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SEXY, SÜß – ZUM ANBEIßEN von BRENDA JACKSON „Küssen Sie mich!“ Jessica tut, was ihr neuer Nachbar Chase Westmoreland will. Natürlich nur, um zu beweisen, dass sie sich nicht zu ihm hingezogen fühlt. Doch kaum spürt sie Chases Lippen auf ihren, erwacht eine nie gekannte, verhängnisvolle Leidenschaft in Jessica … WENN ZWEI SICH BEGEHREN ... von BRENDA JACKSON Eine einzige heiße Liebesnacht mit Durango Westmoreland – und schon steht Savannahs unbeschwertes Singleleben kopf. Denn als sie kurz darauf entdeckt, dass sie ein Kind erwartet, verlangt Durango plötzlich: „Heirate mich!“ Allerdings nicht aus Liebe … oder? SETZ ALLES AUF LEIDENSCHAFT von BRENDA JACKSON Ausgerechnet in das Kasino ihres Ex-Geliebten führt Brookes nächster Einsatz als Agentin. Das Wiedersehen mit Ian beweist: Liebe und Leidenschaft waren nie erloschen. Doch zwischen heißen Küssen muss sie heimlich ermitteln – gegen den Mann, den sie von ganzem Herzen liebt …
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Seitenzahl: 569
Brenda Jackson
BRENDA JACKSON EDITION BAND 3
IMPRESSUM
BRENDA JACKSON EDITION erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe BRENDA JACKSON EDITION, Band 3 04/2023
© 2005 by Brenda Streater Jackson Originaltitel: „The Chase Is On“ erschienen bei: Silhouette Books Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Heike Warth Deutsche Erstausgabe 2014 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe COLLECTION BACCARA, Band 346
© 2006 by Brenda Streater Jackson Originaltitel: „The Durango Affair“ erschienen bei: Silhouette Books Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Johanna Lewes Deutsche Erstausgabe 2015 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe COLLECTION BACCARA, Band 349
© 2006 by Brenda Streater Jackson Originaltitel: „Ian’s Ultimate Gamble“ erschienen bei: Silhouette Books Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Sabine Bauer Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BACCARA, Band 1550
Abbildungen: Harlequin Books S. A., Elizabeth Lara / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 04/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751517027
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Vor achtzehn Jahren
„Einem Graham kann man nicht trauen.“
Chase Westmoreland war ins Restaurant seines Großvaters gekommen und setzte sich jetzt auf einen Barhocker an der Theke. Der alte Mann drehte sich zu seinem sechzehnjährigen Enkel um und stellte ein Glas Milch und einen Teller Gebäck vor ihn hin.
„Warum nicht? Was haben sie dir denn getan, Grampa?“, wollte Chase wissen und widmete sich unverzüglich seinem Gebäck.
„Was sie mir getan haben? Das kann ich dir sagen! Carlton Graham hat einen Teil unserer Rezepte gestohlen und sie an Donald Schuster verkauft.“
Die Rezepte waren seit Generationen im Besitz der Familie und Scott Westmoreland heilig.
„Aber ich dachte, Mr. Graham ist dein Freund“, erwiderte Chase und hörte auf zu essen.
„Nicht mehr“, gab sein Großvater düster zurück. „Damit ist seit zwei Wochen Schluss, genauso wie mit unserer Partnerschaft.“
Chase trank einen großen Schluck Milch. „Weißt du denn sicher, dass er das war?“
Scott Westmoreland nickte. Die Enttäuschung und auch der Schmerz über den Verrat standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ja, hundertprozentig. Neuerdings hat Schuster nämlich ein paar Gerichte auf seiner Karte, die ebenso wie meine schmecken. Ich habe mich selbst davon überzeugt.“
„Echt?“, fragte Chase.
„Ja, ohne jeden Zweifel. Schuster rückt zwar nicht damit heraus, woher er die Rezepte hat, aber das ändert nichts daran, dass sie mir gehören.“
Chase hatte Mr. Graham immer gemocht. Außerdem waren seine Schokoladenplätzchen eindeutig besser als die von Grampa. Irgendetwas war darin, was einen süchtig machen konnte. „Hast du denn schon mit Mr. Graham geredet?“
„Ja, natürlich. Aber er streitet alles ab. Dabei weiß ich genau, dass er lügt. Außer ihm kennt niemand die genauen Zutaten. Wahrscheinlich hat er jetzt ein schlechtes Gewissen. Und das ist sicher auch der Grund dafür, dass er mit seiner Familie wegzieht.“
Chases Augen wurden groß. „Die Grahams ziehen weg?“
„Ja, und unter den Umständen ist das wohl auch das Beste. Ich weine keinem von ihnen eine Träne nach. Merk dir das: Traue niemals einem Graham.“
Die Gegenwart
Irgendetwas musste sich ändern.
Chase Westmoreland bog auf den Parkplatz hinter dem Restaurant ein. Die sechs Monate sexueller Abstinenz waren vermutlich der Grund dafür, dass es mit seiner Laune in jüngster Zeit nicht gerade zum Besten stand.
Es hatte nichts damit zu tun, dass seine vier Brüder und seine kleine Schwester in den letzten drei Jahren geheiratet hatten. Selbst sein Cousin Jared, eigentlich ein eingefleischter Junggeselle und Scheidungsanwalt, war vor einer Weile schwach geworden. Allmählich war er das wissende, etwas mitleidige Lächeln leid, mit dem seine Familienmitglieder ihn bedachten. Als wüssten sie genau, dass es auch bei ihm nicht mehr lange dauern würde, bis er in den Hafen der Ehe einlief. Aber darauf konnten sie lange warten!
Seine Brüder erklärten ihm regelmäßig, dass er es sich schon noch anders überlegen würde, wenn er erst die richtige Frau träfe. Aber diese „Richtige“ gab es nicht.
„Was, zum Kuckuck …“ Chase bremste ruckartig. Er hatte ganz vergessen, dass eines der Nachbargebäude verkauft worden war, und offenbar zogen heute die neuen Mieter ein.
Atlanta war eine moderne Stadt, die sich trotz enormer Betriebsamkeit ihren Südstaatencharme bewahrt hatte. Chases Restaurant lag im Stadtkern in einer fast idyllischen Umgebung, in der die Leute gerne einkaufen gingen und Geschäfte machten. Jetzt erinnerte Chase sich daran, dass sein neuer Nachbar einen Laden für Süßwaren oder Ähnliches eröffnen wollte. Das gefiel ihm nicht zuletzt deshalb, weil er selbst eine Schwäche für Schokolade hatte. Allerdings wurde seine Vorfreude durch die Hektik und den Lärm, die sich schon ab sechs Uhr morgens entfalteten, deutlich gedämpft.
Überall kurvten Lastwagen herum und blockierten die Parkplätze, die er dringend für seine Gäste benötigte. Schon zur Frühstückszeit war sein Restaurant immer brechend voll, und das emsige, laute Durcheinander auf seinem Parkplatz missfiel ihm gewaltig. Ein Glück, dass er selbst über einen reservierten Stellplatz verfügte, sonst hätte er nicht gewusst, wo er seinen Wagen lassen sollte.
Als ein Lieferwagen seinen Weg blockierte, versuchte er sich zur Ruhe zu zwingen – allerdings mit mäßigem Erfolg. Heute war Montag, eindeutig kein guter Tag, um seine Geduld auf die Probe zu stellen. Und so wollte er gerade hupen, als eine Frau aus dem Haus kam und ihn ablenkte. Einen Moment lang vergaß er bei ihrem Anblick sogar seinen Ärger, und für ein paar Sekunden blieb ihm die Luft weg.
Während die Frau mit dem Fahrer des störenden Lieferwagens sprach, hatte Chase Zeit, sie ausführlich zu betrachten. Sie trug einen kurzen Bäckerkittel, und er konnte nur hoffen, dass sie darunter Shorts anhatte. Andernfalls würde ein plötzlicher Windstoß enthüllen, was sie wahrscheinlich nicht zur Schau stellen wollte. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Trotz dieses Kittels konnte er erkennen, dass sie eine fantastische Figur hatte.
Er ließ den Blick zu ihrem Gesicht wandern. Es war so schön, dass er einen regelrechten Schock erlitt. Ihr Hautton war mittelbraun, die Augen von einem hellen, honigfarbenen Braun und die Lippen erdbeerrot geschminkt. Am liebsten wäre er auf der Stelle ausgestiegen und hätte sie mitten auf den Mund geküsst. Die Haare fielen ihr in wilden dunkelbraunen Locken bis auf die Schultern. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Chase sich körperlich von einer Frau angezogen. Aber sie war wirklich eine herausragende Vertreterin ihres Geschlechts.
Er holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben. Er war vierunddreißig Jahre alt und heißblütig, und da war es ganz normal, dass er so reagierte. Trotzdem … Er konnte es sich nicht leisten, sich von einem Paar hinreißender Beine und einem wunderschönen Gesicht ablenken und aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Dazu war die Erinnerung an sein letztes Jahr in der Duke University und an Iris Nelson noch zu lebhaft. Alarmglocken schrillten plötzlich in seinem Inneren, und sofort kam er wieder zur Vernunft.
Seufzend gönnte er sich einen abschließenden Blick auf die fast überirdische Erscheinung, dann setzte er seinen Wagen wieder in Bewegung und fuhr vorsichtig an dem Hindernis vorbei. Jetzt brauchte er erst einmal einen starken Kaffee.
Dumm war nur, dass er die leere Stelle an ihrem linken Ringfinger bemerkt hatte und dass diese Tatsache seine Laune mehr hob, als gut für ihn war.
Jessica Claiborne sah sich zufrieden in ihrem Laden um. Morgen sollte die große Eröffnung steigen. Alles Nötige war erledigt, die Bestellungen waren gemacht und würden rechtzeitig eintreffen. Sie hatte zwei Studentinnen angeheuert, die Flugblätter auf der Straße verteilen sollten. Da sie ihre Pralinen und Süßwaren täglich frisch zubereitete, hatte sie dem hiesigen Kinderkrankenhaus versprochen, dass sie alles, was sich bis zum Abend nicht verkaufen ließ, dorthin spenden würde. Außerdem hatte sie mit zwei Hotels in der Stadt vereinbart, dass sie deren Restaurants und Cafés beliefern würde. Am Morgen hatten die Maler den Namen ihres Ladens endlich auf das Schaufenster gepinselt: Delicious Cravings, „Süße Köstlichkeiten“.
Für diese Chance würde sie ihrer Großmutter ein Leben lang dankbar sein. Die alte Dame, die im vergangenen Jahr am 25. Geburtstag ihrer Enkelin gestorben war, hatte ihr so viel Geld hinterlassen, dass sie sich ihren Traum vom eigenen Süßwarengeschäft erfüllen konnte. Der Stelle als Anwältin bei einer großen Firma in Sacramento weinte sie keine Träne hinterher. Als sie an ihre geliebte Großmutter dachte, blickte sie aus dem Fenster. Trotz des wunderschönen Tages spürte sie eine leise Wehmut.
Der Duft von Schokolade durchzog ihren Laden. Sie hatte heute schon eine Auswahl an Eclairs und Tartes gebacken. Sie dienten als Einstandsgruß für ihre Nachbarn und waren ein Dankeschön dafür, dass sie alle Umbauarbeiten und den damit verbundenen Lärm und Staub so geduldig ertragen hatten.
Mrs. Morrison, die Besitzerin der Schneiderei nebenan, hatte sich über die Geste sehr gefreut, war gegen Schokolade aber leider allergisch. Dafür hatten sich die Brüder Criswell, die die benachbarte Karateschule betrieben, umso begeisterter gezeigt und versprochen, Werbung für das neue Geschäft zu machen. Jetzt fehlte lediglich der Besitzer des Restaurants Chase’s Place im übernächsten Gebäude. Jessica konnte nur hoffen, dass er sich ebenso verständnisvoll zeigte wie Mrs. Morrison und die Criswells und ihr Antrittsgeschenk zu würdigen wusste.
Sie nahm die letzte Schachtel ihrer süßen Köstlichkeiten und machte sich auf den Weg zu ihm. Es war früher Nachmittag, und das Restaurant schien bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Wenn sie Glück hatte, fiel etwas von dem offenbar blühenden Geschäft auch für sie ab. Schon vor dem Restaurant roch es verführerisch nach Essen, und sie merkte plötzlich, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte.
Das Restaurant gefiel ihr auf den ersten Blick. Trotz der offensichtlich gehobenen Ansprüche wirkte es gemütlich. Auf jedem Tisch stand eine Lampe, und die Tischtücher passten zu den Vorhängen. Beherrscht wurde der Raum von einer langen Theke mit Barhockern, aus den Lautsprechern drang leise Jazzmusik.
Eine junge Frau kam auf sie zu. „Willkommen in Chase’s Place. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Jessica lächelte sie an. „Mir gehört der neue Süßwarenladen nebenan. Ich wollte nur ein paar Kostproben vorbeibringen und mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die ich Ihnen verursacht habe.“
„Kommen Sie, ich bringe Sie ins Büro zu Chase.“
Jessica folgte der Bedienung zur anderen Seite des Restaurants und einen Korridor entlang, bis sie vor einer Tür stehen blieb.
„Ja, bitte?“ Die Stimme von drinnen klang tief und ein wenig heiser.
„Sie haben Besuch.“
„Ein Wunder, dass überhaupt noch jemand durch dieses Parkplatzchaos den Weg hierher gefunden hat. Am liebsten würde ich dieser rücksichtslosen Person so richtig Bescheid sagen. Es ist wirklich nicht zu fassen, wie sie …“
Chase verstummte. Vor ihm stand genau die Frau, auf die er so wütend war.
„Sieht so aus, als hätte ich Ihnen den Weg erspart“, erwiderte Jessica kühl. „Eigentlich hatte ich erwartet, dass Sie etwas mehr Verständnis aufbringen würden, so wie die anderen Nachbarn auch.“
Was sie noch sagte, nahm Chase nicht mehr wahr. Er starrte die Erscheinung vor sich wie hypnotisiert an. Seine neue Nachbarin war eindeutig verärgert – und dabei unglaublich sexy. Sie trug Shorts und dazu nichts als ein knappes, trägerloses Oberteil. Und ihre Beine waren genauso aufregend wie heute Morgen. Je näher sie kam, desto schöner erschien sie ihm. Vor allem ihre erdbeerroten, schimmernden Lippen hatten es ihm angetan. Dazu kamen die honigbraunen Augen und die wilden dunklen Locken. Ihr Gesicht war perfekt geschnitten, die Nase frech und vorwitzig. Und dieser Mund lud eindeutig zum Küssen ein.
„Und ich hoffe, dass Sie daran ersticken!“
Chase wurde aus seinen lustvollen Gedanken gerissen, als sie ihm eine Schachtel an die Brust knallte. In der nächsten Sekunde war sie weg. Er blickte seine Bedienung an. „Was war das denn, Donna?“
Donna gab sich vergeblich Mühe, ihre Heiterkeit zu verbergen. „Ich glaube, sie hat es Ihnen gezeigt, Boss. Haben Sie nicht zugehört?“
Nein, genau genommen hatte er nicht zugehört. Jetzt betrachtete er die Schachtel vor sich.
„Das war so eine Art Friedenspfeife“, erklärte Donna. „Sie wollte sich für die Unannehmlichkeiten der vergangenen Tage entschuldigen. Ich finde das sehr nett und nachbarschaftlich. Sie hatte wohl ein bisschen mehr Verständnis von Ihnen erwartet.“
Chase nickte nur. Er bereute seine Rüpelhaftigkeit ja auch schon. Aber er hatte die ganze letzte Woche schlechte Laune gehabt und jemanden gebraucht, an dem er seinen Ärger auslassen konnte. Und sie war schließlich eine Frau, und Frauen – oder eher ihr Nichtvorhandensein – waren die Wurzel des ganzen Übels.
Zugegeben, er war nicht so ein Frauenschwarm wie sein Zwillingsbruder Storm in früheren Jahren. Doch für gewöhnlich fanden sich in seinem Adressbuch genügend Telefonnummern von Frauen, die sich gern mit ihm trafen und Lust auf Sex hatten, ohne dass sie gleich geheiratet werden wollten. Aber aus irgendeinem Grund war ihm die Lust an nichtssagenden Affären vergangen. Die letzte Frau, mit der er öfter ausgegangen war, hatte mehr in das Ganze hineininterpretiert, als es seine Absicht gewesen war, und er hatte größte Mühe gehabt, sie wieder loszuwerden. Er hatte kein Interesse an einer ernsthaften Beziehung, und das hatte er ihr auch gleich zu Anfang gesagt. Offenbar hatte sie das dann irgendwann vergessen oder einfach nicht ernst genommen.
Müde fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Es gab Frauen, die in jedem alleinstehenden Westmoreland eine Herausforderung sahen. Sein Bruder Storm hatte nach der Philosophie gelebt, dass Frauen ihm zu sehr gefielen, um sich auf eine zu beschränken. Dann war er jedoch seiner geliebten Jayla begegnet und zum treusorgenden Ehemann geworden. Chase wiederum lernte aus seinen Fehlern, und sein größter Fehler war eine Frau namens Iris Nelson gewesen – eine Frau, die er sehr geliebt hatte.
In seiner Zeit auf dem College hatte er vor einer hoffnungsvollen Karriere als Basketballprofi gestanden. Als ein Unfall diesen Traum platzen ließ, war er für Iris auf einmal nicht mehr so anziehend. Da seine Profikarriere beendet war, bevor sie begonnen hatte, war auch eine Ehe mit ihm nicht mehr so verlockend.
Über die Jahre hatte er viele Frauen kennengelernt, die lediglich daran interessiert waren, was bei einer Beziehung für sie heraussprang. Und wenn ihnen das nicht reichte, waren sie ganz schnell wieder verschwunden. Um Liebeskummer und immer neue Enttäuschungen in Zukunft zu vermeiden, gestand er Frauen in seinem Leben nur noch eine zweitrangige Bedeutung zu.
„Und?“, hakte Donna nach. „Was wollen Sie jetzt tun?“
Chase hatte keine Ahnung. Er wusste aber, dass eine Entschuldigung fällig war. „Kevin soll mir die Spezialität des Tages einpacken.“
Donna lachte. „Sie glauben, das besänftigt sie?“
Wieder blickte er auf seine Schachtel hinunter. Delicious Cravings stand darauf. „Warum nicht? Ich schlage sie einfach mit ihren eigenen Waffen.“
„Aha.“ Donna sah ihn eine Weile an und ließ ihn dann allein.
Süße Köstlichkeiten. Ja, der Name passte zu seiner neuen Nachbarin.
Chase öffnete die Schachtel und verliebte sich auf der Stelle in den Inhalt. Die Urheberin dieser Kreationen hatte eindeutig eine Entschuldigung verdient, und zwar noch heute, bevor der Abend zu Ende war.
Was für ein Rüpel!
Jessica holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. Wie kam dieser unverschämte Mensch dazu, sie rücksichtslos zu nennen? Ausgerechnet sie! Sie gehörte zu den rücksichtsvollsten Menschen, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Das war ja einer der Gründe gewesen, warum sie ihre hoch bezahlte Stelle als Firmenanwältin gekündigt hatte. Sie hatte nämlich einfach keine Lust mehr gehabt, für Dinge zu kämpfen, hinter denen sie nicht stand, und Policen zu verkaufen, mit denen ihre Kunden sich ruinierten. Den Profit der Firma über die Interessen der Kunden zu stellen hatte sie mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren können.
Außerdem war die Rücksicht auf die Wünsche ihrer Familie sowieso der einzige Grund, warum sie sich mit den Westmorelands abgab. Damit wollte sie ein Unrecht, das an ihrer Familie begangen worden war, wiedergutmachen. Wie konnten diese Leute behaupten, ihr Großvater habe unehrenhaft gehandelt? Sie hatte keinen aufrechteren Menschen als ihn gekannt, und am liebsten hätte sie den Westmorelands einmal gründlich die Meinung gesagt. Aber ihre Großmutter hatte ihr noch auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, den Familiennamen reinzuwaschen, ohne gleich in den Krieg zu ziehen. Eigentlich hatte sie Atlanta nur einen Besuch abstatten wollen, aber dann hatte sie sich entschlossen, gleich hierherzuziehen. Die Stadt gefiel ihr.
Sie dachte wieder an den Besitzer des Restaurants. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie ihn eigentlich aus purer Notwehr so angefahren – damit sie ihm nicht auf der Stelle verfiel. Denn sie musste einfach zugeben, dass er sündhaft sexy war. Er war groß, hatte einen perfekten Körper und ein atemberaubend schönes Gesicht. Und er hatte sie daran erinnert, dass sie eine Frau war.
Das Letzte, was sie brauchen konnte, war einen Mann wie ihn. Denn Männer waren untreu und immer auf ihren Vorteil bedacht, das durfte sie nie vergessen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie ihre Lektion gelernt. Jeff Claiborne war vielleicht der Mann, der sie gezeugt hatte und dessen Namen sie trug. Aber er war auch der Mann, der ihre Mutter mit seinen Heiratsversprechen fünfzehn Jahre lang hingehalten und schließlich ins Unglück getrieben hatte.
Um dem Drama ein Ende zu machen, hatte ihr Großvater eines Tages einen Detektiv engagiert, der bald herausfand, dass Jeff Claiborne schon verheiratet war und eine Familie in Philadelphia hatte. Von diesem herben Schlag hatte Janice Graham sich nie mehr erholt und sich lieber das Leben genommen, als mit diesem Schmerz und dieser Enttäuschung weiterzuleben.
Jessica war fünfzehn Jahre alt gewesen, als ihre Mutter starb, und sie hatte sich geschworen, ihr Herz niemals einem Mann zu schenken. Auf Typen, die die Liebe mit Füßen traten, würde sie nicht hereinfallen.
Ihr Großvater hatte Jeff Claibornes Betrug nicht einfach so hingenommen, sondern dessen Ehefrau einen Besuch abgestattet und sie mit den Beweisen für das Doppelleben ihres Mannes konfrontiert. Daraufhin hatte Jennifer Claiborne sofort die Scheidung eingereicht und ihren Mann nach achtzehn Jahren Ehe verlassen. Aber sie hatte Jessica mit offenen Armen aufgenommen und dafür gesorgt, dass sie ihre Halbgeschwister Savannah und Rico kennenlernte. Und vor allem hatte sie durchgesetzt, dass Jeff Claiborne seiner Tochter Unterhalt bezahlte. Den College-Besuch hatte sie selbst finanziert.
Ihre neue Schwester und ihr Bruder standen Jessica so nahe, wie es Geschwister nur konnten. Und Jennifer war ihr fast eine zweite Mutter geworden. Sie war in der Familie jederzeit willkommen, und das war ein schönes Gefühl.
Es klopfte. Die Dämmerung war hereingebrochen, doch Jessica konnte den Besucher durch die Schaufensterscheibe deutlich erkennen: Es war ihr unhöflicher Nachbar. Sie hätte ihn am liebsten draußen stehen lassen, wollte sich aber auch nicht vor ihm verstecken. Schließlich gehörte sie nicht zu den Menschen, die vor Problemen davonliefen – und in diesem Fall war er ihr Problem. Da sie ihm vermutlich öfter über den Weg laufen würde, war es besser, sie schloss eine Art Waffenstillstand mit ihm. Auch wenn sie selbst nicht immer im Laden stand, so lebte sie doch in der Wohnung darüber.
Er klopfte wieder, und sie fand, dass sie ihn lange genug hatte warten lassen. Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie tief durch. „Was wollen Sie?“, fragte sie ohne Einleitung.
Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und betrachtete den Himmel. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, doch jetzt sah es nach Regen aus. Langsam drehte er sich um. Ihre Blicke trafen sich, und Jessica wurde heiß. Sie musste an köstliche Schokolade mit Rum denken, und unwillkürlich lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Plötzlich bemerkte sie, dass eine winzige Unebenheit auf dem Nasenrücken die Vollkommenheit seiner Züge störte. Vielleicht war die Nase einmal gebrochen gewesen. Ader das spielte keine Rolle, denn der kleine Makel ließ den Rest umso attraktiver erscheinen.
Das war kein gutes Zeichen.
Aber es kam noch schlimmer. Die Art und Weise, wie er sie anlächelte, ließ ihre Knie weich werden, und sie hielt sich unwillkürlich an der Tür fest. Es ärgerte sie, dass er diese Wirkung auf sie hatte. „Also“, fuhr sie ihn an. „Was wollen Sie?“
Sein Lächeln wurde breiter. Entweder fiel ihm ihre Unfreundlichkeit nicht auf, oder er setzte sich absichtlich darüber hinweg. „Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen und Ihnen ein Friedensangebot machen.“ Er hielt eine kleine Tüte in der Hand, aus der verführerischer Essensduft stieg. „Ich war eben irgendwie neben der Spur“, meinte er. „Tut mir leid. Ich weiß, wie viel Stress so ein Einzug verursacht, und kann mich nur damit herausreden, dass ich eine ziemlich anstrengende Woche hinter mir habe. Aber für meine Probleme können Sie ja nichts.“
Sein Auftritt überraschte Jessica. Doch ihr Misstrauen war noch nicht geschwunden. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man vor redegewandten Männern auf der Hut sein musste.
„Und?“, fragte er jetzt nach. „Nehmen Sie meine Entschuldigung an?“
Sie schob das Kinn vor. „Und welchen Grund sollte ich dafür haben?“
„Sie könnten beweisen, dass Sie sehr viel netter sind als ich und den Großmut besitzen, mir meine Sünden zu verzeihen.“
Jessica lehnte sich an den Türrahmen. Das war natürlich richtig. Sie war eindeutig sehr viel netter als er, aber das mit dem Verzeihen … Sie atmete tief durch und kam zu dem Schluss, dass sie keine Lust hatte, seine Entschuldigung zu akzeptieren. Außerdem missfiel ihr die Chemie zwischen ihnen, und das war Grund genug, ihn nicht leiden zu können. Dass das alles wenig vernünftig war, wusste sie selbst am besten, aber es kümmerte sie im Moment nicht. „Es gibt vieles, was ich übersehen kann. Unhöflichkeit gehört nicht dazu.“
Chase hob eine Augenbraue. „Das heißt, Sie nehmen meine Entschuldigung nicht an?“
Jessica sah ihn böse an. „Nein.“
Seine Stirn legte sich in Falten. „Warum nicht?“
„Weil ich nicht in der Stimmung bin. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen. Ich muss …“
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Weil Sie nicht in der Stimmung sind?“, wiederholte er.
„So ist es.“
Er hatte ja schon mit vielen zickigen Menschen zu tun gehabt, aber diese Frau gab dem Wort eine neue Bedeutung. Gut, er war unhöflich gewesen, aber schließlich hatte er sich dafür entschuldigt.
„Jetzt hören Sie mir einmal zu“, begann er. „Ich weiß, dass unsere Bekanntschaft nicht gerade ideal angefangen hat, und dafür bitte ich um Entschuldigung. Sie haben recht, ich war unhöflich. Doch jetzt sind Sie es, die sich völlig unvernünftig benimmt.“
Jessica stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihr Gegenüber sah sie forschend an. Seine dunkelbraunen Augen waren wirklich zum Sterben schön, aber trotzdem …
Nichts trotzdem, Jessica Lynn, hörte sie ihre Großmutter sagen, du kannst nicht in jedem Mann deinen Vater sehen! Du kannst dich nicht dein Leben lang gegen jeden Mann abschotten, der dir ein bisschen zu nahe kommt.
Sie seufzte wieder und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Natürlich hatte ihre Großmutter recht gehabt, aber es war einfach lebenswichtig für sie, sich zu schützen. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie den Mann, der da vor ihr stand, um jeden Preis meiden musste.
„Lassen Sie uns Frieden schließen“, bat Chase jetzt und holte sie aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. „Ihre Süßigkeiten waren übrigens köstlich, vor allem die Kekse mit den Schokoladenstückchen. Ich habe seit Ewigkeiten keine Plätzchen mehr gegessen, die auch nur annähernd so gut schmeckten.“ Er wagte ein Lächeln. „Und ich habe Ihnen auch nicht den Gefallen getan, daran zu ersticken.“
„Ein Jammer“, gab Jessica trocken zurück. Ihre Blicke versanken kurz ineinander, und sie wusste, dass er versuchte, sie zu verstehen. Bestimmt war er nicht daran gewöhnt, dass Frauen ihm so viel Ärger machten. Er musste im Normalfall sicher nur lächeln, um zu bekommen, was er wollte. So wie ihr Vater.
Jessica schlang die Arme um ihren Oberkörper. Er würde ja doch nicht verschwinden, bevor sie seine Entschuldigung akzeptierte. „Okay. Ich verzeihe Ihnen. Auf Wiedersehen.“
Er konnte gerade noch verhindern, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Lächelnd hob er seine Tüte hoch: „Wollen Sie mein Friedensangebot nicht annehmen?“
Resigniert streckte sie die Hand danach aus. „Ja, okay. Danke.“
Chase lachte. „Na also.“ Aber statt ihr die Tüte zu geben, reichte er ihr seine Hand. „Wir haben uns noch gar nicht richtig miteinander bekannt gemacht. Chase Westmoreland.“
Jessica erschrak. „Westmoreland?“, wiederholte sie wie betäubt.
„Genau. Wahrscheinlich ist Ihnen der Namen schon vertraut. Unsere Familie ist ziemlich zahlreich in Atlanta vertreten.“
Wie vertraut ihr der Name tatsächlich war, sagte sie ihm lieber nicht. Stattdessen schüttelte Jessica den Kopf. „Ich bin gerade erst aus Kalifornien hergezogen und kenne mich in der Stadt noch gar nicht aus.“
„Und darf ich wissen, wie Sie heißen?“
„Jessica Claiborne.“
Er lächelte breiter. „Willkommen in Atlanta, Jessica. Haben Sie auch Familie hier?“
„Nein“, antwortete sie ehrlich. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Ein Westmoreland! Ausgerechnet.
Ein längeres Schweigen entstand zwischen ihnen. Dann erinnerte Chase sich wieder an seine Tragetasche. „Die hätte ich fast vergessen. Guten Appetit. Das ist unser heutiges Tagesgericht.“
„Danke.“
Er zögerte noch einen Moment. „Ich muss mich auf die Socken machen, bevor die ersten Gäste eintrudeln. Wohnen Sie auch im Haus?“
„Ja“, sagte Jessica. Sie hielt die Tüte mit beiden Händen fest. Jetzt musste sie erst einmal dringend nachdenken.
„Wenn es spät wird, schlafe ich auch manchmal hier. Falls Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“
Jessica merkte, dass sie fast vergessen hätte zu atmen, und schloss die Tür vor der Versuchung.
Jessica lehnte sich zufrieden zurück. So gut hatte sie schon sehr lange nicht mehr gegessen. Die überbackenen Schweinekoteletts mit dem selbst gemachten Kartoffelpüree hätten nicht besser schmecken können. Und der Karottenkuchen zum Dessert war die Krönung gewesen. Es war kein Wunder, dass das Restaurant so gut lief. Und wenn sich jemand mit Nachtisch auskannte, dann war sie das. Schon ihre Großmutter war eine begnadete Bäckerin gewesen und hatte die wunderbarsten Köstlichkeiten gezaubert. Und sie hatte diese Begeisterung geerbt.
Für kurze Zeit hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, eine Ausbildung als Dessertköchin zu machen, anstatt Jura zu studieren. Ihr Großvater war jedoch der Ansicht, dass es schon genügend Köche bei den Grahams gebe. Und damit hatte er recht.
Beim Abwaschen sah Jessica sich in ihrer neuen Umgebung um. Die Wohnung hatte große Fenster und einen Holzfußboden. Mit dem geräumigen Wohnzimmer sowie Bad und Küche und einem Schlafzimmer war sie ideal auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Ihr gehörte nicht nur die Wohnung, sie hatte auch das ganze Haus einschließlich des Ladens, der Dessertküche und des kleinen Büros im hinteren Teil gekauft.
Sie ging ans Fenster und blickte zu Chase’s Place hinüber.
Gerade trat der Eigentümer in Begleitung eines zweiten Mannes auf die Straße, und sie hielt unwillkürlich den Atem an. Die beiden Männer sahen sich so ähnlich, dass sie verwandt sein mussten. Das konnte sie sogar von hier oben erkennen. Der andere Mann sah ebenfalls gut aus, aber es war Chase, den sie wie gebannt beobachtete. Die Sonne war untergegangen, doch ein letzter Strahl fiel noch auf ihn. In den Jeans und dem schwarzen Baumwollpulli sah er einfach unverschämt gut aus.
Jessica stieß einen Seufzer aus, und als hätte Chase sie gehört, sah er zu ihr herauf. Ihre Blicke trafen sich, und sie spürte die Wirkung fast körperlich. Ihr wurde warm, und ein leichtes Kribbeln breitete sich entlang ihrer Wirbelsäule aus. Und plötzlich spürte sie etwas, das sie vor langer Zeit, in ihrem ersten Collegejahr gefühlt hatte – damals, als sie das erste und auch letzte Mal in ihrem Leben Sex gehabt hatte. Es war eine schreckliche Erfahrung gewesen, und sie hatte nie auch nur das geringste Bedürfnis verspürt, sie zu wiederholen.
Aber jetzt, als sie zu Chase hinunterschaute, empfand sie mehr als nur Neugier. Eine Sekunde lang fragte sie sich, ob es mit ihm wohl anders wäre. Sie trat schnell vom Fenster zurück, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Wie hatte sie nur einen Augenblick vergessen können, wer Chase war? Sie hatte nicht die geringste Absicht, sich ausgerechnet wegen eines Westmoreland zur Närrin zu machen, wegen des Mitglieds einer verlogenen Familie, die ihren Großvater des Diebstahls bezichtigt hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Chase äußerst attraktiv war. Er war nun mal ein Westmoreland und damit verbotenes Terrain.
„Wer ist das?“
Chase wandte sich wieder seinem Bruder Storm zu. „Ich darf dich daran erinnern, dass du verheiratet bist“, erklärte er trocken.
Storm lachte und schüttelte den Kopf. „Daran brauchst du mich nicht zu erinnern. Andere Frauen als Jayla interessieren mich nicht. Und seit wir die Mädchen haben, ist unser Leben sowieso vollkommen.“ Damit meinte er seine drei Monate alten Zwillingstöchter. „Aber ich habe das Gefühl, dass du dich für die Dame interessierst.“
„Dann täuscht dich dein Gefühl. Sie ist meine neue Nachbarin und heißt Jessica Claiborne. Allerdings hat unsere Bekanntschaft ziemlich unglücklich angefangen. Ich habe nicht gerade den besten Eindruck bei ihr hinterlassen.“
„Aha. Und was bedeutet das?“
Chase lehnte sich an die Wand. „Ich glaube, sie mag mich nicht.“
„Dann streng dich an. Der erste Eindruck lässt sich doch ändern“ Storm entging nicht, dass sein Bruder unwillkürlich wieder zu dem Fenster hinaufsah, an dem die Frau gestanden hatte. Dann blickte er auf seine Uhr. „Ich muss los. Vergiss nicht die Taufe am Sonntag.“
„Wie könnte ich. Und anschließend essen wir alle bei mir.“
„Sicher?“, fragte Storm. „Ich möchte dir keine Umstände machen.“
„Tust du nicht. Außerdem würde ich für meine Nichten alle Umstände in Kauf nehmen. Dann ist es also abgemacht. Ich rufe Jayla morgen wegen des Menüs an.“
„Okay.“
Damit stieg Storm in sein Auto. Chase zögerte, als sein Zwillingsbruder weggefahren war, und sah zu Jessicas Laden hinüber. Ob ihr das Essen geschmeckt hatte? Um das herauszufinden, gab es eigentlich nur einen Weg.
Und so schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans, marschierte an Mrs. Morrisons Schneiderei vorbei und blieb schließlich vor Jessicas Schaufenster stehen. An der Tür hing zwar ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“, aber er klopfte trotzdem mehrmals. Als ihn das nicht weiterbrachte, klingelte er.
„Wer ist da?“ Ihre Stimme klang sehr angenehm.
„Chase.“
Jessica öffnete die Tür und sah ihn unfreundlich an. „Was wollen Sie denn jetzt schon wieder?“
Es überraschte ihn, dass sie immer noch böse auf ihn war. Eigentlich hatte er erwartet, dass er sie mit seiner Entschuldigung besänftigt hatte – zumindest mit seinem Essen. Aber offenbar hatte er sich geirrt.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und er wünschte, sie würde das lassen. Zwar gefielen ihm eher schöne Beine, aber gegen einen ebensolchen Busen hatte er auch nichts einzuwenden. Und der wurde durch ihre Armhaltung auf das Vorteilhafteste betont. Sie hatte einen festen und vollen Busen. Er räusperte sich. „Ich habe Sie am Fenster stehen sehen.“
Ihr Blick wurde noch unfreundlicher. „Ach?“
Chase rieb sich die Stirn. Vielleicht waren die Leute dort, wo sie herkam, alle so kühl. Aber hier im Süden ging man wärmer und herzlicher miteinander um. „Darf ich annehmen, dass Ihnen das Essen geschmeckt hat?“
Mit dieser Frage schien er sie überrascht zu haben. „Ja, natürlich. Es war vorzüglich. Wie kommen Sie darauf, dass es mir nicht geschmeckt hat?“
„Weil Sie so abweisend sind.“
Okay, wieder einmal hatte sie sich eher unvorteilhaft präsentiert. Aber schließlich gab es dafür einen Grund: Er war ein Westmoreland, und sie war eine Graham.
Mit einem Seufzer ließ sie die Arme sinken. „Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich kann Sie nicht leiden.“
Chase lehnte sich an den Türrahmen. „Und warum nicht?“, fragte er interessiert.
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ich dachte, das wäre offensichtlich.“
Er hob eine Augenbraue. „Sie meinen, wir sind zu verschieden?“
Ihr Ärger wuchs. „Ich kenne Sie zwar nicht sehr gut, doch ich würde annehmen, dass wir so verschieden wie Tag und Nacht sind.“
Chase lachte. „Das erklärt es.“
Jessica blickte ihn aus schmalen Augen an. „Das erklärt was?“
„Dass wir uns zueinander hingezogen fühlen. Gegensätze ziehen sich an, wussten Sie das nicht?“
Jessica schnaubte. „Ich fühle mich alles andere als zu Ihnen hingezogen.“
„Doch, tun Sie“, gab Chase zurück und lächelte breiter. Seine Körperhaltung drückte sehr viel Selbstvertrauen aus.
„Glauben Sie, was Sie wollen.“
„Natürlich könnten Sie versuchen, mir das Gegenteil zu beweisen.“
„Und wie soll das gehen?“
Chase hob nachlässig die Schultern. „Vergessen Sie es. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um …“
„Stopp! Wenn es eine Möglichkeit gibt, das Gegenteil zu beweisen, dann will ich wissen, was das ist“, fuhr Jessica ihn an.
Chase sah ihr in die Augen. „Gut. Aber ich bin nicht sicher, ob Sie das auch wirklich wollen.“
Jessica bebte vor Ärger. „Ich will jetzt sofort wissen, wie ich Ihnen beweisen kann, dass ich mich nicht zu Ihnen hingezogen fühle.“
„Küssen Sie mich.“
Jessica verschlug es die Sprache. Typisch Mann, etwas anderes fiel ihm nicht ein. Aber gut, das konnte er haben. Es würde der kürzeste Kuss aller Zeiten werden.
Mit einem Lächeln sah sie ihm in die Augen. „Gut. Wenn Sie meinen, dass es hilft.“
Die Art und Weise, wie Chase ihr Lächeln erwiderte, verhieß nichts Gutes, und ihr schwante, dass sie vielleicht einen Fehler machte. Als er an ihr vorbei in den Laden ging, wurde ihr mulmig, und sie wusste, dass ihre Ahnung sie nicht trog.
Chase betrachtete Jessicas Mund, ihre erdbeerroten Lippen und wusste, dass er jede Sekunde genießen würde, dass dieser Kuss so köstlich schmecken würde wie die Süßigkeiten in ihrem Laden. Lust erfasste seinen Körper, wilde, gierige Lust. Ihm wurde heiß, und er spürte, wie seine Lenden reagierten.
Mit einem schnellen Schritt war er bei ihr. Er umfasste ihren Hinterkopf und zog sie näher zu sich. Ihre Lippen waren nur noch Zentimeter von seinen entfernt. „Ich werde Sie küssen, bis Sie den Verstand verlieren“, flüsterte er heiser.
Jessica schob trotzig das Kinn vor und kniff die Augen zusammen. „Das werden wir ja sehen. Aber Sie können es gerne mal versuchen.“
Es gefiel ihm, dass sie so kampflustig war, und er hoffte, davon auch etwas in ihren Küssen zu spüren. „Entspannen Sie sich“, befahl er. Seine Stimme klang rau und tief.
Sie gab einen frustrierten Laut von sich und wollte ihm eine entsprechende Antwort erteilen, aber da ergriff er bereits die Gelegenheit und nahm ihren Mund in Besitz.
Er stöhnte auf, als er seine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten ließ und ein sinnliches Spiel begann. Noch nie war Jessica auf diese Weise geküsst worden, und nie, in ihren wildesten Fantasien nicht, hatte sie sich vorgestellt, dass ihr so etwas einmal passieren würde.
Chase schien sie verschlingen zu wollen und küsste sie voller provozierender Leidenschaft. Er stellte Dinge mit ihr an, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Dieser Mann wusste genau, wie man einer Frau die schnurrenden Töne entlockte, die sich gegen ihren Willen auch aus ihrer Kehle lösten.
Es war ganz und gar unglaublich. Mit diesem sinnlichen, intensiven Kuss, diesen drängenden Vorstößen attackierte er ihr ganzes Sein, und er schien zu erwarten, dass sie auf ihn, auf seinen Körper genauso leidenschaftlich reagierte. Sie konnte nur froh sein, dass er sie so fest hielt, sonst hätte sie längst das Gleichgewicht verloren, so schwach fühlten ihre Knie sich plötzlich an. Ihr war, als brenne sie in ihrem Inneren lichterloh, und schon bald hatte sie einen Punkt erreicht, an dem sie ganz und gar willenlos war.
Zwischen ihren Schenkeln spürte sie, wie groß und hart er war. Ihr wurde schwindlig, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie seinen Kuss erwiderte. So etwas sah ihr ganz und gar nicht ähnlich. Schließlich hatten sie sich heute erst kennengelernt. Obendrein war er ein Westmoreland und allein dadurch ihr erklärter Feind. Aber sie hätte ihn auch sonst nicht gemocht, und außerdem machte sie sich grundsätzlich nichts aus Küssen und … Sie brauchte Luft.
Als hätte Chase ihre Gedanken gelesen, gab er ihren Mund langsam, fast widerstrebend frei. Jessica starrte ihn an. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie gerade einen so intimen, überwältigenden Augenblick geteilt hatten. Was sagte man wohl nach einem derartigen Kuss? Das war eine müßige Frage, denn sie brachte ohnehin kein Wort heraus. Sie konnte nur daran denken, wie sein Mund sich angefühlt und wie sehr sie diesen Kuss genossen hatte.
„Damit das klar ist“, flüsterte Chase. „Ich habe nur aufgehört, damit wir Atem schöpfen können.“ Er ließ seine Hände durch ihre Haare gleiten. „Wir mögen uns sehr voneinander unterscheiden, aber wie schon gesagt: Gegensätze ziehen sich an.“
Ein leichtes Zittern erfasste ihren Körper, und Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Trotzdem war ihr heiß. Chase trat einen Schritt zurück. Er lächelte leicht.
„Alles Gute für die Eröffnung morgen“, wünschte er ihr leise.
Jessica sah ihm nach, als er ging und sachte die Tür hinter sich zuzog.
„Ich freue mich schon sehr darauf, für Sie zu arbeiten, Ms Claiborne.“
Der Eröffnungstag war turbulent verlaufen. Die Kunden hatten den neuen Laden förmlich gestürmt. Jetzt war etwas Ruhe eingekehrt, und Jessica und ihre Angestellte konnten endlich durchatmen. Jessica lächelte sie an. „Ich freue mich auch auf die Zusammenarbeit. Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass Sie mir aushelfen konnten. Und nennen Sie mich doch bitte Jessica, das ist persönlicher.“
Heute Morgen um acht Uhr hatte Delicious Cravings geöffnet, gegen elf Uhr war dann Ellen Stewart gekommen, um während der „Stoßzeit“ auszuhelfen. Aber trotz des Trubels hatte Jessica keinen Moment lang den unglaublichen Kuss von Chase vergessen.
Jetzt sah sie Mrs. Stewart zu, wie sie die Theke abwischte. Ein Glück, dass sie jemanden wie sie gefunden hatte. Mrs. Stewart hätte ihre Großmutter sein können. Sie hatte nicht nur ein offenes, freundliches Wesen, sondern war auch erfahren im Verkauf. Außerdem kannte sie offenbar wirklich jeden hier. Sie war einfach unbezahlbar.
Aber auch Chase Westmoreland hatte mitgeholfen, dass die Eröffnung ein Erfolg wurde. Sehr viele Kunden berichteten, dass er Werbung für sie gemacht hatte. Ausgerechnet einem Westmoreland zu Dank verpflichtet zu sein überschritt eindeutig Jessicas Schmerzgrenze.
„Es war doch wirklich sehr nett, dass Chase so viele Kunden zu Ihnen geschickt hat. Er ist so ein Schatz“, sagte Mrs. Stewart.
Jessica drehte sich zu ihr um. „Sie kennen Chase?“
„Ja, natürlich. Ich kenne alle Westmorelands. Die meisten Leute, die hier wohnen, sind zwar zugezogen, aber es gibt in Atlanta immer noch ein paar, die hier geboren wurden. Ich war Lehrerin und hatte fast alle Westmorelands in der Klasse. Natürlich hatten sie wie die meisten Jungs nur Unsinn im Kopf, aber sie waren nie respektlos.“ Mrs. Stewart sah Jessica an. „Wussten Sie, dass Chases Bruder Dare Sheriff von College Park ist?“
„Nein, das wusste ich nicht.“
„Und er ist ein guter Sheriff. Thorn baut Motorräder und fährt Rennen, Stone schreibt Bestseller. Und dann gibt es noch ein paar Cousins und vor allem Storm, Chases Zwillingsbruder. Allerdings sind sie nicht eineiig.“
„Dann kennen Sie ja sicher auch die Eltern der beiden.“
„Ja.“ Mrs. Stewart lächelte. „Und die Großeltern auch. Alles wunderbare Menschen.“
Jessica lehnte sich auf die Theke. „Soviel ich weiß, besaß Chases Großvater auch einmal ein Restaurant hier.“
„Das stimmt. Man konnte vorzüglich dort essen, genau wie jetzt bei Chase, und die Gäste kamen von weit her. Es gab einheimische Küche nach Rezepten, die seit Generationen in der Familie vererbt wurden. Auch Chase kocht zum Teil danach und hütet sie wie seinen Augapfel. Das ist auch kein Wunder nach dem, was seinem Großvater passiert ist. Scott hat eines Tages entdeckt, dass jemand die Rezepte für sein Chili, den Rindfleischeintopf und den Brokkoli-Auflauf an einen Konkurrenten verraten hatte.“
Jessica räusperte sich. „Wie konnte das denn passieren?“, fragte sie betont unschuldig.
„Das weiß ich nicht genau, aber Scott gab damals seinem Partner, einem Carlton Graham, die Schuld und …“
„Das ist nicht wahr. Das hätte er nie getan.“
Mrs. Stewart blickte sie neugierig an. „Ich erinnere mich noch, dass Carlton und Helen darauf nach Kalifornien gingen, um in der Nähe ihrer Tochter und Enkelin zu sein.“ Sie machte eine kleine Pause. „Ist Carlton Graham vielleicht ein Verwandter von Ihnen?“
Jessica konnte Mrs. Stewart einfach nicht anlügen und nickte. „Ja, er war mein Großvater.“
„Weiß Chase das?“, fragte Mrs. Stewart vorsichtig.
Jessica schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe auch nicht vor, es ihm zu erzählen, bis ich beweisen kann, dass mein Großvater unschuldig war.“
„Und wie wollen Sie das beweisen? Das dürfte nach der langen Zeit nicht einfach sein.“
„Das weiß ich noch nicht. Ich höre mich erst einmal um. Irgendjemand hat die Rezepte gestohlen und es dann meinem Großvater angehängt. Als meine Großmutter starb, musste ich ihr versprechen, den Namen Graham reinzuwaschen.“
„Vielleicht sollten Sie einmal mit Donald Schuster sprechen“, schlug Mrs. Stewart vor. „Schließlich sind die Rezepte in seinem Restaurant gelandet.“
Jessica sah sie überrascht an. „Existiert das denn noch?“
„Und ob. Es läuft sehr gut. Mittlerweile gibt es über hundert Ableger in ganz Amerika, auch in Kalifornien. Angeblich bekommt man in Schusters Restaurants das beste Chili, und einem Gerücht zufolge stammt das Rezept ursprünglich von den Westmorelands.“
Die Restaurantkette war Jessica bekannt, sie hatte sogar schon einmal dort gegessen. „Und was ist mit Chase? Was wissen Sie über ihn?“
„Vor allem, dass er ein hochanständiger Mann ist. Allerdings hat ihm vor Jahren eine Frau das Herz gebrochen. Als er wegen eines Unfalls nicht Basketballprofi werden konnte, hat sie ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Seitdem hat er keine tiefere Beziehung mehr zu Frauen gehabt.“ Mrs. Stewart machte eine kleine Pause. „Wenn ich Ihnen vielleicht einen Rat geben darf …“
Jessica nickte. „Bitte.“
„Sagen Sie ihm möglichst schnell die Wahrheit, bevor ihm jemand anders erzählt, wer Sie sind. Und wenn Sie hier in der Gegend die Leute ausfragen, wird es todsicher irgendwann herauskommen.“ Wieder schwieg sie ein paar Sekunden, als müsse sie nach den richtigen Worten suchen. „Scott Westmoreland war damals sehr verletzt. Für ihn war es Betrug. Kurz danach erlitt er einen Herzanfall.“
Das hatte Jessica nicht gewusst. „Wirklich?“
„Ja. Wahrscheinlich hing das nicht nur mit den gestohlenen Rezepten zusammen. Er war auch ein ziemlich starker Raucher und starb schließlich an Lungenkrebs.“ Mrs. Stewart seufzte. „Ich behaupte nicht, dass Ihr Großvater der Dieb war, aber die Westmorelands sind davon überzeugt. Chase stand seinem Großvater sehr nahe und fühlte sich persönlich getroffen. Er hat ja auch versucht, Schuster zu einem Geständnis zu überreden. Der dachte natürlich nicht daran. Und da es keine Beweise gab, ließ Chase es dann irgendwann sein. Aber ich glaube nicht, dass er es vergessen hat.“
Kurze Zeit später, zehn Minuten bevor sie zumachte, war Jessica allein im Geschäft. Der erste Tag war unerwartet gut gelaufen, und jetzt packte sie für das Kinderkrankenhaus zusammen, was übrig geblieben war.
Immer wieder dachte sie an das, was Mrs. Stewart ihr über Chase erzählt hatte. Obwohl ihr nichts ferner lag, als ihn zu bedauern, konnte sie nicht anders. Chase musste durch seinen Unfall ohnehin am Boden zerstört gewesen sein. Dass seine damalige Freundin ihm einen weiteren Schlag versetzt hatte, musste ihn sehr getroffen haben. Andererseits wünschte sie sich, ihre Mutter hätte auch irgendwann gemerkt, dass sie ohne Jeff Claiborne besser dran war.
Als die Tür aufging, hob Jessica den Kopf. Das war vermutlich jemand vom Krankenhaus, der die Süßigkeiten abholen sollte.
Unwillkürlich stockte ihr der Atem. Es war Chase.
„Hallo, Jessica.“
Schon den ganzen Tag spukte sie durch Chases Gedanken, und er hatte das dringende Bedürfnis, sie zu sehen. Er musste wissen, ob das, was am Vortag passiert war, reines Wunschdenken oder Wirklichkeit war. Doch als sie jetzt vor ihm stand, war ihm ohne Zweifel klar, dass seine Erinnerung ihn nicht trog. Sie war tatsächlich so schön und so sexy.
Als Jessica ihn einfach nur stumm ansah, ergriff er die Initiative: „Da Sie vermutlich den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen sind, habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“
Sie knabberte nervös an ihrer Unterlippe. „Danke, aber das war nicht nötig“, brachte sie schließlich heraus. „Ich wollte mir später einen Hamburger kaufen.“
Chase runzelte die Stirn. „Bei uns ist das Essen erstens viel besser und zweitens gesünder.“ Er kam mit seiner Tüte näher. „Sie sollten es essen, solange es noch warm ist.“
Zurzeit war Chase der Letzte, mit dem Jessica sich beschäftigen wollte. Und so stellte sie die Tüte kommentarlos auf die Theke. Allein sein Anblick ließ die Erinnerung an seinen Kuss erneut aufflammen. Eigentlich wollte sie wütend auf ihn sein, weil er solche Gefühle in ihr geweckt hatte. Aber das war bei einem Mann, der sich solche Mühe gab, nett zu ihr zu sein, nicht ganz einfach. Und er war ja auch nett …
Wieder ging die Tür auf, und diesmal war es wirklich die erwartete Botin. „Gloria Miller“, stellte die Frau sich vor. „Ich wollte die Sachen fürs Kinderkrankenhaus abholen.“ Sie sah mit einem Lächeln zu Chase hinüber. „Hallo, Chase.“
„Wie geht es dir, Gloria?“
„Ich kann nicht klagen, danke.“
Jessica gab ihr das Päckchen mit dem Gebäck und den Süßigkeiten. „Ich hoffe, den Kindern schmeckt es.“
Gloria lachte. „Da habe ich keine Befürchtungen. Vielen Dank jedenfalls.“ Damit wandte sie sich zum Gehen.
„Das war sehr nett von Ihnen“, sagte Chase.
Jessica hob die Schultern. „Die übrig gebliebenen Sachen von heute kann ich morgen sowieso nicht mehr verkaufen. Deshalb bin ich auf die Idee mit dem Kinderkrankenhaus gekommen.“
„Und was ist morgen?“
„Morgen mache ich es genauso, wenn ich etwas übrig habe. Und da wir gerade dabei sind: Ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken.“
„Das haben Sie schon.“ Chase lachte.
„Ich meine nicht das Essen, sondern die Werbung, die Sie für mich gemacht haben. Viele Kunden haben mir erzählt, dass Sie sie zu mir geschickt haben.“
Chase stützte sich auf der Theke ab. „Da war ich bestimmt nicht der Einzige. Die Criswells haben ebenfalls die Werbetrommel gerührt. Ihr Dank gebührt also auch ihnen.“
„Ich denke daran, wenn ich sie sehe.“ Jessica ging zur Tür. „Es ist Zeit, den Laden zu schließen.“
Chase sah auf die Uhr. „Ja, tatsächlich.“ Aber er machte keine Anstalten, das Geschäft zu verlassen.
Jessica hängte das Schild „Geschlossen“ an die Tür und ließ das Rollo hinunter. Der Raum war dämmrig und viel zu intim für ihren Geschmack. „Würden Sie netterweise das Licht anmachen?“
„Gleich.“ Er kam zu ihr. „Wissen Sie, woran ich heute den ganzen Tag gedacht habe?“
Sie weigerte sich, ihn anzusehen. „Nein“, sagte sie dann. „Woran?“
Er streckte die Hand aus und hob ihr Kinn an, damit sie ihn anschauen musste. „An unseren Kuss.“
Sie wollte nicht, dass er sie daran erinnerte. Und vor allem wollte sie nicht, dass er an diesen Kuss dachte. Aber wie konnte sie etwas von ihm erwarten, das sie selbst kaum fertigbrachte? „Wir haben uns gestern erst kennengelernt und wissen kaum etwas voneinander, Chase. Das geht mir alles zu schnell.“
„Sie haben recht“, sagte er fast sanft. „Deshalb wollte ich Ihnen einen Vorschlag machen.“
Jessica hob eine Augenbraue. „Und zwar?“
„Dass wir uns die Zeit nehmen, uns besser kennenzulernen.“
„Warum?“, fragte sie. „Was für einen Grund sollte es dafür geben?“ Wenn sie etwas ganz bestimmt nicht wollte, dann war das irgendeine romantische Affäre – mit ihm nicht und mit niemandem sonst. Im Augenblick hatte sie außerdem etwas anderes im Kopf. An erster Stelle stand natürlich der Laden, aber dann kamen gleich ihre geplanten Nachforschungen. Zunächst würde sie mit Donald Schuster reden. Vielleicht konnte er ihr ja helfen, die Unschuld ihres Großvaters zu beweisen.
Chase unterbrach ihre Gedanken. „Ganz einfach: Sie mögen mich nicht, und das macht mir zu schaffen, weil ich es nicht verstehe. Wenn ich nur in Ihre Nähe komme, dann fahren Sie die Krallen aus und gehen ganz auf Abwehr. Außerdem fühle ich mich sehr zu Ihnen hingezogen, obwohl ich Sie kaum kenne, und das gefällt mir auch nicht. Ich bin kaum zum Arbeiten gekommen, weil ich dauernd an Sie denken musste.“
„Dann schlage ich vor, dass Sie sich einem anderen Thema widmen.“
„Ich bezweifle, dass das funktioniert. Ich will Sie.“
Jessica war sprachlos. Noch nie hatte ein Mann so unverblümt sein Interesse an ihr geäußert.
„Hoffentlich habe ich Sie jetzt nicht allzu sehr schockiert.“
Doch, das hatte er. Jessica sah zu ihm hoch. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und ihr Magen zog sich zusammen. „Chase, Sie sind ein attraktiver Mann, und ich bin davon überzeugt, dass viele Frauen nur zu gern mit Ihnen ausgehen würden.“
Er lächelte. „Ich gehe nicht viel aus, das letzte halbe Jahr eigentlich so gut wie gar nicht.“ Als Jessica etwas sagen wollte, legte er ihr einen Finger auf den Mund. „Keine Angst. Ich wollte Ihnen keinen Heiratsantrag machen, sondern Sie einfach besser kennenlernen. Sie sind neu hier, und ich könnte Ihnen die Stadt zeigen, Sie mit Leuten bekannt machen, einfach Zeit mit Ihnen verbringen.“
„Sie sind ein Mann, und irgendwann werden Sie mehr wollen.“
„Meinen Sie?“
„Ja.“ Panik erfasste sie. Noch nie hatte ein Mann sie so irritiert, dass sie jeden Sinn für Logik verlor. Chase Westmoreland war sehr selbstbewusst und überaus männlich. Das war eine gefährliche Kombination, die ihr Angst machte.
Chase wollte Jessica nicht anlügen. Natürlich würde er irgendwann mehr wollen. Er blickte auf die Tüte mit dem Essen. „Lassen Sie es sich schmecken“, sagte er und fragte dann übergangslos: „Wie wäre es mit Kino morgen Abend?“
Jessica blinzelte. „Kino?“
„Ja, Kino.“ Seine Stimme klang tief und sinnlich und vibrierte leicht. „Ich hole Sie um sieben Uhr ab.“
Natürlich wusste sie, dass es in ihrer Lage völlig unlogisch war, mit einem Westmoreland auszugehen, aber vielleicht konnte er ihr ja einige Antworten geben. Diese Gelegenheit musste sie nutzen. „Ich würde gern mit Ihnen ins Kino gehen“, sagte sie und griff nach dem Türknopf. „Wenn Sie sonst nichts auf dem Herzen haben, können Sie gerne jetzt gehen.“
Sie schob sich eine Locke aus dem Gesicht und wartete. Ihre Augen trafen sich, und sie spürte, wie ihre Brustspitzen hart wurden. Ob er merkte, wie nervös er sie machte? Der leichte Duft, der von ihm ausging, weckte den Wunsch in ihr, das Gesicht in seine Halsbeuge zu schmiegen und …
Nein! Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, stand er unmittelbar vor ihr, seine Lippen nur wenige Zentimeter von ihren entfernt. Scharf sog sie die Luft ein, als ihr Verlangen sie zu überwältigen drohte.
„Sie spüren es genauso wie ich“, flüsterte Chase. „Fragen Sie mich nicht, was da passiert, ich weiß es nicht. Aber wenn es uns bestimmt war, an diesem Ort, zu dieser Zeit, dann sind wir machtlos dagegen.“
Jessica legte den Kopf zurück. Er irrte sich, bestimmt. Es konnte gar nicht anders sein. Aber als er mit der Fingerspitze über ihre Lippen strich, öffnete sie sie, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Er hatte recht. Sie waren machtlos dagegen, beide. Romantische Verwicklungen wollte sie so wenig wie er, aber sie spürte dieses unbedingte Bedürfnis, ihn zu küssen. Allein der Gedanke daran versetzte sie in Erregung. An der Art, wie er sie ansah, merkte sie, dass er genau wusste, was in ihr vorging.
Diese leidenschaftliche Ader hatte sie noch nie an sich wahrgenommen, und sie wehrte sich mit aller Macht dagegen. Als Anwältin war sie jedem Gegner gewachsen, gab sie nie klein bei, aber diesen Gefühlen, die ganz tief in ihr brodelten, war sie hilflos ausgeliefert.
„Bitte, Jessica. Ich möchte Sie küssen.“
Dieser Stimme, so tief, so heiser, so sexy, konnte sie nichts abschlagen. Sie blickte zu ihm hoch und öffnete leicht den Mund. Im nächsten Augenblick berührten sich ihre Lippen, und Jessica stöhnte auf und gewährte seiner Zunge freien Zugang. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem ganzen Körper, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Dieser Kuss war mehr als körperliche Anziehung und das Stillen purer Lust. Chase war ein Meister des Küssens, und sie wusste, dass er ein ganz wunderbarer Liebhaber wäre … Aber sie hatte nicht vor, je mit ihm zu schlafen. Auf keinen Fall.
Wenn sie sich nur selbst hätte glauben können.
Sie löste sich von ihm. Er musste gehen, und zwar sofort. „Auf Wiedersehen, Chase.“
Er lächelte. „Dann bis morgen Abend.“ Damit war er verschwunden.
Am nächsten Abend, pünktlich um sieben Uhr, öffnete Jessica die Tür. Ihr Puls ging schneller, als Chase vor ihr stand, groß, dunkelhaarig, attraktiv. Er hatte ja keine Ahnung, wie schlecht sie letzte Nacht seinetwegen geschlafen hatte.
„Hallo, Jessica.“
„Möchten Sie noch etwas trinken, bevor wir aufbrechen?“
Sein Blick war an ihrem Mund hängen geblieben, und ein kleiner Schauer durchlief ihren Körper. Warum konnte sie nicht einfach immun gegen seine überwältigende männliche Ausstrahlung sein?
„Nein, danke. Aber vielleicht hätten Sie einen Ihrer köstlichen Schokoladenkekse für mich übrig?“
Jessica musste lächeln. Er erinnerte sie an einen kleinen Jungen, der in die Spielzeugabteilung eines Kaufhauses geraten war. „Ja, natürlich. Ich habe Ihnen ohnehin schon welche eingepackt.“
Das freute ihn ganz offensichtlich. „Wirklich?“
Jessica lachte. „Ja, wirklich. Wollen wir gehen?“
„Wie sieht es aus? Haben Sie noch Hunger? Wollen wir noch etwas essen gehen?“
Jessica sah zu Chase auf, als sie das Kino verließen. „Soll das ein Scherz sein? Ich habe den größten Teil des Popcorns und mindestens zwei Hot Dogs gegessen, ganz zu schweigen von dem riesigen Drink und den Gummibärchen.“
Chase nahm ihre Hand. „Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich mache mir nicht viel aus diesem Zeug.“
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Wer kümmert sich eigentlich um die Speisekarte von Chase’s Place?“
„Meistens ich. Aber Kevin redet natürlich auch ein Wörtchen mit.“
„Und wer ist Kevin?
„Mein Koch. Wenn er frei hat oder in Urlaub ist, koche ich selbst. Außer uns beiden kennt keiner die alten Familienrezepte. Und er hat sich vertraglich verpflichten müssen, sie niemandem zu verraten. Das ist meinem Großvater vor vielen Jahren nämlich passiert. Er hatte seinem Partner zu sehr vertraut, und der hat ihn dann übel hintergangen.“
Jessica schluckte. Sie kannte die Geschichte von der anderen Seite. Jetzt wollte sie Chases Version hören. „Was ist denn passiert?“
„Mein Großvater und Carlton Graham waren Partner. Graham hat gekocht, und mein Großvater hat sich um die geschäftlichen Dinge gekümmert. Sie haben jahrelang wunderbar zusammengearbeitet, aber dann gab es irgendeinen Streit, und sie trennten sich. Ein paar Wochen später fand mein Großvater heraus, dass sein Partner einige seiner besten Rezepte an einen Konkurrenten verkauft hatte. Mein Großvater hat das nie verwunden. Die Rezepte werden seit Generationen in unserer Familie weitergereicht und sind praktisch ein Staatsgeheimnis.“
Jessica musste an sich halten, um sich nicht zu verraten. „Aber woher wusste Ihr Großvater, dass dieser Mr. Graham der Dieb war?“, wollte sie wissen.
„Sonst kannte niemand die Rezepte“, erwiderte Chase und öffnete ihr die Autotür. „Das Rezeptbuch wurde im Safe aufbewahrt, und außer Graham hatte niemand Zugang dazu.“
Natürlich gab er unter diesen Umständen ihrem Großvater die Schuld. Jessica setzte sich in seinen Sportwagen. „Und was ist mit den anderen Mitarbeitern?“
Chase hob die Schultern. „Soweit ich mich erinnere, gab es nur noch zwei Mitarbeiterinnen, Miss Paula und Miss Darcy. Sie haben im Lokal bedient. Keine von ihnen kannte die Rezepte. Sie hatten ja nichts mit der Küche zu tun.“
Jessica beschloss, es für heute gut sein zu lassen, damit Chase nicht noch misstrauisch wurde. Am liebsten hätte sie ihm gestanden, dass sie Carlton Grahams Enkelin war, aber das wäre bestimmt ein Fehler gewesen. Zuerst musste sie beweisen können, dass ihr Großvater unschuldig war.
Chase ging ums Auto herum und setzte sich neben sie. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Haben Sie jetzt eigentlich Hunger oder nicht?“, wollte er wissen.
„Nein.“ Jessica schüttelte den Kopf. „Aber wenn Sie wollen, können wir gern unterwegs anhalten, damit Sie sich etwas zu essen kaufen können.“
„Da habe ich eine viel bessere Idee“, meinte Chase lächelnd. „Was halten Sie davon, wenn wir zu Ihnen fahren? Schokoladenkekse und ein Glas kalte Milch wären jetzt genau das Richtige für mich.“
Jessica bezweifelte, ob das wirklich eine gute Idee war. Andererseits hatten sie sich ja vorgenommen, einander besser kennenzulernen. Einiges hatte sie heute auch schon über ihn erfahren. Am Montag würde sie dann Mrs. Stewart auf die zwei Frauen ansprechen, die damals als Bedienungen im Restaurant gearbeitet hatten. Vielleicht wussten die beiden ja auch etwas, das ihr weiterhalf.
„Nach diesem schönen Abend bin ich es Ihnen wohl schuldig, Sie mit etwas Süßem zu verwöhnen“, meinte sie.
Chase lächelte breiter, als er den Motor anließ. „Ja, so könnte man es sehen.“
„Sie selbst können wahrscheinlich gar nicht beurteilen, wie köstlich diese Plätzchen schmecken.“
„Das sagen Sie bestimmt häufiger.“ Jessica freute sich trotzdem über das Kompliment.
„Im Gegenteil. Die meisten Frauen, mit denen ich bisher ausgegangen bin, hatten keine Ahnung vom Kochen oder Backen. Das hat wahrscheinlich ihr Interesse an mir gesteigert. Wenn ich sonst nichts zu bieten hatte, konnte ich sie wenigstens anständig satt machen. Das ist nicht zu unterschätzen.“
Jessica lachte. Wenn Chases Lächeln nur nicht diese Wirkung auf sie hätte. Seit einer Stunde war er jetzt schon bei ihr, und während dieser Zeit hatte er ihr viel von seiner Familie erzählt. Es war mehr als deutlich geworden, wie sehr er an seinen Brüdern hing, auch wenn er ihr einreden wollte, dass sie ihm im Grunde lästig waren. Neben den Brüdern gab es noch seine jüngere Schwester Delaney, von der er durchweg liebevoll sprach. Morgen kam sie mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn aus dem Mittleren Osten zurück, um bei der Taufe von Storms Zwillingsmädchen dabei zu sein. Anschließend wollte die komplette Gesellschaft in Chases Restaurant feiern.
„Die ganze Zeit habe immer nur ich geredet“, meinte Chase irgendwann. „Jetzt sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie mir etwas von sich, Jessica.“
Für einen Augenblick presste sie die Lippen zusammen. Sie musste aufpassen und alles vermeiden, was auf eine Verbindung zwischen ihr und Carlton Graham hinwies. Dann brauchte Chase nur zwei und zwei zusammenzuzählen, um hinter ihr Geheimnis zu kommen.
Sie wollte ihn ja eigentlich nicht anlügen, aber je weniger er wusste, desto besser war es.
„Ich wurde in Kalifornien geboren, genauer gesagt in Sacramento, habe dann ich in Los Angeles die Uni besucht und Rechtswissenschaften studiert.“
„Sie sind Rechtsanwältin?“, fragte Chase überrascht.
„Ja.“ Jessica lächelte. „Ich habe gleich nach dem Examen in einem großen Unternehmen als Firmenanwältin angefangen. Aber über die Jahre stellte sich immer mehr heraus, dass dieser Job nicht das Richtige für mich war. Ich musste Dinge vertreten, die in meinen Augen einfach nicht in Ordnung waren.“
Sie trank einen Schluck Kaffee. „Wenn meine Großmutter nicht gewesen wäre, würde ich wahrscheinlich immer noch als Anwältin arbeiten. Aber sie hat mir so viel Geld hinterlassen, dass ich das Delicious Cravings eröffnen konnte.“
„Und Ihre Eltern?“ Chase biss genüsslich in einen Keks.
„Meine Mutter war alleinerziehend, denn mein Vater hat sie vierzehn Jahre lang mit einem Heiratsversprechen hingehalten. Dann fand sie heraus, dass er bereits eine Familie in Philadelphia hatte.“
„Wie hat er das denn angestellt?“, wollte Chase wissen.
„Das war wohl gar nicht so schwierig.“ Jessica seufzte. „Er war Vertreter und viel unterwegs. Eigentlich lebte er in Philadelphia, aber wenn er in Sacramento war, kam er immer zu uns. Vierzehn Jahre lang hat er dieses Doppelleben geführt, und meine Mutter hat ihm immer geglaubt.“ Sie holte tief Luft. „Ich mochte es nicht, wenn er unerwartet auftauchte. Meine Mutter war dann wie verwandelt, so schwach und verletzlich. Manchmal glaube ich, dass sie ihm hörig war. Sie tat immer alles, was er sagte und schnurrte dazu wie ein Kätzchen. Es war so entwürdigend.“
Chase nickte. Er kannte Jessica zwar erst seit einigen Tagen, aber sie war eindeutig ganz anders als ihre Mutter. Nie würde sie sich von einem Mann in dieser Weise dominieren lassen. Sie hatte aus der Geschichte gelernt. „Wie hat Ihre Mutter schließlich die Wahrheit erfahren?“
Jessica wusste selbst nicht so genau, warum sie ihm das alles erzählte. Aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart seltsam wohl. „Mein Großvater hat es herausbekommen. Er hatte sich immer darüber geärgert, dass mein Vater meine Mutter nicht heiratete, und schließlich fand er, vierzehn Jahre seien genug. Außerdem war er misstrauisch geworden. Deshalb heuerte er einen Privatdetektiv an.“
„Wie hat Ihre Mutter reagiert?“
„Sie war natürlich am Boden zerstört und schämte sich unendlich. Als sie es nicht mehr aushielt, schluckte sie Schlaftabletten.“