Briefe aus Italien - Karel Čapek - E-Book

Briefe aus Italien E-Book

Karel Čapek

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Beschreibung

Wenn Karel Čapek nach Italien fährt, dann nicht in erster Linie auf touristischen Pfaden. Er wandert ohne Plan, ohne vorgefasste Meinungen. Da ihm aber "alles des Anschauens wert ist", erschließen sich ihm Dinge und Menschen wie von selbst, und abseits der gebahnten Wege entdeckt er manches atemberaubend Schöne, Liebliche und Großartige. So nahe wie möglich an die Dinge herantreten, "alles wenigstens mit dem Finger berühren, mit der Hand über die ganze Welt fahren" – das ist seine Art des Reisens. So sieht er im Kleinen das Große und neben dem Erhabenen das Komische. In Venedig ist er nicht bereit, in Stürme der Begeisterung auszubrechen; in Ravenna erinnern ihn die Faschisten in ihren Uniformen an Schornsteinfeger; und in Florenz betrachtet er statt den Kunstwerken die Fremden, die mehr oder weniger andächtig durch die Museen pilgern. Doch Čapek ist der Kunst gegenüber weder ein Verächter noch ein Unwissender, sondern ein Eingeweihter. Und so vermittelt dieser Band manche Einsicht, die auch hundert Jahre später noch Bestand hat.

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Seitenzahl: 97

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www.lenos.ch

Karel Čapek

Briefe aus Italien

Aus dem Tschechischen

von Erika Sangerberg

Bearbeitet von Christoph Blum

Lenos Verlag

Der Autor

Karel Čapek (1890–1938) war einer der wichtigsten tschechischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Romane (u. a. Der Krieg mit den Molchen), Dramen (u. a. R. U. R.), Erzählungen, Essays, Reiseberichte und Kinderbücher. In seinen Werken warnte er wiederholt vor totalitären Regimen und übermächtigen Industriekonzernen. Zu seinen Ehren vergibt der tschechische P. E. N.-Club seit 1994 alle zwei Jahre den Karel-Čapek-Preis.

Der Verlag erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung der Rechte an der deutschen Übersetzung bereit, falls diese nachgewiesen werden können.

Titel der tschechischen Originalausgabe:

Italské listy

erschienen 1923 in der Edice Aventinum, Prag

Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel

Was mir in Italien gefiel und nicht gefiel

1961 im Gebrüder Weiss Verlag, Berlin-Schöneberg.

E-Book-Ausgabe 2024

Copyright © 2024 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration: Karel Čapek

eISBN 978 3 03925 714 0

Inhalt

Zur Einleitung

Venedig

Padua, Ferrara

Ravenna, San Marino

Florenz

Siena, Orvieto

Rom

Das neapolitanische Volk

Palermo

Von Palermo nach Taormina

In Gottes Hand

Unterirdische Städte

Die Antike

Aus Rom

Süsses Umbrien

Die Toskana

Genua und Mailand

Das Meer

Verona

Die Kirchen

Bozen

Paralipomena

Anmerkungen

Zur Einleitung

Bevor ich abfuhr, schickten mir gute Freunde dicke Bände über die italienische Geschichte, das alte Rom, die Kunst überhaupt und über andere Dinge, mit dem eindringlichen Rat, das alles durchzulesen. Zum Unglück tat ich es nicht; die Folge meiner Nachlässigkeit ist dieses Büchlein.

Man tut gewöhnlich etwas anderes, als man will. Ich wollte überhaupt nicht reisen, und trotzdem bin ich wie ein Irrer umhergereist, mit allen denkbaren Vehikeln und am meisten zu Fuss, und als ich am Afrikanischen Meer* stand, wollte ich auch nach Afrika fahren; nichts wollte ich schreiben, und doch habe ich dieses ganze Büchlein vollgeschrieben, dazu schreibe ich noch ein Vorwort, in dem ich schnell alles notieren möchte, was ich im folgenden leider vergessen habe: über die florentinische Baukunst zum Beispiel, über die verschiedenen Weinsorten und die mannigfachen Arten, die Rebe zu binden, hauptsächlich aber über den Wein von Orvieto, über Tintoretto, über die Vorstädte, die ich aus besonderem Interesse überall durchstreift habe, wo ich auch war, über die Tempel von Paestum, die von weitem wie Trockenhallen aussehen, aus der Nähe aber dorisch sind, über die Schönheit der Römerinnen, die gleichfalls sehr kräftige und mächtige Figuren haben, über die Nachtigallen in Fara in Sabina, über die Besonderheiten des Eselsgeschreis, über Bonannos und Barisanos Türen in Monreale und über eine grosse Menge anderer Dinge und Erscheinungen; nun aber ist es zu spät, all dessen zu gedenken.

So wanderte ich nicht nur ohne jederlei nützliche Kenntnisse, sondern auch ohne Plan; ich bahnte mir den Weg mit dem Finger auf der Landkarte, oft nur verleitet von einem hübschen Namen oder davon, dass in die betreffende Richtung der Zug erst um zehn Uhr vormittags abfuhr und ich also nicht früh aufzustehen brauchte; da sich jedoch nach Hegel der absolute Geist im Laufe der Welt verwirklicht, führten mich diese Zufälle und Launen durch eine wunderbare Fügung an fast alle Orte, die man im gesegneten Italien »sehen muss«.

Doch auf dieser Welt soll man alles sehen; alles ist des Anschauens wert, jede Gasse und jeder Mensch, alles Armselige und Berühmte. Nichts gibt es, was nicht Interesse und Anblick verdiente. Gern trieb ich mich in Gegenden herum, in denen der Baedeker keine Sehenswürdigkeit mit * auszeichnet, und ich habe nicht einen einzigen Schritt bereut, überall, wo es nur ging, bin ich hineingekrochen, und sei es braven Leuten in den Korridor; manchmal schaute ich auf die berühmtesten Denkmäler, manchmal nur auf die Kinder, alte Grossmütter, auf menschliche Not und Freude, auf die Tiere oder den Leuten in die Fenster. Als ich aber aufschreiben wollte, was ich gesehen hatte, da scheute ich mich ein wenig, von so unscheinbaren Dingen zu erzählen, oder tat ich es aus Eitelkeit oder persönlicher Manie – kurzum, zu guter Letzt schrieb ich hauptsächlich nur über die verschiedenen berühmten Erinnerungsstätten. Deshalb setze ich nun zur Einleitung eine

Warnung

an alle, die dieses Büchlein lesen werden, damit sie es weder für einen Führer noch für eine Reisebeschreibung oder einen Cicerone halten, sondern für was immer sie wollen; damit sie sich, wenn sie selbst irgendwohin reisen, ausser auf den Fahrplan nur auf ihren guten Stern verlassen, der alle Reisenden begleitet und ihnen mehr zeigt, als überhaupt geschrieben und erzählt werden kann.

*Anmerkungen zu ausgewählten Namen und Begriffen am Ende des Buches

Venedig

I

Wenn das, was folgt, ein wenig verworren und unübersichtlich wird, kann ich nichts dafür; denn ich selbst habe nicht ins reine gebracht, was ich sah. Es ist ein bisschen viel; in Ordnung bringe ich es erst nachträglich, und zwar indem ich alles wieder vergesse; aber jetzt kann ich es nur einigermassen in zwei Fächer einordnen, unter zwei summarische Titel: was mir gefiel und was mir nicht gefiel.

I. Was gefiel mir nicht? 1. Zunächst einmal die Tschechoslowakei, denn deren Grenzbeamte nahmen mir mein Akkreditiv an die italienische Bank weg und stellten mich freundlicherweise vor die Wahl, entweder nach Hause zurückzukehren oder ohne Geld nach Italien zu fahren. Ich bin ein Dickkopf; so bin ich auf gut Glück ohne Akkreditiv weitergefahren und habe die Republik, das alte Österreich und den kahlköpfigen Herrn an der Grenze verflucht. 2. Ausserdem gefiel mir Wien nicht, denn für ein Abendessen, sagen wir, dreissigtausend zu bezahlen ist mathematisch gesehen dumm; ansonsten ist es eine tote Stadt, und die Menschen sind einigermassen bedrückt. 3. Die fürchterliche Menge Touristen hier in Venedig. Die Deutschen tragen grösstenteils Rucksäcke oder Lodenbekleidung, die Engländer Fotoapparate, die Amerikaner erkennt man an ihren Schultern und die Tschechen daran, dass sie fast wie die Deutschen aussehen und auffallend laut reden, vielleicht deshalb, weil bei uns die Luft dünner ist. 4. San Marco. Das ist keine Architektur, das ist ein Orchestrion; man sucht den Schlitz, wo man die Münze einwirft, damit die ganze Maschinerie mit O Venezia loslegt. Den Schlitz habe ich nicht gefunden, infolgedessen spielte das Orchestrion nicht. 5. Die Frischvermählten überhaupt, ohne Angabe von Gründen. 6. Die Venezianerinnen, denn es sind Russinnen. Eine, schwarz wie der Teufel, aaläugig, in einem traditionellen Tuch mit Fransen bis zu den Ellenbogen und einem Kamm im Haarknoten, der reinste venezianische Typ, den ich gerade noch bewundert hatte, sagte zu ihrem Kavalier: »Da, da, jasnyi moi«; und ich war um eine Illusion ärmer. – Mindestens ein Dutzend Dinge könnte ich aufzählen, die mir nicht gefielen, aber ich eile lieber – von Freude beflügelt – zu dem,

II. was mir gefiel. 1. Vor allem und vielleicht am meisten der Schlafwagen, eine herrliche Schlafmaschine voll hübscher Messinghebel, Drücker, Knöpfe, Schalter, Klinken und sonstiger Apparate. Wenn man darauf drückt oder daran zieht, gibt es gleich irgendeinen Schlafkomfort, eine Erfindung oder eine Errungenschaft. Die ganze Nacht vergnügte ich mich damit, an allem herumzufingern, zu drücken oder zu ziehen; manchmal, bei gewissen Kleiderhaken zum Beispiel, ergebnislos, offenbar infolge meiner Ungeschicklichkeit. Vielleicht kann man damit paradiesische Träume oder sonst etwas hervorrufen. 2. Die italienischen Gendarmen gleich von der Grenze an. Sie gehen immer zu zweit, an der Krempe haben sie eine flammende Bombe aufgestickt und auf den Köpfen Schiffe, wie sie früher die Gymnasialprofessoren trugen, nur haben sie sie quer aufgesetzt. Sie sind über alle Massen sympathisch und lächerlich, und sie erinnern mich immerfort – ich weiss nicht, warum – an die Gebrüder Čapek. 3. Die venezianischen Gässchen, wenn es keine Kanäle oder Paläste darin gibt. Sie verlaufen so kompliziert, dass sie bis heute noch nicht alle erforscht sind; manche hat vielleicht noch nie eines Menschen Fuss betreten. Die besseren sind einen ganzen Meter breit und so lang, dass in ihnen eine Katze selbst mit Schwanz Platz hat. Es ist ein Labyrinth, in dem vollends die Vergangenheit umherirrt und nirgends hinauskann. Ich, der ich mich meines Orientierungssinns rühme, wanderte gestern zwei Stunden lang im Kreise herum. Vom Markusplatz ging ich zum Rialto, das sind gut zehn Minuten; nach zwei Stunden landete ich endlich wieder auf dem Markusplatz. Diese venezianischen Gassen erinnern mich lebhaft an den Orient, vermutlich deshalb, weil ich niemals im Orient gewesen bin, oder an das Mittelalter, ungefähr aus dem gleichen Grunde. Doch auf Carpaccios Bildern sieht Venedig haargenau wie heute aus, nur ohne Touristen. 4. Überaus angenehm ist es, dass es hier nicht ein einziges Auto gibt, nicht einmal ein Fahrrad oder eine Droschke, ein Fuhrwerk oder einen Leiterwagen, dafür aber 5. sehr viele Katzen, mehr als Tauben beim heiligen Markus, riesige, geheimnisvolle, helläugige Katzen, die aus den Hauseingängen ironisch auf die Touristen blicken und des Nachts in einem merkwürdigen Alt heulen. 6. Hübsch sind die königlich italienischen Matrosen, kleine blaue Buben, und hübsch sind die Kriegsschiffe, überhaupt die Schiffe: Segelschiffe, Dampfer, Barken mit safrangelben Segeln, graue Torpedoboote mit schönen Kanonen, stämmige Transporter; jedes Schiff ist schön und verdient einen weiblichen Namen. Deshalb wollte ich vielleicht auch als Junge Matrose werden, und erst heute auf dem Lido verfolgte ich ein schwindendes weisses Segelboot, das irgendwohin gen Osten fuhr, und diese weissen Segel lockten mich weit weg, unendlich mehr als dieses weisse Papier, auf dem ich ohnehin kein Neuland entdecke.

II

Ich möchte nicht viel über Venedig schreiben; ich glaube, jeder kennt es. Es ist tatsächlich sämtlichen souvenirs de Venise störend ähnlich; als ich zum erstenmal auf dem Markusplatz stand, war ich völlig verwirrt und konnte mich lange nicht von dem beklemmenden Eindruck befreien, dass all dies gar nicht wirklich, dass es ein Lunapark sei, in dem Eine Nacht in Venedig gegeben werden sollte. Ich wartete nur darauf, dass Gitarren zu girren anfingen und der Gondoliere sänge wie Herr Schütz. Aber zum Glück schwieg der Gondoliere geheimnisvoll und nahm mich schliesslich auf unchristliche Art aus, indem er mir mit irgendeinem Tarif vor den Augen herumfuchtelte. Nun, dieser Mann war unbestreitbar echt und ungeschminkt.

Dafür wird euch vielleicht der Canal Grande enttäuschen. Manche Leute fabeln von der Pracht seiner Paläste und andere wieder von deren melancholischem Sterben; ich fand hier hauptsächlich eine recht schlechte Gotik, die den venezianischen Nobiles nur das berühmte »steinerne Spitzenwerk« gebracht hat, mit dem sie ihre Fassaden wie mit einem Vorhemdchen bekleideten. Leider fehlt mir der Sinn für diese architektonische Posamenterie und diese ganze Trödelbude Alt-Venedig. Hierher ist dauernd etwas eingeführt worden: griechische Säulen, Zimt aus dem Orient, Perserteppiche, byzantinische Einflüsse, Brokat, Gotik, Renaissance; alles kam den Händlern recht, wenn es nur prunkvoll war. Schaut euch doch diese venezianische Renaissance an, die mir nichts, dir nichts gleich mit der korinthischen Ordnung beginnt, mit Balustraden, Marmorbalkons und dieser ganzen pompösen Stukkatur. Hier hat man sich nichts ausgedacht, abgesehen von der offenen Loggia in der Mitte der Vorderfront, was zwar hübsch ist, jedoch für eine gute Architektur recht wenig. Ein einziges Talent hat Venedig, und das ist, barock zu werden. Sein Orientalismus, seine dekorative Gotik, seine schwere Renaissance, das alles bestimmte es von vornherein dazu, die barockste Stadt unseres Planeten zu werden; aber als das eigentliche Barock kam, lag Venedig bereits mit dem Kinn nach oben, wenn ich mich nicht in der Geschichte täusche.

Jetzt weiss ich auch, warum ich über die Schönheit Venedigs so herfalle. Venedig legt nur Wert auf Kirchen und Paläste; das Haus des einfachen Mannes sieht nach rein