zwei Wochen zahle«, ruft er. »Zwei Wochen, mehr brauch ich nicht!«

Als Donnie vor ihm steht, streckt er den Schläger aus und berührt damit sanft Giuseppes Nasenspitze. Die Lusche hat einen Riesenzinken. Das wusste Donnie schon, aber aus der Nähe wirkt er noch größer, noch krummer, einfach noch mehr. Giuseppe schließt die Augen und lässt die Kappe auf den Boden fallen.

»In zwei Wochen kratzt du fünfundzwanzigtausend zusammen?«, fragt Donnie.

Sottile sieht sich um, blickt die Straße rauf und runter, auf die Scherengitter der Ladenschaufenster, späht in die Schatten auf der Suche nach Gesichtern. Es passt ihm nicht, dass sie sich den Mann auf offener Straße vorknöpfen, und vielleicht hat er recht.

»Steh auf«, sagt Donnie zu Giuseppe.

Sie gehen die paar Blocks zu Donnies Haus. Den ganzen Weg über stupst Donnie Giuseppe mit dem Schläger in den Rücken. Zwei Leuten begegnen sie, einem jüngeren Mann mit Kopfhörer und einem älteren um die fünfzig, der halb besoffen wirkt. Beide würdigen sie oder den Schläger keines Blickes. Giuseppe will sich aus dieser Situation winden, will Versprechungen machen, aber jedes Mal wenn er den Mund aufmacht, stößt Donnie fester zu.

Inzwischen ist der Schulhof leer. Antonina liegt bestimmt zu Hause im Bett. Donnie fragt sich, was mit Mikey ist – musste er ins Krankenhaus, oder ist er zu Hause bei seiner Mutter und die beiden machen sich Sorgen um den guten Giuseppe?

Donnies Ford Tempo steht am Ende der dunklen Einfahrt. Sie steigen ein. Donnie setzt sich auf die Rückbank und legt den Schläger quer über seinen Schoß, Giuseppe kommt neben ihn, Pags nimmt hinterm Steuer Platz und Sottile auf dem Beifahrersitz, den er nach hinten gleiten lässt, bis er gegen Giuseppes Knie stößt. Es riecht nach Schnaps.

»Und, wohin geht’s?«, fragt Pags und klappt die Sonnenblende runter, hinter der neben dem Gedenkbildchen von Gabes Beerdigung, das Donnie dorthin geklebt hat, der Schlüssel steckt. Pags weiß, worauf das hier rausläuft. Deshalb hat er sich gleich hinters Steuer geklemmt.

»Fahr einfach Richtung Riis Park«, sagt Donnie.

Pags nickt und lässt den Motor an. Er weiß Bescheid.

Donnie platziert den Schläger zwischen seinen Beinen. Für solche Gelegenheiten hat er immer ein paar Utensilien im Auto. Unter anderem eine Rolle Klebeband. Er überlegt, ob er Giuseppe Beine und Hände fesseln und den Mund zukleben soll. Aber dann entscheidet er sich dagegen. Mit Klebeband sieht es garantiert nicht nach Selbstmord aus, was natürlich das Beste wäre.

Pags stößt langsam rückwärts aus der Einfahrt und schrammt beinahe die Hausmauer.

»Was haben Sie mit mir vor?«, fragt Giuseppe.

»Erfährst du früh genug«, sagt Donnie.

»Ich besorge das Geld, versprochen.«

Pags hat den Tempo mittlerweile auf die Straße manövriert, haarscharf an einem parkenden Auto vorbei. Donnie kennt es. Ein Citation. Er gehört Mr. Papia ein paar Häuser weiter. Die Scheinwerfer des Tempo leuchten nicht, und Donnie schnauzt Pags an, dass er sich zusammenreißen soll. Pags schaltet die Scheinwerfer ein. Sottile ist eingeschlafen und sägt, als würde er dafür bezahlt.

An der nächsten Querstraße fahren sie rechts auf die Twenty-Fourth Avenue und wieder rechts, an der Ampel an der Cropsey links, und dann geht es auf dem Belt Parkway Richtung Osten. Bis auf die üblichen Deppen, die mit hundertdreißig die Straße entlangbrettern, ist praktisch kein Verkehr.

An der Ausfahrt Flatbush Avenue South fahren sie runter Richtung Rockaways. Die Fahrt dauert nicht lange, unter normalen Umständen eine Viertelstunde oder weniger, aber weil Pags langsamer als normal fährt und immer wieder aufs Bankett schlenkert, brauchen sie fast fünfundzwanzig Minuten. Sie haben keine Angst, angehalten zu werden.

»Die Brücke?«, fragt Giuseppe. »Ich kann nicht richtig schwimmen. Bitte.«

»Chi ha fatto il male, faccia la penitenza«, sagt Donnie mit schleppender Stimme, ein Zitat von seinem Vater, der für alles einen schlauen Spruch wusste. »Wie man sich bettet, so liegt man.«

»Ich bin ein aufrechter Mann«, sagt Giuseppe. »Ich habe eine Familie. Ich bin Lehrer. Ich unterrichte gerade in der Summer School. Das können Sie mir nicht antun.«

»Du bist aufrecht? Der Einzige, der in diesem Auto aufrecht ist, ist der kleine Mann in meiner Hose.« Donnie lacht. »Eins kann ich dir jedenfalls sagen, der Junge, den du großgezogen hast, ist einen Dreck wert.«

Giuseppe sieht ihn verwirrt an. »Was wissen Sie von meinem Sohn?«, fragt er zunehmend verzweifelt. Jetzt bedrohen sie auch noch seine Familie, glaubt er. »Lassen Sie meinen Sohn aus der Sache raus. Und meine Frau. Das Geld schulde ich Ihnen, niemand sonst. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Familie da raus.«

Auf einmal edelmütig, der stronzo.

Sie halten auf der Ostseite der Brücke. Um die Uhrzeit ist weit und breit kein Auto zu sehen. Donnie hat die Brücke höher in Erinnerung. Schon eine Weile her, seit er das letzte Mal hier war, und damals war er nicht ganz nüchtern. Es ist eine Hubbrücke. Gehoben ist sie höher. Aber im Normalzustand wie jetzt geht’s wahrscheinlich keine zwanzig Meter weit nach unten. Das kann Giuseppe überleben, dann ist es eben so. Wenn nicht, dann nicht. Beides ist okay. Donnie zuckt die Achseln. Allerdings hat Giuseppe gesagt, dass er nicht richtig schwimmen kann. Gut möglich also, dass er untergeht wie ein Stein.

Donnie schaut zu den im Mondlicht schimmernden Brückentürmen hoch. Er schaut auf die Verrazano Bridge in der Ferne. Was die Höhe angeht, wäre das natürlich die bessere Alternative gewesen, aber da ist die ganze Nacht hindurch Verkehr.

»Bitte«, sagt Giuseppe. »Sie sind doch Cops. Sie sollen Leute wie mich beschützen.«

»Was weißt du schon«, sagt Donnie.

Sottiles Schnarchen erfüllt das Auto.

Donnie handelt schnell. Er befiehlt Giuseppe auszusteigen und folgt ihm. Erst als er ihm den Schläger in den Rücken stößt, wird Donnie bewusst, dass das nicht seine Pistole ist. Er wünschte, er hätte sie. Was soll er tun, wenn der Kerl auf den paar Metern losflitzt? Soll er zurück ins Auto springen und Pags befehlen, ihn zu überfahren? Im besten Fall wäre das nervig, im schlimmsten eine Mordssauerei. Aber Giuseppe rennt nicht los. Wahrscheinlich glaubt er immer noch, dass es nur eine leere Drohung ist. Wahrscheinlich denkt er, dass sie ihm zeigen wollen, wie nah er dem Tod ist, dass sie ihn von der Brücke baumeln lassen und dann mit einer letzten Warnung laufen lassen. Wäre nicht der Erste, der glaubt, dass die Hinrichtung noch mal aufgeschoben wird. Donnie würde eine Million darauf setzen, dass er gerade den Entschluss fasst, morgen neu anzufangen. Kein Spielen mehr, nur noch Familie. Bestimmt fleht er gerade Gott an und verspricht ihm alles Mögliche.

Als Giuseppe die Brüstung erreicht, will er etwas zu Donnie sagen, aber Donnie stößt ihm den Schläger in den Rücken, dieses Mal mit aller Kraft. Giuseppe schwankt, dann kippt er über die Brüstung. Sein Oberkörper klappt nach vorne, seine Arme rudern, und die Füße hängen in der Luft. Donnie muss noch einmal zustoßen, um ihn ganz über die Brüstung zu befördern. Der billige Hosenstoff streicht über Donnies Hand, als Giuseppes rechtes Bein in die Höhe schnellt, dann verschwindet Giuseppe und stürzt mit dem Kopf voran in den Rockaway Inlet. Den ganzen Weg hinunter schreit er. Donnie wartet nicht einmal, um zu sehen, wie er sich im Wasser schlägt. Er steigt wieder ins Auto und sagt Pags, er solle ihn nach Hause fahren, er sei müde.

Juli 1993

Ava Bifulco

Als ihr Nova wieder zu klackern anfängt, weiß Ava Bifulco, was die Stunde geschlagen hat. Nach dem Abstecher zum Shoppingcenter ist sie auf dem Belt Parkway, auf dem Beifahrersitz eine Tüte von Macy’s. Zuletzt ist das Auto vor zwei Wochen liegen geblieben. Sie war auf dem Rückweg von ihrer Cousine Janet in Staten Island, und das Auto machte dieses Geräusch und blieb mitten auf der Verrazano Bridge stehen. Wenigstens kam auf der Brücke schnell Hilfe. Sie schleppten sie zu Flash Auto, wo Sal und sein Bruder Frankie ihr sechshundert Dollar abknöpften. Sie weiß nicht mal mehr, wofür genau. Die Rechnung liegt zu Hause. Sie hatte gehofft, dass sie jetzt ein paar Monate Ruhe hat. Ständig geht irgendwas kaputt. Das Auto. Der Boiler, die Waschmaschine, der Kühlschrank und die Klos in dem großen alten Haus, in dem sie mit ihrem Sohn Nick wohnt. Sie will, dass die Sachen funktionieren. Mit ihren einundfünfzig hat sie ein entspanntes Leben verdient, findet sie. Freunde von ihr leben inzwischen in Florida, wo sie den lieben langen Tag am Strand hocken, Romane lesen, Bingo spielen, essen gehen und sich mit Sonnencreme einschmieren. Auf so ein Leben wird sie lange warten müssen, das weiß sie. Bis sie den Kredit für das Haus abbezahlt hat, wird sie noch einige Jahre im Sea Crest rackern müssen. Ohne sie würde das Altenheim mit Kurzzeitpflege, das sie leitet, zusammenbrechen. Außerdem macht ihr unverheirateter Sohn Nick mit seinen neunundzwanzig Jahren nach wie vor keine Anstalten auszuziehen.

Sie fährt an der Ausfahrt Knapp Street vorbei. Das Geräusch wird lauter. Unter der Motorhaube dringt Qualm hervor. Ava ist nah dran, laut Scheiße! zu brüllen und aufs Lenkrad zu trommeln. Aber sie zwingt sich dazu, ruhig zu bleiben, und atmet tief ein und aus. Ihre Hände liegen locker auf dem Lenkrad. Sie betet zwei Ave-Maria. Als der Motor abstirbt, lenkt sie das Auto auf den linken Seitenstreifen, als ob nichts wäre. Der Qualm wird dichter. Sie steht ganz nah an der Leitplanke. Rechts von ihr rast der Verkehr mit über hundert Sachen vorbei. Wieder atmet sie tief ein und aus. Was soll sie jetzt tun? Aussteigen, die Ausfahrt runterlaufen und ein öffentliches Telefon suchen? Bald kommt ein Parkplatz, oder? Aber der ist auf der anderen Seite. Vielleicht schafft sie es über die Fahrbahnen und findet ein Telefon. Ja, klar. Sie sieht sich schon in ihrem schwarzen Hosenanzug und den schwarzen Pantoletten über die Leitplanke hüpfen und sich zwischen den dahinrasenden Autos durchschlängeln.

Sie streckt die Hand nach dem Handschuhfach aus, öffnet es und ertastet die Schachtel Viceroy. Dann drückte sie den Zigarettenanzünder rein und wartet, bis er rausspringt. Könnte schlimmer sein. Könnte dunkel sein. Der Zigarettenanzünder springt raus, und sie zuckt zusammen. Sie nimmt ihn und spürt die Hitze der Glühspirale an ihrer zitternden Hand. Der vorbeirasende Verkehr lässt das Auto leicht beben. Sie steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. Okay. Was jetzt? Jetzt rauchst du die erst mal zu Ende.

Hinter ihr hält ein Auto. Im Rückspiegel sieht sie einen runtergekommenen grauen Ford Tempo mit verdreckter Windschutzscheibe. Vom Fahrer erkennt sie nur einen dunklen Umriss. Sie wird nervös. In dieser Stadt muss man mit allem rechnen. Vielleicht will der Typ sie ja erwürgen.

Er steigt aus. Ein Weißer, sieht wie ein Italiener aus. Ein paar Jahre jünger als sie, Mitte vierzig vielleicht. Hakennase, dunkle Haare. Er trägt ein weißes T-Shirt, Bluejeans, Arbeitsstiefel. Im Seitenspiegel sieht sie zu, wie er näher kommt, an die von der Straße abgewandte Fahrertür tritt. Sie lässt das Fenster herunter.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragt er.

Sie drückt ihre Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher unter dem Zigarettenanzünder aus. »Das ist wirklich sehr nett«, sagte sie. »Der Schrotthaufen hier hat mich im Stich gelassen. Nicht das erste Mal in letzter Zeit.«

Er nickt.

Sie wartet darauf, dass er einen Vorschlag macht.

Er sagt nichts.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagt sie. »Mein Sohn macht sich bestimmt Sorgen. Ich bin sowieso schon spät dran.«

»Ich kann Sie mitnehmen«, sagt er. »Zu einem Münztelefon. Wohnen Sie hier in der Nähe? Dann kann ich Sie auch heimbringen. Sie können einen Abschleppwagen rufen und das Auto in eine Werkstatt bringen lassen.« Er sieht auf die vorbeifahrenden Autos. »Sind Sie bei Triple A?«

»Ja. Und ich wohne nicht weit.«

»Wo ist Ihre Werkstatt?«

»In der Bath, Flash Auto.«

»Sal und Frankie.«

»Genau.«

»Die sind prima.«

»Wär prima gewesen, wenn sie sich vor ein paar Wochen ein bisschen mehr Mühe mit der Kiste gegeben hätten.«

»So was kommt vor. Also, soll ich Sie mitnehmen?«

»Gerne«, sagt sie. »Ich such nur schnell mein Zeug zusammen.« Sie schnappt sich die Einkaufstüte und ihre Handtasche, steigt aus dem Auto und folgt ihm an die Leitplanke gedrückt zu seinem Tempo.

»Steigen Sie einfach hinten ein«, sagt er. »Auf der Beifahrerseite ist es zu eng.«

»Ja, mach ich.« Er öffnet die hintere Tür für sie, und sie quetscht sich an ihm vorbei ins Auto. Er schlägt die Tür zu. Auf der Rückbank liegen Zeitungen und Rubbellose verstreut. Sie klemmt sich die Einkaufstüte zwischen die Füße und umklammert die Handtasche auf ihrem Schoß. Immer noch ist sie nervös. Er ist ein Fremder, und keine Frau steigt in das Auto eines Fremden, ohne sich zu fragen, ob ihr letztes Stündlein geschlagen hat. Sie kennt die Geschichten. Entführung. Vergewaltigung. Mord. Er hat so einen netten Eindruck gemacht.

Er nimmt hinterm Steuer Platz und zieht die Fahrertür zu. Sie knirscht genauso wie die Luke ihrer Waschmaschine. »Ich tu Ihnen nichts«, sagt er. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich will nur helfen.«

»Genau das würde einer sagen, der Böses im Schilde führt, oder?«, sagt sie.

»Da haben Sie auch wieder recht. Stimmt.« Er lässt den Motor an und fädelt sich auf den Belt ein.

Sie dreht sich um und sieht zu ihrem Nova zurück. Ein komisches Gefühl, ihn so zurückzulassen. Sie fragt sich, ob jemand hinten reinfahren oder eine Scheibe einschlagen und das Radio oder sonst was klauen wird. Viel ist es ja nicht. Hat sie überhaupt abgesperrt? Herrje. Sie kann sich nicht erinnern.

»Ich glaube, ich habe vergessen abzusperren«, sagte sie.

»Wird schon nichts passieren«, sagt er. »Lange steht er nicht da. Nur wenn Sie ihn dort über Nacht lassen, würde ich mir Sorgen machen. Aber so?«

Noch etwas fällt ihr ein. Sie kramt in ihrer Tasche. »Ach Mist, die Zigaretten hab ich auch vergessen.«

»Sie können eine von meinen haben«, sagt er. Er greift zum Beifahrersitz, hält ein silbernes Zigarettenetui in die Höhe und reicht es ihr nach hinten.

»Danke«, sagt sie. Ein ähnliches Etui hatte ihre Mutter auch. So ein Ding hat sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie öffnet es und nimmt eine Zigarette heraus. Eine Pall Mall ohne Filter. »Das sind ja richtige Altmännerzigaretten.«

Er lacht. »Echt? Ich hab erst vor einem Jahr mit dem Rauchen angefangen. Am Anfang habe ich Marlboro gekauft und den Filter abgezwickt, aber dann hat mir eine Barkeeperin die gegeben.«

»Haben Sie Feuer?«

»Tschuldigung. Klar.« Er kramt in seiner Hosentasche und hält ihr ein gelbes Bic hin. »Tut mir leid. Der Zigarettenanzünder funktioniert nicht.«

Sie zündet die Zigarette an, öffnet das Fenster und stößt den Rauch zu den neben ihnen fahrenden Autos aus. Er beißt ihr in der Lunge.

»Wohin geht’s?«, fragt er.

»Sie können die Ausfahrt zum Bay Parkway nehmen«, sagt sie.

»Da fahr ich auch immer runter. Wo wohnen Sie denn?«

»Kennen Sie das Marboro Theatre?«

»Na klar. Ich geh gern ins Kino.«

»Gleich um die Ecke.«

»Okay. Ich heiße übrigens Don, nur damit Sie wissen, mit wem Sie hier rumkutschieren.«

»Und ich bin Ava«, sagt sie und stößt erneut Rauch aus.

Die Ausfahrt kommt näher. Er sieht in den Rückspiegel. Ein ausgebleichtes grünes Fichtennadel-Duftbäumchen baumelt daran. In die Schnur ist ein Palmsonntagszweig geknotet. Sie fragt sich, ob er in die St. Mary, die Most Precious Blood oder die St. Finbar geht, vielleicht auch in die Saints Simon and Jude. Egal, der Palmzweig ist ein gutes Zeichen. Die Zigarette hilft, macht sie lockerer, und sie versucht, sich nicht das Schlimmste für den Nova vorzustellen. Sie ist diesem Don dankbar. Ein guter Samariter.

Nick Bifulco

Nick macht sich Sorgen um seine Mutter. Sie sollte längst zu Hause sein. Vielleicht hat sie ja am Pathmark oder Meats Supreme gehalten, aber in letzter Zeit spinnt das Auto, und er hat Angst, dass sie liegen geblieben ist. Das Altersheim, in dem sie arbeitet, ist in Coney Island, und bei dem Gedanken, dass sie mit offener Motorhaube auf der Mermaid Avenue steht und auf Hilfe wartet, wird ihm ganz anders. Er sieht zu dem gelben Wählscheibentelefon und wartet darauf, dass es anfängt zu klingeln.

Er sitzt bei offenem Fenster am Küchentisch. Vor ihm steht ein Teller mit kalten frittierten Kürbisblüten. Goldgelb mit knusprigen Rändern. Perfekter Teig. Ava hat sie gestern Abend aus den Blüten zubereitet, die ihr Larry aus seinem Garten ein paar Häuser weiter gebracht hat. Das Radio läuft. WCBS. Verkehrsmeldungen, Nachrichten, Sport. Er kann sich nicht konzentrieren. Der kleine Ventilator läuft. Er sollte sich frische Sachen anziehen. Shorts und ein T-Shirt. Raus aus den Arbeitsklamotten. Gelbes Leinenhemd, blaue Krawatte, die er gelockert hat, blauer Blazer und blaue Dockers. Er unterrichtet an der Our Lady of the Narrows in Bay Ridge. Journalismus und Englisch für die Oberstufe. Gerade ist Summer School. Jeden Tag fährt er mit dem Bus, zuerst mit dem B1, dann dem B64, und immer so früh wie möglich, um keinem Schüler zu begegnen. Seine Mutter und er haben nur ein Auto, und es ist ihm nicht peinlich, zu Hause zu wohnen, auch wenn er Ende August dreißig wird. Alice, seine Freundin, die an derselben Schule Biologie unterrichtet, will, dass er bei ihr einzieht. Sie wohnt in Bay Ridge über Pipin’s Pub, aber er wohnt lieber bei Mom. Da fühlt er sich noch wie ein Kind.

Zum Studium war Nick von zu Hause ausgezogen. SUNY Genesco. Die vier Jahre waren in Ordnung, aber er hat Brooklyn vermisst und ist oft mit dem Bus heimgefahren. Als im letzten Semester sein Dad gestorben ist, ist er jedes Wochenende nach Hause. Da lag es nahe, ganz zurückzuziehen, und Ava schien froh darüber zu sein. Nie war sie von ihm genervt, zumindest hat sie es nicht gezeigt. Sie freute sich, wenn er genug aß, ausging und glücklich war. Nick hatte eigentlich Journalist werden wollen, der nächste Jimmy Breslin, Pete Hamill oder Mike Lupica, aber aus irgendeinem Grund hat es sich nicht ergeben. Er bekam einfach keinen Fuß in die Tür. Deshalb hat er die Stelle an der Our Lady of the Narrows angenommen, die er selbst besucht hatte, und da war er jetzt seit sieben Jahren. Wie im Flug ist die Zeit vergangen. Eben war er noch zwanzig, und jetzt wird er bald dreißig. Er ist einer jener Lehrer, die die Schüler weder lieben noch hassen. Sie finden ihn langweilig. Der eine oder andere hängt sich vielleicht an ihn dran, weil er denkt, er könnte was für ihn tun, um dann festzustellen, dass er das nicht kann.

Drehbuchautor, das wär’s. Er liebt Filme. Der Sohn ihrer Nachbarn Paulie und Nina Puzzo hat ein dickes Buch über die Diamond-Den-Morde geschrieben, und bald kommt das nächste über die Gangsterfamilie Brancaccio heraus. Dazu führt Phil, der in einem Backsteinhaus oben in Boerum Hill wohnt, jede Menge Interviews und sammelt haufenweise Material. Sein Diamond-Den-Buch war ein Bestseller, und De Niro hat die Filmrechte gekauft und sogar gefragt, ob Phil das Drehbuch schreibt. Zumindest erzählt Paulie das. Nick schwebt etwas über Gangster vor, das Scorsese verfilmen würde, aber er kann sich für kein Thema entscheiden. Ständig macht er sich Notizen und überlegt, wie er es aufziehen soll, aber dann verläuft alles irgendwie im Sand.

Das Telefon klingelt, und er hebt schnell ab. Er rechnet mit der verzweifelten Ava. Aber es ist Alice.

»Ich könnte einen Drink brauchen«, sagt sie.

»Ich kann gerade nicht nach Bay Ridge, zu weit«, sagt Nick.

»Stimmt was nicht?«

»Ava sollte längst zu Hause sein. Ich mach mir langsam Sorgen.«

»Du machst dir immer Sorgen. Es geht ihr bestimmt gut.«

»Aber das Auto.«

»Glaub mir, es geht ihr gut. Komm doch einfach her. Warum ziehst du eigentlich nicht bei mir ein? Das wäre doch nett. Wir könnten jeden Tag zusammen in die Schule fahren. Wir könnten runter ins Pipin’s und was trinken. Im Alpine Filme anschauen. Im Colucci’s essen. Tag und Nacht vögeln.«

Er lacht. »Tag und Nacht vögeln klingt super.«

»Dann müsstest du dir auch nicht mehr mit der Nachtcreme deiner Mom den Schwanz schmieren. Weißt du, was ich grad anhabe? Nichts. Und ich rauche eine Zigarette. Wetten, dass du noch deine Arbeitsklamotten anhast?«

»Du bist echt nackt?«

»Echt.«