Brendas Bekenntnisse - Anita Eklund Lykull - E-Book

Brendas Bekenntnisse E-Book

Anita Eklund Lykull

0,0

Beschreibung

Was, wenn dein Leben eigentlich losgehen könnte, aber du dich noch nicht bereit fühlst? So geht es auch der frischgebackenen Abiturientin Brenda. Eigentlich könnte sie jetzt voll durchstarten, hat aber keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Zudem stotzt sie nicht gerade vor Selbstbewusstsein: In der Schule war sie keine Leuchte, ihre beachtliche Körperfülle entspricht nicht nicht gerade dem gängigen Schönheitsideal und richtigen Sex hatte sie auch noch nie.Eine Reise nach Griechenland ändert alles: Sie schläft mit einem Mann, fühlt sich zum ersten Mal begehrt und beginnt langsam, ihren Körper zu mögen. Wiird Brenda in diesem Sommer herausfinden, was sie vom Leben will?Anita Eklund Lykull erzählt mit viel Witz und Augenzwinkern die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, sich selbst und ihre wahre Leidenschaft zu finden. -

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 322

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anita Eklund Lykull

Brendas Bekenntnisse

Übersezt von Gabriele Haefs

Saga

Brendas Bekenntnisse

 

Übersezt von Gabriele Haefs

 

Titel der Originalausgabe: Blendas Bekännelser

 

Originalsprache: Schwedisch

 

Coverimage/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2007, 2022 Anita Eklund Lykull und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728481950

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Yes, we have no bikini

»Ich glaube, du solltest es lieber bei Heavy is hot versuchen«, sagte die Verkäuferin, die etwa in meinem Alter war. Langsam kaute sie dabei ihr blassrosa Kaugummi. Wickelte es elegant um ihre spitze rote Zunge.

»Du ... du hast also gar nichts Größeres?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Ab und zu konnte ja doch ein Wunder geschehen und dann fand sich ein ganz besonders riesiger, megaweiter Bikini, der mir und meiner Schwergewichtsklasse passte.

»Nö, leider, nix größer als XXL wie gesagt, versuch’s mal bei Heavy is hot, der Laden ist doch gleich hier um die Ecke, in der Querstraße, du weißt schon.« Sie wies vage über ihre Schulter nach hinten. Sah mich mitleidig an, wie dünne, normale Mädchen mich eben ansahen.

»Na gut, ich weiß Bescheid, aber es eilt ja nicht so. Ich bin nächste Woche in London, da werd ich mich mal umsehen«, murmelte ich mit genau der richtigen Gleichgültigkeit.

Ihr könnt mir glauben, diese verlogene Bemerkung hatte ich seeehr lange geübt. Und jetzt floss sie mir wie geschmiert über die Zunge.

»Danke jedenfalls.« Ich drehte mich um. Hätte fast ein Gestell mit minzgrünen bauchnabelfreien Tops zu neunundvierzig neunzig umgerissen. Wenn ich doch nur einmal im Leben bauchfrei gehen könnte. Und so ein niedliches Netzteil tragen.

Nilpferdschwer – so kam ich mir jedenfalls vor – stampfte ich durch die Sonderangebotsabteilung bei H&M. Da wimmelte es nur so von tollen dünnen Sommerkleidern. Von weißen Shorts, die so gut wie gar nichts kosteten. Hier und da blieb ich stehen, gab vor, mir ein Kleidungsstück anzusehen. Und dabei dachte ich: Fuck, warum muss es immer so sein? Heavy is hot: Scheißtantenladen. Die Bikinis da sahen aus wie eine Mischung aus kugelsicheren Westen und Fallschirmen. Ich wollte doch etwas Scharfes. Oder etwas irgendwie Niedliches. Herrgott, so riesengroße Titten hab ich nun auch wieder nicht, jammerte ich in Gedanken.

»Aber was sagst du dann über deinen Hintern? Glaubst du wirklich, für eine wie dich könnte es etwas Niedliches geben? Wo du doch aussiehst wie eine wandelnde Fettbombe«, fauchte ich wütend und mit zusammengepressten Lippen.

Auf dem Weg hinaus ließ ich in der Kosmetikabteilung eine Flasche Shampoo mit Veilchenduft mitgehen. Einen Trost musste ich mir nach dieser Demütigung ja wohl gönnen dürfen.

Auf der Straße atmete ich tief durch, um mein Herz zu beruhigen, denn das schlackerte in meinem Brustkorb hin und her wie ein Affe an seiner Liane. Dann ging ich auf direktem Weg zu McDonald’s und kaufte den schlimmsten Softeisbecher. Während ich noch so auf der Straße stand und die glatte weiße Vanillepampe schlabberte, ging mir auf, dass dieser Mittsommerabend genau wie alle anderen verlaufen würde. Weiß nicht, ob ich allen Ernstes mit einem Wunder gerechnet hatte. Damit, dass eine gute Fee in ihrem in eine Limousine verwandelten Kürbis auftauchte und sagte: »Komm mit mir auf ein Fest!« Ab und zu, ja ehrlich gesagt ziemlich oft, bin ich eine Meisterin des Selbstbetrugs.

Inzwischen war es Viertel vor drei, wie ich am Uhrenladen an der Ecke sah.

EINSAM, EINSAM, TOTAL TRAURIG, BESCHEUERT, FREAK, AUSGESTOSSEN. Vor meinem inneren Auge leuchtete ein rotes Licht. Das hier würde noch ein nationaler Partytag werden, den ich abschreiben könnte. Und ich konnte nur versuchen zu überleben, durchzuhalten.

Das Zentrum kam mir schon verlassen vor. Der eine oder andere hohläugige Tourist irrte zwar noch durch die Gegend und hielt sich an seiner Kamera fest. Aber die Kungsgata, die belebte Kungsgata – das Mekka der Stadt, zu dem alle Shoppingsüchtigen pilgerten – änderte bereits Repertoire und Bühnenbild. Alles ging in die Regie von Straßenmusikern, Tauben und Flaschensuchern über. Gleich, im nächsten Augenblick, würden die Läden schließen.

Ich habe ja immerhin meine beiden Pizzen – eine Margherita und eine Calzone –, die Nicos mir zugesteckt hat, dachte ich aufmunternd. Ich kann heute Abend eine Weile auf dem Balkon sitzen. Essen und es mir gemütlich machen. Papa ein bisschen Wein mopsen. Und das ist doch eigentlich verdammt viel netter, als in einer lauten Kneipe herumzuhängen oder ein Fest mit besoffenen Grölaffen zu besuchen, die ihre Hände nicht bei sich behalten können.

Ha, als ob irgendein Typ dich jemals angesehen hätte! Du wärst doch total dankbar, wenn irgendein besoffener Heini dich auch nur für eine einzige winzige Sekunde angrabschte, gib’s zu!

Na gut, aber ...

In der Straßenbahn nach Hause brüllte ein Kerl mit bekotztem Hemd und wehender Fuselfahne: »Meine Fresse, du brauchst doch mindestens zwei Sitze für dich allein!«

Und ich antwortete, fast schon gewohnheitsmäßig: »Na gut, aber ich kann mir mein Fett weghungern, wann und wenn ich will. Du dagegen kannst nie im Leben hübsch oder nüchtern werden, Blödmann!«

Beim Botanischen Garten stieg ich aus und schleppte mich langsam die Treppen hinauf. Über die Brücke, zu unserer Wohnsiedlung. Göteborgs Blumenperle, the one and only Änggården. Die Gärten dufteten betörend nach Jasmin und Rosen; Hummeln und Bienen schufteten sich den Hintern ab. Die schönen alten, in Pastelltönen angestrichenen Holzhäuser schienen in dem schwülen graubewölkten Nachmittag vor sich hin zu dösen. Nur die eine oder andere Katze machte einen Spaziergang. Joggte über ihre geheimen Wege. Durch und über Zäune und Hecken. Zielbewusst auf eine fast magische Weise.

Das Haus, in dem Papa, Barbro und ich wohnen, liegt am Waldrand. Abgeschieden, aber eben doch mitten im Leben.

Unsere liebe alte Nachbarin saß in einem sommerlichen Blümchenkleid auf ihrer Treppe. Sie schien schwer damit beschäftigt zu sein, einen Blumenkranz zu flechten. Margeriten und Kornblumen lagen auf einer Zeitung verteilt. Ab und zu setzte sie den Kranz versuchsweise auf ihr silbernes Haupt. Murmelte vor sich hin, suchte sorgfältig die nächste Blume aus und flocht ein wenig weiter.

Ich grüßte und sie konnte gerade noch sagen, dass sie mit Kindern und Enkelkindern draußen auf dem Land feiern würde, bevor ich auch schon im Haus verschwunden war. Hatte keine Lust darüber zu reden, was ich an »diesem schönen Mittsommerabend« unternehmen wollte und so weiter und so fort. Schön, aber für wen, wenn man fragen darf?

Für die Erfolgreichen, ist doch klar, fette Brenda. Für die Schönen. Für die, die ins System passen. Der Mittsommerabend war nicht für einen Freak wie mich geschaffen. An sich hatte ich eine katastrophal quälende Erinnerung an gerade diesen Abend. Die Sache war zwar schon eine ganze Weile her, aber die Narbe war noch da. Eine tiefe Scharte in meinem Selbstvertrauen.

Ich wollte diese Narbe nicht einmal in Gedanken streifen, denn dann würde sich der Schmerz einstellen. Der panische Schmerz, der mich dermaßen zerriss, dass ich gleich noch mehr essen musste. ESSEN und noch mehr ESSEN. Kauen und schlucken und dann abermals kauen, das war das Einzige, was half.

Ich zog den staubigen, vertrauten Geruch von Zuhause durch meine Nase ein. Lehnte mich eine Weile mit dem Rücken an die Tür, atmete tief durch. Hatte das Gefühl, gerettet zu sein. Wovor, wusste ich nicht. Als ich mich gefasst hatte, ging ich in die Küche. Mein Lieblingszimmer. Stellte den doppelten Pizzakarton auf die Anrichte und lief dann zum Gästeklo in der Diele.

Lügen, ziemlich kleine, aber wohl kaum Notlügen

Ich konnte gerade noch meine Hose hochziehen, da plärrte das Telefon los. Zuerst wollte ich nicht hingehen, aber dann nahm ich doch den Hörer ab. Es konnte ja um eine ernste Angelegenheit gehen. Dass mein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte oder so. Ich habe einen gut entwickelten Sinn für Katastrophen: Ertrinken, Feuersbrunst, you name it.

»Aber da bist du ja, Brendchen!« Die atemlose, aber trotzdem widerlich tatkräftige Stimme meiner Stiefmutter echote in der schlechten Leitung, die zum gleich im Süden der Stadt gelegenen Ferienhaus führte. Nach einem Gewitter funktioniert das Telefon oft wochenlang nicht. Jetzt musste sie fast schreien, so schwer war sie zu hören. »Schönen Mittsommerabend, was machst du denn eigentlich? Ich habe schon mehrmals angerufen. Stimmt was nicht mit deinem Mobiltelefon, ich hab gestern eine Mitteilung auf deiner Mailbox hinterlassen? Du hattest doch heute um eins Feierabend? Ich hab mir schon ein bisschen Sorgen gemacht.«

»Äh, ich war kurz in der Innenstadt und hab mir einen Bikini gekauft. Pack gerade ein bisschen Kram zusammen«, fiel ich ihr fröhlich ins Wort. »Werd gleich von einem Bekannten abgeholt, ja, von ein paar Mädchen und Jungs, um genau zu sein. Wir fahren nach, äh, Öckerö auf ein Mittsommerfest. Ich werd da übernachten, das findet offenbar in einer alten Schule oder so statt. Gott sei Dank brauch ich ja erst am Sonntag wieder zu arbeiten.«

»Aber wie schööön für dich!«

Sie hörte sich allerdings nicht gerade überzeugt an. Und wäre ich überzeugt gewesen, wenn die Rollen anders verteilt gewesen wären? Bestimmt nicht. Barbro fällt es leicht, andere zu durchschauen. Das hat sie im Laufe der Jahre sehr gut trainieren können.

»Was ist das denn für ein Junge, kennen wir den, Papa und ich?«

Sie erlaubte sich eine vorsichtige Neugier. Der Wille, zu glauben, war offenbar doch sehr stark.

»Na ja, der war auf meiner Schule, nur eine Klasse höher. Er hat eine Art Urlaubsjahr eingelegt. Kalle heißt er. Tauchte neulich einfach so in der Pizzeria auf und dann, na ja, du weißt ja, wie das ist. Gestern hat er angerufen und heute geht’s rund.«

»Das ist ja richtig nett für dich. Ich hatte mir schon ein bisschen Sorgen gemacht, du könntest nichts vorhaben. Wir dachten, du könntest doch herkommen, aber dann wünsche ich dir einfach ein schönes Fest. Willst du etwas sagen, Olav? Brenda geht auf ein Fest, mit einem Jungen!«

Ich hörte, wie sie mit meinem Vater sprach, der sich irgendwo im Hintergrund befand, aber der wollte offenbar nichts sagen. Er wollte nur selten etwas sagen. In wichtigen Fällen begnügt er sich mit Einflüstern.

»Was habt ihr denn vor, du und Papa?« Ich versuchte mich zumindest ein wenig interessiert anzuhören, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir und dem Telefonhörer zuwandte.

»Ach, wir machen nur das Übliche. Pärssons kommen auf einen Heringshappen. Den Rundtanz vor dem Supermarkt wollen wir dieses Jahr überspringen. Sie hat sich wegen einer Hammerzehe operieren lassen. Du weißt, so einen Auswuchs am großen Zeh. Stell dir vor, am Ende konnte sie keinen Schuh mehr anziehen. Und sie musste drei Jahre auf die Operation warten, das ist doch ein Skandal! Die medizinische Versorgung in dieser Stadt! Da fragt man sich doch, was die mit unserem Geld eigentlich anstellen!«

Pärssons, ihre besten Freunde, haben auf dem anderen Ufer der Bucht ein fast identisches Sommerhaus.

»Na gut, dann wünsch ich euch einen wunderschönen Abend«, fiel ich ihr ins Wort. »Es ist ja ausnahmsweise mal gutes Wetter. Ich muss mich beeilen, damit Kalle, hmmm, die ganze Clique, meine ich, nicht zu warten braucht.«

»Wir freuen uns ja so für dich! Vergiss die Blumen nicht, sieben Arten. Aber die brauchst du vielleicht gar nicht mehr, jetzt, wo du einen Kavalier hast.« Sie lachte. Hörte sich glücklich an, als ob ein gewaltiges Problem plötzlich eine göttliche Lösung gefunden hätte.

Als ich aufgelegt hatte, dachte ich: Herrgott, wie leicht ist doch das Lügen. Für mich trennte nur eine spinnwebdünne Haut die Wahrheit von, tja, der Lüge. Lügen hatte ich verdammt früh gelernt und ich muss schon sagen, dass ich inzwischen zu einer ziemlichen Spezialistin geworden bin; außerdem finde ich es ab und zu ziemlich witzig, die Wirklichkeit zu manipulieren.

»Frau Andersson, ich kann beim Turnen nicht mitmachen, ich hab mich am Bein verletzt, das tut schrecklich weh!« – »Ich kann nicht mit zum Kanufahren kommen, meine Oma ist schwer krank, sie muss vielleicht sterben, da kann ich nicht weg.«

So hörte es sich an, als ich jünger war. Jetzt liefere ich schon spektakulärere Erklärungen. Klasse Wort, was, spektakulär (das hab ich von meiner besten Freundin, by the way).

Aber – seht das doch mal so: Wenn mir die Sache mit der Mittsommerparty nicht eingefallen wäre, dann hätte Barbro sich nur Sorgen gemacht. Das tut sie nämlich. Und dann hätte sie sicher herumgenervt, ich müsste zum Sommerhaus kommen. Aber gibt es denn etwas Loserhafteres, als in meinem Alter am Mittsommerabend mit alten Leuten herumzusitzen? Ich hab für uns beide alles einfach leichter gemacht. Und das mit Kalle hätte doch wirklich auch die reine Wahrheit sein können, oder nicht?

Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel in der Diele. Nix. Keine Fettanalyse. Heute, genauer gesagt, heute Abend, wollte ich mir von mir selbst ein wenig freinehmen. Von meiner giftigen Verachtung meiner eigenen Person. »Tausend Dank, Brenda, das ist wirklich zu gütig.«

Auf dem Rückweg in die Küche kam ich am geerbten Schrank im Serviergang vorbei. Ihr wisst nicht, was ein Serviergang ist? Scheißegal, aber das ist so ein kleiner Hohlraum zwischen der Küche und dem übrigen Haus, wo man zum Beispiel einen Schrank stehen hat. Der Schrank, von dem hier die Rede ist, hat irgendwann in einer Apotheke irgendwo in Värmland gestanden, ich glaube, in Karlstad.

Der Vater meiner Stiefmutter hat in der Pillendreherbranche gearbeitet, wie schon vor ihm sein Vater und dessen Vater und so weiter bis zurück zu den alten Heiden. Irgendwann, lange vor meiner Zeit, hat Barbro den Schrank geerbt. Hat die alte Farbe abgebeizt. Hat ihn krachweiß angestrichen. Hat die meisten Schubladen weggezaubert. In die offenen Fächer hat sie Familienfotos gestellt. Und kleinen Erinnerungskram, Schüsselchen und Untersetzer aus dem Werkunterricht, die Ellika, meine Stiefschwester, und ich fabriziert haben. Die Fotos, ja, die sind ihr wichtig. Barbro ist die Familie wichtig. Dass wir eine überaus normale Familie sind, wir vier. Und vermutlich sind wir das ja.

In der Mittelsektion sehen wir das Abiturfoto von Ellika, einunddreißig. Ich meine, jetzt ist sie einunddreißig. Die immer charmante und erfolgreiche Ellika. Gefragte Maklerin. Dann kommt das Hochzeitsbild mit dem hiinreeeeißenden Bräutigam Aron, einem frisch aus dem Ei gepellten Landschaftsarchitekten, und der wuuuunderbaren romantischen Braut Ellika mit weißen Spitzen bis über beide Ohren. Und mit ihren vier Brautjungfern. Dieses Bild ist so verdammt groß, dass Barbro es oben auf den Schrank stellen musste. Zwischen zwei schwere Kerzenleuchter. Das Ganze sieht aus wie ein kleiner Altar. Und das ist es ja auch vielleicht ...

Voller Ekel denke ich daran, wie ich mich damals mit knapper Not an einem Einsatz als Brautjungfer vorbeidrücken konnte (auf die Idee war natürlich meine Stiefmutter gekommen). Ellika wollte das so wenig wie ich, aber ihr blieb ja nichts anderes übrig als mich zu fragen. Ich weiß nicht mehr, welchen Vorwand ich mir aus den Fingern gesogen habe, aber stellt euch mich doch bloß mal in einem eigelben langen Kleid vor (die Hochzeit fand am Karsamstag statt). Tja, die Mädchen, die grinsend neben dem jungen Paar stehen, sind sicher okay. Ich dagegen hätte garantiert ausgesehen wie ein verirrtes Riesenküken mit Akne.

Egal, weiter unten, in altmodischen ovalen Goldrahmen, kommen dann eins-zwei-drei die wunderbaren Ellika-Aron-Töchter, immer nach der neuesten Mode gewandet. Na ja, vielleicht sind sie nicht ganz so toll gelungen, wie ihre Eltern gehofft hatten. Die Gene haben eine kräftige Kernschmelze durchgemacht. Es wäre bestimmt schwer, hässlichere kleine Mädchen zu finden. Vor allem die Zwillinge hätten bei einer »Ausstellung unattraktiver Kinder« große Chancen. Rattenjunge, so nenne ich sie in Gedanken. Die Älteste, sieben im September, ist ein kleiner Widerling. Immer, wirklich immer nervt sie mit meinem Gewicht herum und hat die Lacher auf ihrer Seite.

»Mama findet, dass du einen miesen Charaktääär hast, Brenda. Was ist so ein Charaktääär denn überhaupt?«

»Tja, wenn ich das wüsste, kleine Oda. Sag deiner Mutter, sie kann mich ...« und so weiter und so weiter.

Anstandshalber ist auch der Fettkloß, also ich, auf zwei Pillenschrankfotos vertreten. Meine Stiefmutter, die meistens die Kamera hält, hat es höchst künstlerisch geschafft, mich zur Hälfte hinter einer Hollywoodschaukel beziehungsweise einer größeren Birke zu verstecken.

Aber mein Abiturfoto hat ein professioneller Fotognom gemacht. Da konnte Barbro keine Wunder bewirken. No, Madam, da sitze ich in einem versilberten Rokokosessel (der während der Sitzung bedenklich ächzte) und schwelle in meiner ganzen fetten Pracht mit Doppelkinn und einem Bauch dahin, der aussieht, als ob ich jeden Moment Achtlinge gebären könnte. Meine Füße sind in zwei U-Boote geschoben, die grauenhaft gedrückt haben.

Igitt. Angeekelt schiebe ich das Foto hinter die anderen. Wie üblich wird Barbro es hervorziehen, sowie sie ihre eleganten Füße auf das Parkett gesetzt hat. Sie ist nämlich erschreckend gerecht, meine Stiefmutter. Da hilft kein Mannomann. Warum heißt es übrigens nicht Frauofrau? Typischer Fall von Genderdiskriminierung. Ihr hört schon, dass ich allerlei interessante Wörter kenne. Gender, da habt ihr wieder meine Freundin. Gender bedeutet ganz einfach Geschlecht, aber ihr müsst doch zugeben, dass Gender fetziger klingt.

Man merkt, dass mein Vater Olav, unter Freunden Olle genannt, ein Angelfanatiker ist. Auf dem rechten Bild steht er in Gummistiefeln da und umarmt einen riesengroßen Hecht. Der hat wohl vierzehn Kilo gewogen. Die Pfeife im Mund, ja, nicht im Mund des Hechtes, das sollte ich wohl hinzufügen. Herrgott, gibt es außer meinem Vater heutzutage noch Leute, die Pfeife rauchen? Seine Haare – die inzwischen durch und durch stahlgrauen Haare – sind nach hinten gekämmt. Er hat ein mageres, leicht vom Wind gebeuteltes Aussehen. Olav Ivar Brisling. Feiert im September seinen Sechzigsten, genauer gesagt am fünfzehnten (hat am gleichen Tag Geburtstag wie die junge Rättin Oda, die älteste Enkelin).

Papa macht einen erschöpften Eindruck. Älter als seine Jahre, wenn ihr versteht, was ich meine. Obwohl er ein so stilles Leben führt, als Angestellter in einem Plattenladen in der Klassik-Abteilung. Ich glaube, vor allem bestellt er dabei Platten von nah und fern. Pusselt mit Noten herum. Nur widerwillig benutzt er den Computer, wenn es sich wirklich nicht umgehen lässt. Einmal wurde ihm die Beförderung zum Abteilungsleiter angeboten, aber da hat er natürlich abgelehnt. »Ich hab es gut so, wie es ist.«

Er steht nicht gerade auf Herausforderungen, um das mal so zu sagen. Mein Vater findet es schöner, wenn das Leben seinen langsamen Trott behält.

Am liebsten hört er klassische Musik. Mozart, Mahler und die anderen Typen. Und wie gesagt, er raucht. Er steht gern vor dem Plattenladen auf der Treppe und steckt seine gurgelnde Pfeife an. Wenn man dann noch seine umfassende Briefmarkensammlung, mit der er als Sechsjähriger begonnen hat, und Barbro, Ellika und die kleinen Rättinnen dazunimmt, dann hat man ihn wohl erfasst. Was er eigentlich von mir hält, habe ich nie herausfinden können. Von Aron – Ellikas Mann, ihr wisst schon – hält er nicht viel, aber das sagt er natürlich nicht. In dieser Hinsicht sind wir einer Meinung. Aron ist einfach zu reizend und er trieft einfach dermaßen von Selbstzufriedenheit, dass es nicht mehr gesund sein kann.

Barbro befindet sich in der anderen Hälfte. Des Bilderrahmens, meine ich. Bei Papa, aber eben doch für sich. Barbro arbeitet als »Designerin« im Palmen-Garden-Center gleich vor der Stadt. Sie arbeitet schon so lange da, wie ich mich überhaupt erinnern kann. Meine Stiefmutter ist Autodidaktin. Das ist ein schöneres Wort für »selbst erlernt«. Aber egal, auf dem Foto rammt sie rote Lilien in einen klobigen Betonkrug. Schaut hoch und lächelt sozusagen überrascht in die Kamera. Aber überrascht war sie bestimmt nicht. Barbro hat immer alles unter Kontrolle, das könnt ihr mir glauben.

Ellika und sie sind sich sehr ähnlich – blond, ziemlich groß, superschlank, mit tollem Busen. Sportlich schön, so wie Tennisstars oder Spitzenschwimmerinnen es sind. Kompetenz, frische Luft, ausgeglichene Ernährung und nützliche lange Spaziergänge, das strahlen sie geradezu aus. Aber sie haben auch etwas Stures. Etwas Pitbullmäßiges in ihrer Art, das weniger charmant ist. Außerdem ist Ellika scheißgeizig. Sie zählt die Dreiörestücke. Wenn sie zum Essen einlädt, dann gibt es Räucherhering, den ich hasse. Und höchstens zwei kleine Kartoffeln pro Person. Ich stopfe mich immer voll, bevor ich von zu Hause losfahre. Brenda Amalia Brisling ist keine, die Risiken eingeht. Zumindest nicht beim Essen!

Ab und zu denke ich an die beiden Personen, die auch nicht im kleinsten Pillenregalfach ausgestellt sind. Ellikas Vater und meine Mutter. Sie sind schon früh von der Bildfläche verschwunden, haha. Aber nicht zusammen, das sollte ich wohl hinzufügen.

Ich glaube, ich war vier, vielleicht fünf, als meine Eltern sich offiziell getrennt haben. Aber in Wirklichkeit waren sie schon viel früher ihre eigenen Wege gegangen. Tatsache ist, dass ich kaum Erinnerungen an die Zeit vor Barbro habe. Nein, das stimmt nicht ganz, ich war ziemlich viel bei meiner geliebten Oma, die glücklicherweise – von Alzheimer zerfressen – vor einigen Jahren gestorben ist. Algenblüte in der Birne. Wie es bei Oma zu Hause aussah, daran kann ich mich erinnern. Vor allem daran, wo die Plätzchendosen standen (wenn ich auf den kleinen Küchenhocker stieg, konnte ich sie sehr gut erreichen). Meine Oma war einfach eine geniale Bäckerin. Auf ihrem Grab müsste ein stilisierter Zuckerkuchen stehen.

Meine richtige Mutter und ich haben Kontakt, aber leider nur sporadisch. Sie forscht über Indianer. Genauer gesagt, über die sieben Nationen der Apachen. Sie ist fast immer auf Reisen. Von einer Tagung zur anderen. Ihr Stützpunkt zwischen diesen Ausflügen ist Stockholm. Was Ellikas Vater so treibt, das wissen die Götter. Vielleicht sitzt er im Knast. Auf jeden Fall wird er nie auch nur mit einem Wort erwähnt.

Wie üblich schaute ich in den Kühlschrank. Das mache ich immer, wenn ich nach Hause komme. Der Kühlschrank gibt mir ganz einfach ein Gefühl von Geborgenheit. Dieses kleine Klicken zu hören, mit dem die Tür sich öffnet. Mir im scharfen Licht den Inhalt genau anzusehen. Kühlschränke sind so schön, finde ich. Klinisch, aber trotzdem mit wunderbaren Genüssen gefüllt.

Barbro hatte Joghurt und Magermilch gebunkert, Light-Margarine, grünen Salat, der schon zu welken anfing, der glitschig und braun wurde. Seltsam, wirklich, wie wenig Aufmerksamkeit diesem armen »Kopf« entgegengebracht worden war. Möhren natürlich, Barbro ist auf Möhren fixiert, vielleicht hat sie irgendwo in der Verwandtschaft ein Kaninchen. (Das war gemein, Brenda. – Herrgott, das sollte doch nur ein Witz sein!)

Das Bunkern fand statt, bevor sie und Papa zum Urlaub aufs Land gefahren sind. Barbro weiß, dass ich kein Gemüse mag. Es noch nie gemocht habe. Ja, abgesehen von dem Weißkohlsalat, den mein Arbeitskollege Nicos herbeizaubern kann. Der schmeckt überhaupt nicht nach Gemüse. Das kann Nicos mit irgendeinem Trick verstecken. Bei dem Salat, der in seiner Version einen starken süß-salzig-säuerlichen Geschmack hat, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Er ist einfach perfekt zur Pizza – zu allen sechzig Sorten Pizza. Ja, das stimmt, in der Pizzeria Leonardo, wo ich meine Arbeitstage verbringe, bieten wir wirklich so viele Varianten an (»besser und billiger geht es überhaupt nicht!«). Aber einige ähneln sich wirklich sehr, die Pizzen, meine ich. Der Unterschied besteht nur in ein paar Pilzen oder einer Hand voll Oliven, zwei Scheiben Salami.

Von den sechzig Sorten sind vielleicht sieben, acht als Familienpizzen gedacht. Unsere herrlichen La Maffia, Acapulco, Azteka reichen sicher sogar für eine Großfamilie. Die Großpizzen verkaufen wir freitags und samstags, wenn schulmüde Kinder, erschöpfte Mütter und Väter es sich ein bisschen gemütlich machen wollen. Nicos gibt sich alle Mühe, sie besonders lecker und nahrhaft zu machen. Nicos denkt eben an die Kinder. Man soll ja nicht prahlen, aber mein Kollege ist garantiert der beste Pizzabäcker in der ganzen Stadt. Er stirbt für seine Arbeit. Und er ist total lieb. Auf eine ein bisschen mürrische, geheimnisvolle Weise.

Zusätzlich zu Barbros Gemüsediät, die mich auf bessere Gedanken bringen soll, liegen immer allerlei grellbunte Broschüren von den Weight Watchers hinten beim Weingestell und rufen ununterbrochen: »DIÄT, DIÄT, DIÄT, halt jetzt endlich Diät, Brenda. Sonst ist der Teufel los!«

Die Weight Watchers sind – in meinen Augen jedenfalls – eine Terrororganisation. Überlegt doch mal, wie viel Kohle die einsacken. Die »Watchers« laufen von allen amerikanischen Unternehmen am besten, habe ich gelesen. Irgendwo sitzt ein Superkapitalist – der es garantiert mit Onkel Dagobert aufnehmen kann – und zieht an den Strippen. Unser schlechtes Gewissen, unsere Komplexe bescheren ihm ein Milliardenvermögen. Während wir Schwergewichte leiden, uns schämen, weinen, den Kopf einziehen, abends schwarze Selbstmordgedanken hegen, lässt dieser Drecksack sich kopfüber in sein vieles Geld fallen – das könnt ihr mir glauben. Falls es überhaupt ein Er ist.

Barbro hofft und glaubt, dass ich eines Tages – simsalabim – meinen Lebensstil ändern werde. Wie durch ein Wunder werde ich erkennen, was gut für mich ist. Werde mit dem Lebensmittelmissbrauch aufhören. Mit meiner Fettsucht. Meinem ganz allein zusammengekauten Fettbauch. Die arme Barbro. In meinen einsamen Wochen hier habe ich mich natürlich nicht mit ihrem hoffnungsvollen schlanken Ernährungsmodell begnügt. Natürlich habe ich das gekauft, was ich wirklich gern esse. Ich komme auf dem Weg von der Arbeit an einem ganz hervorragenden kleinen Lebensmittelladen vorbei. Der hat ungeahnte Köstlichkeiten in der Gefriertruhe und in den Regalen. Und hier rede ich nicht von Möhren, damit das mal klar ist.

Jetzt ließ ich genießerisch meine Blicke durch den Kühlschrank schweifen. Gleich im untersten Fach lag ein fettes und glänzendes Stück Camembert und wartete nur auf mich. Daneben stand ein Liter Schlagsahne. Der Laden hatte ein Sonderangebot an Schlagsahne und da hatte ich natürlich zugeschlagen. Muss mir eine ansprechende Verwendungsmethode überlegen. Im Gefrierfach herrschte kein Mangel an Pommes, Würstchen, Hamburgern. Ich meide das Risiko, wie gesagt.

»Hello, darling! Come to Mama«, murmelte ich dem Käse zu. »Jetzt wollen wir einen leidenschaftlichen Moment miteinander verbringen. Das ist sicher die einzige Leidenschaft, auf die du dir Hoffnungen machen kannst, fette Brenda!«

Ich wollte mir gerade mit diesem köstlichen Stück einen Toast machen – wie seltsam, dass etwas so Leckeres wie ein goldglänzender kalorienschwerer Käse aus einer schnöden Kuh kommen kann –, da klingelte natürlich schon wieder das Telefon.

Einen Moment überlegte ich, ob es meine Stiefmutter sein könnte, die die Geschichte von Kalle & Co überprüfen wollte. Warum hatte ich mich übrigens für einen so normalen Namen entschieden? Ich hätte doch Pierre sagen können oder Castor oder Jupiter, wo ich schon mal dabei war.

Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihr »Heringshappen«, von dem sie vorhin geredet hatte, viel mehr Arbeit in der Küche machen würde. Barbro war sicher bis über beide Ohren damit beschäftigt, alle möglichen Mittsommernachtsgerichte herbeizuzaubern.

Also musste es sich bei der Anruferin um Lizzie handeln, meine beste Freundin. Meine einzige Freundin. Andere riefen nur selten an. Wenn wir von meiner Stiefschwester absehen. Ellika meldete sich immer, wenn sie irgendein teures Möbelstück gekauft hatte. Oder wenn sie eine neue Sprosse der Karriereleiter erklommen hatte, was mit überraschender Geschwindigkeit passierte.

Ich dachte ganz kurz nach, sollte ich hingehen? Das Ellika-Risiko war sicher nicht sehr groß. Bestimmt war sie mit ihrem feschen, aber einwandfrei o-beinigen Mann segeln gegangen, nicht zu vergessen mit den – Rattenkindern.

»Ja, hallo, hier ist Brenda ...«

Eine Nonne kommt selten allein

Gott sei Dank war es wirklich Lizzie. Sie und ich hatten uns vor Ewigkeiten kennen gelernt, als wir in »Tante Gudruns Ballettschule« angemeldet worden waren. Barbro hatte gelesen, dass durch das Tanzen kleine – und bereits beunruhigend fette – sechsjährige Mädchen zu schlanken Gazellen werden könnten. Aber da lag sie absolut falsch. Ich entwickelte Muskeln und sah noch breiter aus. Eine kleine Sumoringerin in hellblauem Tüll. Lizzie dagegen war wie geschaffen für die wunderbare Welt des Balletts. Groß, dünn wie ein Regenwurm, mit eleganten Armen und Beinen.

Wir kannten uns nicht von Anfang an, wurden aber sehr schnell unzertrennlich, wie es heißt. Dabei half natürlich auch, dass wir nicht weit voneinander entfernt wohnten. Ich kann mich seit dem Augenblick an sie erinnern, als sie mich davor rettete, in der erniedrigenden Rolle des »Trollvaters« (wir hatten nicht genug Jungen) in Tante Gudruns selbst gemachtem Kinderballett »Abenteuer im tiefen Wald« tanzen oder genauer gesagt über die Bühne trampeln zu müssen. Lizzie richtete ihre hell-hellbraunen, ein wenig schräg stehenden Augen auf Tante Gudrun und hauchte: »Kapierst du nicht, dass sie das nicht will! Brenda will doch die Elfe Federleicht tanzen, Mensch!«

Und endlich begriff Tante Gudrun. Mit schlecht verhohlenem Widerwillen überließ sie mir die graziöse Rolle, die sie für einen ihrer Lieblinge reserviert hatte. Es gehört zu der Sache dazu, dass meine Freundin – als Rache für diese Frechheit – dazu verurteilt wurde, eine schüchterne Waldmaus darzustellen, die sich meistens unter einer zwei Meter hohen, schlecht designten Anemone aus weißem Kunststoff verstecken musste. Aber da wir es lustig fanden, zusammen umherzuwuseln, erweiterten wir die Choreographie während der Vorstellung. Dachten uns neue Schritte und Drehungen aus. Und ich trug ein selbst komponiertes Liedchen vor.

Ich habe nämlich immer schon gern gesungen. Eigentlich ist das bisher so ungefähr das Einzige, was ich gern tue, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Singen und essen. Essen und singen. Die absoluten Höhepunkte des Lebens.

»Hallo, ich bin’s. Wie steht’s?«, fragte Lizzie kurz. Keine redet so kanonenschnell wie sie. Viele Leute verstehen nicht, was sie sagt, aber ich habe lange Übung. Mein Gehirn kann sozusagen hinzufügen, wo etwas fehlt.

»Wie es steht, tja, ich weiß nicht: leicht verzweifelt, möchte ich meinen. Ich finde wie immer keinen Bikini. Mein alter geht nicht mehr«, jammerte ich. »Da sieht man den Hintern. Weiß wie eine Riesenschneebeere leuchtet der durch die verschlissenen Fäden. Sie, die Frau im Laden, hat gesagt, ich sollte zu Heavy is fucking hot gehen, aber dieses Drecksloch soll machen, was es will. Da bade ich lieber nackt und die Leute trifft der Schlag. Und ich bezahle dann die Strafe für Erregung öffentlichen Ärgernisses.«

»Hmmm, ich kann ja einen für dich nähen. So schwer kann das doch nicht sein. Ich schneide ihn nach deinem alten zu. Und den BH beziehen wir neu oder so. Also, keine Panik, dieses Problemchen kriegen wir in den Griff, Brenda.«

Wie immer war Lizzie die pure Optimistin. Bisher war ihr nichts so recht gelungen, was sie für mich genäht hatte. Meine Freundin ist nicht gerade ein Nähgenie. Aber diesmal könnte es doch vielleicht ... Ich ging dankbar auf ihren Vorschlag ein.

»Klasse, aber glaubst du wirklich, du schaffst das? Und wann kommst du eigentlich wieder?«

Lizzie hatte einen Ferienjob in einem christlichen Sommerlager bei Varberg. So eine Freizeit, die ihre Kirche (also der Pastor) für Leute arrangiert hatte, die nächstes Jahr konfirmiert werden sollten. Vorbereitendes göttliches Training.

»Du, ich hab vor, mir am Freitag freizunehmen. Hier ist alles zum Kotzen ungerecht. Melker, der sozusagen verantwortlich sein soll – der kleine Arsch –, verpennt jedes Frühstück. Kater, natürlich. Die andere Frau und ich müssen die ganze Zeit wie die Sklavinnen schuften, wirklich die ganze Zeit. Aber als vorige Woche Elterntag war, wer stand da frisch gewaschen und gescheitelt da und lächelte wie ein Honigkuchenpferd? Reißt alles Ansehen an sich? Melker! Manchmal verabscheue ich die ganze Männergesellschaft, Brenda. Mein Entschluss steht fest. Ich will Nonne werden. Jetzt weiß ich es ganz sicher.« Diese Sätze, ohne Atempause, sprudelten aus Lizzies großem, aber wie ich zugeben muss, hübschem Mund.

Mit dem Nonnenkram hatte sie während unserer Freundschaft schon früh angefangen. Hier und da tauchte er im Gespräch auf und einmal hatte sie sogar in einem Kloster angerufen und sich erkundigt. Vermutlich hatte sie dort ihr Praktikum machen wollen, aber dabei kam nichts heraus. Das war, als ihr jüngster Bruder geboren wurde. Aber egal, jedenfalls bricht mir der kalte Schweiß aus, wenn sie sich über die Wonnen des Klosterlebens verbreitet. Es half auch nie, wenn ich zum Gegenangriff überging: »Aber Lizzie, diese Mädels streiten sich bestimmt auch. Mobben sich gegenseitig, da bin ich mir total sicher. Von Eifersucht wollen wir gar nicht mal reden. Glaub bloß nicht, dass die alle in trauter Eintracht leben oder wie das heißt. Hast du nicht gelesen, dass ein Hahn dreihundert Hennen in gute Laune versetzen kann? Orte mit nur einem Geschlecht sind einfach nicht gut!« – »Hennen?! Du hörst zu sehr auf böse Zungen, Brenda«, knurrte sie und dann redete sie über irgendein Buch, das sie gerade gelesen hatte.

Diesmal ignorierte ich die Nonnengefahr. Ging unmerklich über zu meinem Job. Ich sagte, dass ich versuchen wollte mir nach dem Mittagessen freizunehmen. Der Besitzer des Leonardo (und von neun anderen in der ganzen Innenstadt verteilten Pizzapalästen) könnte sicher eine Vertretung aus dem Ärmel schütteln. Er hatte immer Verwandte, die sich etwas dazuverdienen wollten. Diesmal würde ich einen Besuch bei der Frauenärztin vorschützen. Auf der Schule hatte ich ab und zu eine Pilzinfektion angegeben, wenn ich schwänzen wollte – im vergangenen Herbst. Im Frühjahrshalbjahr hatte ich mich zusammengerissen. Spürte, dass bald alles ein für alle Mal zu Ende sein würde, yeah. Brenda Brisling gehört zu den Einwohnerinnen des Landes Schweden, die sich nie und nimmer auf einem Klassentreffen sehen lassen werden. Ich habe vor, dieses ganze triste Kapitel meines Lebens zu vergessen.

»Okay, dann bin ich so gegen halb zwei bei dir.«

»Aber du, wir haben doch keine Nähmaschine. Die hat voriges Jahr den Geist aufgegeben und ich glaube nicht, dass Barbro sie zur Reparatur gebracht hat.«

»Ja, hm, alles klar, aber zu Hause herrscht so ein Chaos«, sagte sie ohne Atem zu holen. »Meine Mutter hat den Sommer über doppelt so viele Kinder bei sich. Wie immer erbarmt sie sich der großen Geschwister ihrer Tageskinder. Ich werde bei dir alles zuschneiden und stecken, nähen kann ich dann ja abends zu Hause, wenn die Lage sich beruhigt hat. Jetzt muss ich aber los. Muss das Programm für heute Abend vorbereiten. Oi, da ist offenbar gerade jemand hingefallen. Alvar, hallo, Alvar, im Medizinschrank liegen große Pflaster, ich bin gleich bei euch.«

Im Hintergrund waren wütendes Geschrei und Lizzies beruhigende Schnatterstimme zu hören.

»Okay, ich hol dich am Bahnhof ab, wenn ich es schaffe.«

»Hmmm. Was hast du heute Abend vor, Brenda?«

Plötzlich verlangsamte sie auf Normalgeschwindigkeit. Ich hörte ihren Atem vom anderen Ende der Leitung her.

»Nichts Besonders. Zuerst esse ich ein dickes Butterbrot. Später werde ich zwei Pizzen genießen. Und ich glaube, danach sehe ich mir das Cats-Video an. Oder vielleicht Das Phantom der Oper. Vermutlich beide, wenn ich nicht vorher einschlafe. Ich singe sicher ein wenig, wie immer, ich spiele ... du weißt schon.«

»Oookay.« Sie hörte sich an, ja, wie hörte sie sich an? Nachdenklich, aber nicht mitleidig. Das ist das Gute an meiner Freundin. Ihr Mangel an Mitleid. Das Leidtun-Syndrom, an dem meine Stiefmutter so sehr leidet – das tut weh. Richtig weh.

Mein Vorrat an Musicalvideos ist inzwischen ziemlich umfassend. Ich habe auch allerlei alte Raritäten finden können. Papa hatte zum Beispiel eine Originalaufnahme von Jesus Christ Superstar aus den sechziger Jahren. Er hat heimlich bei der ersten Vorstellung im Scandinavium mitgedreht. Einmal, als er in guter Laune war, ich glaube, er hatte gerade ein Wettangeln gewonnen, konnte ich sie ihm abschwatzen.

»Aber dann hast du ja ein volles Programm!«

Bei Lizzie hörte sich das an wie ganz normale Beschäftigungen an einem Mittsommerabend.

»Sicher, ich singe und esse abwechselnd. Die Oma von nebenan ist nicht da. Da kann ich so laut sein, wie ich will. Und du weißt ja, ich habe große stimmliche Reserven.«

Viel zu große, dachte ich. Meine Stimme war daran schuld, dass ich während der ganzen Schulzeit an keiner gesanglichen Aktivität hatte teilnehmen dürfen. Lucia-Umzug, Abschlussfest, Schulbasare und alles andere war mir versagt geblieben. Ein Kind, das sich so komisch anhört, das eine so dunkle Stimme hat, darf nicht mitmachen. Das ist doch klar. Später waren es vor allem die anderen Mädchen, die meine Art zu singen hassten, meinen fetten Körper.

»Ich könnte davon durchaus was brauchen, von deiner Stimme, meine ich, heute Abend. Würstchengrillen, Lagerfeuer und lustige Lieder.«

Lizzie hörte sich plötzlich düster an. Sagte etwas davon, dass »Mr Melker Faultiersohn« für das Programm zuständig sei. Das mache ihm Spaß. Aber spülen oder eine Runde Spaghetti kochen oder den Boden wischen, nix, das gehe natürlich nicht.

»Wenn wir doch nur die Stimmbänder teilen könnten, hehe, du weißt doch, dass ich gern ...«

Lizzie ist die Einzige, die meine Gesangsstimme wirklich gehört hat. So wie die jetzt klingt, wenn ich wage aus voller Kehle zu singen. Sie ist auch die Einzige, die mich im Bikini gesehen hat. Wenn man die engste, gegen Katastrophen immune Familie beiseite lässt. Meistens bade ich allein. Spätabends, wenn niemand meine fetten weißen Oberschenkel und die Rettungsringe um meinen Bauch anglotzt. Wenn niemand meine Schande sieht. Denn eine Schande ist es.

»Okay, jetzt muss ich wirklich los. Du, Brenda, ich besorg den Stoff für den Bikini. Was sagst du zu Rot? Du hast Rot doch gern und wir können ja auch gleich richtig zuschlagen.«

»Danke, das wird sicher toll. Ich hoffe, du überlebst den Rundgesang!«

Viel später. Viel, viel später, als ich die Pizza gegessen, einige Gläser traurigen Wein getrunken, als ich am Klavier gesessen und mich heiser gesungen hatte, ging ich die Treppe hoch. Durch das große Schlafzimmer und hinaus auf den Balkon. Die Nacht war klar. Die Düfte so stark, so überwältigend nah. Man hätte die Hand ausstrecken, sie berühren können.

Eine Gruppe Mädchen und Jungen feierte zwei, drei Gärten weiter. Sie lachten und kreischten. Eng verschlungene Paare tanzten auf dem winzigen Balkon. Gläser klirrten. Ich glaubte den Duft von Krabben, von Dill, von Erdbeeren wahrzunehmen. Ich erlebte den Duft von Mittsommer. Dem Mittsommer der anderen.

Sommernacht. Die längste Nacht. So grausam, so voller Süße und Sehnsucht.

»Schau jetzt hin, Dicke«, murmelte ich streng mir selbst zu. »Die da hinten sind die ›richtigen‹ jungen Leute. Du bist nur ein hoffnungsloser Witz, Brenda. Ein fetter Clown, den kein Mensch auf der Welt lieben oder auch nur gern haben kann. Du kannst kaum tanzen. Du keuchst und schwitzt beim geringsten Anlass. Du kannst nur große, hässliche, formlose Klamotten tragen. Kleider, die für Walrösser genäht worden sind. Du bist nichts. Du wirst niemals etwas werden. Niemand braucht dich.«

Aber ich habe doch immerhin schöne Haare! Dunkel und halblang mit roten Strähnen. Meine Haare erinnern an die meiner richtigen Mutter, das ist doch wohl nicht so schlecht! Und meine Nase ist hübsch und gerade und meine Zähne sind wirklich weiß und ganz gerade. Ich hab tatsächlich nicht ein einziges Loch!

Als Antwort auf die hasserfüllte Stimme, die meine Gedanken übertönt, versuche ich auf meine Augen hinzuweisen, schwimmbeckenblau, die sehen ja auch nicht so schlecht aus. Das hat sogar Ellika, wenn auch ungern, zugegeben.

Aber als ob das reichen würde! Du würdest sicher allen einen Gefallen tun, wenn du verschwinden könntest, sauber und still und unbemerkt!

Ich hielt mir die Ohren zu. Wollte meiner gemeinen inneren Stimme nicht zuhören, die höhnisch diese ganzen Worte ausspuckte. Ich rannte nach unten in die Küche und fischte mir ein Magnum aus der Tiefkühltruhe. Das beruhigte mich.