Krakatit - Karel Čapek - E-Book

Krakatit E-Book

Karel Čapek

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur Der Chemiker Prokop erfindet einen Sprengstoff: das Krakatit, dessen Zerstörungskraft alles bis dahin Gesehene weit übertrifft. Bei einem Laborunfall wird er schwer verletzt, nun dämmert er vor sich hin, Erinnerungen und Visionen fließen ineinander.

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Karel Čapek

Krakatit 

Inhaltsverzeichnis
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Impressum

1

Gegen Abend verdichtete sich der Nebel des naßkalten Tages. Es war, als bahnte man sich einen Weg durch eine schüttere, feuchte Masse, die sich unaufhaltsam gleich wieder hinter einem schloß. Man hätte daheim sein mögen, daheim bei der Lampe in seinen vier Wänden.

Nie hatte sich Prokop so verlassen gefühlt. Mühevoll tappte er den Weg am Ufer entlang. Ihn fröstelte, seine Stirn war feucht vom Schweiß der Schwäche. Er hätte sich gern auf die nasse Bank gesetzt, aber er fürchtete die Polizei. Er hatte das Gefühl, daß er taumelte; bei der Altstädter Mühle wich ihm jemand in weitem Bogen aus wie einem Betrunkenen. Er nahm jetzt seine ganze Kraft zusammen, um aufrecht zu gehen. Da kam ihm ein Mann entgegen, den Hut tief ins Gesicht gedrückt und den Kragen hochgeschlagen. Prokop biß die Zähne zusammen, runzelte die Stirn und spannte alle Muskeln, um unbehindert vorbeizukommen. Aber knapp einen Schritt vor dem Passanten wurde ihm schwarz vor den Augen, mit einemmal begann sich alles um ihn zu drehen. Er sah plötzlich nahe, ganz nahe ein Paar Augen vor sich, die ihn durchbohrend anstarrten. Er stieß gegen eine Schulter, murmelte etwas wie »Verzeihung« und ging mit krampfhafter Würde weiter. Nach einigen Schritten blieb er stehen und sah sich um.

Der Mann stand immer noch da und blickte ihm nach; vor lauter Neugier streckte er sogar den Kopf aus dem Kragen wie eine Schildkröte. Mag er schauen, dachte Prokop beunruhigt, ich sehe mich nicht mehr nach ihm um. Er ging, so gut er konnte, weiter. Da hörte er Schritte hinter sich. Der Mann mit dem aufgestellten Kragen kam näher. Er schien zu laufen. Da floh Prokop in panischer Angst.

Wieder begann sich alles um ihn zu drehen. Schwer atmend und zähneklappernd lehnte er sich gegen einen Baum und schloß die Augen. Er fühlte sich sehr elend und fürchtete zusammenzubrechen; sein Herz würde bersten und Blut aus seinem Munde strömen. Als er die Augen wieder öffnete, erblickte er dicht vor sich den Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen.

»Sind Sie nicht der Ingenieur Prokop?« fragte der Mann offenbar schon zum zweiten Male.

»Ich . . . ich war nicht dort«, versuchte Prokop abzuleugnen.

»Wo?« fragte der Mann.

»Dort«, sagte Prokop und wies mit dem Kopf gegen Strahow. »Was wollen Sie von mir?«

»Kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin Tomesch. Tomesch von der Technischen Hochschule, erinnerst du dich nicht?«

»Tomesch«, wiederholte Prokop; der Name war ihm jetzt völlig gleichgültig. »Ach ja, Tomesch, richtig. Und was – was wollen Sie von mir?«

Der Mann mit dem aufgestellten Kragen faßte Prokop unter. »Jetzt setzest du dich einmal hin, verstanden?«

»Gut«, sagte Prokop und ließ sich zu einer Bank führen. »Ich wollte eigentlich . . . mir ist sehr elend.« Er zeigte seine Hand; sie war mit einem schmutzigen Lappen verbunden. »Verletzt, wissen Sie? Verdammte Sache!«

»Hör mich an, Prokop«, sagte der Mann. »Du hast Fieber, du mußt ins Krankenhaus. Dir ist elend, das merkt man. Aber versuch doch wenigstens, dich an mich zu erinnern. Ich bin Tomesch. Wir haben gemeinsam Chemie studiert. Erinnerst du dich noch?«

»Ach ja«, sagte Prokop matt, »Tomesch, der Halunke! Was ist mit ihm?«

»Nichts«, sagte Tomesch. »Er spricht mit dir. Du mußt ins Bett, hörst du? Wo wohnst du?«

»Dort«, sagte Prokop mühsam und wies mit dem Kopf irgendwohin. Er versuchte, sich aufzurichten. »Ich will nicht! Gehen Sie nicht hin! Dort ist – dort –«

»Was ist dort?«

»Krakatit«, flüsterte Prokop geheimnisvoll.

»Was ist das?«

»Nichts. Ich sag's nicht. Niemand darf hin, sonst – sonst –«

»Was sonst?«

»Fft, päng!« machte Prokop und warf die Hand hoch.

»Was ist das?«

»Krakatoe. Kra-ka-tau. Ein Vu-Vulkan. Mir hat's fast . . . den Daumen weggerissen. Ich weiß nicht, was es . . .« Prokop stutzte. »Eine ganz gefährliche Sache«, setzte er langsam hinzu.

Tomesch blickte aufmerksam, als erwarte er noch etwas. »Du befaßt dich also immer noch mit Sprengstoffen?« fragte er nach einer Weile.

»Ja.«

»Mit Erfolg?«

Prokop gab etwas wie ein Lachen von sich. »Das möchtest du gern wissen! Ist nicht so einfach, mein Freund – nein, nein, nicht so einfach«, wiederholte er und bewegte wie trunken den Kopf. »Stell dir vor, es ist von selbst – ganz von selbst –«

»Was?«

»Kra-ka-tit. Krakatit. Krakatit. Ganz von selbst – ich ließ bloß ein Stäubchen davon zurück. Das übrige hab' ich in – in eine Dose getan. Es blieb – blieb bloß ein winziges Stäubchen auf – auf dem Tisch und – plötzlich –«

». . . ist es explodiert.«

»Ja, ein Hauch von einem Pülverchen, das ich verschüttet hatte. Man sah es kaum. Da war eine Glühlampe – ganz weit entfernt. Aber die war's nicht. Und ich – im Lehnstuhl, wie ein Stück Holz. Abgespannt – weißt du. Überarbeitet. Plötzlich . . . bums! Ich flog auf die Erde. Es riß die Fensterstöcke heraus – die Glühbirne war dahin. Detonation wie – wie bei einer Lydditpatrone. Furchtfurchtbare Brisanz. Ich – ich dachte zuerst, die por-ponz-, die porzenale, ponzelare . . . wie heißt das Zeug, Sie wissen doch, das Weiße, Isolator, wie heißt es nur, das Alu-mini-umsilikat?«

»Porzellan.«

»Die Dose. Ich dachte, die Dose ist explodiert mit allem, was drin war; aber sie stand noch da, völlig unbeschädigt. Ich starrte darauf – bis mir das Streichholz die Finger verbrannte. Nur fort über die Felder – durch die Finsternis. Irgendwo fiel mir dann das Wort ein: Krakatoe. Krakatit. Kra-ka-tit. Nein, nein, was rede ich denn, so war's ja gar nicht. Als es explodierte, riß es mich zu Boden, und ich schrie: Krakatit, Krakatit! Dann habe ich's wieder vergessen. Wer ist da? Wer sind Sie?«

»Kollege Tomesch.«

»Tomesch, aha, der Lausebengel! Hat sich immer die Kolleghefte ausgeborgt. Ein Chemieheft hat er mir nicht mehr zurückgegeben. Tomesch – wie hieß er noch?«

»Georg.«

»Richtig, Georg! Du bist Georg, ja. Georg Tomesch. Wo hast du mein Heft? Warte, hör zu! Wenn das übrige auch noch in die Luft fliegt, dann wird's arg. Dann legt's die ganze Stadt in Trümmer, fegt sie weg, bläst sie fort, fft! Wenn die Porzellandose in die Luft geht, verstehst du?«

»Was für eine Dose?«

»Du bist Georg Tomesch, ich weiß schon. Geh und sieh zu, wie es explodiert. Lauf, lauf schnell!«

»Warum denn?«

»Ich habe einen Zentner davon hergestellt, einen ganzen Zentner Krakatit. Nein, nein – nur fünfzehn Dekagramm – bei mir oben – in der Por-Por-zel-landose. Wenn die explodiert! Aber das ist unmöglich, ist ja Unsinn«, murmelte Prokop und faßte sich an den Kopf.

»Was ist damit?«

»Warum – warum ist es nicht auch in der Dose explodiert? Das Stäubchen ist doch – von selbst . . . Aha, auf dem Tisch war Zink – Zinkblech, richtig . . . Aber wieso ist es auf dem Tisch explodiert? War-te – sei – still«, sagte Prokop abgehackt und erhob sich taumelnd.

»Was ist dir?«

»Krakatit«, lallte Prokop, drehte sich mit dem ganzen Körper und sackte zusammen.

2

Als Prokop zu sich kam, fühlte er, daß sich alles mit ratterndem Gepolter um ihn drehte und jemand ihn fest um die Hüften hielt. Er fürchtete sich davor, die Augen aufzumachen; er glaubte, alles müsse über ihm zusammenstürzen. Da es nicht nachließ, hob er ein wenig die Lider und sah ein mattes Viereck vor sich, durch das nebelhafte Lichtkugeln und -streifen hereinglitten. Er vermochte sich das nicht zu erklären; verwirrt blickte er auf die verschwimmenden und hüpfenden Irrlichter und ergab sich geduldig in alles, was mit ihm noch geschehen würde. Dann begriff er, daß dieser hartnäckige Lärm von Wagenrädern herrührte und daß es Laternenlichter waren, die draußen im Nebel vorüberglitten. Ermüdet von dem vielen Schauen, schloß er die Augen wieder und ließ sich forttragen.

»Du wirst dich niederlegen«, sagte eine Stimme leise über seinem Kopf, »ein Aspirin nehmen, und dann wird dir besser werden.«

»Wer spricht da?« fragte Prokop schläfrig.

»Tomesch. Du legst dich bei mir nieder, Prokop. Du hast Fieber. Wo fühlst du Schmerzen?«

»Überall. Der Kopf dreht sich mir wie – na, du weißt schon . . .«

»Bleib nur ruhig. Ich mache dir Tee, und dann wirst du schlafen. Das kommt von der Aufregung, eine Art Nervenfieber. Morgen ist es vorbei.«

Prokop zog die Stirn kraus vor angestrengtem Nachdenken. »Ich weiß«, sagte er nach einer Weile besorgt, »aber jemand sollte doch die Dose ins Wasser werfen, damit sie nicht explodiert.«

»Sei unbesorgt. Und sprich jetzt nicht!«

». . . Vielleicht könnte ich mich aufsetzen. Bin ich dir nicht zu schwer?«

»Nein, bleib nur!«

»– Hast du mein Chemieheft noch?« entsann sich Prokop wieder.

»Ja, du bekommst es. Aber jetzt Ruhe, verstanden!«

»Ich habe so einen schweren Kopf . . .«

Die Droschke polterte die Gerstengasse hinauf. Tomesch pfiff leise vor sich hin und sah durchs Fenster hinaus. Prokop atmete schwer und stöhnte leise. Der Nebel legte sich feucht auf die Gehsteige und drang mit seiner glitschigen Nässe bis unter die Mäntel; es war öde und spät.

»Gleich sind wir da!« sagte Tomesch laut. Die Droschke rollte nun etwas schneller über einen Platz und bog nach rechts ein. »Kannst du ein paar Schritte tun, Prokop? Ich helfe dir.«

Mit Mühe schleppte Tomesch seinen Gast in den zweiten Stock hinauf. Prokop fühlte sich so leicht, als wäre er gewichtlos, und ließ sich fast die Treppe hinauf tragen. Tomesch trocknete sich schwer atmend die Stirn.

»Ich bin wie eine Feder, nicht wahr?« fragte Prokop verwundert.

»Ja, genau so!« brummte Tomesch erschöpft, während er die Wohnung aufschloß.

Prokop kam sich wie ein kleines Kind vor, als Tomesch ihn entkleidete. »Meine Mutter«, begann er zu plaudern, »als meine Mutter . . . aber das ist schon lange her, der Vater saß am Tisch, und die Mutter trug mich zu Bett, stell dir das vor!«

Dann lag er im Bett, bis ans Kinn zugedeckt, klapperte mit den Zähnen und sah zu, wie sich Tomesch beim Ofen zu schaffen machte und rasch einheizte. Er war den Tränen nahe vor Rührung, Trauer und Schwäche und schwatzte in einem fort; erst als er einen kalten Umschlag auf die Stirn bekam, beruhigte er sich. Dann blickte er sich still im Zimmer um; es roch nach Tabak und Frauen.

»Du bist ein Lump, Tomesch!« begann er ernsthaft. »Immer hast du was mit Weibern.«

Tomesch drehte sich nach ihm um. »Na und?«

»Nichts. Was treibst du eigentlich?«

Tomesch winkte ab. »Ein Hundeleben, mein Lieber. Kein Geld!«

»Du bummelst.«

Tomesch schüttelte nur den Kopf.

»Schade um dich«, meinte Prokop voller Sorge. »Du könntest . . . Schau mich an, ich arbeite schon seit zwölf Jahren.«

»Und was hast du davon?« wandte Tomesch schroff ein.

»Hie und da doch was. Dieses Jahr habe ich Nitrodextrin verkauft.«

»Wie teuer?«

»Zehntausend. Dabei ist das doch gar nichts! Eine Dummheit, ein blödsinniges Knallpulver für Bergwerke. Aber wenn ich wollte –«

»Fühlst du dich schon besser?«

»Viel besser. Ich habe Methoden erfunden! Ein Cernitrat – das ist eine Sache! Und Chlor, Chlor, tetragrädigen Chlorstickstoff, der sich am bloßen Licht entzündet. Knipst eine Glühbirne an und . . . fft, päng! Aber das ist alles noch nichts.« Er streckte jäh seine abgezehrte, furchtbar verstümmelte Hand unter der Decke hervor. »Wenn ich was in die Hand nehme, dann – fühle ich die Atome rumoren wie in einem Ameisenhaufen. Jede Materie kribbelt anders, verstehst du?«

»Nein.«

»Das ist die Kraft – in der Materie. Die Materie ist von unvorstellbarer Kraft. Und ich . . . ich taste es förmlich, wie es drin wimmelt. Eine fantastische Energie hält alles zusammen. Sobald man es im Innern lockert, spaltet es sich auf – und bums! Alles ist Explosion. Jeder Gedanke ist eine Erschütterung im Gehirn. Wenn du mir die Hand reichst, fühle ich, wie etwas in dir explodiert. Einen solchen Tastsinn habe ich! Und ein Gehör! Überall braust es . . . wie ein Brausepulver, lauter winzige Explosionen. Es dröhnt mir im Kopf . . . ratatata . . .«

»So«, sagte Tomesch, »und jetzt schluck das Aspirin.«

»Ja. Ex-explosiv-Aspirin. Perchlorides Acetylsalizylacid. Das ist gar nichts! Ich habe exothermische Explosivstoffe gefunden. Jeder Stoff hat seine eigene Sprengkraft. Wasser . . . Wasser ist ein Sprengstoff. Erde, Luft – sind Sprengstoffe. Die Federn hier im Federbett sind Sprengstoffe. Vorläufig hat das alles nur theoretische Bedeutung. Ich habe Atomexplosionen ausgelöst, habe – habe eine Alphaexplosion herbeigeführt. Es zerfällt in Plus-Elektronen. Keine Thermochemie. De-struk-tion. Destruktive Chemie. Eine ungeheure Sache, Tomesch, rein wissenschaftlich! Ich habe Tabellen zu Hause . . . Wenn ich nur Apparate hätte! Ihr würdet staunen! Aber so habe ich nur meine Augen . . . meine Hände . . . Du wirst dich wundern, wenn ich's einmal niederschreibe!«

»Willst du jetzt nicht schlafen?«

»Ja. Ich bin – heute – so müde. Was hast du während der ganzen Zeit getrieben?«

»Eigentlich nichts. Dahingelebt.«

»Auch das Leben ist ein Sprengstoff. Der Mensch wird geboren und zerfällt – aus! Und wir glauben, es dauert Jahre. Du, mir scheint, ich – ich bringe da alles durcheinander?«

»Durchaus nicht, Prokop. Vielleicht mache ich wirklich morgen Schluß; wenn ich nämlich kein Geld bekomme. Aber ist ja egal, schlaf jetzt!«

»Wenn du willst – ich leih' dir etwas.«

»Laß nur! Es würde ohnehin nicht reichen. Vielleicht, daß mein Vater . . .« Tomesch machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Siehst du, du hast noch einen Vater!« ließ sich Prokop nach einer Weile mit auffallender Wärme vernehmen.

»Ja. Er ist Arzt in Teinitz.« Tomesch erhob sich und ging im Zimmer auf und nieder. »Mensch, ist das ein Elend, ist das ein Elend! Ich hab's satt. Aber scher dich nicht um mich! Ich werde schon – irgendwas unternehmen. Schlaf jetzt!«

Prokop beruhigte sich. Mit halbgeschlossenen Augen sah er, wie sich Tomesch an den Tisch setzte und in Papieren kramte. Es tat ihm wohl, dem Knistern des Papiers und dem stillen Flackern des Feuers im Ofen zu lauschen. Der Mann saß, über den Tisch gebeugt, den Kopf in die Hand gestützt und atmete kaum. Prokop war es, als sehe er vom Bett aus seinen älteren Bruder, seinen Bruder Josef, wie er Elektrotechnik aus einem Buch lernt, weil er morgen die Prüfung ablegen soll. Und Prokop verfiel in fieberhaften Schlaf.

3

Ihm war, als hörte er den surrenden Lärm unzähliger Räder. »Das muß eine Fabrik sein«, dachte er und lief die Treppe hinauf. Da stand er vor einer großen Tür, an der auf einer Glastafel: Plinius zu lesen war. Er freute sich ungemein und trat ein. »Ist Herr Plinius zugegen?« fragte er ein Tippfräulein. »Er kommt gleich«, sagte das Fräulein. Da trat ein großer, glattrasierter Herr im Cutaway und mit riesigen Brillengläsern vor den Augen auf ihn zu und fragte: »Was wünschen Sie?«

Prokop blickte neugierig in das ungewöhnlich ausdrucksvolle Gesicht des Mannes. Er hatte den Mund eines Engländers, eine zerfurchte Stirn, eine fingernagelgroße Warze auf der Backe und das Kinn eines Filmschauspielers. »Sind – sind – Sie – bitte – Plinius?«

»Ja«, sagte der große Mann und wies mit knapper Geste auf sein Arbeitszimmer.

»Ich bin . . . ich fühle mich . . . ungemein geehrt«, stotterte Prokop und nahm Platz.

»Was wünschen Sie?« unterbrach ihn der hochgewachsene Mann.

»Ich habe die Materie zertrümmert«, erklärte Prokop. Plinius tat nichts dergleichen; er spielte mit einem Stahlschlüssel und schloß die schweren Augenlider hinter den Brillengläsern.

»Das verhält sich nämlich folgendermaßen«, begann Prokop überstürzt. »Al-al-alles zerfällt. Die Materie ist spröde, brüchig. Aber ich bringe es zuwege, daß sie plötzlich zerfällt. Durch Explosion! In kleinste Teile, Moleküle, Atome. Ich habe sogar schon Atome zertrümmert.«

»Schade!« meinte Plinius überlegend.

»Wieso schade?«

»Schade, etwas zu zertrümmern. Auch um ein Atom ist es schade. Und weiter?«

»Ich . . . ich spalte das Atom. Ich weiß, Rutherford hat bereits ähnliches . . . Aber das war nur eine Spielerei mit Strahlungen. Das ist nichts! Es muß im großen geschehen. Wenn Sie wollen, zertrümmere ich eine Tonne Wismut; dabei geht die ga-ganze Welt flöten. Wollen Sie?«

»Warum sollten Sie das tun?«

»Weil es . . . wissenschaftlich interessant ist«, antwortete Prokop verwirrt. »Einen Augenblick, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen . . . Es ist – ko-los-sal interessant.« Er preßte die Hände an die Schläfen. »Ich glaube, mein Kopf zerspringt; auch das wird . . . wissenschaftlich . . . unerhört interessant sein, meinen Sie nicht? Ach ja, jetzt . . .« fuhr er erleichtert fort, »jetzt kann ich's erklären. Dynamit – Dynamit zerreißt bekanntlich die Masse in Stücke, in Brocken, aber Benzoltrioxozonid zermalmt sie zu Pulver. Es verursacht bloß ein kleines Loch, löst aber die Masse in submikroskopische Fragmente auf als Folge der Detonationsgeschwindigkeit. Die Masse hat keine Zeit mehr auszubrechen; sie kann nicht einmal mehr zerbersten. Ich . . . ich habe nun die Detonationsgeschwindigkeit noch wesentlich gesteigert. Argonozonid. Chlorargonoxozonid. Tetrargon. Und immer weiter. Da kann selbst die Luft nicht mehr ausweichen; sie wird so dicht wie – eine Stahlplatte. Zerbirst in Moleküle und so fort. Von einer gewissen Geschwindigkeit an . . . nimmt die Sprengkraft in gewaltigem Maße zu. Sie wächst . . . im Quadrat. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Woher stammt auf einmal diese Energie?« fragte Prokop fiebernd. »Was meinen Sie?«

»Vielleicht ist sie im Atom«, erwiderte Plinius.

»Ja!« rief Prokop begeistert aus und trocknete sich die Stirn. »Das ist der Witz! Einfach im Atom! Es – drückt die Atome ineinander . . . zerrr . . . zerreißt den Beta-Mantel . . . und der Kern muß zerfallen. Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der erste Mensch, der den Koeffizienten der Zusammendrückbarkeit überschritten hat. Ich habe die Atomexplosion entdeckt. Ich . . . ich habe das Tantal aus dem Wismut ausgeschieden. Ahnen Sie überhaupt, was für eine Kraft in einem Gramm Quecksilber enthalten ist? Vierhundertzweiundsechzig Millionen Kilogrammeter. Die Materie ist von einer unvorstellbaren Gewalt. Sie gleicht einem Regiment, das auf der Stelle marschiert: eins, zwei, eins, zwei . . . Aber erteilen Sie den richtigen Befehl, und das Regiment stürmt vor, en avant! Das ist die Explosion. Verstehen Sie mich? Hurra!«

Prokop erschrak über sein eigenes Geschrei. Es dröhnte ihm derart im Kopf, daß er aufhörte, irgend etwas wahrzunehmen. »Verzeihen Sie«, sagte er, um seine Verlegenheit zu verbergen, und suchte mit bebender Hand sein Zigarrenetui. »Rauchen Sie?«

»Nein.«

»Schon die alten Römer haben geraucht«, bemerkte Prokop, seine Zigarrentasche öffnend; es waren lauter schwere Patronen darin. »Bedienen Sie sich«, bot er an, »das ist eine leichte Nobel Extra.« Er biß die Spitze einer Tetryl-Patrone ab und suchte Streichhölzer. »Das ist gar nichts«, sagte er, »aber kennen Sie Explosivglas? Schade! Ich kann Ihnen auch ein Explosivpapier herstellen. Sie schreiben einen Brief, irgendwer wirft ihn ins Feuer, und das ganze Haus fliegt in die Luft. Wollen Sie?«

»Wozu?« fragte Plinius, die Brauen hochziehend.

»Ich weiß nicht. Aber die Kraft muß heraus. Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn Sie an der Zimmerdecke spazierengingen, was wäre der Erfolg? Ich pfeife vor allem auf die Valenztheorie. Alles läßt sich durchführen. Hören Sie, wie es draußen knallt? Das ist das Gras, das wächst: nichts als Explosionen. Jeder Samen ist eine Explosivkapsel, die explodiert. Wie eine Rakete. Und die Dummköpfe glauben, es gebe keine Tautomerie. Ich werde ihnen eine Metropie zeigen, daß ihnen die Haare zu Berge stehen. Alles Laboratoriumserfahrung.«

Prokop fühlte entsetzt, daß er Unsinn schwatzte. Er wollte davon loskommen, redete aber nur immer rascher und brachte schließlich alles durcheinander. Plinius wackelte mit dem Kopf hin und her; dann schaukelte er mit dem ganzen Körper und neigte sich dabei immer tiefer und tiefer. Prokop leierte verwirrt Formeln herunter, die Augen starr auf Plinius gerichtet, der mit wachsender Geschwindigkeit wie eine Maschine hin und her pendelte. Der Fußboden unter ihm begann zu schaukeln und sich zu heben.

»Jetzt hören Sie aber auf, Mensch!« brüllte Prokop entsetzt und erwachte schweißüberströmt. Anstelle von Plinius sah er Tomesch beim Tisch, der, ohne sich umzudrehen, brummte: »Schrei nicht, ich bitte dich.«

»Ich schreie nicht«, sagte Prokop und schloß die Augen. Das Hämmern im Kopf wurde rascher und schmerzhafter.

Ihm schien, als flöge er zum mindesten mit der Geschwindigkeit des Lichtes dahin. Sein Herz krampfte sich zusammen. Das ist nur die Fitzgerald-Lorentz-Kontraktion, sagte er sich; ich muß flach werden wie ein Pfannkuchen. Plötzlich stellten sich ihm riesenhafte Glasprismen entgegen; nein, es waren nur unendliche glattpolierte Flächen, die sich in scharfen Winkeln wie kristallographische Modelle durchdrangen. Er wurde mit schwindelerregender Geschwindigkeit gegen eine scharfe Kante getrieben. »Achtung!« brüllte er sich selber zu, denn in der nächsten tausendstel Sekunde mußte er zerschmettern. Da aber flog er schon wieder mit Blitzeseile in entgegengesetzter Richtung, geradeaus auf die Spitze einer Riesenpyramide zu. Es warf ihn wie einen Lichtstrahl gegen eine glatte Glaswand zurück, er glitt daran ab, sauste in einen scharfen Winkel hinein, bewegte sich zwischen dessen Wänden wie verrückt hin und her, worauf es ihn wieder zurückwarf. Abermals prallte er ab und drohte mit dem Kinn auf eine messerscharfe Kante aufzufallen, doch im letzten Augenblick warf es ihn hoch. Nun zerschmetterte er sich den Schädel an einer Euklidischen Ebene des Unendlichen, stürzte aber gleich darauf kopfüber hinab, hinab in die Finsternis. Ein heftiger Aufprall, ein schmerzhaftes Zucken im ganzen Körper, gleich aber erhob er sich wieder und floh weiter. Er raste durch einen labyrinthischen Gang und hörte hinter sich das Tappen der Verfolger. Der Gang verengte sich, begann sich zu schließen, seine Wände neigten sich in grauenhaft unaufhaltsamer Bewegung zueinander. Er machte sich dünn wie ein Pfriem, hielt den Atem an und raste in panischer Angst weiter, um noch durchzukommen, ehe ihn die Wände zermalmten. Schon schlossen sie sich mit steinernem Anprall hinter ihm, während er längs einer eisigen Wand in einen Abgrund taumelte. Er schlug so heftig auf, daß er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, war schwärzeste Nacht um ihn. Er tastete die glitschigen Steinwände ab und schrie um Hilfe, aber kein Laut entrang sich seinem Munde, so dicht war die Finsternis.

Zitternd vor Angst stolperte er auf der Sohle des Abgrunds weiter. Seitlich ertastete er einen Gang und stürzte hinein. Es waren eigentlich Treppen; in unendlicher Ferne blinkte eine schmale Öffnung wie in einem Schacht. Er lief die unzähligen, gefährlich steilen Stufen hinan. Aber oben war nur eine winzige Plattform aus dünnem Blech, die über einer schwindelhaften Tiefe klirrte und schwankte. Von dort führte eine endlose Wendeltreppe aus Eisenplatten hinab. Da hörte er schon das Keuchen seiner Verfolger hinter sich. Dem Wahnsinn nahe vor Entsetzen, sprang er die Stufen der Wendeltreppe hinunter, und hinter ihm stampfte und polterte die Schar der Feinde. Plötzlich endete die Treppe wie abgeschnitten im leeren Raum. Prokop schrie auf, breitete die Arme aus und stürzte wirbelnd ins Bodenlose. Sein Kopf dröhnte zum Zerspringen, er sah und hörte nichts mehr. Mit Füßen, die nicht von der Stelle kamen, lief er ins Ungewisse, getrieben von einem furchtbaren blinden Zwang, irgendwohin zu gelangen, ehe es zu spät war. Immer rascher lief er durch einen endlosen gewölbten Korridor, ab und zu an einem Semaphor vorbeikommend, an dem jedesmal eine höhere Zahl aufleuchtete: 17,18,19. Da begriff er, daß er im Kreise rannte und die Ziffern die Anzahl seiner Runden anzeigten: 40, 41, 42. Da befiel ihn unerträgliches Grauen, er könnte zu spät kommen und nie mehr von hier hinausgelangen. Er lief jetzt mit so rasender Geschwindigkeit, daß der Semaphor vorbeiflitzte wie eine Telegrafenstange hinter einem Schnellzugfenster; schneller, immer schneller! Nun zählte der Semaphor mit Blitzesschnelle nur noch Tausende, Zehntausende von Runden; aber nirgends war ein Ausweg aus diesem Gang. Der Gang war scheinbar gerade und aus glänzendem Metall, und doch kehrte er im Kreise zurück. Prokop schluchzte verzweifelt auf. Das war der Einsteinsche Kosmos, und er mußte darin umkommen! Da ertönte ein markerschütternder Schrei; Prokop hielt starr vor Schrecken inne: das war die Stimme des Vaters. Er begann noch schneller zu laufen, der Semaphor verschwand, Finsternis breitete sich aus. Prokop tastete die Wände entlang und fühlte eine verschlossene Tür, hinter der er verzweifeltes Stöhnen und das Gepolter umstürzender Möbel vernahm. Brüllend vor Angst bohrte Prokop seine Fingernägel in die Tür ein, kratzte und splitterte daran, riß Span um Span heraus, bis er dahinter die vertraute Treppe fand, die er noch als Knabe täglich nach Hause gegangen war. Der Vater oben war am Ersticken, jemand würgte ihn und zerrte ihn auf dem Boden hin und her. Schreiend flog Prokop treppauf. Er war daheim, sah die Gießkanne und die Brotdose der Mutter, die halbgeöffnete Tür zur Küche, wo der Vater röchelnd flehte, sie sollten ihn doch um Gottes willen nicht töten. Aber immer wieder schlugen sie ihn mit dem Kopf auf die Erde. Prokop wollte ihm zu Hilfe eilen, eine blöde, blinde Macht nötigte ihn jedoch, hier auf dem Korridor im Kreise zu laufen, immer rascher im Kreise, bis er krampfhaft zu kichern begann, während drinnen das Stöhnen des Vaters immer schwächer wurde und schließlich ganz erstickte. Unfähig, diesem schwindelerregenden Kreislabyrinth zu entkommen, brach Prokop in irrsinniges Angstgelächter aus.

Da erwachte er schweißgebadet und zähneklappernd. Tomesch stand zu Häupten des Bettes und legte ihm einen frischen, kühlenden Umschlag auf die heiße Stirn.

»Das tut gut, das tut gut«, murmelte Prokop, »ich werde nicht mehr schlafen.« Er lag still und blickte auf Tomesch, der dort im Schein der Tischlampe saß. Georg Tomesch, sagte er zu sich, und alle andern, unser ganzer Jahrgang in Chemie. Wer war denn noch dabei? Da hörte er plötzlich eine Stimme: »Herr Prokop wird referieren.«

Prokop erschrak zutiefst.

Auf dem Katheder saß Professor Wald und zupfte mit Spinnenfingern an seinem Bart. »Erzählen Sie«, sagte Professor Wald, »was Sie über Sprengstoffe wissen.«

»Sprengstoffe, Sprengstoffe«, beginnt Prokop nervös, »ihre Sprengkraft beruht darauf, daß – daß – daß sich auf einmal ein großes Gasvolumen aus einem . . . aus einem viel kleineren Volumen Sprengmasse entwickelt . . . Bitte, das stimmt nicht!«

»Wieso nicht?« fragt Wald streng.

»Ich – ich – ich habe die Alpha-Explosion entdeckt. Die Explosion erfolgt durch den Zerfall des Atoms. Die Atomteilchen sprengen – sprengen auseinander . . .«

»Unsinn!« unterbricht ihn der Professor. »Es gibt keine Atome.«

»Doch, doch, doch, es gibt«, ereifert sich Prokop. »Bitte, ich – ich – ich werde es beweisen –«

»Überwundene Theorie«, brummt der Professor. »Es gibt überhaupt keine Atome, nur Gumetalle. Wissen Sie, was ein Gumetall ist?«

Prokop schwitzt vor Aufregung. Dieses Wort hat er noch nie gehört. Gumetall? »Das kenne ich nicht«, gesteht er kleinlaut.

»Sehen Sie«, sagt Wald trocken. »Und da wagen Sie es, zum Kolloquium zu kommen. Was wissen Sie von Krakatit?«

Prokop stutzt ängstlich. »Krakatit«, flüstert er, »ist . . . ist ein völlig neuer Sprengstoff, der . . . der bisher . . .«

»Wodurch gelangt er zur Entzündung? Wodurch? Wodurch explodiert er?«

»Durch Hertzsche Wellen«, stößt Prokop erleichtert hervor.

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil es so plötzlich explodiert ist, weil – weil kein anderer Impuls da war und weil . . .«

»Nun?«

». . . weil mir seine Synthese . . . mittels . . . hochfrequenter Oszillationsströme gelungen ist. Es ist bisher noch nicht – nicht – nicht – aufgeklärt, aber ich glaube, es – es sind elektromagnetische Wellen.«

»Stimmt. Ich weiß es. Schreiben Sie uns die chemische Formel für Krakatit an die Tafel.«

Prokop nimmt ein Stück Kreide und kritzelt seine Formel an die Tafel.

»Lesen Sie!«

Prokop liest laut die Formel ab.

Da steht Professor Wald auf und sagt unvermittelt mit fremder Stimme: »Wie? Wie ist das?«

Prokop wiederholt die Formel.

»Tetrargon?« fragt der Professor rasch. »Wieviel – Pb?«

»Zwei.«

»Wie wird es hergestellt?« fragt die Stimme merkwürdig nahe. »Der Vorgang! Wie wird es hergestellt? Wie? . . . Wie stellt man Krakatit her?«

Prokop öffnete die Augen. Tomesch stand über ihn gebeugt, hielt Bleistift und Notizbuch in den Händen und starrte atemlos auf seine Lippen.

»Was?« murmelte Prokop beunruhigt. »Was willst du? Wie . . . wie man es herstellt?«

»Du hast geträumt«, sagte Tomesch und verbarg das Notizbuch hinterm Rücken. »Schlaf, Prokop, schlaf!«

4

Jetzt habe ich etwas ausgeplaudert, besann sich Prokop im klareren Teil seines Gehirns; aber sonst war es ihm höchst gleichgültig. Er wollte nur schlafen, endlos schlafen. Ihm war, als sehe er einen türkischen Teppich, dessen Muster sich immer wieder verschoben, ineinanderliefen und veränderten. Es war eigentlich nichts, trotzdem regte es ihn auf. Auch im Schlaf wünschte er Plinius wiederzusehen. Er versuchte, sich seine Gestalt in Erinnerung zu rufen. Statt dessen sah er eine widerlich grinsende Fratze vor sich, die mit gelben, fauligen Zähnen knirschte, bis sie splitterten, und die sie dann stückweise ausspie. Aus irgendeinem Grund kam ihm das furchtbar lächerlich vor, so daß er in lautes, krampfhaftes Gelächter ausbrach, wodurch er erwachte.

Er war vollkommen in Schweiß gebadet und abgedeckt. Mit fiebrigen Augen blickte er auf Tomesch, der sich im Zimmer eifrig zu schaffen machte und verschiedene Sachen in einen Koffer warf. Aber Prokop erkannte ihn nicht. »Hören Sie, hören Sie doch«, rief er, »ist das nicht komisch? Hören Sie, so warten Sie doch, Sie müssen sich das anhören . . .« Er wollte ihm das Erlebnis mit der Fratze als einen Witz erzählen und lachte darüber; aber er konnte und konnte sich nicht entsinnen, wie es eigentlich war. Das verdroß ihn derart, daß er verstummte.

Tomesch zog den Überrock an und nahm die Mütze. Er wollte schon nach dem Koffer greifen, da besann er sich und setzte sich zu Prokop auf den Bettrand. »Hör mich an, alter Knabe«, sagte er besorgt. »Ich muß hinausfahren – zum Vater nach Teinitz. Wenn er mir kein Geld gibt, dann – dann kehre ich nicht mehr zurück. Aber mach dir nichts draus. Morgen früh kommt die Hausmeisterin mit einem Arzt, ja?«

»Wie spät ist es?« fragte Prokop unbeteiligt.

»Vier . . . fünf nach vier. Es fehlt dir doch hier nichts?«

Prokop schloß die Augen; er wollte sich um nichts mehr auf der Welt kümmern. Tomesch deckte ihn noch sorgsam zu. Dann war es still.

Er schlug die Augen weit auf. Die Zimmerdecke, die er über sich erblickte, hatte an den Rändern ein fremdes Ornament. Er tastete zur Seite nach dem Nachttisch und griff ins Leere. Da wandte er sich erschrocken um und sah statt seines breiten Laboratoriumpultes einen fremden Tisch mit einer Lampe darauf. Wo das Fenster sein sollte, stand ein Schrank, anstelle des Waschtisches war eine Tür. Das verwirrte ihn maßlos; er begriff nicht, was mit ihm geschehen war und wo er sich befand. Einen Schwindelanfall überwindend, setzte er sich im Bett auf. Allmählich dämmerte ihm, daß er hier nicht zu Hause war, konnte sich aber nicht entsinnen, wie er hierher geraten war. »Wer ist da?« fragte er laut aufs Geratewohl; er vermochte kaum die Zunge zu bewegen. »Trinken«, sagte er nach einer Weile, »trinken!« Es herrschte eine qualvolle Stille. Er stand auf und suchte, etwas taumelig, nach Wasser. Auf dem Waschtisch fand er eine Karaffe und trank gierig daraus; als er zum Bett zurückkehrte, versagten ihm die Beine; er mußte sich auf einen Stuhl setzen. Er mochte ziemlich lange so gesessen haben; nun schüttelte ihn die Kälte, da er sich beim Trinken mit Wasser begossen hatte. Er begann Mitleid mit sich selber zu empfinden, weil er nicht wußte, wo er sich befand, und nicht einmal bis zum Bett gelangen konnte und so ratlos und ohnmächtig allein war; da brach er in kindliches Schluchzen aus.

Als es vorbei war, wurde sein Kopf etwas klarer. Er vermochte sogar, bis zum Bett zu gehen und sich niederzulegen. Kaum hatte er sich erwärmt, so versank er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als er erwachte, war der Vorhang hochgezogen, das Tageslicht drang grau durchs Fenster, und im Zimmer war ein wenig aufgeräumt. Er wußte nicht, wer das gemacht haben konnte, aber sonst erinnerte er sich genau an die gestrige Explosion, an Tomesch und dessen Abreise. Er hatte rasende Kopfschmerzen, fühlte einen Druck auf der Brust und wurde von einem stechenden Husten gequält. Das ist böse, sagte er zu sich, das ist ganz böse; ich sollte nach Hause gehen und mich niederlegen! Er stand auf und begann langsam sich anzukleiden, immer wieder ein wenig ausruhend. Eine Zentnerlast schien ihm auf die Brust zu drücken. Dann setzte er sich geistesabwesend nieder und atmete schwer.

Da ertönte kurz und dünn die Klingel. Er erhob sich mühsam und ging öffnen. Auf der Schwelle stand ein junges Mädchen, das Gesicht verschleiert.

»Wohnt hier . . . Herr Tomesch?« fragte sie eilig und bedrückt.

»Bitte«, sagte Prokop und gab ihr den Weg frei. Als sie, etwas zögernd, knapp hinter ihm eintrat, verspürte er einen schwachen lieblichen Duft, den er beglückt einatmete.

Er setzte sich ihr gegenüber neben das Fenster und bemühte sich, nach Möglichkeit gerade zu sitzen. Er fühlte, daß er sich vor lauter Anstrengung ernst und steif ausnahm, was beide in große Verlegenheit brachte. Das Mädchen biß sich in die Lippen und schlug die Augen nieder. Ach, diese liebliche Glätte der Wangen, diese zarten, so erregten Hände! Sie blickte auf, und Prokop hielt den Atem an, so schön erschien sie ihm.

»Ist Herr Tomesch nicht zu Hause?« fragte das Mädchen.

»Er ist weggefahren«, antwortete Prokop zögernd, »heute nacht.«

»Wohin?«

»Nach Teinitz, zu seinem Vater.«

»Wann kommt er zurück?«

Prokop zuckte mit den Achseln.

Das Mädchen senkte den Kopf; ihre Hände schienen mit etwas zu kämpfen. »Hat er Ihnen gesagt, warum . . .?«

»Ja.«

»Glauben Sie, daß – daß er es tut?«

»Was, Fräulein?«

»Sich erschießen.«

Prokop erinnerte sich blitzschnell, daß er Tomesch einen Revolver in den Koffer hatte packen sehen. »Vielleicht mache ich morgen Schluß«, hörte er ihn wieder sagen. Aber Prokop wollte jetzt nicht davon sprechen.

»Mein Gott, mein Gott«, klagte das Mädchen, »das ist ja furchtbar! Was meinen Sie . . . wenn – ihm jemand nachfahren würde! Ihm alles sagen – Geld geben würde – da hätte er doch keinen Grund mehr, es zu tun. Wenn man ihm heute noch nachfahren würde –«

Prokop sah, wie sie verzweifelt die Hände rang.

»Ich fahre zu ihm«, sagte er leise. »Ich habe zufällig – in der Gegend zu tun. Wenn Sie wollen . . . ich –«

Das Mädchen hob den Kopf. »Wirklich?« rief sie erfreut. »Sie würden –?«

»Ich bin ein alter Freund von ihm«, erklärte Prokop.

»Sie sind zu gütig«, setzte sie kaum hörbar hinzu.

Prokop errötete leicht. »Das ist eine Kleinigkeit«, wehrte er ab. »Zufällig habe ich gerade frei – ich wollte ohnehin . . . hinausfahren, und überhaupt . . .« Er machte eine verlegene Handbewegung. »Es ist doch nicht der Rede wert. Ich mache alles – was Sie wollen.«

Nun wurde das Mädchen rot und blickte schnell weg. »Ich weiß gar nicht, wie ich . . . Ihnen danken soll«, sagte sie verwirrt. »Es tut mir so leid, daß . . . ich Sie . . . Aber es ist sehr wichtig, und dann – sind Sie ja sein Freund. – Oder glauben Sie, ich sollte selber –« Sie überwand sich und blickte Prokop mit klaren Augen an. »Ich habe ihm etwas zu schicken. Ich – ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Ist auch nicht nötig«, sagte Prokop rasch. »Ich übergebe es ihm einfach. Ich bin so froh, daß ich Ihnen . . . daß ich ihm . . . Regnet es denn?« fragte er plötzlich, indem er auf ihre feuchte Pelzjacke sah.

»Ja.«

»Das ist gut«, meinte Prokop; aber er dachte, wie angenehm es wäre, die Stirn auf diesen kühlen Pelz zu legen.

»Ich habe die Sache nicht bei mir«, sagte sie und erhob sich. »Es ist nur ein ganz kleines Päckchen. Wenn Sie so lange warten könnten . . . Ich bin in zwei Stunden wieder da.«

Prokop verbeugte sich sehr steif aus Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren. In der Tür wandte sie sich noch einmal um und sah ihm voll ins Gesicht. »Auf Wiedersehen«, sagte sie dann und ging.

Prokop setzte sich und schloß die Augen. Regentropfen auf dem Pelz, ein dichter, mit Tauperlen benetzter Schleier, verhaltene Stimme, unruhige Hände in eng anliegenden kleinen Handschuhen; kühler Duft, der Blick klar und verwirrend unter anmutigen, stark geschwungenen Brauen. Hände im Schoß, weicher Faltenwurf des Rockes über kräftigen Knien, ach, diese kleinen Hände in den engen Handschuhen! Dunkle, bebende Stimme, das Gesicht glatt und blaß. Traurig, verwirrt und doch mutig. Blaugraue Augen, klare, leuchtende Augen! O Gott, wie sie den Schleier an die Lippen drückte!

Prokop stöhnte und öffnete die Augen. Das ist kein Mädel, sagte er zu sich in blinder Wut. Sie kennt den Weg hierher und war sicher nicht zum ersten Male da. Vielleicht haben sie hier . . . gerade hier . . . in diesem Zimmer – – – Und ich Dummkopf biete mich noch an, ihm nachzufahren! Ich Idiot, ich trage ihm noch einen Liebesbrief nach! Was – was kümmert sie mich überhaupt?

Da kam ihm ein rettender Gedanke. Ich laufe nach Hause in meine Laboratoriumsbaracke. Soll sie dann wiederkommen! Mag sie tun, was sie will! Sie – sie – kann ihm ja selber nachfahren, wenn . . . ihr so viel dran liegt –

Er blickte sich im Zimmer um, sah das zerwühlte Bett, schämte sich und brachte es in Ordnung, wie er es von zu Hause gewöhnt war. Es schien ihm noch nicht gut genug; er bettete es um, richtete es aus, strich noch einmal drüber hin und machte dann überall im Zimmer Ordnung, zupfte sogar die Gardinen zurecht. Dann setzte er sich hin, mit einem dumpfen Gefühl im Kopf, die Brust von schmerzhaftem Druck beengt, und wartete.

Ihm war, als ginge er durch einen riesigen Gemüsegarten. Ringsum gab es nichts als Kohlköpfe, aber es waren gar keine Kohlköpfe, es waren fletschende, triefäugige, unförmige, wäßrige, finnige und aufgedunsene Menschenhäupter. Sie wuchsen auf dünnen Strünken und waren mit widerwärtigen grünen Raupen übersät.

Sieh, da kommt ein Mädchen übers Feld auf ihn zugelaufen. Sie trägt einen Schleier vor dem Gesicht, hebt ein wenig den Rock und hüpft über die Menschenhäupter hinweg. Da wachsen unter jedem von ihnen nackte, unheimlich dünne und behaarte Hände hervor und greifen nach den Beinen und dem Rock. Das Mädchen schreit, wahnsinnig vor Angst, und hebt den Rock hoch bis über die festen Knie, entblößt die weißen Beine und versucht, über die gierig greifenden Hände hinwegzuspringen. Prokop schließt die Augen; er erträgt den Anblick ihrer weißen, starken Beine nicht und fürchtet, die grünen Häupter könnten das Mädchen schänden. Da wirft er sich zu Boden und schneidet mit dem Taschenmesser den ersten Kopf ab; der brüllt tierisch auf und schnappt mit hohlen Zähnen nach seinen Händen. Nun der zweite, der dritte Kopf; o Gott, wird er das Riesenfeld abgemäht haben, ehe das Mädchen, das drüben auf der andern Seite des unübersehbaren Gartens kämpft, bis zu ihm gelangt? Wütend springt er auf, trampelt auf den abstoßend gespenstigen Häuptern herum, stößt mit den Füßen nach ihnen. Da verstrickt er sich mit den Beinen in dem Gewirr der dünnen Saugpfoten, stürzt nieder, wird ergriffen, erdrosselt, erstickt . . . und alles verschwindet.

Alles geht unter in einem wirbelnden Chaos. Plötzlich ertönt ganz in der Nähe eine gedämpfte Stimme: »Ich bringe Ihnen das Päckchen!« Da öffnet er die Augen und springt auf; vor ihm steht ein liederliches Frauenzimmer aus der Altstadt, schielend und schwanger, und reicht ihm etwas, in einen feuchten Fetzen gewickelt. Das ist sie ja gar nicht, durchzuckt es Prokop schmerzlich, und gleich darauf sieht er eine magere, traurige Verkäuferin, die ihm mit Holzstäben seine Handschuhe dehnt. Das ist sie nicht, wehrt sich Prokop. Da sieht er ein kleines aufgedunsenes Mädchen auf rachitischen Beinen, das – das sich ihm schamlos anbietet. »Geh fort!« schreit Prokop auf und erwacht.

Es klingelte so leise, als hätte ein Vogel die Glocke angeschlagen. Prokop stürzte zur Tür und öffnete; auf der Schwelle stand das Mädchen mit dem Schleier, drückte ein Päckchen an die Brust und holte tief Atem. »Sie sind es?!« sagte Prokop sanft und, aus einem unbekannten Grund, tief ergriffen. Das Mädchen trat ein und streifte ihn im Vorbeigehen. Der Duft, der von ihr ausging, quälte und berauschte ihn zugleich.

Sie blieb mitten im Zimmer stehen. »Seien Sie mir, bitte, nicht böse«, sagte sie merkwürdig hastig, »daß ich Sie mit einem solchen Auftrag belästige. Aber Sie wissen gar nicht, warum – warum ich – – Wenn es Ihnen Schwierigkeiten machen sollte, dann . . .«

»Ich fahre!« stieß Prokop heiser hervor.

Das Mädchen sah ihn nun ganz nahe mit ernsten, klaren Augen an. »Denken Sie nicht schlecht von mir. Ich fürchte nur, daß Herr – daß Ihr Freund etwas tut, was einen andern bis in den Tod betrüben würde. Ich habe viel Vertrauen zu Ihnen . . . Sie werden ihn retten, nicht wahr?«

»Unendlich gern«, beteuerte Prokop mit seltsam fremder und erregter Stimme. »Fräulein, ich . . . was immer Sie auch von mir verlangen . . .« Er wandte die Augen ab, fürchtete, etwas auszuschwatzen, bangte, man könnte sein Herz schlagen hören; er schämte sich seiner Schwerfälligkeit.

Auch des Mädchens bemächtigte sich nun Verwirrung; sie wurde über und über rot und wich seinem Blick aus. »Ich danke, ich danke Ihnen«, sagte sie unsicher.

Stille trat ein. Prokop fühlte selig und qualvoll zugleich, wie sie ihn musterte. Er hätte etwas sagen müssen, um über die Situation hinwegzukommen; aber er bewegte nur die Lippen und fühlte ein Frösteln am ganzen Körper.

Endlich regte sich das Mädchen und flüsterte: »Das Päckchen!« Da vergaß Prokop, warum er bisher die rechte Hand hinterm Rücken verborgen hatte, und griff nach dem Umschlag. Das Mädchen erblaßte und wich zurück. »Sie sind verwundet«, entfuhr es ihr. »Zeigen Sie die Hand her!« Prokop verbarg sie rasch. »Das ist nichts«, versicherte er eilig, »ein wenig . . . entzündet . . . von einer kleinen Wunde, weiter nichts.«

Das Mädchen, ganz blaß im Gesicht, stöhnte auf, als ob sie selbst den Schmerz verspürte. »Warum gehen Sie nicht zum Arzt?« fragte sie heftig. »Sie dürfen nicht fahren! Ich . . . ich schicke jemand andern!«

»Es ist fast verheilt«, verteidigte sich Prokop, als wollte man ihm etwas Kostbares nehmen. »Wirklich, es ist fast wieder in Ordnung . . . eine kleine Kratzwunde, nichts weiter, und überhaupt, das ist ja Unsinn! Warum sollte ich nicht fahren? Sie können doch in einer solchen Angelegenheit nicht . . . einen Fremden schicken, das ist doch klar! Es schmerzt auch gar nicht mehr, sehen Sie!« sagte er und schüttelte zum Beweis die rechte Hand.

Das Mädchen zog die Brauen zusammen. Ihr Gesicht drückte zugleich Strenge und Mitleid aus. »Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Sie dürfen nicht fahren!«

Prokop war verzweifelt. »Aber das bedeutet nichts«, ereiferte er sich, »ich bin das gewöhnt. Sehen Sie, da!« Er zeigte ihr die linke Hand: fast der ganze kleine Finger fehlte, und das Gelenk des Zeigefingers war zu einer knotigen Narbe angeschwollen. »Das bringt der Beruf mit sich«, meinte er und merkte gar nicht, wie das Mädchen mit erblassenden Lippen zurücktrat und auf seine Stirn starrte, die eine auffallend breite Schramme vom Auge bis zu den Haarwurzeln aufwies. »Geben Sie mir das Päckchen!« Er nahm es ihr aus der Hand, warf es in die Höhe und fing es wieder auf. »Nur keine Angst! Es wird schon alles gutgehen. Eigentlich wollte ich längst irgendwohin fahren. Kennen Sie Amerika?«

Das Mädchen schwieg und sah ihn verwundert an.

»Sie behaupten, neue Theorien zu haben«, schwatzte Prokop im Fieber. »Wartet nur, ich werde es euch schon beweisen, wenn einmal meine Berechnungen veröffentlicht sind. Schade, daß Sie nichts davon verstehen; ich würde es Ihnen erklären, Ihnen vertraue ich, Ihnen ja, aber ihm nicht. Vertrauen Sie ihm nicht«, redete er ihr eindringlich zu, »nehmen Sie sich in acht. Sie sind so schön«, flüsterte er entzückt. »Bei mir oben, zu Hause, spreche ich mit niemandem. Es ist nur eine einfache Bretterbude. Haha, wie Sie sich vor den Kohlköpfen gefürchtet haben! Aber ich werde Sie schon beschützen. Nur keine Furcht! Ich lasse es nicht zu!«

Sie starrte ihn mit vor Angst geweiteten Augen an. »Sie können doch nicht so wegfahren!«

Prokop wurde traurig und fühlte sich wieder schwach. »Beachten Sie es nicht! Ich habe Unsinn geschwatzt. Ich wollte nur, daß Sie nicht an die Hand denken. Sie sollen sich nicht fürchten. Es ist schon vorbei.« Er überwand seine Erregung und wurde steif und verdrießlich, so sehr nahm er sich zusammen. »Ich fahre nach Teinitz und werde Tomesch suchen. Ich übergebe ihm das Päckchen und sage, es sei von einem ihm bekannten Fräulein. Ist es recht so?«

»Ja«, sagte das Mädchen zögernd, »aber Sie können doch nicht . . .«

Prokop versuchte ein bittendes Lächeln. Sein schweres, narbiges Gesicht verschönte sich plötzlich. »Lassen Sie mich«, sagte er leise, »es ist doch – es ist doch für Sie.«

Das Mädchen bewegte rasch die Lider, nickte schweigend und reichte ihm die Hand. Er hob seine unförmige Linke. Das Mädchen betrachtete sie und drückte sie fest. »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie rasch, »leben Sie wohl.«

In der Tür hielt sie inne, als wollte sie noch etwas hinzufügen; sie hatte die Klinke in der Hand und wartete –

»Soll ich ihm . . . einen Gruß bestellen?« fragte Prokop, etwas verlegen lächelnd.

»Nein«, erwiderte sie und sah ihn kurz an. »Auf Wiedersehen!«

Die Tür fiel hinter ihr zu. Prokop blickte ihr nach; er fühlte sich auf einmal zu Tode erschöpft und matt, der Kopf drehte sich ihm, es kostete unendliche Anstrengung, auch nur einen einzigen Schritt zu tun.

5

Er mußte zweieinhalb Stunden auf dem Bahnhof warten und setzte sich, zitternd vor Kälte, in die Vorhalle. Als er die Augen schloß, war ihm, als ob die schmerzende Hand wachse, immer größer werde, nun war sie so groß wie ein Kopf, wie ein Kürbis; in ihrer ganzen Ausdehnung zuckte und zwackte glühend das wunde Fleisch. Dabei war ihm übel bis zum Erbrechen; unaufhörlich trat ihm der kalte Angstschweiß auf die Stirn. Er konnte nicht auf die schmutzigen, angespuckten Steinkacheln hinuntersehen, ohne daß sich ihm der Magen hob. Er stellte den Kragen hoch und verfiel in Halbschlaf, allmählich von grenzenloser Gleichgültigkeit bezwungen. Er träumte, er sei wieder Soldat und liege verwundet irgendwo im weiten Feld; wo – wo kämpft man denn immer noch? Da tönte ihm eine schrille Glocke in die Ohren und jemand rief: »Teinitz, Dux, einsteigen!«

Nun saß er im Abteil beim Fenster und fühlte eine unbändige Fröhlichkeit, als hätte er jemand überlistet, als wäre er irgendwo entkommen: Jetzt fahre ich nach Teinitz, und nichts kann mich mehr davon abhalten! Er kicherte fast vor Freude und machte es sich auf seinem Eckplatz bequem. Er durfte nicht zum Fenster hinaussehen, sonst schwindelte ihn. Ratata, Ratata, Ratata stampfte der Zug; alles ratterte, trommelte, dröhnte in fiebriger Hast. Fahre nur, fahre nur, fahre nur, skandierte Prokop mit dem Stoßen der Räder; rascher noch, rascher noch. Der Zug erwärmte sich durch seine eigene Geschwindigkeit; es wurde drückend heiß. Prokop schwitzte.

Er wandte sich zum Fenster; darin tauchte plötzlich ein menschliches Gesicht auf. Er wußte erst nicht, was ihn daran so stutzig machte; er starrte es an und erkannte einen zweiten Prokop, der ihn mit erschreckender Aufmerksamkeit musterte. Was will er? fragte sich Prokop entsetzt. Mein Gott, ich habe doch nicht das Päckchen in Tomeschs Wohnung vergessen? Rasch tastete er den Rock ab und fand es in der Brusttasche. Da begann das Gesicht im Fenster zu lächeln, und Prokop atmete erleichtert auf. Er hätte am liebsten den Mantel über den Kopf gezogen und geschlafen, aber er fürchtete, jemand könnte ihm den versiegelten Umschlag aus der Tasche ziehen. Dann übermannte ihn doch der Schlaf, er war unsäglich müde; nie hätte er gedacht, daß ein Mensch so müde sein kann. Er schlief ein, schreckte auf und schlief wieder ein. Plötzlich fuhr er hoch, emporgerissen von der fiebrigen Gewißheit, in Teinitz zu sein. Vielleicht hatte draußen jemand die Station ausgerufen, denn der Zug hielt.

Er lief hinaus und sah, daß es schon Abend war. Zwei, drei Leute stiegen auf dem kleinen Bahnhof mit den blinzelnden Laternen aus, hinter denen sich unbekannte, neblige Finsternis breitete. Prokop erfuhr, daß er mit der Post nach Teinitz fahren könne, falls noch ein Platz frei sei. Der Postwagen bestand aus einem Bock, und dahinter war ein Kasten für die Postsendungen. Auf dem Bock saßen bereits der Postkutscher und ein Fahrgast.

»Kann ich nach Teinitz mitfahren?« fragte Prokop.

Der Postkutscher schüttelte unendlich traurig den Kopf. »Geht nicht«, sagte er nach einer Weile.

»Warum nicht?«

»Weil kein Platz ist«, erwiderte der Mann nach reiflicher Überlegung.

Prokop fühlte sich vom Trübsal übermannt. »Wie weit ist es . . . zu Fuß?«

Der Postkutscher überlegte teilnahmsvoll. »Eine gute Stunde«, antwortete er.

»Aber ich – ich kann nicht zu Fuß gehen! Ich muß zu Doktor Tomesch!« wandte Prokop niedergeschlagen ein.

Der Postkutscher zögerte. »Kommen Sie . . . als . . . Patient?«

»Mir ist elend«, murmelte Prokop; er zitterte wirklich vor Schwäche und Kälte.

Der Postkutscher grübelte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Es geht leider nicht«, meinte er schließlich.

»Ich werde schon noch Platz finden . . . ein winziges Plätzchen genügt, ich . . .«

Auf dem Kutschbock blieb es still. Der Postkutscher fuhr sich durch den Bart, daß man es knistern hörte; dann stieg er wortlos herunter, machte sich am Strang zu schaffen und ging schweigend in das Bahnhofsgebäude. Der Fahrgast oben auf dem Bock rührte sich nicht.

Prokop war so erschöpft, daß er sich auf den Randstein setzen mußte. Ich werde mein Ziel nie erreichen, fühlte er verzweifelt; ich werde hierbleiben bis – bis –

Der Postkutscher kehrte mit einer leeren Kiste zurück. Auf irgendeine Weise brachte er sie oben neben dem Bock unter und betrachtete sie dann bedächtig. »So, nun setzen Sie sich hinauf«, sagte er endlich.

»Wohin?« fragte Prokop.

»Auf den Bock.«

Prokop gelangte auf so merkwürdige Weise auf den Kutschbock, als hätten ihn überirdische Kräfte emporgehoben. Der Postkutscher machte sich wieder am Riemenzeug zu schaffen, und dann saß er oben auf der Kiste, ließ die Beine herunterbaumeln, faßte die Zügel und sagte: »Hü!«

Das Pferd rührte sich nicht. Es zitterte nur.

Der Postkutscher stimmte ein dünnes, kehliges »Hrrr« an. Der Gaul bewegte den Schweif, und die Postkutsche fuhr langsam los.

Prokop klammerte sich krampfhaft an dem niedrigen Geländer des Bockes an; er fühlte, es werde seine Kräfte übersteigen, sich auf dem Bock aufrecht zu halten.

»Hrrr!« Dieser hohe, schnurrende Gesang schien den alten Klepper zu elektrisieren. Er lief hinkend dahin, bewegte den Schweif hin und her und ließ bei jedem Schritt hörbare Winde entweichen.

»Hrrrrrr.« Es ging durch eine Allee kahler Bäume; ringsum pechschwarze Finsternis; nur ein flimmernder Lichtstreif aus der Laterne huschte über die Straße. Prokop umklammerte mit erstarrten Fingern das Geländer. Er beherrschte seinen Körper nicht mehr, aber er durfte nicht nachgeben, obwohl er sich schwach und elend fühlte. Ein beleuchtetes Fenster glitt vorbei, eine Allee, ein dunkles Feld. »Hrrr.« Das Pferd trabte unermüdlich weiter und bewegte dabei die Beine so steif und unnatürlich, als wäre es längst tot.

Prokop blickte seinen Mitreisenden von der Seite an. Es war ein alter Mann mit einem dicken Schal um den Hals. Er kaute ständig an etwas, schob es von einem Mundwinkel in den andern und spuckte es dann wieder aus. Da erinnerte sich Prokop, diese Gestalt schon einmal gesehen zu haben. Sie hatte dasselbe scheußliche Gesicht wie damals im Traum, als sie mit den hohlen Zähnen knirschte, bis sie splitterten, und sie dann stückweise ausspie. Es war merkwürdig und gräßlich zugleich.

»Hrrrr.« Die Straße bildete eine Kehre, wand sich einen Hügel hinauf und wieder hinab. Dann tauchte ein Gutshof auf, ein Hund bellte, ein Mann kam die Landstraße daher und grüßte »Guten Abend«. Nun ging es bergan; immer mehr kleine Häuser tauchten auf. Der Postwagen bog ein, das hohe »Hrrr« brach plötzlich ab, und das Pferd blieb stehen.

»Hier wohnt Doktor Tomesch«, sagte der Postkutscher.

Prokop wollte etwas erwidern, war aber außerstande. Er bemühte sich, das niedrige Geländer loszulassen, doch die Finger waren verkrampft und klamm.

»Wir sind da«, wiederholte der Postkutscher. Langsam ließ der Krampf nach; Prokop kletterte vom Bock herunter, er zitterte am ganzen Körper. Wie im Traum öffnete er eine Gartenpforte und klingelte an der Haustür. Drin erscholl wütendes Bellen; eine junge Stimme rief: »Ruhe, Hansi!« Die Türe öffnete sich, und Prokop fragte, kaum daß er die Zunge bewegen konnte: »Ist der Herr Doktor zu Hause?«

Eine Weile blieb es still; dann sagte die junge Stimme: »Treten Sie ein!«

Prokop befand sich in einer warmen Stube. Auf dem Tisch stand eine Lampe; es war zum Abendessen gedeckt; Buchenholz duftete. Ein alter Herr, die Brille auf der Stirn, erhob sich vom Tisch, ging auf Prokop zu und fragte: »Nun, wo fehlt's denn?«

Prokop entsann sich nur trübe, weshalb er eigentlich hier war. »Ich . . . nämlich . . .«, begann er verwirrt, »ist Ihr Sohn daheim?«

Der alte Herr sah Prokop aufmerksam an. »Nein. Was ist Ihnen?«

»Georg . . . Georg«, murmelte Prokop, »ich . . . ich bin sein Freund und bringe ihm . . . ich soll ihm etwas übergeben . . .« Er suchte in den Taschen nach dem versiegelten Umschlag. »Es handelt sich um . . . eine wichtige Sache, ich – ich –«

»Georg ist nicht da«, unterbrach ihn der alte Herr. »Setzen Sie sich doch!«

Prokop war sehr erstaunt. »Aber er hat doch . . . er hat mir doch gesagt, daß er hierher fährt. Ich muß mit ihm sprechen . . .« Der Fußboden unter ihm begann zu schwanken und zu weichen.

»Anni, einen Stuhl!« rief der alte Herr mit merkwürdiger Stimme.

Prokop vernahm noch einen gedämpften Aufschrei und brach zusammen. Unendliches Dunkel hüllte ihn ein. Dann war nichts mehr.

6

Nichts mehr. Nur wie im Nebel, der sich ab und zu teilte, wurden ein Muster der Wandmalerei sichtbar, der geschnitzte Rand eines Schrankes, ein Stück Gardine oder der Fries der Zimmerdecke. Manchmal neigte sich ein Gesicht gleichsam wie über einen Brunnenrand, ohne daß jedoch die Züge erkennbar wurden. Etwas ging vor, hin und wieder befeuchtete jemand die heißen Lippen oder hob den ohnmächtigen Körper auf; aber alles schwand wieder dahin und löste sich in verschwommene Bilder eines Traumes auf.

Es waren Landschaften, Teppichmuster, Differentialrechnungen, feurige Kugeln, chemische Formeln. Zeitweise trieb etwas an die Oberfläche, wurde einen Augenblick lang zu einem klareren Traum, aber gleich darauf zerrann es wieder im breiten Strom der Bewußtlosigkeit.

Endlich trat der Augenblick ein, da er erwachte. Er sah über sich eine anheimelnde, sichere Zimmerdecke mit einem Stuckfries, fand mit den Augen seine eigenen abgezehrten, todblassen Hände auf der geblümten Bettdecke und entdeckte dahinter die Bettleiste, einen Schrank und eine weiße Tür, alles gleichsam liebenswert still und vertraut. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er wollte darüber nachdenken, doch sein Kopf war unsagbar matt. Alles begann wieder zu verschwimmen; da schloß er die Augen und ruhte, in seine Schwäche ergeben, aus.