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Nicht nur in künstlerischer, sondern auch in praktischer Hinsicht war der Austausch Thomas Manns mit dem österreichischen Dramatiker Arthur Schnitzler fruchtbar – entstand daraus doch der Kontakt zu dem Herausgeber der New Yorker Zeitschrift The Dial, wo Mann zwischen 1922 und 1928 insgesamt acht ›German Letters‹ veröffentlichte. Ein Auftrag, der sich auch in Anbetracht der in Deutschland grassierenden Inflation als besonders vorteilhaft erwies. Der vierte Brief, verfasst im September 1923 in München, erschien in der Januarausgabe 1924 und wurde – gemeinsam mit den anderen Briefen – erst 1974 vollständig auch in deutscher Sprache veröffentlicht. Inhaltlich basiert er auf verschiedenen anderen Texten aus jener Zeit, so übernahm Mann unter anderem Passagen aus ›Die Schweiz im Spiegel‹ und aus seiner im April 1922 entstandenen Rezension der Whitman-Übersetzung von Hans Reisiger.
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Seitenzahl: 20
Thomas Mann
Briefe aus Deutschland [IV]
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
München, September 1923.
Jakob Wassermann, dem amerikanischen Publikum bekannt, zum Mindesten durch seinen »Christian Wahnschaffe«, der ein Film war, bevor man diesen daraus machte, und der dabei ein ganz außerordentliches Buch geblieben ist, Produkt einer tief ernsthaften Virtuosität, wie sie auf der ganzen Welt nicht häufig, vielleicht heute einzig dastehend ist, – Wassermann also hat einen neuen Roman veroeffentlicht: »Ulrike Woytich«, ein Glied des »Wendekreis«-Cyklus, dessen Name und Ausmaße für den planenden Ehrgeiz dieses fruchtbaren Schriftstellers charakteristisch sind, ein Werk, hergestellt wiederum mit den imposanten Mitteln einer sozialkritisch, moralistisch und religiös geweihten Fertigkeit, von der man sagen kann, daß sie nicht immer sehr lebensvoll, aber immer im höchsten Grade unterhaltend und künstlerisch fesselnd ist.
»Vielleicht zu keiner Zeit«, sagt der Dichter in einem Vorwort, »sind Menschen so wissend und zugleich so ahnungslos, so zweckbeladen und so entherzt, so von Täuschungen umgittert und ohne Stern den Lebensweg entlang gerast wie die zwei oder drei Generationen dieses halben Jahrhunderts [von 1870 bis 1920]. Es ist, als stürmten sie mit Anspannung aller Nerven- und Geisteskraft, in erbittertem Wettlauf steil gegen einen Gipfel hinauf, und oben, von der wütenden Bewegung weitergetrieben, obgleich sie den tötlichen Abgrund vor den Füßen erblicken, gibt es kein Halten mehr: die Vordersten schaudern noch, die entfesselte Menge hinter ihnen hört nicht einmal den Angst- und Warnungsschrei, und alles stürzt in die Tiefe.« – Diese Worte, so kennzeichnend für den gravitätisch-eindrucksvollen Stil des Verfassers, umschreiben Inhalt und {707}Gegenstand des Romans, dessen Handlung sehr wirkungsvoll mit dem Brande des Wiener Ringtheaters i. J. 1881 einsetzt und vierzig Jahre füllt, – oder vielmehr nicht füllt, sondern nach einer Auslassung von Jahrzehnten, nach dem Kriege, dem mitteleuropäischen Umsturz, wieder einsetzt, sodaß sie, um des Verfassers eigenes Gleichnis zu gebrauchen, einen zweigeteilten Spiegel bildet, worin die Heldin mit ihrem Schicksal, ihrer Zeit und Welt sich dem Beschauer zeigt: »im einen Spiegelteil die Jugend, im anderen unvermittelt und ohne Zwischenbilder das Alter«.