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Chii Rempel

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Beschreibung

Während Mimithe versucht, endlich wieder sie selbst zu sein, gleitet  Lyrena'd  immer weiter ins Chaos. Mimithe ist endlich wieder im Besitz ihres eigenen Körpers, doch die erhoffte Erleichterung bleibt aus. Ihr Körper möchte nicht so, wie sie will, und auch ihre Kräfte scheinen ihr nicht gehorchen zu wollen. Während Mimithe damit kämpft, wieder vollkommen sie selbst zu werden, spielt Aragon einen Schachzug nach dem anderen gegen sie aus. Gerade, als sie denkt, endlich die Überhand zu erlangen, zieht Aragon an allen Strängen und versetzt ganz Lyrena'd unter einen blutenden Himmel. Egal, was Mimithe tut, Aragon scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Schafft sie es, ihm endlich zuvorzukommen und die Armeen von Lyrena'd rechtzeitig zusammenzuführen?

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Inhaltsverzeichnis

Karte

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

VIX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Intermesso

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

XL

XLI

Epilog

Ruthless

Danksagung

Die Autorin

GedankenReich Verlag

Denise ReichowNeumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

Endless - Lieder verlorener SeelenBand 3

Text © Chii Rempel, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, www.marie-grasshoff.deLektorat & Korrektorat: Kristina Licht

Satz & Layout: Nadine ReichowInnengrafiken © Chii Rempelund © depositphoto

eBook: Grittany Design, www.grittany-design.de

(eBook) ISBN: 978-3-947147-02-1

© GedankenReich Verlag, 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Ein Gefühl des Falschseins saß tief in meinen Knochen und begleitete mich nun schon seit Monaten. Hätte mich damals jemand davor gewarnt, wie furchtbar es war, sich im eigenen Körper fremd zu fühlen, hätte ich womöglich anders gehandelt. Dann hätte ich nach einer anderen Lösung gesucht, nach einer anderen Möglichkeit, Aragon und den Rat zu besänftigen, statt unüberlegt meinen eigenen Körper aufzugeben. Zwar hatte ich in den letzten beinahe sechshundert Jahren auf der Erde mehr als genug unterschiedliche Körper bewohnt, aber in diese war ich hineingeboren worden. Auf eine gewisse Art und Weise waren sie meine gewesen, auch wenn ich nicht hineingehört hatte.

Diesmal jedoch war es anders.

Nachdem ich meinen Körper berührt hatte, war meine Seele automatisch hinübergeflossen. Ich hatte nicht einmal etwas dafür tun müssen, nicht einmal bewusst darüber nachdenken müssen. Mein Körper war wie ein schwarzes Loch gewesen, das meine Seele erbarmungslos und hungrig zu sich gezogen hatte. Doch ich hatte nicht bedacht, was die Zeit mit ihm angestellt haben könnte.

Mein Körper war kalt.

Nicht nur im physischen Sinne. Meine Haut fühlte sich noch immer kühler an als normal, eine Tatsache, die Lu mich nicht vergessen ließ. Doch da war noch eine andere Kälte, eine, die viel tiefer saß, die mich mehr mitnahm, als ich zugeben wollte.

Dieser Körper war zu lange unbelebt gewesen, zu lange seelenlos, zu lange auf sich allein gestellt. Ich hatte mich strecken müssen, mühsam nach allen Zellen greifen, um sie wieder für mich zu beanspruchen. Es war nicht die erhoffte Erleichterung gewesen, die mich überflutet hatte, als ich die Augen in meinem eigenen Körper öffnete.

Es war Panik.

Es war kalt, so kalt, unfassbar leer und einfach nur … falsch. Wieso? Hatte sich meine Seele im Laufe der Jahrhunderte so sehr verändert, dass sie sich meinem Körper nicht länger anpassen konnte? Oder war es mein Körper, der sich verändert hatte? Was hatte Aragon mit ihm angestellt?

Es waren bereits zwei Monate seit meinem Erwachen vergangen und ich fühlte mich noch immer nicht besser. Mein Körper war zwar nicht länger steif, meine Gelenke nicht mehr so starr, sodass ich mich endlich wieder problemlos bewegen konnte. Auch meine Kondition hatte wieder halbwegs Normalität erreicht, bei den vielen Runden, die mich Sinnal jeden Morgen über das Trainingsgelände laufen ließ. Dennoch juckte es in mir, es zerrte an mir, als würde mein Körper meine Seele jeden Moment abstoßen wie eine fehlgeschlagene Organtransplantation. War es fehlgeschlagen? Hatte ich irgendeinen Fehler begannen beim Übertragen meiner Seele? Vielleicht hatte es nicht so einfach sein dürfen. Vielleicht hatte es eines Zaubers bedurft, den ich nicht kannte, der meine Seele erst richtig an meinen Körper ketten konnte.

Sen Liiyo, der begabteste Heiler in ganz Leas und vermutlich der eingebildetste Lyrena‘ds, bemühte sich bereits seit Wochen vergebens darum herauszufinden, was mit mir nicht stimmte. Doch er konnte nichts finden, es schien alles in Ordnung zu sein. Wenn ich ehrlich war, hatte ich gehofft, er würde etwas finden. Das hätte zumindest eine Erklärung geliefert, wieso ich mich so fühlte, wie ich mich fühlte. Eine Entschuldigung dafür, dass etwas falsch war. Doch wenn er nichts finden konnte, bedeutete das, es lag an mir. Ich war einfach falsch.

»Solltest du dir nicht langsam eine Pause gönnen?«

Ich ließ das letzte Messer aus meiner Hand fliegen und beobachtete, wie es sich mittig in den aufgemalten Kreis in der Holzplatte fünf Meter von mir entfernt bohrte. Mit der Rückseite meiner Hand wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und drehte mich um. Lu kam mit einem Glas Wasser auf mich zu. Dankend nahm ich die Flüssigkeit entgegen und ließ mich ins abgetretene Gras sinken. Lu tat es mir gleich, seine langen Beine im Schneidersitz gefaltet. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und brannte heiß auf meiner Haut. Heißer, als es für einen Herbsttag üblich war.

»Ich bin immer noch nicht da, wo ich sein sollte«, antwortete ich schließlich und blickte Lu an.

Seine schwarzen Haare waren noch länger geworden, sodass sein Pferdeschwanz ihm mittlerweile über die Schulter hing. Ich hatte mich noch immer nicht an den Anblick von ihm im Palast gewöhnt. Auch wenn wir nun schon seit Wochen hier waren, gehörte Lu in meinen Gedanken noch immer zu meinen Leben auf der Erde. Ebenso wie Ruth und Trish.

Ich löste meine kupferfarbenen Haare aus dem Zopf und kämmte sie mit den Fingern aus. Sie waren länger, als die von Kaylin gewesen waren. So lang, dass sie beim Sitzen den Boden berührten. Vielleicht war es an der Zeit, sie abzuschneiden.

Kaylin.

Den Namen würde ich nun nie wieder benutzen müssen. Mit ihrem Körper war auch der Rest von ihr in mir gestorben. Als ich im Palast von Brünach in meinem Körper erwacht war, hatte ihrer leblos neben dem Altar gelegen, in einer Lache aus warmem Blut. Es war seltsam, das Gesicht, das mir so lange im Spiegel entgegengeblickt hatte, vor mir auf dem Boden zu sehen. Doch ich hatte keine Zeit gehabt, mich von Gefühlen überwältigen zu lassen. Erst viel später, als wir es geschafft hatten, aus dem Palast von Brünach zu fliehen und wieder sicheren Boden erreicht hatten, hatte mich das Geschehene eingeholt und ich hatte leise Tränen vergossen. Kaylins Körper hatten wir dalassen müssen. Dennoch hatte Ruth darauf bestanden, ein Grab für sie zu errichten. Ich hielt es für sinnlos, schließlich war ich immer noch hier. Es war nur eine tote Hülle, die wir betrauerten. Und diese war nicht einmal vorhanden, um sie zu begraben. Lu war es, der mich schließlich von der Idee überzeugen konnte. Er hatte mir klargemacht, dass es für Ruth wichtig war, mit Kaylin abzuschließen. Schließlich würde sie von nun an in ein fremdes Gesicht blicken müssen und ihre Freundin darin suchen. Lu war daran gewöhnt, doch Ruth war es nicht.

»Niemand verlangt von dir, nach acht Wochen in Topform zu sein«, sagte Lu und griff nach meiner Hand, um sie kurz zu drücken. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken.

»Sinnal sieht das anders.«

»Sinnal ist ein empathieloser Bastard.«

Ich schmunzelte. »Tatsächlich stammt er aus einer sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie und ist definitiv kein Bastard.«

»Du weißt, dass ich das nicht wörtlich meinte«, sagte Lu und zuckte mit der Schulter, auf der mein Kopf ruhte. »Wieso verteidigst du den Kerl überhaupt? Er quält dich seit Wochen täglich.«

»Er will mir nur helfen.«

»Eine seltsame Art, das zu zeigen.«

»Sinnal war schon immer so. Er ist der Jüngste von fünf Brüdern, da musste er lernen, schlagfertig und pragmatisch zu sein.«

»Ich dachte, das hätte er als General gelernt.«

Ich schüttelte belustigt den Kopf. »Nein, er war schon vorher so. Sinnal war … ein stürmisches Kind. Schon immer aufbrausend und nicht zu bremsen. Seine Eltern haben ihm die beste Ausbildung ermöglicht, die Lyrena‘d zu bieten hat, aber ansonsten haben sie sich nicht viel um ihn geschert. Er ist der Jüngste, sein Erbe wird also kaum vorhanden sein. Seine Brüder haben immer auf ihn herabgesehen, vor allem der älteste. Um beachtet zu werden, musste Sinnal laut werden, er musste ein Kämpfer werden. Dabei hat er sich eine harte Schale zugelegt.«

»Zu Fanya ist er allerdings anders«, stellte Lu fest.

Ich nickte. »Zu Fanya war er immer anders. Ich glaube, er sieht Fanya als den kleinen Bruder, den er nie gehabt hat. Einen Bruder, den er verteidigen muss.«

»Ich habe den Eindruck, Fanya ist der Letzte, der verteidigt werden muss«, sagte Lu und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken.

»Du weißt nicht, wie Recht du damit hast«, stimmte ich lachend zu, »Doch Sinnal sieht in ihm die einzige unbeschwerte Zeit, die er erlebt hat, und ich glaube, das ist es, was er so mühsam zu verteidigen versucht.«

»Hey!«, unterbrach uns plötzlich eine Stimme aus Richtung des Palastes.

Ich seufzte, setzte mich auf und löste meine Hand aus Lus. »Wenn man vom Teufel spricht.«

Lu warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich bitte dich, meinen Namen nicht zu verpönen.«

Demonstrativ rollte ich mit den Augen, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Der General von Leas marschierte in seiner schwarzen Lederrüstung auf das Trainingsgelände zu, sein Blick zeugte nicht von guter Laune. Lu und ich erhoben uns, als er mit schweren Schritten vor uns stehenblieb.

»Wie naiv von mir zu glauben, du würdest trainieren. Wenn ich euch beim Rumturteln zusehen wollte, würde ich eine Privatvorstellung in eurem Schlafzimmer buchen.« Sinnal musterte uns abschätzig und warf mir eines der beiden Holzschwerter aus seiner Hand zu.

»Wir haben kein gemeinsames Schlafzimmer«, murmelte Lu leise. Der General rümpfte nur die Nase und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ihm in den Ring zu folgen. Der Ring, welcher ausschließlich für Nahkämpfe genutzt wurde, befand sich auf einer runden, etwa fünf Quadratmeter großen Fläche aus Sand. Im Abstand von einem halben Meter ragten Pfosten aus dem Boden, die den Bereich abgrenzten. Ich trat zwischen zwei Pfosten hindurch und balancierte das Gewicht des hölzernen Schwertes in meiner Hand. Heute war es zum ersten Mal ein Zweihänder, die Klinge abgerundet und nur auf einer Seite spitz zulaufend. Das letzte Mal, dass ich eine derartige Waffe in der Hand hatte, war eine kleine Ewigkeit her.

»Ich hoffe, heute hältst du länger durch als zwei Minuten.« Sinnal sah mich herausfordernd an.

Ich hätte gern etwas Beißendes erwidert, jedoch musste ich mir eingestehen, dass ich außer Form war. Absolut außer Form, nicht nur, was meine Kondition, sondern auch meine Koordination anbelangte. Auch da spielten meine Gedanken und mein Körper noch nicht in Einklang. Lu meinte, ich musste nur Geduld haben, dann würde sich alles einpendeln … aber ich hatte meine Geduld in Aragons Kellergemach gelassen. Zusammen mit meinem letzten Tropfen Mitgefühl für ihn.

Aus dem Augenwinkel sah ich Lus dunkle Gestalt in Richtung Palast zurückkehren. Ich holte tief Luft, während ich meine Konzentration auf meinen Gegner lenkte, stellte mein rechtes Bein im 45°-Winkel nach hinten und legte die Hände fest um den Griff des Holzschwertes. Mit dem nächsten Herzschlag stürmte ich vorwärts.

»Wieso lässt du dich so von ihm zurichten?«, fragte Ruth, als sie mir mit einem warmen Tuch die aufgeschürften Hände sauber rieb. Sie hatte mich abgefangen, als ich auf dem Weg zum Heiler gewesen war, und darauf bestanden, sich an seiner Stelle um mich zu kümmern. Überrascht hatte ich ihr Angebot angenommen, wollte ich mir schließlich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit ihr allein zu sein. Wir hatten nicht viel Zeit für uns gehabt, wir beide. Und meine Wunden waren nur oberflächlich, sie mussten hauptsächlich gereinigt werden. Sen Liiyo hätte mich wahrscheinlich sowieso ausgelacht, wenn ich dafür zu ihm gekommen wäre.

Ruth saß mit mir auf meinem viel zu weichen Bett, eine Schale warmen Wassers vor uns auf einem Stuhl, und tupfte behutsam über meine Verletzungen.

»Glaubst du, ich würde das mit Absicht machen?« Ich zischte, als sie eine besonders schmerzliche Stelle an meinem Ellbogen berührte. »Er hält sich nicht zurück, während wir kämpfen, auch wenn er merkt, dass ich ihm unterlegen bin. Und dafür bin ich ihm dankbar.«

»Dankbar?« Ruth fixierte mich mit ihren klaren, grünen Augen. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich bei ihrem Anblick noch immer kurz erschreckte, weil sie nun so anders aussah. Man hätte meinen müssen, ich hatte genug Zeit gehabt, mich an ihr neu gewonnenes Augenlicht zu gewöhnen. Wie musste sie sich erst fühlen, mich in diesem Körper zu sehen? Ich war plötzlich einen ganzen Kopf größer als sie, hatte spitze Ohren, goldene Augen und kupferfarbene Haare. Ganz zu schweigen von den Rundungen, an die ich mich selbst erst wieder gewöhnen musste. Wer hätte gedacht, dass man mit Brüsten so viele Dinge umstoßen konnte?

»Ich möchte nicht länger behandelt werden, wie ein rohes Ei. Sinnal schert sich nicht darum, dass ich durch Aragons Hand beinahe gestorben wäre. Er war vor meiner Verbannung unerträglich zu mir und so ist er immer noch. Es ist erleichternd, wenn ich ehrlich bin. Ich fühle mich dann ein wenig mehr wie ich selbst.«

Ruth ließ das Tuch ins Wasser sinken, wrang es aus und setzte es an meiner Schulter an. Ich hatte mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, damit sie alle Wunden untersuchen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass Ruth mich in Unterwäsche sah, aber es war das erste Mal, dass ich ihren prüfenden Blick tatsächlich sehen konnte, statt ihn nur zu spüren und das machte die ganze Situation irgendwie befremdlich.

»Du hast mir immer noch nicht erzählt, wie genau ihr entkommen konntet«, sagte Ruth, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Als Trish endlich fit genug war und Tarlin uns nach Leas zurückbringen konnte, war hier bereits die Hölle los. Wortspiel unbeabsichtigt. Glaem war am Verbluten, Lucifer sah nicht besser aus und du … warst in deinem neuen Körper zusammengebrochen. James war nicht auffindbar. Niemand konnte uns sagen, was geschehen war und wie ihr zurückgekommen seid.«

»Ich habe Bericht darüber erstattet, was im Palast von Brünach vorgefallen war. Du warst dabei.«

»Ja, du hast erzählt, dass du dich freiwillig von Aragon hast gefangen nehmen lassen – eine wirklich dämliche Angewohnheit von dir, muss ich dazu anmerken – und hast es dann geschafft, nachdem Aragon dich – Kaylin – gefoltert hat, zurück in deinen richtigen Körper zu gelangen. Aber wie ging es weiter? Wie haben Lu, Glaem und du es so schnell zurück nach Leas geschafft?«

»Ich will nicht darüber reden«, sagte ich und seufzte.

Ruths Hand stoppte. »Liegt es an mir?«, fragte sie und zog ihre Hand gänzlich zurück. »Brauchst du mich nicht mehr, jetzt, da du deinen Körper wiederhast?«

Ich blinzelte sie an. »Ruth«, sagte ich und griff nach ihrer Hand. »Ist es das, was du die ganze Zeit gedacht hast? Dass ich dich nicht mehr brauchen würde?«

Ihr ausweichender Blick verriet mir, dass meine Worte ins Schwarze getroffen hatten.

»Hey«, sagte ich und zog ihre Hand zu mir, suchte ihren Blick, sodass sie mich ansah. »Es hat absolut nichts damit zu tun, dass ich wieder in diesem Körper stecke, okay? Du bist mir immer noch genauso wichtig, wie du immer warst, daran darfst du niemals zweifeln. Es ist nur … ich hatte wirklich Angst, weißt du. Echte, panische Angst. Davor, dass ich einen von ihnen verlieren könnte. Oder schlimmer, sogar beide. Was, wenn Lu oder Glaem dabei gestorben wären? Sie waren mir zu Hilfe gekommen, schon wieder, nur weil ich so blöd war und -« Ich machte einen tiefen Atemzug, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Sie waren beide noch da, niemandem war etwas zugestoßen. »Siehst du, ich … ich kann noch nicht darüber reden.«

Ich versuchte, ihr ein entschuldigendes Lächeln zu schenken, doch sie kam mir zuvor.

»Schon gut«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht drängen. Ich hatte nur ebenfalls Angst. Davor, dass du womöglich nicht mehr mit mir reden willst. Wir haben uns früher alles anvertraut … ich vermisse das.«

Ich schwang die Beine aufs Bett und setzte mich in einen Schneidersitz, sodass wir uns geradewegs ansahen.

»Okay, ich verspreche dir hiermit, dich von nun an in meine bescheuerten Pläne einzuweihen. Deal?«

Ruth grinste. »Deal. Dann verrate mir, was als nächstes auf dem Plan steht. Es sind bereits zwei Monate vergangen und es ist … nichts passiert. Ich dachte, wir befinden uns in einem Krieg. Müssten die Vorbereitungen nicht schneller laufen? Niemand scheint in Eile, auch nur irgendetwas zu erledigen. Trish wird schon ganz wahnsinnig davon.«

Ich stieß einen amüsierten Seufzer aus. »Wenn ich nicht so lange Zeit auf der Erde verbracht hätte, dann wüsste ich jetzt nicht, wovon du redest. Aber ja, ich weiß, was du meinst. Zeit hier vergeht … anders als auf der Erde. Langsamer, ja, aber das ist nicht das Einzige. Während die Menschen sich stressen müssen, etwas zu erledigen, weil ihnen sonst die Zeit davonrennt, können wir die Füße hochnehmen und uns entspannen. Die Unsterblichkeit hat uns nie die Dringlichkeit der Zeit gelehrt. Was wir heute erledigen können, können wir auch morgen noch machen, oder in einem Monat, oder einem Jahr. Niemandem würde der Unterschied auffallen, denn wir messen unser Leben nicht in Zeit. Deshalb dauert alles ein bisschen.«

»Aber wir müssen doch irgendetwas tun?«

»Du hast doch deine Lehre begonnen, oder? Du tust etwas, du trainierst deine Fähigkeiten, du wirst stärker. Das erfordert Zeit. Zeit, die wir tatsächlich haben.«

Noch nicht wirklich überzeugt schüttelte Ruth den Kopf. »Aber …«

»Außerdem habe ich einen Plan«, unterbrach ich sie. »Ich habe den Jungs eine Aufgabe zukommen lassen. Als Dimensionswächter kommen sie am schnellsten an die Informationen heran, die ich brauche.«

»Was hast du vor?«

Ich beugte mich vor, als würde ich ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Ich habe sie gebeten, jemanden für mich zu suchen. Wenn alle Stricke reißen, werde ich den Seelenspringer wecken.«

Ruth betrachtete mich mit einem nachdenklichen Blick. »Ich kann nicht sagen, dass ich seine Bedeutung verstehe, geschweige denn die Rolle, die er in Aragons Leben gespielt hat … Aber hatte James nicht gesagt, es sei keine gute Idee, ihn zu wecken?«

»James ist nicht da, um mich zu stoppen«, sagte ich und lehnte mich mit verschränkten Armen zurück.

»Na gut … aber tu nichts Dummes.«

Ich schnaufte amüsiert. »Das kann ich nicht versprechen. Aber wo wir gerade dabei sind, uns alles zu erzählen … Ich glaube, du bist an der Reihe, mir etwas anzuvertrauen.«

Sie imitierte meine Position und sah mich resigniert an.

Ich grinste wissend. »Was genau läuft da zwischen dir und Trish?«

Ruths Wangen passten sich augenblicklich dem Ton ihrer Haare an, doch sie hielt meinem neckenden Blick stand.

»Nichts, was du dir nicht bereits denkst. Außerdem könnte ich dich das Gleiche fragen! Lu und du, seid ihr …?«

»Ein Paar?«, beendete ich und sie nickte.

Mein Blick wanderte an die Decke und ich stieß einen Seufzer aus. »Ich hab’ ehrlich gesagt nicht den blassesten Schimmer. Wir haben noch nicht darüber geredet, weil wir beide, glaube ich, auf den richtigen Zeitpunkt warten, der einfach nicht kommen will. Ich meine, wir haben uns geküsst, aber ansonsten …«

»Moment«, wandte Ruth ein, »Was soll das heißen? Willst du mir sagen, ihr habt euch bis jetzt nur geküsst?«

Überrascht sah ich sie an und spürte, wie mir selbst die Wärme ins Gesicht stieg. »So wie Lucifer dich ansieht … wie kann es sein, dass da nicht bereits mehr gelaufen ist? Ihr kennt euch seit Jahrhunderten! Worauf wartet ihr noch?«

Ich ließ mich nach hinten fallen, sodass ich mich im Bett ausrollen konnte.

»Ich weiß es ehrlich nicht. Lu kann sehr geduldig sein. Nach unserem Wiedersehen in der Hölle hat er mich bisher nur ein einziges Mal geküsst und da war ich so überrascht davon gewesen, dass mir das Tee-Tablett aus den Händen geglitten ist und ich alles auf dem Boden verteilt habe. Seitdem hat er es nicht wieder versucht.«

Ruth ließ sich ebenfalls neben mir in die Waagerechte fallen. Genauso gut hätten wir auch in ihrem Zimmer in Canterbury liegen können, zwei unbeschwerte Teenager, die an nichts anderes denken mussten als ihre nächste Prüfung und den Jungen mit dem süßen Lächeln. Oder in Ruths Fall, an das Mädchen.

»Hast du mal daran gedacht, dass er darauf warten könnte, dass du den nächsten Schritt machst?«

Ich seufzte. Natürlich hatte ich darüber nachgedacht. Es beschämte mich beinahe, wie oft ich darüber nachdachte in Anbetracht unserer Situation. Ich sollte wirklich Wichtigeres im Kopf haben als meine Beziehung mit Lu.

»Wenn ich den nächsten Schritt mache«, sagte ich schließlich, »Dann wird es kein Schritt, dann wird es ein verdammter Weitsprung.«

Sinnal blickte der Prinzessin hinterher, als sie mit Fanya im Speisesaal verschwand. Seit Vallerys Rückkehr aus Luma verbrachten die beiden viel Zeit hinter geschlossenen Türen, grübelten in schlaflosen Nächten und in leisem Geflüster darüber, was sie gegen König Lepholds Starrsinn tun konnten. Vallery war vor zwei Wochen mit schlechten Neuigkeiten und noch schlechterer Laune nach Leas zurückgekehrt, nachdem die Verhandlungen mit ihrem Vater nicht besonders rosig verlaufen waren. Ihr Gemütszustand verwunderte Sinnal absolut nicht. Hätte er wochenlang mit seinen Brüdern verhandeln müssen, wäre er wahrscheinlich nicht herausgekommen, ohne einen von ihnen zu köpfen. Und er hatte nur vier Brüder, Vallery hatte ganze dreiundvierzig Schwestern, mit denen sie zurechtkommen musste. Wenn man da nicht verrückt wurde, wusste Sinnal auch nicht weiter. Die fragile Situation der Königsfamilie von Luma stand bereits seit längerer Zeit auf der Kippe, das konnte jeder spüren. König Lephold regierte schon zu lange, vor allem zu lange in Unzufriedenheit seines Volkes. Der Umbruch stand bevor, das war nicht zu vermeiden. Seine Regentschaft würde ein baldiges Ende finden. Es blieb nur noch die Frage, ob Lephold es selbst einsah und den ehrenvollen Abtritt wählte, oder ob er sich gewaltsam vom Thron reißen lassen wollte. Bei der aktuellen Stimmung seiner Töchter würde die zweite Option nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Sinnal seufzte und kehrte zu seinem Posten vor den Toren des Thronsaals zurück. Es wurden wichtige Gäste erwartet und er musste bereit sein, sie zu begrüßen, sollte Fanya noch nicht aus seiner Besprechung mit Vallery zurück sein.

Wildes Gekicher tönte durch die Empfangshalle und ließ den General aufhorchen. Sein skeptischer Blick wanderte automatisch zu der Quelle des nervigen Geräusches und er verdrehte die Augen, als er das Juwel zusammen mit einem ihrer menschlichen Anhängsel die Treppen hinunterkommen sah. Mimithe war übersät mit blauen Flecken und Kratzern, die bald schon verschwinden würden, jetzt, da sie wieder in ihrem eignen Körper steckte. Er hatte das getan. Er hatte sie so zugerichtet. Allerdings konnte er sich kein Mitleid abgewinnen. Nicht, solange sie noch immer dieses Grinsen im Gesicht tragen konnte.

Das rothaarige Menschenkind verabschiedete sich von Mimithe und lief den Gang hinunter. Sinnal war sich immer noch unschlüssig darüber, was er von ihr halten sollte. Sie war ein Mensch und doch war sie es nicht. Es war nicht zu übersehen, dass in ihr Nixen-Blut floss, doch wenn sie irgendwelche nennenswerten Fähigkeiten von ihren Vorfahren geerbt haben sollte, so behielt sie diese für sich. Bisher hatte Sinnal ihren Nutzen im Palast, in Lyrena‘d selbst, nicht verstanden. Jeden Tag verkroch sie sich für mehrere Stunden in der Kammer der Spiegelteiche, doch was sie dort tat, blieb Sinnal ein Rätsel. Er hätte sie längst zur Rede gestellt, hätte Fanya ihn nicht ausdrücklich darum gebeten, die beiden Menschen in Ruhe zu lassen.

»Gelangweilt, General?« Mimithes Blick war selbstgefällig, als sie sich an seine Seite stellte. Ihre Laune hatte sich deutlich gebessert seit dem Morgen.

»Wenn du noch so ein Gesicht machen kannst, habe ich mich wohl zu sehr gezügelt.«

Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Dann solltest du das morgen schleunigst ändern.«

»Das sollte ich wohl.«

Sinnal spürte ihren Blick auf ihm und traf diesen mit ebenbürtiger Wildheit. Er bemerkte sofort die Wut in seinem Bauch entflammen, das mittlerweile vertraute Gefühl, wann immer er sie ansah. Nun, da sie ihren Körper zurückhatte, konnte er nicht länger leugnen, dass sie tatsächlich war, wer sie war. Er konnte nicht länger die Emotionen unterdrücken, die ihr Gesicht bei ihm auslösten. Wenigstens hatte er das Vergnügen, seine Wut an ihr ausleben zu können, auch wenn sie aktuell keine Herausforderung darstellte. Tatsächlich stellte sie so wenig eine Herausforderung dar, dass er sich nicht einmal ausleben konnte, ohne Angst zu haben, sie ernsthaft zu verletzen. Ihm war noch immer nicht klar, ob sie nur ein Spiel mit ihm spielte. Konnte sie wirklich so aus der Form sein? Doch welchen Grund könnte sie dafür haben, alle im Glauben zu lassen, so schwach zu sein? Die Bewohner Lyrena‘ds erwarteten die Rückkehr des Juwels, dem mächtigsten Wesen dieser und vieler anderer Welten, dem Hüter des Gleichgewichts. Doch was Mimithe bisher demonstrierte, zeugte weniger von strotzender Macht und mehr von deplatzierter Verantwortung. Alles an ihr wirkte noch so … falsch. Als hätte sie noch nicht richtig zu sich gefunden. Natürlich, sie kämpften, ohne aktiv Magie zu benutzen, denn wenn sie das tun würden, hätte Sinnal nicht den Hauch einer Chance. Er übertrumpfte sie im Nahkampf, nicht in der Macht, die sie beherrschte. Falls sie diese gerade überhaupt anzapfen konnte – bisher hatte er davon nämlich auch noch nichts gesehen.

Sie verzog fragend eine Augenbraue und katapultierte ihn damit aus seinen Gedanken. Er räusperte sich, setzte die fieseste Miene auf, die er zustande brachte, und richtete seinen Blick zurück auf die Eingangstür.

Hama, der Türwart, stellte sich bereit, seine Hände vor seinem Bauch zusammengefaltet und wartete auf das Zeichen der Wächter, dass er die Gäste empfangen konnte. Die Eleganz und Arroganz, die er ausstrahlte, ließ Sinnal regelmäßig die Augen verdrehen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass er und Mimithe zumindest eines gemeinsam hatten.

»Weißt du, wen wir heute erwarten, General? Oder fungierst du zu diesem Zweck als Rechte Hand? Ich weiß gerade nicht, mit welchem Titel ich dich ansprechen soll«, sagte Mimithe und sah ihn verschmitzt an.

Er würdigte sie keines Blickes. »Ich fungiere überall und zu jeder Zeit als beides. Im Gegensatz zu dir nehme ich meine Aufgaben ernst, Na‘imi.«

Sie hatte tatsächlich die Unverschämtheit zu lachen. Eigentlich war es viel mehr ein Grunzen. »Natürlich. Was immer du sagst.«

Bevor Sinnal etwas erwidern konnte, was er nachher bereuen würde, schwangen die Tore des Palastes auf und helles Sonnenlicht flutete den Empfangssaal. Wie auf einer Bühne stolzierte Hama grazil dem Licht entgegen, als schiene es speziell für ihn.

»Prinzessin«, sagte er und untermalte den Gruß mit der entsprechenden Geste, drei Finger getippt auf die Lippen, dann aufs Herz. Drei Personen betraten den Saal und warfen lange Schatten auf den Boden.

»Türwart«, erwiderte die schlanke Frau mit den Rosen im Haar und grüßte zurück. Die beiden Leibwachen hinter ihr blickten ausdruckslos nach vorn. »Ich kenne leider deinen Namen nicht.«

Ihre Stimme klang wie zartes Glockenläuten, doch ihr Blick war scharf wie eine Klinge. Sie schritt in den Saal mit solch einer Leichtigkeit und Intention, als würde er ihr gehören.

»Ihr braucht Euch nicht die Mühe zu machen, ihn zu lernen«, mischte Sinnal sich ein, bevor Hama zu Wort kam. Dieser bedachte ihn mit einem Blick, den er fast physisch spüren konnte. Die Prinzessin musterte den General amüsiert und das Blitzen in ihren grünen Augen erinnerte ihn sofort an ihre Schwester. Im Gegensatz zu Vallery, die ihre Haare immer offen trug – ein Umstand, über den Sinnal sich konstant beschwerte, da sie ihm häufiger als noch dem Zufall zugeschrieben werden konnte, ins Gesicht peitschten – waren die braunen Haare der älteren Prinzessin zu einem Kranz geflochten, der mit den frischen, eingewobenen Rosen wie eine Krone auf ihrem Kopf thronte.

»Du musst Sinnal sein«, bemerkte die Prinzessin und kam auf ihn zu. »Ich glaube, wir sind uns bereits begegnet, aber ich erinnere mich nicht mehr genau. Allerdings hat meine kleine Schwester so viel von dir geredet, dass ich das Gefühl habe, dich zu kennen.«

Sinnal hörte Mimithe neben ihm kichern und musste sich daran erinnern, wo sie waren, bevor er ihr versehentlich eine reinhaute.

»Was auch immer sie erzählt hat, ich garantiere Euch, es entsprach mit Sicherheit nicht der Wahrheit.«

Die Prinzessin stieß ein kurzes Lachen aus, bevor sie ihn mit einem wilden Grinsen begutachtete. »Ich werde mir gern selbst ein Bild von dir machen, General.«

Dann wanderte ihre Aufmerksamkeit zu Mimithe und das Grinsen wurde zu einem vertrauten Lächeln. »Na‘imi«, hauchte sie.

»Ballady«, sagte Mimithe und zog die junge Frau in eine feste Umarmung. »Es tut gut, dich zu sehen.«

Ballady lachte und schwang ihre Arme um Mimithes Nacken. »Frag mich mal. Ich bin fast zu Boden gesunken, als Vallery mir erzählt hat, dass die Gerüchte über deine Rückkehr wahr sind.«

»Kein Grund, für mich in die Knie zu gehen, Liebes.«

»Wäre nicht das erste Mal.« Die Prinzessin zwinkerte ihr zu, als Mimithe sich von ihr löste, was sie mit einem amüsierten Schnaufen quittierte. »Ich habe vergessen, wie kräftezehrend die Reise von Luma hierher ist«, sagte sie und streckte sich.

»Es ist nur zwei Königreiche entfernt«, erwiderte Mimithe lachend.

»Tse«, machte Ballady. »Du magst daran gewöhnt sein, dich in der Weltgeschichte herumzutreiben, aber ich verlasse meinen Palast mittlerweile nur sehr selten.«

»Wie ich höre, gibt es dafür auch keinen Grund mehr«, sagte Mimithe, ihre Stimme nun ernst. »Hat dein Vater sich endgültig aus allen politischen Angelegenheiten herausgezogen?«

Ballady seufzte. »Ich fürchte, das wird sich auch nicht mehr ändern. Sein Stolz verbietet ihm, auf uns zu hören. Glaub’ mir, meine Schwestern und ich sind das Thema leid.«

»Luma kann sich nicht erlauben, weiterhin neutral zu bleiben. Falls es zu einem offenen Krieg kommt, müssen wir wissen, wer auf unserer Seite steht. Ich kann nicht leugnen, dass ich beruhigter schlafen würde, wenn ich eine der größten Armeen Lyrena‘ds auf unserer Seite wüsste.«

»Deswegen bin ich ja hier, richtig?«, sagte die Prinzessin und ein spitzes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. »Ich habe einen Plan. Die Armee Lumas wird für dich kämpfen, Mimithe. Mach dir da keine Sorgen.«

Die Türen des Speisesaals öffneten sich und Sinnals Blick suchte augenblicklich nach Fanya. Der König stolzierte mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt aus dem Saal heraus, ein Lächeln auf seinen Lippen, während er mit Vallery sprach. Doch wie sehr er sich auch bemühte, es zu verstecken, Sinnal entdeckte die Müdigkeit und Erschöpfung in seinen Zügen sofort. Die jüngere Prinzessin bemerkte die Neuankömmlinge noch vor dem König und lief sofort los, um sich ihrer Schwester um den Hals zu werfen. Fanya sah ihr amüsiert hinterher, bevor sein Blick den von Sinnal traf. Ein kurzes Nicken verriet dem General, dass zumindest soweit alles in Ordnung sein musste. Sinnals Schultern entspannten sich und er wandte seine Aufmerksamkeit zurück zu den beiden Thronerbinnen, die sofort tief in ein Gespräch versunken waren. Mimithe stand neben ihnen, doch sie beteiligte sich nicht. Ihr Gesichtsausdruck wirkte – beinahe verträumt. Sinnal fragte sich, wohin ihre Gedanken wohl gewandert waren und ob er ihnen folgen konnte, wenn er sich nur genug konzentrierte.

Fanya trat an die Gruppe heran, grüßte erst die Leibwachen der Prinzessin, bevor er geduldig darauf wartete, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, ohne sie unterbrechen zu müssen. Sinnal wäre längst der Geduldsfaden gerissen.

»Prinzessin Ballady«, grüßte der König, als sie ihn endlich anblickte. »Ich freue mich, Euch erneut in meinem Palast begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Eure Reise war nicht zu kräftezehrend.«

»König Fanya«, erwiderte Ballady und küsste flüchtig seine Wange in einer Geste, die sich nur eine wahre Prinzessin erlauben konnte. »Verzeiht meine Unhöflichkeit.«

»Es gibt nichts zu verzeihen, Ihr habt Eure Schwester schließlich auch länger nicht mehr gesehen.«

»Es waren nur zwei Wochen«, mischte Sinnal sich ein.

»Zwei Wochen können sich anfühlen wie eine Ewigkeit, wenn man die Person vermisst«, sagte Fanya mit einem flüchtigen Blick zu Mimithe.

»Und eine Ewigkeit kann zu Sekunden werden, wenn das Gegenteil der Fall ist«, brummte Sinnal.

»Ihr seid sicher erschöpft. Euer übliches Zimmer im dritten Stock ist bereits für Euch hergerichtet worden. Wenn Ihr wünscht, führe ich Euch persönlich hin.«

»Das wird nicht nötig sein, ich kenne den Weg noch. Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, Eure Hoheit.«

Fanya nickte. »Ich schätze, ihr seid mit eigener Gesellschaft angereist. Wie viele weitere Zimmer werden für sie noch benötigt?«

»Darum wurde sich bereits gekümmert, Eure Majestät«, verkündete Hama laut.

Überrascht, als hätte er seine Anwesenheit gar nicht bemerkt, sah Fanya seinen Türwart an. »Oh. Gut … gut, dann wäre das auch geklärt.«

Fanyas Worte verhallten und niemand fügte neue in die Stille hinzu. Es war, als hätte Hama die Gruppe aus ihrer kleinen, privaten Blase gerissen und in die Realität zurückbefördert. Der König räusperte sich und wandte sich um, schwankte in der Bewegung und fand noch rechtzeitig sein Gleichgewicht, bevor er sich blamierte. Sinnal hatte genug.

»So, da wir nun alle genug Höflichkeiten für den Rest des Jahres ausgetauscht haben, können Fanya und ich uns endlich wichtigeren Dingen widmen. Ihr findet euch ja alle zurecht.«

Mit diesen Worten packte Sinnal den König am Arm und zerrte ihn in Richtung Treppe, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Wir haben noch Wichtiges zu erledigen?«, fragte Fanya und konnte nur mühsam ein Gähnen unterdrücken.

»Nein, haben wir nicht«, zischte Sinnal, als sie bereits außer Hörweite waren.

Er hasste es, wenn Fanya sich so weit trieb, dass er nicht einmal mehr vernünftig sprechen konnte. Wenn er erschöpft war, hatte er jedes Recht, eine Pause zu machen. Andere konnten sich um seine Angelegenheiten kümmern, dafür hatte er seinen Hof, dafür hatte er Sinnal. Aber Fanya war schon immer so gewesen … er wusste nicht, wann Schluss war.

»Aber, du hast doch gerade …«

»Bei allen Himmeln, Fanya. Wenn du nicht sofort ins Bett gehst, sehe ich mich gezwungen, dich daran zu fesseln und nicht mehr freizulassen, bis du gelernt hast, auf deinen Körper zu hören.«

»Hmm, darauf stehst du also.«

Sinnal jagte Fanya den Ellbogen in die Rippen und hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, als dieser deswegen gegen die Wand stolperte.

Es tat gut, das vertraute Gesicht einer alten Freundin wiederzusehen. Ballady und mich hatte schon immer viel verbunden, auch wenn uns unsere Lebensweisen eigentlich hätten trennen müssen. Als Dritte in der Rangfolge auf den Thron war Ballady zu einer beispielhaften Prinzessin erzogen worden. Sie musste sich stets korrekt verhalten und pflegte ein strenges und stark bewachtes Leben am Hofe ihres Vaters. Nach außen hin war Ballady auch die perfekte Prinzessin – schön, adrett, und immer höflich, wenn ihr auch der Sarkasmus häufiger entglitt, als ihre Erziehung es vorsah. Doch wenn man ihr die Maske der Aristokratie entriss, kam dahinter eine gerissene Kreatur zum Vorschein, mit einem so scharfen Verstand, dass man aufpassen musste, sich nicht an ihm zu schneiden.

»Hast du in letzter Zeit noch einmal von Glaem gehört?« Vallerys Stimme driftete in meine Gedanken und zerrte mich zu sich.

Wir saßen gemeinsam mit Ballady, Ruth und Trish auf dem kleinen Balkon im obersten Stockwerk des Palastes, inmitten der sich windenden Baumkrone und beobachteten, wie die sanfte Abendröte langsam hinter dem Horizont verschwand, um dem tiefen Blau der Nacht zu weichen. Die drei Monde Serelia, Na‘iki und Pukk zeichneten sich bereits silbern am Firmament ab, drei runde Scheiben, die die Nacht erleuchteten.

»Das letzte Mal vor drei Tagen«, sagte ich. »Da war er bereits in Siiaw. Ich schätze, er müsste Níed mittlerweile erreicht haben. Bislang ist er nur einem weiteren Zwielichtkrieger begegnet und dieser schien nicht besonders angetan davon gewesen zu sein, sich uns anzuschließen.« Ich seufzte. Zwielichtkrieger schätzten ihre Unabhängigkeit über alles, das war schließlich der Grund, wieso sie Zwielichtkrieger geworden waren und nicht Soldaten der Armee ihrer Königreiche. Als Zwielichtkrieger konnten sie frei entscheiden, wann sie welcher Schlacht beitraten und an welcher Seite sie kämpften. Ihre Aufnahmeprüfungen waren legendär, weshalb die meisten von ihnen ein ganz schön großes Ego mit sich herumschleppten. Glücklicherweise war Glaem immer davon verschont geblieben. Er hatte die Ausbildung nur abgeschlossen, um an meiner Seite bleiben zu können – das hatte ihm nicht den besten Ruf eingebracht.

»Im Oculus wird er mit Sicherheit mehr Glück haben«, sagte Vallery mit einem aufmunternden Lächeln.

Auch wenn ich noch meine Zweifel an der Sache hatte, so hoffte ich doch, dass Vallery Recht behalten würde. Seit Glaem vor zwei Wochen aufgebrochen war, um im Hauptquartier der Zwielichtkrieger weitere Mitkämpfer für unsere Seite zu rekrutieren, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Die Krieger waren noch nie große Fans von mir gewesen, dabei waren wir uns so ähnlich. Aber wahrscheinlich war es gerade unsere Ähnlichkeit, die sie so misstrauisch machte. Genau wie sie, war ich als Juwel an kein Königreich gebunden. Auch wenn ich in Leas geboren war, durfte meine Loyalität nicht nur meiner Heimat gelten, sondern ganz Lyrena‘d. Ich konnte kämpfen, wann ich wollte und mich zurückziehen, wann ich wollte - theoretisch. Denn praktisch sah mein Leben ganz anders aus. Die Königshäuser sahen mich als letzten Ausweg, wenn die üblichen Mittel scheiterten. Ich war ihr Deus Ex Machina, ihre Lösung für ausweglose Situationen und sollte ich es einmal wagen, mich nicht dem Willen des Rates zu beugen, hieß es sofort, ich würde meine Aufgabe vernachlässigen. Ich war also gleichzeitig frei in meinen Entscheidungen und doch gebunden durch meine Verpflichtungen – ein Hund an strammer Leine.

Ich fürchtete, was Glaem im Oculus erwarten würde. Seit er seine Ausbildung dort abgeschlossen hatte, war er nie in das Lager im Auge des ewigen Sturms zurückgekehrt. So sehr ich seinen Fähigkeiten auch vertraute, so sehr misstraute ich seinen Gleichgesinnten. Der Weg zum Oculus war immer von unzähligen Fallen versperrt, die jedes Jahr wechselten, um denjenigen, die sich nicht als würdig herausstellten, den Zugang zu verweigern. Glaem war mehr als fähig, jede Falle, die ihm vorgesetzt wurde, zu meistern, das war mir bewusst, dennoch konnte ich die Sorge in mir nicht unterdrücken. Ich würde mir immer Sorgen um ihn machen.

»Er wird schon klarkommen«, sagte Vallery, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Ich weiß.«

Eine kühle Brise umfasste mich und spielte mit meinem Haar. Ich spürte, wie Ruth neben mir zitterte, und wollte mich gerade näher an sie schmiegen, als sich Trishs Arm besitzergreifend um ihre Schulter legte. Ohne sie anzusehen, lächelte ich in mich hinein und wandte mich Vallery zu, die ein breites Grinsen im Gesicht hatte.

»Ihr wisst schon, dass ihr euch vor uns nicht zurückhalten müsst, ja?«, sagte sie an die beiden Mädchen gewandt.

Ruth vergrub ihr Gesicht in Trishs Schulter.

»Wer sagt, dass wir uns zurückhalten?«, gab Trish zurück und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.

Vallery rollte mit den Augen. »Ach bitte, jeder, der Augen im Kopf hat, kann sehen, was zwischen euch läuft. Und diejenigen, die keine haben sollten, würden die Anspannung zwischen euch spüren, wann immer ihr gemeinsam in einem Raum seid und euch nicht berühren könnt. Es ist beinahe unerträglich. Also bitte, erlöst uns. Ich würde euch lieber den ganzen Tag rummachen sehen, als dieses ewige Gestarre weiterhin beobachten zu müssen.«

Trish öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, entschied sich jedoch dagegen und wandte sich murmelnd ab. Der rote Schimmer ihrer Wangen zeichnete sich sogar auf ihrer dunklen Haut ab.

Ruth hob ihren Kopf und sah an mir vorbei zu Vallery. »Wir wollen nur nicht, dass … sich jemand unwohl wegen uns fühlt.«

Trish grunzte, festigte aber ihren Griff um Ruths Schulter.

Vallery und Ballady ließen gleichzeitig den Kopf fragend zur Seite fallen. Die Schwestern sahen Ruth verständnislos an.

»Wieso sollte sich jemand unwohl fühlen? Klar, ihr solltet euch vielleicht nicht unbedingt beim Essen die Zunge in den Hals stecken …«, sagte Vallery.

»Oder wenn der König eine Ankündigung macht«, ergänzte Ballady.

»Aber ansonsten wird sich niemand darum scheren, was ihr tut.«

Ruth sah immer noch nicht überzeugt aus. »Naja, wir sind schließlich neu hier und wir kennen eure Kultur und Gepflogenheiten noch nicht … Wir wollten niemandem auf den Schlips treten, weil wir ja … nun ja …«

»Ihr habt gedacht, es würde sich jemand daran stören, weil ihr beide Frauen seid?«, fragte ich überrascht. Ich war davon ausgegangen, dass Ruth einfach nur schüchtern war und ihre Gefühle nicht gern öffentlich zur Schau stellte. Der Gedanke daran, dass sie sich Sorgen machte wegen ihres Geschlechts, war mir gar nicht erst gekommen. Es war so absurd, dass ich mir ein Lachen nicht verkneifen konnte. Ruth sah mit glühenden Wangen zur Seite.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Vallery.

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist meine Schuld, ich hätte daran denken müssen, dass euch dieses Thema beschäftigen würde. Auf der Erde wäre das vielleicht etwas, womit ihr euch auseinandersetzen müsstet, aber hier könnt ihr beruhigt sein. Wir Fae – alle Bewohner Lyrena‘ds – trennen Geschlecht und Liebe nicht. Du liebst, wen du liebst. Es ist schließlich die Seele, in die wir uns verlieben, nicht der Körper.«

»Auch wenn der Körper kein schlechter Bonus ist«, ergänzte Vallery und grinste.

»Was wäre das für ein tristes Leben, wenn ich meine Zuneigung durch das begrenzen ließe, was sich zwischen jemandes Beinen befindet?«, fügte Ballady hinzu. »Wenn das der Fall wäre, hätten Mimithe und ich damals nicht –«

»Wir müssen ja nicht alles ausplaudern, oder?«, unterbrach ich hastig, was zu einem schallenden Gelächter von Vallery führte.

»Wenn ich daran zurückdenke, wie ihr damals –«

»Vallery! Ich würde mein Liebesleben gern privat halten.«

»Pff, wenn es bloß privat gewesen wäre …«, murmelte die jüngere Prinzessin.

»Vallery!«, mischte sich nun die ältere entrüstet ein. Doch auch sie konnte ihren ernsten Gesichtsausdruck nicht lange halten und bald verfielen beide in Gelächter.

Die beiden Menschenmädchen sahen sich kurz an, dann blickten sie zu uns, ein Ausdruck auf ihren Gesichtern, den ich nicht lesen konnte. Wie mussten wir auf sie wirken? Was sahen sie, wenn sie uns ansahen? Ich hätte gern gewusst, ob Ruth mich im gleichen Licht sah, wie die beiden Prinzessinnen. Ob sie ein fremdes Wesen sah, wenn sie in mein Gesicht blickte, oder ob sie mich noch immer als ihre beste Freundin bezeichnete. Ob sie mich noch als Mensch bezeichnete. Auch wenn unser Gespräch zuvor mich in alte Zeiten zurückversetzt hatte, fürchtete ich immer noch, Ruth verloren zu haben. Sie mochte zwar hier sein, wegen mir, aber ihr Blick hatte sich verändert, und das lag nicht nur an ihrem neugewonnenen Augenlicht.

»Oh«, sagte Ruth, »Dann … okay. Okay.«

Ich versuchte ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Ruth sich unwohl in meiner Gegenwart fühlte oder dachte, dass sie mir etwas nicht erzählen konnte. Sie sah mich an und erwiderte mein Lächeln zaghaft, bevor sie sich noch enger an Trish schmiegte. Das andere Mädchen grinste zufrieden und hauchte einen flüchtigen Kuss auf Ruths rote Mähne.