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Schatten der Vergangenheit Die junge Frau, Rosemarie Holzer, wird nach sieben Jahren wegen Brandstiftung verbüßter Haft, entlassen. Schon seit längerem plant sie sich im Oberland auf Wanderschaft zu begeben. Sie mietet sich zunächst in einem Gasthof am See ein, wo sie die freundliche Wirtin Marie kennenlernt. Auf ihrer Wanderschaft durchstreift sie die grünen Hügel und Wälder und trifft auf unterschiedliche Menschen. Eines Tages lernt sie Jakob kennen, einen jungen Mann auch auf Wanderschaft. Mit ihm verbringt sie in einem Heustadel eine langentbehrte Liebesnacht. Am Morgen ist der junge Mann allerdings verschwunden. Rose will das nicht hinnehmen und macht sich auf die Suche nach ihm. Als die Tage kälter werden, wird es ihr klar, dass sie dringend eine Unterkunft braucht. Ihre Anfrage bei ihrem Bruder Wolfgang und der Schwägerin ist vergebens. Je aussichtsloser Roses Leben wird, desto mehr muss sie sich mit den Schatten der Vergangenheit auseinandersetzen.
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Seitenzahl: 187
Adi Hübel
Brandstifterin
Roman
Adi Hübel
Brandstifterin
Roman
ISBN/EAN: 978-3-95870-702-3
1. Auflage
Covergestaltung: Dietmar H. Herzog
© nexx verlag gmbh, 2024
www.nexx-verlag.de
Rose Holzer war wieder da. Sie war zurück an dem Ort, an dem sie die letzten sieben Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Schade, es nicht dieselbe Zelle, dachte sie. „Deine alte Zelle ist belegt“, hatte Martina zu ihr gesagt. Ja, Martina, sie war immer noch hier. Sie war nicht verschwunden während der letzten Monate ihres Fernseins. Glücklicherweise.
Sie hatte Rose begrüßt wie einen langersehnten Gast, fast wie eine Freundin.
„Rose, Rose, musste das denn sein?“, hatte sie gesagt und dabei den Kopf geschüttelt. Sie hatte sie ungläubig angesehen und doch so, als habe sie gewusst, dass es sein musste. Dann hatte sie sie willkommen geheißen mit einem festen Händedruck.
„Wegen Frauen wie dir, bin ich immer noch da“. Das war ihr einmal herausgerutscht. So ganz genau wusste Rose diesen Satz nicht zu deuten, immer noch nicht, bis heute. Allerdings, Martina hatte gelächelt, als sie es sagte. Nur, was waren das für Frauen, die waren wie sie? Jasmin etwa, die ihren Säugling erstickte. Oder Agnes, die das blutige Messer immer und immer noch einmal in den Bauch ihres Mannes gestoßen hatte? Verbrecherinnen waren sie alle. Sie, Rose, und die anderen.
Ach Martina, wegen uns bist du noch hier? Ich glaube, es sind die vielen Geschichten, die dich hier festhalten in diesen Mauern, so wie die meinige. Dabei sind es immer nur die äußeren Handlungen, unsere sichtbaren Taten, die immer und immer wieder besprochen werden, die wir gemeinsam betrachten und auseinandernehmen und wieder zusammensetzen und überlegen, was wäre gewesen, wenn ...? Was fehlt, sind die Empfindungen, die sich in unseren Seelen eingenistet haben, tief und dunkel und die nur hin und wieder in einer schwachen Stunde auftauchen aus der Tiefe und den Körper zum Zittern und Beben bringen. Schmerzen, die durch die Augen ins Kissen fließen und kaum ein Ende finden.
Dieses Zurückkehren, es hatte sein müssen.
Angelika Kloos wartete. Sie wartete und schwieg. Was blieb ihr anderes übrig. Sie spürte ihren trockenen Hals und griff nach dem Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Während sie in kleinen Schlucken trank, ließ sie die Frau, die vor ihr auf dem harten, unbequemen Stuhl saß, nicht aus den Augen. Die Bewegung und das leise Geräusch des Trinkens hatten Rose Holzer wohl erreicht, denn sie hob den Kopf und sah auf.
Helle, braune Augen blickten Angelika aufmerksam an. Ihr intensiver Blick traf zuerst das Glas in ihrer Hand, dann ihr Gesicht, bevor der Kopf sich wieder nach unten zum Blau des Anstaltskittels senkte.
„Möchten Sie auch?“
Mit einer kleinen, zögernden Bewegung schob Angelika der Frau das zweite Glas näher. Ein kurzes, kaum wahrnehmbares Schütteln des Kopfes war die Antwort. Rosemarie Holzer hatte anscheinend beschlossen, nichts zu sagen. Nicht einmal die Frage nach einem Glas Wasser wollte sie beantworten.
Schon beim Gespräch mit Dr. Geiger, dem Leiter der Anstalt, war es Angelika klargeworden, dass es schwierig werden würde, mit dieser Insassin zu reden. Nun, bei der ersten Sitzung, fühlte sie diese Vermutung bestätigt.
„Ein Rückfall, hatte Doktor Geiger gesagt. Leider. Es wird nicht leicht für Sie werden. Sie ist das zweite Mal hier. Sieben Jahre war sie damals bei uns. Nach ihrer Entlassung vor über fünf Monaten, ging es erst einmal gut. So viel wir wissen. Aber sie wurde rückfällig. Schade.“
Jetzt saß sie also vor ihr, diese Rückfällige, an der sich schon zwei ihrer Vorgänger die Zähne ausgebissen hatten.
Vor ihr auf dem Schreibtisch lag die Akte. Kein schmaler Ordner, sondern ein ganz umfangreicher Stapel an Schriftstücken. Merkwürdig, dachte sie, so viele Ergebnisse, bei so viel Schweigen. Alles hatten sie hier notiert, all die vergeblichen Versuche, diese Frau zum Reden zu bringen. Sie selbst hatte die Stelle als Gefängnispsychologin noch nicht lange angetreten und Frau Holzer war kurz vor ihrem Arbeitsbeginn entlassen worden. Zunächst einmal auf Bewährung. Angelika hatte sich intensiv mit den Berichten beschäftigt. Zweiunddreißig Jahre war sie jetzt alt, diese Rosemarie Holzer, beschuldigt aufs Neue der schweren Brandstiftung in mehreren Fällen.
Angelika Kloos blickte wieder auf die stumme Frau, ließ dann ihren Blick über die kahlen Wände zum Fenster wandern. Unwirtlich waren diese Räume hier in dem alten Gebäude. Dumpf und stickig war die Luft. Aber ein Gefängnis sollte auch kein gemütliches zu Hause sein mit Teppichen und Bildern und allem, was so dazu gehörte. Und vor allem mit Fenstern, groß und durchlässig für alles da draußen und für die Blicke in die Welt. Sie sah plötzlich den gestrigen Nachmittag vor sich und ihre Wohnung, die sie erst vor kurzem bezogen hatten. Sie musste lächeln, als sie an ihren Mann dachte, wie er mit viel Eifer die Lampen montiert und die Bilder an die Wand gehängt hatte. Dass sie sich wirklich getrauten, noch einmal von vorne zu beginnen. Und das nach dieser schrecklichen Auseinandersetzung und der spontanen Trennung vor einigen Monaten. Sie spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete.
„Und Sie, Frau Holzer, Sie haben das da draußen wieder aufgegeben?“ Die Frage war ihr aus einem Gefühl von tiefer Zufriedenheit mit dem Neubeginn ihrer Ehe entwischt. Auch wenn die vor ihr Sitzende sie gehört hatte, sie gab keinen Laut von sich. Sie kannte ja nicht den Grund der Frage, wusste nicht, was Angelika von ihr wissen wollte.
Aber auch wenn Rosemarie Holzer irritiert sein sollte, sie reagierte nicht. Sie sah auch nicht mehr auf und so schwiegen sie beide.
Das Einzige, was sich an ihrem Gegenüber bewegte, Angelika hatte es schon gleich zu Anfang der Sitzung bemerkt, war der Daumen der rechten Hand. Er strich wie liebevoll ganz langsam über den linken Daumen. Und so begegneten sich die gefalteten Hände, die locker und wie achtlos in ihrem Schoß ruhten, freundlich und aufmerksam und wortlos.
Da sitzt du, dachte Angelika, sitzt da wie leblos und doch muss etwas in dir brennen. Und dann bombardierte sie diese Frau mit Fragen. Lautlos schoss sie sie hinüber zu der Gestalt mit den streng nach hinten gefassten Haaren. Jede Frage, die sie stellte und die unbeantwortet blieb, notierte sie in ihrem kleinen Buch, das sie vor sich liegen hatte. Alles fragte sie noch einmal, woher, wohin, weshalb, wie. Sie fragte nach Eltern und Geschwistern, nach Schulzeit, Freundinnen, nach der Ausbildung, nach Freundschaften, Liebschaften, nach Glück und Schrecken. Aber die Frau vor ihr strich ihre Daumen aneinander und blieb stumm.
Dann piepste leise der Wecker. Angelika Kloos erhob sich und auch Rosemarie Holzer stand auf. Sie strich sich den schmalen Rock mit einer kurzen Bewegung glatt und rückte den Stuhl näher an den Schreibtisch. Dann kam sie auf Angelika zu. Sie schenkte ihr noch einen ihrer kurzen Blicke und nickte, reichte ihr aber nicht die Hand. Wortlos verließ sie mit der Wärterin den Raum.
Wenigstens diesen Blick hat sie mir geschenkt, ohne jede Notwendigkeit. Danke, dachte Angelika und packte ihre Tasche.
Rose Holzer war klar, die Psychologin wollte etwas von ihr hören. Aber was? Was sollte sie ihr sagen? Immer die gleichen Fragen, jedes Mal, wenn sie sich in diesem kahlen Raum trafen.
Was wollte sie wissen? Sie sagte: Ich möchte etwas von Ihnen hören. Das war ihr ständiger Spruch. Es klang, als interessiere sie sich für Rose. Das war aber nicht so. Es konnte gar nicht sein. Diese Fragen hatten sich doch abgenutzt in all den Jahren. Mit den wechselnden Therapeuten. Ja, sie wollten sie therapieren. In ihren Fragen steckte unzweifelhaft guter Wille. Sehr guter Wille sogar. Aber sie möchten auch einen Erfolg für sich selbst haben. Da war sich Rose ganz sicher. Den brauchte jeder Mensch.
Aber sie wollten alle nur etwas von ihr hören. Sie müssten genauer sein. Was wollten sie hören? Das sollten sie ihr sagen. Wie sollte sie wissen, was dieses Etwas war. Dazu gäbe es vieles zu bemerken. Rose glaubte nicht, dass sie selbst sie interessierte, sonst wäre da nicht dieses Etwas. Das wollte sie aber nicht sein. Sie war schon so weit entfernt von allem, aber ein Etwas war sie noch nicht.
Sie dachte, es würde der Psychologin gefallen, wenn sie ihr beschreiben würde, wie es loderte. Aber das konnte sie doch nicht. Wie könnte diese Frau ihr in das Inferno folgen? Wie könnte sie diese tiefe Schönheit nachempfinden? Wie könnte sie schmecken was ihr den Mund füllte. Wie es über sie hin wehte, das liebliche Flämmchen. Wie es dann aufloderte und schrie und tobte und raste und donnerte und dahinjagte wie, wie, wie die Gewalt in ihr! Und sie hatte es erschaffen.
Das andere, das ihr schlaflose Nächte machte, wäre ihr sicher auch lieb, dieser Therapeutin. Aber das war noch ganz im Verborgenen. Das ging noch niemanden etwas an. Das hatte sie mitgebracht aus der Freiheit.
Liebe Rosemarie Holzer,
ich habe erfahren, dass sie wieder im Gefängnis sind. Ach ja, Gefängnis sagt man nicht mehr, ich glaube, es heißt jetzt Haftanstalt.
Woher ich es weiß? In einer Tageszeitung war eine kurze Notiz, ein Artikel über Sie. Dieser kleine Bericht hat mich eigentümlich berührt. Weshalb genau, weiß ich nicht zu sagen. Er hat mich beschäftigt und ich frage mich, ob mich Ihr Schicksal angerührt hat oder das Feuer, das Sie entfacht hatten. Vielleicht wäre ich gerne Sie, wer weiß das schon.
Jedenfalls habe ich beschlossen, Ihre Geschichte aufzuschreiben. Ich möchte Sie gerne eine kurze Wegstrecke begleiten. Ich möchte wissen, wie es Ihnen ergeht.
Und so habe ich mir vorgenommen, Ihnen, liebe Rosemarie, zu schreiben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Im Gegenteil, ich hoffe sogar, dass Sie meine Schreiben sehnlichst erwarten werden. Die Wirkung wird sein, dass nicht nur ich sehe, wie es Ihnen geht, sondern dass auch Sie etwas über mich erfahren.
Ja, dieses einseitige Betrachten möchte ich vorerst einstellen und es in gegenseitiges Verstehen umwandeln.
Für heute genug. Ich freue mich auf weitere Briefe – nicht von Ihnen – nein, von mir an Sie.
Bis bald,
Ihre Begleiterin
Rose nahm sich vor, Tagebuch zu schreiben. Sie war nicht mehr das Bauernmädchen von damals. „Ich bin nicht mehr das Bauernmädchen von damals“, sagte sie sich laut, als sie wieder in ihrer Zelle auf dem Bett saß und zum Fenster blickte. Diese geringe Helligkeit!
Ja, sie hatte viel Zeit mit sich verbracht, viel Zeit. Zeit in ihrer Zelle.
Sie dachte an den Morgen, an dem sie die Hasen füttern wollte. Hansi war tot. Er lag so merkwürdig langgetreckt, so trocken an der Stallwand.
Eigentlich kam er immer sofort an den Zaun. Er kannte Rose. Sie kannten sich, könnte man sagen. Vor der Schule hatte sie ihn gefüttert. Jeden Morgen. Er war ihr Liebling. Der Vater wusste das.
„Wenn du nicht stillhältst, passiert etwas. Du darfst mit niemand darüber reden, sonst ...“ Er hatte ihr so in die Augen gesehen, dass sie wusste, er meinte es ernst.
Und dann war es passiert und sie hatte doch nichts gesagt. Zu niemandem!
Bis heute wusste sie nicht, ob er es war, der Hansi getötet hatte. Fragen konnte sie ihn ja nicht mehr.
Sie war fast fertig. Sie stand am Spülstein und wusch das Geschirr und die Töpfe vom Mittag.
Plötzlich stand er wieder hinter ihr. Er umklammerte sie mit beiden Armen und legte seinen Kopf auf ihre Schulter.
„Meine schöne Tochter“, murmelte er, und drückte sie heftig an sich.
„Bischd a Schöne, bischd mei schöns Mädle. Und wie groß du scho bischd und was du scho für feine Brüschtla hoschd.“
Damit hatte er seine Hände unter ihren Achseln hindurch nach vorne geschoben und ihre Brüste umklammert.
„Nicht, Papa, ich mag das nicht!“ Sie versuchte, ihn wegzudrängen, drehte sich zur Seite und zog die Schultern nach oben.
„Aber du bist doch meine Allerliebste. Jetzt wo die Mama nicht mehr bei uns ist, haben wir nur noch uns.“
Er hatte sie zu sich umgedreht, fasste sie um die Taille mit beiden Händen und drückte seinen Unterkörper fest an ihren.
„Du magst mich doch auch, oder?“
„Ja, ich mag dich.“
Gleichzeitig mit dieser zaghaft vorgebrachten Beteuerung, hatte Rose versucht, mit ihren Händen den Vater von sich wegzudrücken. Sie ließ den Spülschwamm fallen und presste ihre Arme vor dem Körper zusammen, so fest sie konnte.
„Dann sei doch nicht so!“
„Ich muss fertigmachen!“
Die Haustür wurde heftig zugeschlagen.
„Lass los, der Wolfgang kommt!“
„Wo bleibst du denn?“
Wolfgang hatte sich im Türrahmen aufgebaut.
„Ich wart jetzt schon ewig draußen auf dich, rief er ärgerlich und sah die Beiden vor sich prüfend an.
„Ist irgendwas?“
Der Vater hatte sich hastig abgewandt und war, nach einem brummig hervorgestoßenen:
„Was soll denn sein“, dem Sohn in den Hausgang gefolgt. Kurz darauf waren Vater und Bruder mit dem Traktor vom Hof gedonnert.
Damals war der Funke zum ersten Mal emporgeschossen. Rose hatte ihre Schulsachen auf dem Esstisch ausgebreitet. Sie wollte sich auf die Matheaufgaben konzentrieren. Sie las, was als Aufgabe im Buch zu lesen stand, aber sie erfasste den Sinn nicht. Immer wieder schob sich ein Gedanke zwischen die Zahlen und Sätze der Aufgaben: Ich will das nicht.
Sie warf den Bleistift so heftig auf den Tisch, dass er über die Kante rollte und auf dem Boden aufschlug. Sicher war die Spitze abgebrochen und die Mine in tausend kleine Stücke zersprungen, aber es war ihr egal.
Es ist mir egal, dachte sie und bückte sich nicht einmal, um ihn aufzuheben.
Was machte der Vater da mit ihr? dachte sie verwirrt, was ging da vor sich? Warum drückt er sich so an mich? Was will er von mir?
Sie griff nach den Streichhölzern, die auf dem Tisch lagen. Er hatte seine Zigaretten vergessen. Wie in Gedanken strich sie ein Hölzchen nach dem anderen über die raue Fläche. Sie ließ sie so lange brennen, bis sie ganz verkohlt waren. Ist nicht schlimm, dachte sie, wenn sie die glühend heißen schwarzen Köpfchen zwischen den Fingern zerdrückte. Ist nicht schlimm.
Dann fiel ihr ein Hölzchen aus der Hand und brannte ein Loch in ihre Papiere. Hilfe, Hilfe, was soll ich bloß machen? Mama, Mama, hilf mir.
Hastig riss sie das Blatt aus dem Heft. Doch es hatte sich schon ein kleines Flämmchen durch die erste Seite gefressen und züngelte gelb und rot über das Papier. Schön war das anzuschauen. Es gefiel ihr, wie die Buchstaben sich verwandelten. Vorsichtig hielt sie auch das Blatt in ihrer Hand an die Flamme. Es loderte hell auf und sie ließ das brennende Papier auf den Tisch sinken und verfolgte interessiert die schwarzen verkohlten Fetzen, die sich in die Luft erhoben.
„Ja, brenn du nur, brenn du nur auch, mach alles kaputt“, rief sie laut. Als das ganze Buch langsam Feuer fing, beobachtete sie es staunend und spürte eine große Freude in sich aufsteigen.
„Alles soll brennen! Alles!“ rief sie noch einmal. „Ich will nicht mehr hier sein, ich will fort, weit fort von hier!“
Sie lief zum Kohlekasten. Ein paar Reklameseiten, zu lockeren Knäueln zusammengedrückt, unterstützten den lodernden Brand, der sich nun schon langsam ins Holz des Tisches fraß.
Sie hatte nichts gehört, obwohl es so still war um die Flammen. Sie wich erschrocken zurück. So wütend hatte sie den Vater selten gesehen. Er hatte die Tür mit einem heftigen Schlag aufgestoßen, war zur Couch gestürzt und hatte sich die dunkle Wolldecke gegriffen.
„Bist du wahnsinnig?“, hatte er geschrien und immer wieder mit der Decke auf die Flammen eingeschlagen. Die feinen Rußpartikel stoben nach allen Seiten und schwebten federleicht im Raum.
Sie hatte seine Schläge nicht abgewehrt. Mit den Armen hatte sie ihr Gesicht geschützt und sich in den Winkel zwischen Herd und Kohlekasten gerettet. Nie hatte er sie vorher geschlagen. Als sie ihn so wüten sah, wurde ihr blitzartig klar, was ihn traf, womit sie ihn treffen konnte. Das war es, das Feuer. Damit konnte sie ihn von sich fernhalten.
„Mach das bloß weg hier. Wir sprechen uns noch!“ Mit dieser Drohung hatte er seine Zigaretten und die Schachtel mit den restlichen Zündhölzern gegriffen und war aus der Küche gestürmt. Die Tür knallte. Sie hörte den Traktor vom Hof rollen.
Trauer stieg in ihr hoch. Zusammengekauert saß sie noch immer in der Ecke zwischen Wand und Herd. Ihr Herz klopfte wie rasend. Sie legte den Kopf auf die Knie.
Ich bin ganz allein, ganz allein, dachte sie, während ihr die Tränen aus den Augen flossen. Niemand hilft mir. Und mein schönes Feuer hat er auch zerstört.
Gut, dass er tot war, dieser Vater. Dann konnte sie am Leben bleiben. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass es umgekehrt wäre. Sie wollte fort sein, weg aus der Welt, weg von allem.
Heute dachte sie, dass es besser war, so.
Er könnte noch leben, wenn er das getan hätte, was andere Väter taten: ihre Kinder lieben. Sie hätte ihn gepflegt, für ihn gesorgt.
Er hätte alt werden können. In ihrer Gegend starben die Menschen nicht jung. Nicht einmal im besten Alter, wie man so sagte. Ihr Großvater war unglaublich alt geworden. Genau wusste sie nicht mehr, wann er gestorben war. Es war vor Mutters Tod gewesen. Er war ganz anders als ihr Vater. Er hatte sie nie angerührt.
Manchmal hatte er gesagt: „Mädle, mein Mädle, bischt eine Schöne.“ Und dabei hatte er freundlich gelächelt und mir über das Haar gestrichen. Ich glaube, er hat nicht nur mein Aussehen gemeint. Er hat mich gemeint, mich, die Rose.
Rose mochte das nicht. Auch die Psychologin nannte sie immer Rosemarie. Rosemarie Holzer. Dieses Rosemarie ging gar nicht. Und Holzer. So hatte ihr Vater geheißen, und die Mutter natürlich auch. Wegen der Mutter konnte sie das ertragen, es machte ihr nichts aus, so zu heißen. Holzer. Es klang irgendwie hart. Nach Arbeit, harter Arbeit, nach Baumfällen, nach schwieligen Händen. An seine Hände wollte sie nicht denken. Es klang auch nach etwas Gutem, nach Harz, nach auf einer Lichtung stehen, hochschauen, den Kopf in den Nacken legen, die Baumwipfel betrachten, hoch oben ihr leichtes Schwingen wahrzunehmen. Ja, es gab eine Sehnsucht, auch nach dem Geruch des Waldes, nach harzig, modrig, laubheiß im Sommer, nach raschelnden Blättern, nach weichen Gefühlen an den Sohlen. Nach Duft! Rose kannte das, ihr Körper erinnerte sich.
Aber dieses Rosemarie! Es geschah gegen ihren Willen. Es erinnerte sie an ihre Schulzeit. Frau Schneider, die Handarbeitslehrerin hatte sie auch immer so genannt. Eigentlich erst, seit Rose ihr gesagt hatte, dass sie das nicht leiden konnte, diesen Namen, dieses Rosemarie. Damals hatte die Schneider damit angefangen.
Rose sah zur Decke. Sie dachte an vieles, auch das kam ihr in den Sinn. Wenn sie sich anstrengte, sah sie in diesem grauen Betonviereck das Gesicht von damals auftauchen.
Mir gefällt dein Name, dein ganzer Name, hatte sie sehr bestimmt gesagt, diese Lehrerin, und Rose mit ihren trüben, grauen Augen angestarrt. Ja, angestarrt.
Er hatte ihr nicht gefallen. Rose wusste, dass sie sie ärgern wollte. Weshalb, das konnte sie bis heute nicht sagen. Vielleicht ahnte diese Frau damals schon, was aus ihr einmal werden würde. Vielleicht wollte sie diesen feinen, duftenden Namen, wie ihn Rose selbst empfand, keinesfalls einer zukünftigen Verbrecherin überlassen. Allerdings hatte es außer ihr in der Klasse keine andere Rose gegeben. Zwischen all den Irenen und Brigitten, war ihr Name der Einzige, der zu einer solch blumigen Schönheit abgekürzt werden konnte.
Damals musste sie sich mit ihrem vollen Namen, mit dieser Rosemarie, abfinden. Sie konnte es nicht ändern. Sie konnte sie nicht ändern, diese Lehrerin, deren Vornamen sie bis heute nicht wusste.
Als sie sie jetzt in ihrer Erinnerung vor sich sah, hätte sie zu gerne gewusst, warum sie ihr die Rose nicht gegönnt hatte.
„Warum nur konntest du mich nicht leiden?“ Die Frage hallte in der kleinen Zelle nach.
Rose hatte sich schon seit langem angewöhnt, laut mit diesen Gestalten zu sprechen. Sie holte sie zu sich in die Zelle und unterhielt sich mit ihnen. Immer wieder unterzog sie diese Herbeigerufenen aus früheren Zeiten geradezu peinlichen Verhören. Sie hatte Erfahrung damit. Es ging so weit, dass Martina, die Aufseherin hin und wieder hereinschaute, um nach dem Rechten zu sehen.
Rose wollte diese Menschen, die sie kannte oder gekannt hatte, erforschen. Sie selbst hielt sich mit den Beweggründen für ihr Handeln so gut es ging zurück. Nur manchmal, wenn die Herbeigerufenen partout nicht die richtige, die von ihr erwartete Antwort gaben, bot ihnen Rose Anhaltspunkte aus ihrem eigenen Erleben.
Erzählten die Imaginierten zur Begründung ihrer Taten dann eigene schlimme Erlebnisse, so konnte es sein, dass Rose vor Mitleiden und Mitfühlen in heftiges Weinen ausbrach.
Bei dieser Frau, dieser Lehrerin, die sie immer noch fixierte, war Rose sich nicht sicher. Sie hatte sie heute zum ersten Mal zu Besuch. Es war klar, dass auch sie einiges erlebt haben musste. Sie war damals etwa fünfzig Jahre alt gewesen, als sie den duftenden Namen verweigerte.
Was konnte man in fünfzig Jahren alles erleben?
Ich weiß, dass das nicht wenig ist, ich bin zweiunddreißig und habe auch schon einiges hinter mir. Rose wollte sie aus ihrer Reserve locken, wollte hören, woher die trüben Augen und die grauen Löckchen kamen. Sie wollte Schönes und Trauriges hören und wollte diese Frau verstehen. Doch sie blieb stumm.
Da tauchte sie unerwartet in ihrer ganzen Person vor Roses Augen auf. Sie stand vor einer schwarzen Schultafel und zeigte auf eine Notiz, die sie wohl geschrieben hatte. Schräg vor ihr stand ein kleines Mädchen, das auf die Schriftzüge an der Tafel blickte und verzweifelt versuchte sie zu entziffern.
Als das Mädchen seine Augen von der Tafel abwandte und sie auf das Gesicht der Frau richtete, blickte sie in die harten Augen einer Schlange. Im selben Augenblick spürte sie einen so heftigen Schlag auf die Wange, dass ihr Kopf an die Tafel donnerte.
„Ich war das, ich, mich hast du geschlagen, mich kleines Kind, nur, weil ich deine Schrift nicht entziffern konnte. Du Ungeheuer du!“
Sie hatte wohl so laut geschrien, dass Martina die Klappe an der Tür öffnete und besorgt fragte:
„Alles in Ordnung bei dir?“
Rose drehte sich auf ihrer Liege zur Wand.
„Alles ok. murmelte sie, „nur mein Kopf tut weh.“
Liebe Frau Holzer,
das wollte ich gerade schreiben. Ich habe nachgesehen und festgestellt, dass Sie Ihren Taufnamen Rosemarie nicht mögen. Ich respektiere das, wenn ich es auch nicht verstehe. Der Name ist zusammengesetzt aus zwei Vornamen, aus Rose und aus Marie. Es ist sozusagen ein Doppelname.