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Eine Seele im falschen Körper. Eine wartende Welt. Eine Jagd nach verlorenen Erinnerungen. Mimithe ist endlich zurück in Lyrena'd angekommen. Allerdings muss sie feststellen, dass sich einiges in ihrer Abwesenheit verändert hat. Unwissenheit und Machtlosigkeit machen ihr die Rückkehr in ihr altes Leben schwer, vor allem ohne Lu an ihrer Seite. Während Mimithe darum kämpft, ihr Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen, offenbart sich mehr und mehr die wahre Natur von Aragons Plänen. Sie muss ihm zuvorkommen, wenn sie nicht wieder alles verlieren will. Unterdessen versucht Ruth auf der Erde so viel wie möglich über die Schattenwesen in Erfahrung zu bringen. Jedoch lassen sich die Schatten in keiner Welt so leicht vertreiben.
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
GedankenReich Verlag
Denise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannover
www.gedankenreich-verlag.de
Breathless - Träume vergessener GötterBand 2
Text © Chii Rempel, 2018
Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, www.marie-grasshoff.deLektorat & Korrektorat: Kristina Licht
Satz & Layout: Nadine ReichowInnengrafiken © Chii Rempelund © depositphoto
eBook: Grittany Design, www.grittany-design.de
(eBook) ISBN 978-3-947147-38-0
© GedankenReich Verlag, 2019
Alle Rechte vorbehalten.
„Die Schatten werden länger.
Es wird Abend, eh‘ dein Tag begann.
Die Schatten werden länger.
Mit dir stirbt die Welt, halt dich nicht fest daran.“
Elisabeth Musical
»Fanya, wir haben keine Wahl.«
»Ich weigere mich, es so zu sehen«, sagte der König eindringlich. Er griff nach meinen Händen und hielt beide an seine Brust. »Ohne dich wird es Chaos geben! Es existiert mit Sicherheit eine andere Möglichkeit.«
Ich befreite meine Hände sanft aus seinem Griff und strich mir die kupferfarbenen Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten. Meine Haare waren mittlerweile wirklich zu lang, um sie noch bequem hochbinden zu können. Wenn Glaem nicht so vehement dagegen protestieren würde, hätte ich sie längst abgeschnitten.
»Aragon wird anderweitig keine Ruhe geben, das weißt du. Der Rat wird für meine Verbannung stimmen, daran besteht kein Zweifel. Du wirst dennoch dagegen stimmen müssen, ansonsten würde es Verdacht erregen.«
»Keine Sorge, ich würde sowieso dagegen stimmen, egal, was du sagst«, erwiderte Fanya schmunzelnd.
Ich nickte dankbar. »Du darfst niemandem von diesem Plan erzählen, hörst du? Nicht einmal Glaem, vor allem nicht Glaem!«
»Es wird ihn umbringen, dich gehen zu sehen.«
»Er wird es überleben.«
»Es wird mich umbringen, dich gehen zu sehen. Bist du sicher, dass du mich nicht doch vorher noch heiraten möchtest? Vielleicht würde ich dann die Wartezeit leichter überbrücken können.«
Ich stieß ihn sanft gegen die Schulter. »Keine Heiratsanträge mehr, das hattest du versprochen.«
»Ich weiß, ich weiß. Verzeih mir.« Fanya bemühte sich zu einem Lächeln, doch die Trauer in seinen Augen übertönte es.
Mein Herz blutete mit ihm. Es war nicht so, als wollte ich Lyrena’d verlassen, ich sah nur keinen anderen Ausweg. Außerdem würde ich nicht die gesamte Zeit meiner Verbannung wegbleiben. Ich würde einen vorzeitigen Weg zurückfinden. Und dann würde ich Aragon zeigen, was passierte, wenn man es wagte, meine Heimat zu bedrohen.
»Stell nur sicher, dass meinem Körper nichts geschieht. Ich werde ihn brauchen, wenn ich zurück bin.«
»Ich verspreche es.«
Ich zog Fanya in eine letzte Umarmung, sandte ein Stoßgebet an alle noch verbliebenen Götter, sie mögen uns beistehen.
»So«, sagte ich und löste mich von ihm. »Es wird Zeit, mich gefangen nehmen zu lassen.«
Es war ein beängstigendes Gefühl, wenn man im Traum fiel und in der Realität im eigenen Bett hochschreckte, nur um zu erkennen, dass man sich den Fall bloß eingebildet hatte, obwohl er sich doch so real angefühlt hatte. So ein Gefühl überkam mich, als die Spiegel mich wieder ausspuckten. Genaugenommen waren es auf dieser Seite gar keine Spiegel, sondern viel mehr Krümmungen im Raum, aber das tat nichts zur Sache. Es hatte nicht lange gedauert, bis aus der Dunkelheit ein gleißendes Licht geworden war. Vor Schreck hatte ich sofort die Augen zusammengekniffen. Leicht benebelt von dem Fall realisierte ich, wie neben mir weitere Personen dumpf zu Boden fielen. Sie waren mir alle durch die Spiegel gefolgt. Um genau zu sein, war ich gar nicht freiwillig durch das Tor gegangen — ich war geschubst worden. Lu hatte mich geschubst! Obwohl mein kleiner Bruder hilflos danebengestanden hatte!
Vorsichtig um mich tastend erhob ich mich und blinzelte ein paar Mal gegen das viel zu helle Licht. Der Boden war hart und staubig unter meinen Händen. Die Sonnenstrahlen prallten an den sandfarbenen Felsen ab und machten es meinen Augen schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Schemenartig konnte ich meine Begleiter erkennen: die Zwillinge, erschöpft auf dem Boden liegend, deren kleine Körper noch zerbrechlicher als sonst wirkten; Glaem, noch immer regungslos neben ihnen; und Lu — der sich erhob und mich mit einem Blick musterte, den ich nicht deuten konnte.
»Mimithe —«, setzte er an, doch ich brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Ich schnappte nach Luft und sah ihn mit geballten Fäusten an, während ich versuchte, meine Gefühle zu kontrollieren. Doch sie wollten nicht kontrolliert werden.
»Wie kannst du es wagen?«, schrie ich den Mann an, der seit Jahrhunderten mein Begleiter gewesen war. Wütend lief ich auf ihn zu, versetzte ihm einen Schlag gegen die Brust, den er kaum zu spüren schien. »Wie kannst du es wagen, für mich zu entscheiden? Michael könnte Nathan sonst was antun, doch dir ist es egal!«, warf ich ihm aufgebracht vor.
»Mimithe«, sagte Lu erneut und griff nach meinen Fäusten, um mich davon abzuhalten, weiterhin gegen seine Brust zu hämmern. Doch ich wollte nicht, dass er mich berührte. Ich entriss ihm meine Hände und wich ich ein paar Schritte zurück, funkelte ihn an, während ich bereits die ersten heißen Tränen meine Wangen hinunterlaufen spürte. Verdammt, ich wollte nicht weinen.
»Michael wird deinem Bruder nichts tun. Er ist ein Engel, er darf keinem Unschuldigen schaden«, versuchte er mich zu beschwichtigen, doch ich wollte es nicht hören.
»Nathan kann sich erinnern, Lucifer!«, fauchte ich ihn an. Wann hatte ich ihn das letzte Mal beim vollen Namen angesprochen? »Er hat mich erkannt, kurz bevor du mich gestoßen hast. Er hat seine große Schwester erkannt und sie hat ihn allein gelassen unter Fremden. Ich habe ihn deinetwegen allein gelassen!«
Nun begann auch Lus Blick wütend zu werden. »Entschuldige, dass ich dich in deine Heimat zurückgeschickt habe!«, konterte er laut. Ich konnte sehen, wie seine schwarzen Augen langsam einen Rotstich annahmen. »Und seit wann machst du dir überhaupt so viele Gedanken um einen einzelnen Menschen? Du hattest schon viele Familien, viele Brüder auf der Erde und du hast sie immer irgendwann verlassen! Was ist dieses Mal anders?«
»Dieses Mal ist es deine Schuld!«, fauchte ich. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Tränen zu verbergen oder sie wegzuwischen. Ich ließ sie wütend meine Wangen hinunterrollen, während ich Lu standhaft fixierte. »Nathan ist nur in das alles hier hineingeraten, weil du und dein verdammter Bruder eure Streitereien nicht allein bewältigen könnt!«
»Was willst du mir damit sagen? Hätte ich dich allein gehen lassen sollen? Hätte ich auf der Erde bleiben sollen?«, schrie er nun. In meinen Ohren pochte mein Blut und auch wenn mir bewusst war, wie laut wir sein mussten, nahm ich alles nur gedämpft wahr.
»Ja verdammt, das hättest du!«, schrie ich zurück. Sobald die Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie. Meine Augen waren so sehr auf Lu fixiert, dass ich den exakten Moment wahrnehmen konnte, als etwas in ihm zerbrach. Ich wollte meine Worte gern zurücknehmen, doch ich konnte nicht. Sie hingen da draußen zwischen uns — spalteten uns, wie eine Mauer — und Lus Blick wurde kalt.
»Ich verstehe«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Leb wohl, Mimithe.«
Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und ohne mir einen letzten Blick zurückzuwerfen, ging er davon, verschmolz langsam mit der Landschaft, während ich ihm ungläubig hinterherblickte. Was hatte ich getan? Wieso hielt ich ihn nicht auf? Er durfte nicht gehen, ich brauchte ihn doch, das wusste er! Verzweiflung packte mich und riss mich von den Füßen. Ich prallte unsanft mit den Knien auf den Felsboden und vergrub mein Gesicht in den Händen. Leise schluchzend spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und eine sehr vertraute Stimme sprach meinen Namen.
Ich nahm die Hände herunter und musste erneut gegen das viel zu helle Licht ankämpfen.
»Glaem?«, schluchzte ich.
Sein warmer Blick traf meinen und er zog mich fest in seine Arme. Ich ließ es geschehen, auch wenn ich mich nicht danach fühlte. In meinem Herzen hatte sich eine große Kluft aufgetan.
»Du bist wach«, stellte ich überflüssigerweise fest und schob meinen ehemals besten Freund vorsichtig von mir weg. Er musterte mich mit seinen stechend blauen Augen, die so gar nicht zu dem warmen Braunton seiner lockigen Haare passen wollten. Seinem Blick ausweichend unterdrückte ich ein weiteres Schluchzen. Wieso war ich nicht überglücklich, dass Glaem endlich wach war? Wieso sprang ich ihm nicht vor Freude um den Hals, wie er es wahrscheinlich erwartet hatte? Ich blinzelte die restlichen Tränen weg und versuchte ihm ein aufrichtiges Lächeln zu schenken.
»Schön, dass du wieder unter den Lebenden weilst«, scherzte ich, was er mit einem kurzen Lachen quittierte. Dann wandte ich mich etwas zu schnell von ihm ab, wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, und suchte stattdessen mit meinem Blick die Zwillinge.
Ich fand sie nur ein paar Meter hinter mir, noch immer am Boden liegend, jedoch bemüht, aufzustehen. Ohne Glaem ein weiteres Mal anzusehen, eilte ich zu den beiden Jereb — den jungen Drachenkindern, denen wir unsere Ankunft hier in Lyrena‘d überhaupt erst zu verdanken hatten. Mit ihren weißen Haaren und der viel zu hellen Haut verblassten sie beinahe im gleißenden Sonnenlicht.
»Geht es euch gut?«, fragte ich, kniete mich vor die beiden Kinder und half ihnen in eine aufrechte Position. Sie nickten. »Ja«, sagte Yin. »Wir sind nur etwas … «
»Erschöpft«, ergänzte ich und lächelte sanft. »Ihr habt auch alles Recht dazu. Es muss euch enorme Kraft gekostet haben, das Tor so lange aufrecht zu erhalten.«
»Ich bin positiv überrascht, dass ihr es überhaupt geschafft habt«, sagte Glaem plötzlich und ließ sich etwas unsanft neben mir nieder, was mich verwunderte, denn in meinen Erinnerungen waren Glaems Bewegungen immer präzise und elegant. Er musste meinen Blick bemerkt haben, denn er räusperte sich peinlich berührt und fügte hinzu: »Ich habe mich seit einer ganzen Weile nicht mehr richtig bewegt. Mein Körper muss mir erst wieder gehorchen.«
Seine Worte klangen so unendlich vertraut und doch so weit weg. So lange hatte ich unsere Sprache schon nicht mehr gehört. Tahlo. Ich wunderte mich fast darüber, dass ich sie noch verstand. Glaem ein zaghaftes Lächeln schenkend, wandte ich mich wieder von ihm ab. Ich wusste nicht wieso, aber irgendetwas fühlte sich falsch an. Auf einmal war Glaem da — er war wach, er redete mit mir, verhielt sich so vertraut, als wären wir nicht Jahrhunderte voneinander getrennt gewesen. Seine Anwesenheit schien den Platz füllen zu wollen, der soeben erst frei geworden war — den Platz an meiner Seite. Lus Platz.
Ich hatte in der Zeit, nachdem ich meinen ehemaligen besten Freund im Orden wiedergefunden und für einen kurzen Augenblick erweckt hatte, oft darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn alles wieder beim Alten wäre. Wenn wir wieder zu Hause wären, wenn alles friedlich wäre und wir uns zurück in unseren Alltag leben könnten. Was wäre dann? Wo wäre Lu in diesem Leben? Soweit hatte ich nie vorausgeplant. Der Weg meiner Gedanken hatte bisher immer nur in eine Richtung geführt, immer nur in Richtung Lyrena‘d. Das war das Ziel gewesen und nun war das Ziel erreicht. Ich war in Lyrena‘d, ich war zu Hause, doch ich hatte Lu verloren. Ich räusperte mich und zwang mich aus meinen Gedanken, hielt mir vor Augen, dass ich nichtsdestotrotz wütend auf ihn war. Er hatte einen Fehler begangen und kein Recht gehabt, mich einfach so durch das Tor zu schubsen! Allerdings hatte ich auch kein Recht gehabt, ihn dermaßen anzufahren, also war es nicht verwunderlich, dass er gegangen war. Er war schließlich nicht grundlos hier. Ich versuchte, den Gedanken an Gott nicht weiterzuführen, als Glaems sanfte Stimme mich unterbrach.
»Mimithe, alles in Ordnung?«
Er musterte mich ernsthaft besorgt, was mir ein aufrichtiges Lächeln entlockte. Auch wenn es ein trauriges war.
»Ja, natürlich«, beschwichtigte ich und mein Blick glitt an Glaem vorbei, in die Richtung, in die mein höllischer Begleiter verschwunden war.
»Wer war das?«, fragte Glaem, ohne seinen Blick von mir abzuwenden, woraufhin ich ihn fragend ansah. »Der Kerl, mit dem du dich gerade gestritten hast?«, ergänzte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Achso!«, stieß ich aus, als mich die Erkenntnis traf. Natürlich, Glaem hatte die ganze Zeit über geschlafen, deshalb hatte er Lu gar nicht richtig kennengelernt! »Lu, er … das ist jetzt unwichtig. Er ist weg und ich glaube nicht, dass er so schnell zurückkommt.«
Glaem musterte mich irritiert und wirkte so, als wollte er noch etwas erwidern, doch bevor er dazu kam, wurde er von einem seltsamen Geräusch unterbrochen. Verwundert drehte ich mich um, den Ursprung dieses Geräusches suchend, als die Zwillinge plötzlich erschrocken hochfuhren und sich in einer steifen Geste tief vor etwas verbeugten, das stark an eine graue Katze erinnerte. An eine Katze mit einem langen, weißen Schnurrbart.
»Meister Ma‘nuh!«
Ich musste ein belustigtes Kichern unterdrücken bei dem Anblick dieses keinen Wesens, was mir einen geschockten Seitenblick von den Zwillingen einbrachte.
»Entschuldigt ihre Manieren«, warf Glaem sofort ein und schenkte dem katzenartigen Wesen ebenfalls eine Verbeugung. Er wartete, bis ich es ihm gleichtat. »Sie war lange von ihrer Heimat getrennt und erinnert sich noch nicht an alle Gepflogenheiten.«
»Ich erinnere mich an genug«, protestierte ich.
»Und scheinbar auch nicht mehr an unsere Sprache«, ergänzte Glaem, ohne seinen Blick von Meister Ma‘nuh abzuwenden, womit er meinen grimmigen Blick verpasste.
»Das ist überhaupt kein Problem«, wandte das katzenartige Wesen amüsiert ein. »Ich spreche ihre Sprache ganz gut.« Er hatte Recht, er sprach sie völlig akzentfrei.
»Verzeihen Sie mir, falls ich unhöflich gewesen sein sollte. Meister Ma‘nuh, das ist Ihr Name, richtig? Ich schätze, Sie wissen wer ich bin?«, fragte ich.
Meister Ma‘nuh nickte bestätigend.
»Das heißt auch, Sie wissen, wieso ich hier bin. Stellt sich nur noch eine Frage«, fuhr ich fort.
»Auf welcher Seite ich stehe«, ergänzte der Meister. »Keine Sorge, niemand in Celnes wird dir schaden wollen. Wir haben alle sehnsüchtig auf deine Rückkehr gewartet.« Das überraschte mich. Ich hatte erwartet, dass nach dem Beschluss des Rates, meiner Verbannung zuzustimmen, auch das Volk das Vertrauen in mich verloren und mich aufgegeben hatte. Sollten sie tatsächlich auf mich gewartet haben?
»Ihr müsst hungrig sein«, schlussfolgerte Meister Ma‘nuh. »Folgt mir. Und mit euch habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.« Er warf den Zwillingen einen unmissverständlichen Blick zu.
»Das sagt man doch so, oder?«
»Ja«, lachte ich, »genauso sagt man das.«
Wir folgten dem Drachenmeister in seiner Katzengestalt einen kahlen Pfad den Berg weiter hinauf. Ich war früher ein paar Mal in Celnes gewesen, wenn auch nicht oft. Das Königreich befand sich am äußeren Rand Lyrena‘ds und meine Missionen hatten mich nicht oft hierhergeführt. Die Celnae waren ein friedliches Volk, sie machten keine Probleme. Allerdings war Meister Ma’nuh mir fremd. Ich fragte mich, was aus Meister Ae’nah geworden war, der vor meiner Verbannung noch der Kopf des Rates von Celnes gewesen war. Er war auch derjenige, der im Rat gesessen hatte, als die Entscheidung über mich getroffen worden war. Ich fragte mich, wofür er gestimmt hatte. Celnes war eines der Königreiche, das nur noch den Titel der Monarchie trug, in Wahrheit aber keinen König oder Königin besaß. Die letzte Königin, Königin Mila, war bereits vor Jahrhunderten von ihrem Thron gestürzt worden und ihr einziger Sohn war geflohen. Es ging das Gerücht um, er hatte die Krone sowieso nie gewollt und den Putsch gegen seine eigene Mutter sogar unterstützt. Ich kannte den Prinzen. Das Gerücht entsprach der Wahrheit.
Während wir schweigend den Weg entlangliefen, nahm ich mir die Zeit, meine Umgebung zu betrachten. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier war. Vielleicht hatte ich es auch vorher nie bemerkt. Wir befanden uns auf einem hohen Berg aus gelbem Sandstein. Hier und da wuchs ein bisschen Grün, doch das beschränkte sich auf die eher schattigen Plätzchen. Der Rest bestand aus Felsformationen, die in der Sonne golden glitzerten. Ganz Celnes befand sich auf einer Gebirgskette, viel höher als der Rest des Landes. Manchmal, wenn man Glück hatte, konnte man sogar die Wolken berühren. Das Schönste, was dieses Reich zu bieten hatte, erblickte man allerdings erst, wenn man in die höchsten Gebiete vordrang. So wie wir das jetzt taten.
Als die fliegenden Felsen in Sicht kamen, blieb mir kurz der Atem stehen. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie sah, doch meine Erinnerungen konnten ihrer atemberaubenden Schönheit nicht gerecht werden. Ich betrachtete fasziniert die Gesteine, die teilweise meterhoch über dem Boden schwebten. Von einigen plätscherten sanfte Wasserfälle hinunter und formten kleine Teiche unter ihnen. Wie sehr hatte ich Lyrena‘d vermisst. Ich trat näher an einen der fliegenden Giganten und fuhr mit meiner Hand unter ihm entlang. Ein paar kleine Wassertropfen schlichen sich auf meine Hand. Die Celnae hatten eine Legende, wonach in diesen Gebirgen einst ein Gott gelebt haben soll, älter als alle Bewohner Lyrena‘ds zusammen. Er habe das Land so hoch steigen lassen, um näher an seiner Geliebten, der Sonne, zu sein. Man sagte, die fliegenden Felsen wären sein Versuch, nach ihr zu greifen und womöglich würde sich einmal ganz Celnes in die Luft erheben.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du wieder da bist«, murmelte Glaem und trat an meine Seite. Sein Blick war sanft und er musterte mich vorsichtig.
»Ich auch nicht«, gab ich hauchend zurück und genoss die kühlen Tropfen auf meiner Haut.
»Ich werde nur eine Weile brauchen, um mich an dein neues Aussehen zu gewöhnen«, gestand er und grinste mich verschmitzt an.
Ich lachte kurz. »Das wirst du hoffentlich gar nicht brauchen. Ich würde meinen richtigen Körper gern so schnell wie möglich wieder einnehmen.«
Er nickte kurz.
»Das dürfte noch ein kleines Problem werden«, warf Meister Ma‘nuh ein. Glaem und ich warfen ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich erkläre euch alles im Himmelsturm. Kommt.«
Der Himmelsturm war das Herzstück von Celnes; ein gigantisches, schwebendes Monster aus weißem Marmor, durchzogen von grauen Adern. Er schien praktisch mit dem Himmel zu verschmelzen, umgeben von hauchdünnen Wolken, so weit nach oben ragend, dass sich die Spitze im Nichts verlor.
Mir stockte ein wenig der Atem und ich musste schwer schlucken, als sich der Gigant vor uns ausbreitete. Hatte ich mich schon immer so klein gefühlt? Glaem legte vorsichtig seine Hand auf meinen Rücken, als würde er mich stützen wollen. Ich war dankbar für diese kleine Geste, hätte ich doch nicht gedacht, dass ich mich einmal so überwältigt von meiner eigenen Heimat fühlen würde.
Eine schmale Wendeltreppe führte uns zum Eingang des Himmelsturms, die einzige Verbindung zwischen ihm und dem Boden.
»Diese Treppe wird viel zu selten genutzt. Auch wenn wir immer öfter Besuch bekommen, der nicht fliegen kann«, erklärte Ma‘nuh und ging voraus.
Die Zwillinge schritten uns mit gesenkten Köpfen hinterher. Sie waren die ganze Zeit schon so still gewesen. Ich fragte mich, was in ihren Köpfen vorging. Sie waren wieder zu Hause, doch sie wirkten angespannter als in unserer ganzen gemeinsamen Zeit auf der Erde. Ich streckte ihnen wortlos meine Hände entgegen, die sie genauso wortlos, doch mit festem Griff umklammerten. Zufrieden lächelte ich in mich hinein. So schritten wir schweigend die scheinbar endlosen Stufen zum Himmelsturm hinauf.
Der Eingang war ein riesiger Torbogen ohne Tore. Doch als wir hindurchgingen, spürte ich deutlich das Energiefeld, das dazwischen flimmerte — ein magischer Wall, der effizienter war, als jedes Tor es hätte sein können. Im Inneren war der Turm genauso hell und weiß, wie er von außen anmutete. Das Sonnenlicht brach sich an jedem Winkel in tausend verschiedene Farben, sodass man sich vorkam, als befände man sich inmitten eines Diamanten. Ich musste ein wenig die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden. Atemberaubend war es allemal, doch mir wäre es auf Dauer zu hell gewesen.
Ohne jegliche Vorwarnung sprang Meister Ma‘nuh plötzlich vor uns in die Luft, wirbelte herum und zerbarst in einem gleißenden Licht. Bevor ich mich versehen konnte, war aus der zierlichen Katzengestalt ein gewaltiger, blau schimmernder Drache geworden, der schlangenförmig über uns schwebte.
Ich ließ einen beeindruckten Laut von mir.
»Nehmt bitte erst einmal Platz, man wird sich sofort um euch kümmern«, erklärte Ma‘nuh, ohne seinen Mund zu bewegen, und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf eine Sitzgelegenheit zu unserer Seite.
»Und ihr beiden«, brummte er den Jungen entgegen, »kommt mit mir.«
Ich spürte, wie die Zwillinge kurz zusammenzuckten und drückte ihre Hände noch fester.
»Ich würde gern bei ihnen bleiben«, erklärte ich und suchte den Blick des Drachen.
»Das ist eine Angelegenheit, die nur Celnes etwas angeht«, machte der Meister mir in einem ruhigen, jedoch harten Ton klar, der keine Diskussion zuließ. Ich hielt seinem Blick stand.
»Mich geht jedes der dreizehn Königreiche etwas an«, verlautete ich und bemühte mich um einen möglichst bestimmten Tonfall.
Einige Sekunden blieb es still.
»Es hat sich einiges verändert, während du fort warst.« Damit wandte er sich ab und ich wusste, ich hatte verloren.
Die Jungen ließen zaghaft meine Hand los und folgten schweigend ihrem Meister. Glaem legte mir behutsam eine Hand auf meine Schulter und führte mich zu der angewiesenen Sitzgelegenheit. Diese bestand aus einer Art Couch, die aus dem marmorierten Boden herausgewachsen zu sein schien. Auf ihr lagen dick gepolsterte, bunte Kissen, auf denen Glaem und ich uns niederließen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, ertönte plötzlich eine freundliche Stimme neben uns. Ich starrte in das Gesicht eines zierlichen, blonden Mädchens, das uns schüchtern anlächelte. Sie trug die typischen Gewänder einer Celnae, die sich für einen menschlichen Körper entschieden hatte: einen hauchdünnen Stoff, der ihr über die Schultern geworfen in dicken Falten bis zum Boden fiel und nur am Bauch von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Der rosane Farbton des Kleides stand ihr wirklich gut.
»Ein Wasser bitte«, antwortete ich. Glaem bat um das Gleiche und das Mädchen verschwand eilig in einen der zahlreichen Räume, die sich um den kreisförmigen Eingangssaal verteilten. In der Mitte befand sich eine weitere riesige Wendeltreppe, die zu höheren Emporen führte — Emporen, dessen Ende ich nicht sehen konnte. Wenn ich meine Augen zusammenkniff, konnte ich in weiter Ferne erkennen, wie hier und da jemand vorbeihuschte. Es war ausgesprochen still für so einen riesigen Palast.
»Hier, bitte«, sagte das Mädchen und reichte uns zwei Gläser. Ich hatte sie gar nicht zurückkommen hören. Mit einem kurzen Lächeln bedankte ich mich und wandte mich dann mit grimmigem Blick der Tür zu, hinter der Meister Ma‘nuh mit meinen Jungen verschwunden war. Wann hatte ich angefangen, von ihnen als meine Jungen zu denken?
»Wo hast du die beiden überhaupt aufgegabelt?«, fragte Glaem neben mir und ich brauchte eine Weile, um wieder zu mir zu finden.
»Ich vergesse immer, dass du dich an nichts erinnern kannst«, stellte ich fest. »Da du die ganze Zeit anwesend warst, habe ich das Gefühl, du wärst dabei gewesen. Aber du hast ja geschlafen.«
»Nicht freiwillig, wenn ich anmerken darf«, protestierte er. Etwas verlegen fügte er hinzu: »Und zumindest einmal war ich kurz wach.«
Ich erinnerte mich daran, wie ich Glaem im Keller des Ordenshauses kurzzeitig geweckt hatte. Mit einem Kuss. Meine Wangen röteten sich bei dem Gedanken und ich mied seinen Blick. Ich hoffte, er würde das nicht missverstehen.
»Danke dafür«, flüsterte er, seine Stimme ein wenig heiser.
Ich schüttelte nur abweisend den Kopf. »Hat ja nicht viel gebracht. Du bist kurz darauf wieder eingeschlafen und wir mussten dich wie eine übergroße Puppe mit uns herumschleppen.«
Er lachte kurz auf. »Das muss ein Anblick gewesen sein.«
»Frag mal Lu«, sagte ich verschmitzt.
Sein Blick wurde ernst. Und auch ich wünschte plötzlich, ich hätte seinen Namen nicht erwähnt.
»Du hast mir noch nicht erklärt, woher ihr euch überhaupt kennt. Und wer er ist. Ich spüre, dass er kein Mensch sein kann, doch was genau er ist … «
Ich antwortete nicht sofort. Stattdessen nippte ich an meinem Wasser und ließ den Kopf hängen. »Wir haben noch so vieles zu besprechen«, seufzte ich schließlich. »Lass uns damit anfangen, wenn wir etwas mehr Ruhe haben.«
Er nickte nicht, protestierte aber auch nicht.
Die Tür, die ich bereits die ganze Zeit über anvisiert hatte, sprang auf und Meister Ma‘nuh kam auf uns zugeflogen. Von Yin und Yang war keine Spur. Ich erhob mich, als der Drache sich uns näherte.
»Ihr werdet jetzt empfangen. Man wartet auf euch in der Bibliothek«, erklärte er.
»Wo sind sie?«, fragte ich und wusste, dass er verstand, wen ich meinte.
»Sie sind jetzt wieder zu Hause. Sie werden ihre alten Pflichten aufnehmen, so wie sie es vor ihrem Verschwinden getan haben.«
Damit war das Gespräch beendet. Ich unterdrückte meine Wut darüber, dass seine Antworten so abweisend waren, und nahm mir vor, nachher nach den Jungen zu suchen. Ich würde nicht verschwinden, ohne mich zu verabschieden. Oder sie mitzunehmen, falls sie bei mir bleiben wollten. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob man mich vor meiner Verbannung auch schon so behandelt hatte.
Die Bibliothek befand sich in einem der höher gelegenen Stockwerke — viel höher. Als ein fliegendes Drachenwesen dürfte man damit keine Probleme haben, doch Glaem und ich konnten bedauerlicherweise nicht fliegen, also mussten wir die ganzen Stufen selbst erklimmen. Und es waren wirklich viele Stufen. Mir wurde bereits schwindelig von der engen Wendeltreppe, als wir endlich das Ziel erreichten und ich musste mich kurz an Glaem abstützen, um nicht umzufallen. Er legte mir besorgt einen Arm um die Schulter und hielt mich fest, bis sich der Boden unter meinen Füßen nicht mehr drehte.
»Entschuldige«, hauchte ich. »Dieser Körper hält nicht besonders viel aus. Ich war nicht sonderlich sportlich als … als Kaylin.«
Die riesigen Tore der Bibliothek öffneten sich, ohne dass Ma‘nuh sie berühren musste. Sie gaben geräuschlos nach und schwangen trotz ihres immensen Gewichtes lautlos nach innen und offenbarten eines der größten Archive Lyrena‘ds. Die Bibliothek von Celnes war ein Heiligtum, dessen oberstes Gebot dem Wissen galt — die Bücher und Schriftrollen waren die Götter, die hier hausten und ihre Weisheit wurde verehrt und gepredigt. Die Celnae waren keine religiösen Wesen, doch wollte man ihnen einen Tempel zusprechen, so war es ihre Bibliothek.
Glaem und ich wurden im zirkelförmigen Eingangsbereich empfangen, der mit einem runden Tisch versehen war, um den dreizehn Stühle standen. Nur drei von ihnen waren besetzt. Ich versuchte, mich von dem Anblick der Bibliothek loszureißen und mich stattdessen auf die Personen zu konzentrieren, die uns erwarteten, doch mein Blick blieb fasziniert an den kleinen Wölbungen in den Wänden hängen, in denen unzählige kleine Kugeln funkelten. Wie verzaubert näherte ich mich den Kugeln. Sie schienen aus Glas zu sein, doch in ihnen herrschte ein wildes Durcheinander von Bewegungen. Man nannte sie Lits und was da so chaotisch in ihnen wütete waren Buchstaben. Die Celnae waren sehr bedacht auf die Sicherheit ihrer Schätze, daher waren die extrem seltenen, echten Bücher sicher verriegelt hinter Türen, die nur von den Bibliothekaren geöffnet werden konnten. Allen anderen Wissbegierigen blieben die Lits. Jeder einzelne Lit enthielt ein Buch, das dem Betrachter beim Aktivieren der Kugel offenbart wurde. Eine faszinierende Technik, doch ein Jammer, dass das Gefühl für die Bücher dabei verloren ging.
»Na‘imi«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken.
Ich wirbelte herum und starrte zum ersten Mal in die drei fremden Gesichter, die mich vom Tisch aus erwartungsvoll ansahen. Sie alle hatten sich erhoben, als ich den Raum betreten hatte. Zwei von ihnen waren Celnae in Fae-Gestalt, eine junge Frau mit langem weißen Haar und ein älterer, eleganter Mann mit spitzer Nase und steifer Haltung. Sie ähnelten normalen Menschen — etwas zu groß und definitiv zu hübsch, aber ansonsten absolut menschlich. Nur die spitzen Ohren und ihre Augen gaben ihre Identität preis. Ihre Augen funkelten mit der gleichen Intensität wie die der Zwillinge.
Die Dritte im Bunde war ohne Zweifel eine Nymphe aus dem Königreich Luma. Mit ihren ausgeprägten Kurven und jugendlich anmutenden Gesichtern gehörten sie zu einer der verführerischsten Wesen Lyrena‘ds. Ihr kastanienfarbenes Haar und ihr lockeres Kleid waren übersät von bunten Blumen und grünen Ranken, sodass sie aussah, als wäre sie gerade einer Blumenwiese entschlüpft. Es war ein seltener Anblick, eine Nymphe in einem geschlossenen Raum anzutreffen, erst recht einem aus Stein. Sie verließen ihren Wald nur sehr ungern.
»Na‘imi, Ihr seid es tatsächlich«, sprach die weißhaarige Frau und ergriff meine Hand, um diese in einem Gruß kurz an ihre Stirn zu führen. Ich erwiderte mit einem Nicken. Die anderen beiden taten es ihr nacheinander gleich, der Mann sehr steif, die Nymphe mit einem freudigen Lächeln und einem verspielten Zwinkern. Ich schenkte ihr ebenfalls ein Lächeln. Es war schön, eine ehrliche Reaktion zu sehen. Sie starrten mich alle so erwartungsvoll an, dass ich gar nicht wusste, wohin mit mir. Ich öffnete den Mund, nur um ihn direkt wieder zu schließen. Was sollte ich ihnen sagen? Was erwarteten sie überhaupt von mir?
»Es wäre mir lieb, wenn wir in meiner Sprache weitersprechen könnten«, bat ich schließlich. »Es ist fast unmöglich, einem menschlichen Körper die Laute abzuverlangen, die für Tahlo nötig wären.«
Sie musterten mich kurz irritiert, dann nickten sie.
»Ich würde vorschlagen, wir setzen uns erst einmal«, sagte Meister Ma‘nuh und wirbelte aus seiner Drachengestalt zurück in die Form einer Katze, die elegant auf dem Tisch landete.
»Darf ich vorstellen«, sagte er, während wir uns hinsetzten. »Unser höchster Zeitmesser Di‘wah, die Lichtforscherin Thala und Prinzessin Vallery aus dem Königreich Luma.«
Alle nickten kurz, als sie vorgestellt wurden. Ich würde mich wahrscheinlich nie so richtig daran gewöhnen, dass die Celnae sich immer mit ihrem Aufgabenbereich ansprachen — es war der dazugehörige Titel, aber es wirkte so unnötig lang.
»Und das ist selbstverständlich Na‘imi, das Juwel. Und Glaem, Zwielichtkrieger und ihr Begleiter«, erklärte Meister Ma‘nuh höflichkeitshalber, auch wenn alle natürlich wussten, wer wir waren.
»Na‘imi, Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich wir sind, Euch wieder bei uns zu haben«, säuselte Thala mit einem Lächeln auf ihren Lippen, das ihre Augen nicht erreichte.
»Ihr habt sicherlich viele Fragen. Wir wären glücklich, sie Euch beantworten zu können«, fügte Di‘wah hinzu. Seine Stimme klang erstaunlich freundlich, wenn man sein steifes Äußeres bedachte.
Ich nickte ernst. »Ich habe tatsächlich viele Fragen. Doch eine voran: Könnt ihr mich so schnell wie möglich nach Leas bringen? Ich brauche meinen wahren Körper wieder.«
Die drei tauschten einen erschrockenen Blick aus. Doch Ma‘nuh war es, der mir antwortete.
»Dein Körper ist nicht mehr in Leas«, erklärte er. »Er wurde schon vor langer Zeit gestohlen. Von Aragon.«
Ich stürmte aus der Bibliothek, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was die anderen mir hinterherriefen. In meinem Inneren kochte es wie wild, so wütend war ich auf die Tatsache, dass sie meinen Körper verloren hatten. Nein — nicht einmal verloren, sie hatten ihn sich stehlen lassen! Es war unfassbar. Man hatte mich verbannt, meines Körpers, meiner Erinnerungen und Fähigkeiten beraubt, um den Frieden in Lyrena’d wiederherzustellen. Dass sie daran gescheitert waren, konnte nun wirklich niemand in Frage stellen, doch dass sie dabei nicht einmal ihr Wort halten konnten, war einfach unverzeihlich! Sie hatten mir versichert, meinem Körper würde nichts geschehen! Das war der einzige Grund, weshalb ich mich überhaupt hatte verbannen lassen, verdammt nochmal. Glaubten diese jämmerlichen Wichte von einem Rat wirklich, dass sie mich hätten gefangen nehmen können, wenn ich es nicht so gewollt hätte?
»Argh!« Ich stieß einen wütenden Schrei aus und trat gegen die nächstbeste Wand. Diese Wut war nicht gut für mich, sie benebelte mein Urteilsvermögen.
»Mimithe!«, hörte ich Glaem hinter mir rufen. Schnaubend lief ich schneller die Treppen hinunter. Ich wollte ihn gerade nicht sehen. Zwar wusste ich natürlich, dass er keine Schuld daran trug, dass mein Körper nun bei Aragon vor sich hinvegetierte — oder was auch immer Aragon damit anstellte — denn Glaem war schließlich die ganze Zeit über auf der Erde gewesen. Trotzdem machte es mich wütend, dass er nicht hier gewesen war, um es zu verhindern. Er hätte mir nicht in meine Verbannung folgen müssen, nur um dort in einen komaartigen Schlaf zu fallen. Er hätte wissen müssen, dass das passierte, wenn man ohne menschliche Hülle zur Erde reiste. Stattdessen hätte er hierbleiben sollen und dafür sorgen, dass für meine Rückkehr alles vorbereitet war. Fanya hätte ihm alles erklärt, wäre er nur einmal zu ihm gegangen. Dann hätte Fanya ihm sagen können, dass das alles geplant war und ich hätte nicht umsonst Jahrhunderte damit verschwendet, vorzeitig aus meiner Verbannung zu entkommen.
»Jetzt warte doch, Mimithe!« Glaem hatte mich eingeholt und an der Schulter gepackt. Mit einem Ruck drehte er mich zu sich und ich konnte mich nicht einmal wehren, so schnell geschah alles. Ich verfluchte diesen menschlichen Körper. Hatte ich mich darin tatsächlich einmal wohl gefühlt?
»Was? Willst du mir sagen, ich soll mich beruhigen? Ich will mich aber nicht beruhigen. Mein Körper ist weg und damit auch meine Kräfte. Ich bin völlig nutzlos!« Mein Blick forderte ihn heraus, meine Hände zu Fäusten geballt, bereit zum Angriff.
»Diese Wut steht dir nicht. Das bist nicht du«, sagte Glaem nur und ließ meinen Blick keine Sekunde lang los.
»Das ist richtig, das bin auch nicht ich! Das hier ist der Körper von Kaylin Baker, einem sechzehnjährigen Teenager aus England, nicht der einer unsterblichen Seele, an der die Last des Wohlergehens einer ganzen Welt hängt«, schnaubte ich verächtlich. Tatsächlich staunte ich über mich selbst. Solche Emotionsausbrüche waren nicht üblich für mich und doch tat es irgendwie gut, all dem angestauten Frust freien Lauf zu lassen.
»Wir werden uns deinen Körper wiederholen«, versicherte Glaem und packte mich nun bestimmt an beiden Schultern. Seine Augen verrieten keinen Zweifel und für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich versetzt in alte Zeiten — Zeiten, in denen ich Glaem zu meinem besten Freund gezählt hatte, in denen ich ihm alles geglaubt hätte. Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen.
»Du warst genauso wenig hier, wie ich. Du weißt nicht, wie stark Aragon in der Zwischenzeit geworden ist. Wie stellst du dir vor, meinen Körper zurückzuholen? Du mit Pfeil und Bogen bewaffnet und ich — ich mit dem tollpatschigen Körper einer Sechzehnjährigen?«
Glaem sah mir immer noch tief in die Augen. »Natürlich nicht«, erklärte er. »Wir gehen zu Fanya. Er hat die Sache verbockt, also kann er uns helfen, sie wieder auszubügeln.«
Ich nickte geistesabwesend. Zu Fanya zu gehen war sowieso mein Plan gewesen. Hätten wir steuern können, wo wir hinter dem Tor landeten, wäre ich am liebsten sofort vor seinen Thron gefallen.
»Bist du dir eigentlich ganz sicher, dass —«, begann Glaem zögerlich und ließ mich endlich los, »dass du über keinerlei Kräfte verfügst? Ich meine, deine Seele ist stärker als alles, was wir kennen. Eventuell hängt ein Teil deiner Kräfte an ihr, nicht an deinem Körper?«
Er war so unsicher, weil er mir keine Hoffnungen machen wollte, wo keine waren. Ich durchschaute ihn sofort, meinen einstigen besten Freund mit seinen lächerlich niedlichen, lockigen Haaren. Ich wollte gerade verneinen, als mir der Kampf mit dem Orden bei den Fairy Ponds einfiel. Irgendetwas war dort geschehen ... irgendetwas, das die Männer von den Füßen geschleudert hatte.
»Ich bin nicht sicher ... es kann sein, dass ich — nein, ich weiß es nicht. Ich würde mich nicht darauf verlassen«, entgegnete ich. Glaem nickte langsam, sein Blick nachdenklich.
»Du solltest dich für heute ausruhen«, sagte er schließlich. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Frag dich das lieber mal selbst.«
»Ich? Ich habe die letzten fünfhundert Jahre geschlafen. Ich glaube, ich bleibe jetzt erstmal ein paar Jahrhunderte wach. Oder ein paar Monate zumindest. Na gut, eine Woche vielleicht. Aber ich bleibe auf jeden Fall erstmal wach.«
Daraufhin musste ich lachen. Glaem verstand es, mich aufzumuntern. Ich nickte schließlich und verabschiedete mich für die Nacht.
Das Zimmer, das man mir zur Verfügung gestellt hatte, befand sich glücklicherweise im Erdgeschoss, nur ein paar kurze Flure von der Eingangshalle entfernt. So musste ich keine weiteren lästigen Treppen auf mich nehmen und hatte gleichzeitig nicht das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich war mir immer noch nicht sicher, wie Meister Ma’nuh und die anderen zu mir standen. Wie überhaupt irgendjemand in Lyrena’d zu mir stand. Ihres Wissens nach hatte ich diesen Krieg zu verschulden, diesen Krieg, der kein wirklicher war. Soweit ich es von den kurzen Eindrücken, die ich bisher von meiner Welt ergattern konnte, erkennen konnte, befand sich niemand im Ausnahmezustand. Alles wirkte beinahe friedlich. Wäre die Mauer um Lyrena’d nicht, die den Weg in andere Welten versperrte, wäre nicht einmal spürbar, dass etwas nicht stimmte. Hatte Aragon tatsächlich noch nicht angegriffen, all die Jahrhunderte lang? Ich war sechshundert Erdenjahre fort gewesen. Das waren in Lyrena’d gerade einmal etwas mehr als zweihundert. Die Zeit verging hier deutlich langsamer, aber dafür ließen sich die Fae auch mehr Zeit bei allem, was sie taten. Wartete Aragon auf etwas? Plante er noch? Was war hier geschehen, während ich fort gewesen war, während sie auf sich allein gestellt gewesen waren? Ich war ihr Juwel, und ich hatte sie verlassen. Juwel. So ein wundervoller Ausdruck für ein so schreckliches Dasein. Ich würde es niemals vor jemandem zugeben, aber manchmal wünschte ich mir, ich hätte den Mut, dieses Dasein zu beenden. Wir waren ein sehr langlebiges Volk. Niemand in Lyrena’d musste sterben, nicht altersbedingt jedenfalls. Dennoch konnte jeder getötet werden, oder — wenn man es so wünschte — sich selbst das Leben nehmen. Es war kein Zeichen der Schwäche, sein Leben zu geben, wenn es doch ein endloses war. Irgendwann musste alles ein Ende finden, irgendwann kehrte alles zurück in den Kreis. Doch ich durfte nicht aufgeben, solange ich mein Chaos nicht beseitigt hatte.
Ich stellte mich ans Fenster und beobachtete den Himmel. Meinen Himmel. Das Energiefeld flackerte leicht, doch ich konnte trotzdem alles glasklar erkennen. Die drei Monde standen beinahe übereinander. In ein paar Wochen war Mabbonas, das Fest der Jahreszeitenwende, wenn die Himmelswale kamen und den Sommer mit sich forttrugen. Ich liebte dieses Fest. Als ich mich endlich von dem Anblick lösen konnte, ließ ich mich ins Bett fallen, obwohl ich noch überhaupt nicht müde war. Die Ruhe brach schließlich doch über mich herein und meine Gedanken wurden klarer, doch die erwartete Erleichterung darüber blieb aus. Ich hatte es endlich geschafft, ich war zu Hause. Doch mein Erfolg wurde geschmälert durch einen verheerenden Verlust, der mein Herz in einen festen Knoten verwandelte. Lu. Ich hatte ihn vergrault, ihn beschuldigt, obwohl ich gewusst hatte, dass er recht hatte. Und nun war er fort, auf der Suche nach seiner Geliebten und ich würde bald nur noch eine blasse Erinnerung für ihn sein. Ich rollte mich auf dem viel zu großen Bett zusammen und wünschte mir in dem Moment nichts sehnlicher, als mit Ruth sprechen zu können.
»Kannst du nicht schlafen?« Trishs leise Stimme erklang durch das Wohnzimmer von Malinas kleinem Häuschen. Ruth stand am offenen Fenster und beobachtete den wolkenverhangenen Nachthimmel.
»Ich wünschte, ich könnte den Mond sehen«, flüsterte das blinde Mädchen.
Sie hörte, wie Trish auf sie zukam und sich neben sie gesellte.
»Keine Sorge, selbst wenn du nicht blind wärst, könntest du ihn heute nicht sehen. Niemand kann heute den Mond sehen, es ist komplett dunkel.«
Ruth lehnte sich nur noch weiter aus dem Fenster und streckte ihr Gesicht dem Himmel entgegen.
»Sie kann den Mond heute sehen«, sagte sie.
Trish erwiderte nichts darauf.