2,49 €
Hat Alessandro eine Geliebte in Rom? Und trägt er tatsächlich die Schuld am Tod seiner Ex-Verlobten? Polly ist entsetzt über die Enthüllungen des Klatschreporters. Gerade ist sie Alessandros Frau geworden ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 203
IMPRESSUM
Brisante Enthüllungen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2004 by Sara Craven Originaltitel: „The Marchese’s Love-Child“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 1683 - 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Karin Weiss
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733745486
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de
Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.
„Wie bitte? Du willst nach Italien fliegen?“, fragte Lily Fairfax empört. „Ich glaube es nicht.“
Polly Fairfax seufzte. „Mom, ich begleite eine ältere Dame nach Neapel, wo sie ihre Familie treffen wird. Anschließend fliege ich sogleich nach Hause. Ich bin höchstens einen Tag weg.“
„Du hast geschworen, nie wieder nach Italien zu reisen“, erinnerte ihre Mutter sie.
„Ja, ich weiß“, gab Polly zu. „Aber das ist schon drei Jahre her. Vieles hat sich seitdem verändert. Es gehört zu meinen Aufgaben, Leute, die bei uns eine Reise buchen, zu begleiten, wenn sie es wünschen. Seit ‚Safe Hands‘ sich auf solche Reisen spezialisiert hat, werden wir von Anfragen geradezu überschüttet. Es hat dir doch gefallen, mich im Fernsehen zu sehen.“ Sie lächelte. „Deshalb kannst du dich jetzt nicht beschweren.“
So leicht ließ Mrs. Fairfax sich jedoch nicht beschwichtigen. „Will die Contessa Barsoli von dir begleitet werden, weil sie dich im Fernsehen gesehen hat?“
Polly lachte. „Nein, das glaube ich nicht. Solche Sendungen sieht sie sich bestimmt nicht an.“
„Ich hatte den Eindruck, dass du sie nicht magst“, wandte ihre Mutter ein.
Polly zuckte die Schultern. „Das stimmt. Sie scheint ziemlich schwierig zu sein. Ich bin mir sicher, sie mag mich auch nicht.“
„Warum hat sie dann darauf bestanden, dass du sie begleitest?“
„Keine Ahnung.“ Wieder zuckte Polly die Schultern. „Sie braucht jedenfalls jemanden, der sich um ihr Gepäck und die Reisedokumente kümmert. Und dafür sind wir von Safe Hands da. Um ehrlich zu sein, Mom, ich weiß nicht, wie lange ich mich noch weigern kann, nach Italien zu fliegen. Ich liebe meine Arbeit und will sie nicht verlieren. Doch Mrs. Terence ist Unternehmerin. Ihr Reiseunternehmen Safe Hands ist kein Sammelbecken für Menschen, die unglücklich verliebt waren.“
„Du warst nicht nur unglücklich verliebt. Es ist noch mehr passiert“, entgegnete ihre Mutter.
„Trotzdem kann ich mir die Kunden nicht aussuchen. Mrs. Terence war schon sehr entgegenkommend. Noch mehr Rücksicht kann ich von ihr nicht erwarten. Deshalb werde ich ab sofort auch nach Italien fliegen, wenn sie es wünscht.“
„Was ist mit Charlie?“, fragte Mrs. Fairfax. „Wo soll er bleiben, während du dich umhertreibst?“
‚Umhertreiben‘ kann man es wirklich nicht nennen, dachte Polly. Ihre Mutter hatte bisher nie etwas dagegen gehabt, Charlie zu betreuen, egal, wie lange sie, Polly, unterwegs gewesen war. Im Gegenteil, ihre Mutter hatte sogar behauptet, sie sei froh, wieder eine Aufgabe zu haben.
Polly blickte zum Fenster hinaus und beobachtete ihren zweijährigen Sohn, der im Garten hinter seinem Großvater herlief. „Ich war der Meinung, es würde alles so bleiben wie bisher“, erwiderte sie langsam.
„Es ist ja nicht mehr so wie bisher“, hielt ihre Mutter ihr gereizt vor. „Wieder einmal widersetzt du dich meinen Wünschen. Vor drei Jahren war ich auch dagegen, dass du den Job in Sorrent annimmst. Es hat sich herausgestellt, dass ich recht hatte. Du bist schwanger nach Hause gekommen. Dieser Casanova, mit dem du dich eingelassen hattest, wollte nichts mehr von dir wissen.“
„Das ist nicht fair. Sandro hat nicht geahnt, dass ich schwanger war. Damals wusste ich es ja selbst noch nicht“, antwortete Polly ruhig. „Zugegeben, es hätte wahrscheinlich nichts geändert, wenn er es gewusst hätte. Doch das ist Vergangenheit. Ich verspreche dir, einen großen Bogen um Sorrent zu machen.“
„Es wäre mir lieber, du würdest überhaupt nicht nach Italien fliegen. Aber wenn du noch am selben Tag zurückkommst, kann ich mich vielleicht damit abfinden.“
„Danke, Mom. Du bist die Beste.“ Polly umarmte sie.
„Vermutlich bin ich dumm. Bleibst du heute zum Abendessen hier? Es gibt eins deiner Lieblingsgerichte.“
„Das ist lieb von dir.“ Polly machte sich auf die nächste Auseinandersetzung gefasst. „Ich muss jedoch mit Charlie losfahren, weil ich noch Vorbereitungen für morgen treffen will.“
„Er kann doch bei uns schlafen. Dann hast du morgen früh etwas mehr Zeit für dich und brauchst ihn nicht zu bringen.“
„Danke für das Angebot“, erwiderte Polly betont freundlich. „Doch ich freue mich schon den ganzen Tag auf die wenigen Stunden mit ihm.“
„Ja, darüber wollten dein Vater und ich sowieso mit dir reden. Wir haben so viel Platz im Haus. Wir könnten über der Garage anbauen, dann hättet ihr beide eine schöne, große Wohnung. Du würdest dir und Charlie das Hin- und Herfahren ersparen. Wir haben schon Pläne entwerfen lassen, die wir mit dir beim Essen besprechen wollten.“
„Mom, ich habe doch eine Wohnung“, entgegnete Polly ruhig.
„Ja, eine Dachgeschosswohnung.“ Ihre Mutter verzog das Gesicht. „Das Kinderzimmer ist kaum größer als ein Kleiderschrank. Hier hätte der Junge viel mehr Platz und dann auch ein geregelteres Leben. Vergiss nicht, die Grundschule ist ganz in der Nähe. Es wäre für alle die perfekte Lösung.“
Es ist jeden Abend dasselbe, meine Mutter will Charlie nicht hergeben, überlegte Polly. Sie zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben. „Aber ich brauche meine Unabhängigkeit. Daran habe ich mich gewöhnt.“
„Ah ja. Du bist eine alleinerziehende Mutter, und dein wunderbarer Job ist eine Art Sklavenarbeit. Was hast du bisher davon gehabt, dass du nach der Pfeife von Leuten tanzt, die mehr Geld als Verstand haben? Du hast dich von einem Italiener zum Narren halten lassen und dein Leben ruiniert. Glaub ja nicht, ich würde dir noch einmal helfen, wenn du wieder in Schwierigkeiten gerätst.“
Polly blickte ihre Mutter schockiert an. „Das ist unfair. Ich habe einen Fehler gemacht und dafür bezahlt. Trotzdem will ich so leben, wie es mir gefällt.“
Mrs. Fairfax errötete vor Zorn. „Du bist offenbar entschlossen, deinen Willen ohne Rücksicht auf deinen Sohn durchzusetzen. Wahrscheinlich wirst du ihn jetzt erst recht mitnehmen, um etwas zu beweisen.“
„Nein“, erwiderte Polly zögernd. „Dieses Mal nicht. Aber du solltest einsehen, dass ich das Recht habe, so zu leben, wie ich es mir vorstelle.“
„Schick Charlie bitte herein, ehe du gehst.“ Ihre Mutter fing an, die Kartoffeln zu schälen.
„Gut, wird gemacht.“ Polly lächelte angespannt.
Als sie in den Garten ging, lief Charlie ihr fröhlich entgegen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn. Wieder einmal fiel ihr auf, was für ein schönes Kind er war. Mit seinem gelockten schwarzen Haar, der leicht gebräunten Haut, den langen, dichten Wimpern und den braunen Augen sah er seinem Vater viel zu ähnlich. Er wird mich immer an Sandro erinnern, überlegte sie. Warum hatte Charlie nicht ihr blondes Haar und ihre grünen Augen geerbt?
Sie strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. „Du sollst ins Haus kommen zu deiner Großmutter“, sagte sie leise. „Heute Nacht schläfst du hier. Ist das nicht schön?“
Ihr Vater gesellte sich zu ihnen und zog die Augenbrauen hoch. „Ist es für dich in Ordnung?“, fragte er ruhig und sah sie aufmerksam an.
„Ja.“ Sie räusperte sich. „Es ist besser, ich lasse ihn hier, weil ich morgen sehr früh aufstehen muss.“ Sie blickte hinter Charlie her, der ins Haus lief.
„Ja.“ Ihr Vater zögerte kurz. „Deine Mutter meint es nur gut, Polly“, versicherte er ihr ruhig.
„Aber Charlie ist mein Kind, Dad.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss selbst entscheiden, was für ihn am Besten ist. Wieder zu euch zu ziehen ist bestimmt nicht das Beste.“
„Das weiß ich“, stimmte ihr Vater ihr freundlich zu. „Mir ist aber auch bewusst, wie schwierig es ist, ein Kind ohne die Unterstützung seines Vaters großzuziehen, und das betrifft nicht nur die finanzielle Seite.“ Er seufzte. „Ich hätte für dich alles getan und kann nicht verstehen, dass ein Mann mit seinem Kind nichts zu tun haben will.“
Polly deutete ein Lächeln an. „Er wollte vor allem mit mir nichts mehr zu tun haben, Dad. Deshalb habe ich mich entschlossen, ganz aus seinem Leben zu verschwinden.“
„Ja, das hast du erzählt. Dennoch machen wir uns Sorgen um dich, deine Mutter und ich.“ Er umarmte sie. „Pass auf dich auf.“
Als sie wenig später im Bus nach Hause fuhr, gestand sie sich ein, dass die Situation kompliziert war. Sie wollte sich mit ihrer Mutter nicht wegen Charlie streiten. Die negative Einstellung ihrer Mutter zu ihrer, Pollys Arbeit, war eine ganz andere Sache. Bei Safe Hands hatte sie ihren Traumjob gefunden, und sie wusste, dass sie ihre Arbeit gut machte. Es waren vor allem Frauen und ältere Leute, die die von dem Reiseunternehmen angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Diese Urlauber waren froh darüber, dass sie sich nicht um ihr Gepäck und die Reiseformalitäten kümmern mussten und auf den Flughäfen und in den fremden Städten auf Wunsch begleitet wurden.
Polly war Mrs. Terence’ jüngste Mitarbeiterin. Sie beherrschte mehrere Sprachen, war geduldig und tolerant und hatte Sinn für Humor. Und diese Eigenschaften kamen ihr bei ihrer Arbeit zugute. Außerdem reagierte sie gelassen darauf, wenn einer ihrer Schützlinge sich ihr gegenüber arrogant und anmaßend verhielt. Sie wurde dafür bezahlt, dass sie die Launen der Urlauber ertrug, und gab den Leuten das Gefühl, ihre Gesellschaft zu genießen.
Mit der Contessa Barsoli hatte sie jedoch von Anfang an ein Problem gehabt.
Polly hatte sich längst damit abgefunden, dass nicht alle Urlauer, die sie betreute, von ihr begeistert waren. Aber es war ihr wichtig, dass man ihr vertraute. Die Contessa war jedoch vom ersten Moment an irgendwie auf der Hut gewesen. Zuweilen hatte sie sich Polly gegenüber geradezu feindselig verhalten. Zwischen ihnen war keine Herzlichkeit entstanden. Deshalb war Polly sehr erstaunt gewesen, dass die Contessa trotzdem darauf bestand, von ihr nach Süditalien begleitet zu werden. Die ältere Dame war sogar bereit, ihr einen größeren Betrag als Sondervergütung zu bezahlen.
Leicht beunruhigt hatte Polly sich gefragt, ob sie sich für das viele Geld wirklich die Nerven strapazieren lassen wollte.
Wenn sie befürchten müsste, Sandro zu begegnen, würde sie nicht nach Italien fliegen. Es war jedoch beinah unmöglich, ihm ausgerechnet in Neapel über den Weg zu laufen. Dennoch fühlte Polly sich unbehaglich, denn völlig auszuschließen war es nicht.
Man behauptete, die Zeit heile alle Wunden. Die Wunden, die Sandro ihr zugefügt hatte, schmerzten jedoch immer noch.
Polly hatte sich sehr bemüht, den Sommer in Sorrent vor drei Jahren zu vergessen. Doch die Bilder der Vergangenheit stiegen immer wieder vor ihr auf und quälten sie.
Allzu gut erinnerte sie sich an Sandros geflüsterte Worte, seine Hände und seine Lippen, an die Nachmittage und Nächte voller Leidenschaft.
Ich war dumm und naiv, sagte Polly sich verächtlich. Man hatte sie vor ihm gewarnt und behauptet, Sandro suche nur ein sexuelles Abenteuer. Aber sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen.
Sie war überzeugt gewesen, er würde sie lieben und am Ende des Sommers heiraten. Das hatte er ihr versprochen. Ihr hätte auffallen müssen, dass etwas nicht stimmte. Angeblich arbeitete er in einem der großen Hotels. Für einen Kellner oder Barkeeper hatte er jedoch viel zu viel Geld gehabt. Hinzu kam, dass Sandro mindestens dreißig gewesen war, während normalerweise nur jüngere Männer solche Aushilfsjobs annahmen.
Er war ihr immer ein Rätsel gewesen, und das hatte ihr gefallen. Es hatte viele Fragen gegeben, die hätten beantwortet werden müssen. Polly hatte angenommen, sie hätte ihr Leben lang Zeit, die Wahrheit herauszufinden. Aber sie hatte sich getäuscht. Eines Tages tauchte einer seiner Freunde im Designeranzug auf und erklärte ihr, die Affäre mit Sandro sei beendet. Kühl und höflich fügte er hinzu, es sei besser für sie, Sorrent und Italien zu verlassen und nie zurückzukommen. Außerdem forderte der Fremde sie auf, keinen Kontakt mit Sandro aufzunehmen. Als Abfindung bot er ihr fünfzigtausend Pfund an. Zornig hatte sie das Geld zurückgewiesen und den Mann weggeschickt.
Das Schlimmste war jedoch gewesen, dass Sandro nicht den Mut gehabt hatte, selbst mit ihr zu reden und ihr zu erklären, warum er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Schließlich hatte sie getan, was man von ihr verlangt hatte. Sie hätte auch gar nicht länger in Italien bleiben können, dazu war sie zu sehr verletzt. Außerdem hatte sie auch Angst gehabt. Sie hatte nicht wissen wollen, in was für zweifelhafte Geschäfte Sandro verwickelt war, dass er es sich erlauben konnte, ihr so viel Geld anzubieten.
Einige Wochen nach ihrer Rückkehr wurde ihr bewusst, dass sie schwanger war. Sie waren immer vorsichtig gewesen. Nur ein einziges Mal hatten sie sich nicht beherrschen können, und Sandro hatte sich nicht geschützt. In der Nacht musste es passiert sein. Die Aussicht, eine alleinerziehende Mutter zu sein, machte ihr Angst. Dennoch war sie von Anfang an entschlossen gewesen, das Kind zu behalten.
Ihre Mutter schlug eine Abtreibung vor und machte Polly bittere Vorwürfe. Sie erklärte, sie würde der Familie Schande bereiten. Doch im Lauf der Zeit hatte sie sich wieder beruhigt.
Charlie war für sie so etwas wie der Sohn, den sie nicht gehabt hatte. Es hatte auch immer außer Frage gestanden, dass sie sich um den Jungen kümmern würde, sobald Polly wieder arbeitete.
Das war jedoch ein zweischneidiges Schwert, wie Polly sich eingestand. Sie hatte das Gefühl, ihre Mutter würde in ihr eher Charlies ältere Schwester als seine Mutter sehen. Jedes Mal, wenn der Junge weinte, hinfiel oder sonst etwas hatte, war Mrs. Fairfax zur Stelle und tröstete ihn. Polly konnte nur hilflos zusehen.
Ihre Mutter hatte nicht unrecht mit der Behauptung, die Dachgeschosswohnung sei sehr klein. Sie bestand aus einem Bad, einer winzigen Küche, dem Wohnzimmer, in dem Polly schlief, und Charlies kleinem Raum. Die Treppe war sehr steil und das Treppenhaus schlecht beleuchtet. Aber die Miete war nicht hoch, und das Apartment wirkte gemütlich.
Es war ein warmer Abend. Nachdem Polly das Wohnzimmerfenster geöffnet hatte, ließ sie sich in den Sessel sinken. Sie war müde, beunruhigt und deprimiert, und sie vermisste Charlies fröhliches Geplapper.
Aus mehreren Gründen war sie aus dem seelischen Gleichgewicht geraten, wie sie sich eingestand. Sie musste über ihr Leben und eventuelle Veränderungen nachdenken.
Am wichtigsten war, dass sie mehr Zeit mit Charlie verbrachte. Als sie nach seiner Geburt die Stelle bei Safe Hands bekommen hatte, war es ihrer Meinung nach die ideale Lösung gewesen. Sie war oft auf Reisen, und sie verdiente gut, sogar für Londoner Verhältnisse.
Sie musste jedoch nicht unbedingt in London leben und arbeiten. Stattdessen könnte sie in den Südosten Englands ziehen und sich dort eine Stelle bei einem Reisebüro suchen, wo sie pünktlich um fünf Uhr nach Hause gehen konnte. Dann hätte sie mehr Freizeit.
Natürlich konnte sie Charlie tagsüber nicht allein lassen. Aber es wäre wahrscheinlich nicht allzu schwierig, eine jüngere Frau zu finden, die bereit wäre, ihn zu betreuen. Und eines Tages kann ich mir vielleicht ein eigenes Haus mit Garten kaufen, was ich mir in London niemals würde leisten können, überlegte Polly.
Sie machte sich jedoch nichts vor. Es würde Schwierigkeiten geben, wenn sie London wirklich verlassen wollte. Ihre Mutter würde sich mit allen Kräften dagegen wehren und alle möglichen Gründe anführen, warum es unmöglich sei.
Polly beschloss, etwas zu essen, und stand auf. Anschließend wollte sie sich im Internet die Angebote für Häuser in anderen Teilen des Landes ansehen. Ich will keine Zeit mehr verlieren, nahm sie sich vor und war selbst erstaunt darüber, dass sie sich so rasch entschieden hatte. Dazu hatte sicher die bevorstehende Reise nach Italien beigetragen. Polly fühlte sich unbehaglich, zu viele Erinnerungen wurden geweckt.
Sie musste einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und einen neuen Job, eine neue Wohnung und neue Freunde finden.
Dass Sandro Charlies Vater war, konnte sie natürlich nie vergessen. Aber vielleicht würde es im Lauf der Zeit weniger schmerzen.
Der Flug nach Neapel war keine reine Freude gewesen. Die Contessa brauchte Polly als Begleiterin, doch auf ihre Gesellschaft legte sie offenbar keinen Wert. Deshalb saß sie in der ersten Klasse, während Polly mit der Touristenklasse und einem Nachbarn vorlieb nehmen musste, der sich unbedingt mit ihr unterhalten wollte.
Aber nach der Landung in wenigen Minuten würde sie den Mann sowieso nicht mehr wiedersehen.
Obwohl Pollys Nerven zum Zerreißen gespannt waren, wirkte sie äußerlich völlig ruhig. Sie trug die von dem Reiseunternehmen vorgeschriebene Kleidung: ein enges blaues Leinenkleid. Das helle Haar hatte sie hochgesteckt, und sie war dezent geschminkt. Nach der Landung zog sie die blaue Ledertasche mit den Reiseunterlagen und allem, was sie im Notfall für eine Übernachtung brauchte, unter dem Sitz hervor.
Die Contessa Barsoli war eine große, sehr schlanke Frau mit perfekt frisiertem weißem Haar. Sie sah gut aus, wirkte jedoch kühl und distanziert. Von einer Flugbegleiterin ließ sie sich aus dem Flugzeug helfen. Polly folgte ihr und genoss die warme Luft, die ihr entgegenströmte.
Nachdem sie die ältere Dame durch die Passkontrolle geführt und ihr Gepäck von dem Transportband genommen hatte, erklärte die Contessa: „Es hat eine Änderung gegeben. Ich bin zu müde für die lange Weiterfahrt. Deshalb hat mein Neffe für mich eine Suite im Grand Hotel Neapolitana reservieren lassen. Sie werden mich dorthin begleiten.“
Resigniert gestand Polly sich ein, dass sie nicht überrascht war. Die Verzögerung passte ihr jedoch gar nicht, denn sie hatte den Rückflug schon gebucht. Und das wusste die Contessa genau.
„Soll ich mich um ein Taxi kümmern?“, fragte Polly ruhig.
„Um ein Taxi?“, wiederholte die Contessa geradezu empört. „Mein Neffe hat uns einen Wagen mit Chauffeur geschickt. Helfen Sie mir bitte, ihn zu finden.“
Das war kein Problem. Aber das Gepäck der Contessa in der geräumigen Limousine zu verstauen war schon schwieriger. Die ältere Dame nahm sich sehr viel Zeit. Als sie schließlich vor dem Hotel ankamen, war Polly klar, dass sie sich sehr beeilen musste, wenn sie die Maschine nicht verpassen wollte.
Verwundert stellte sie fest, dass die Contessa plötzlich sehr aktiv war. Sie trug sich an der Rezeption selbst ein und gab Polly mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sie dafür nicht brauche. Ihr Gepäck wurde aus dem Auto geholt, und einer der Hotelmitarbeiter brachte sie zum Aufzug.
Dort holte Polly sie ein. „Ich möchte mich verabschieden, dann bin ich vielleicht gerade noch rechtzeitig wieder am Flughafen.“
Die Contessa warf ihr einen strengen Blick zu. „Begleiten Sie mich bitte in die Suite, Signorina. Ich habe Kaffee und Gebäck bestellt. Außerdem habe ich nicht vor, Ihnen das Geld, das ich Ihnen versprochen habe, hier unten im Foyer zu übergeben. Wenn Sie es haben wollen, müssen Sie schon mitkommen.“
Polly stöhnte insgeheim und fuhr mit der Contessa im Aufzug nach oben in die Suite.
Zum Schutz gegen die Sonne waren die Jalousien heruntergelassen, sodass Polly in dem großen Wohnzimmer kaum etwas erkennen konnte. Erst als sie sich an das gedämpfte Licht im Raum gewöhnt hatte, merkte sie, dass jemand am Fenster stand. Die große, schlanke Gestalt des Mannes war ihr allzu vertraut.
„Meine liebe Paola, endlich bist du gekommen“, sagte er und ging mit langen, federnden Schritten auf sie zu.
Polly war die Kehle wie zugeschnürt, und sie brachte kein Wort heraus. Das darf nicht wahr sein, Sandro kann nicht hier in diesem Raum sein, dachte sie nur.
Als er die Hand nach ihr ausstreckte, schrie Polly auf und wollte ihn abwehren. Plötzlich schienen sich die Schatten um sie her zu verdichten, und sie hatte das Gefühl, in völlige Dunkelheit zu gleiten.
Langsam kam Polly wieder zu sich. Sie hörte Leute sprechen. Demnach war sie nicht allein. Schließlich öffnete sie die Augen und stützte sich auf den Ellbogen. Sie lag in einem breiten Bett. Man hatte ihr die Schuhe ausgezogen und die obersten Knöpfe des Kleides geöffnet.
Dann entdeckte sie die Contessa, und im Hintergrund stand Sandro. Er hatte sich halb abgewandt. Ich habe es mir nicht eingebildet, sondern er ist wirklich hier, dachte Polly. Sie kam sich vor wie in einem Albtraum.
Sandro war nicht mehr der unbekümmerte, fröhliche Mann in T-Shirt und Shorts, in den sie sich damals verliebt hatte. Jetzt trug er einen eleganten dunklen Designeranzug, ein weißes Seidenhemd und eine Krawatte, und sein gelocktes dunkles Haar war nicht mehr so lang.
Die Geschäfte, die er macht, sind offenbar sehr einträglich, überlegte sie schmerzerfüllt. Zorn stieg in ihr auf. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was für Geschäfte es sein mochten.
Er wirkte sehr beherrscht und hatte offenbar keine Schuldgefühle. Er strahlte Macht aus, und Polly spürte, dass er seinen Zorn nur mühsam unterdrücken konnte. Seine Emotionen schienen sich auf sie zu übertragen so wie damals seine Leidenschaft.
Sie war schockiert darüber, wie heftig sie immer noch auf ihn reagierte. Und sie schämte sich deswegen. Hatte sie etwa vergessen, wie brutal er sie zurückgewiesen hatte und dass er ihr Geld hatte anbieten lassen, damit sie aus seinem Leben verschwand? Sie brauchte sich nur daran zu erinnern, wie verzweifelt sie gewesen war und wie einsam und verlassen sie sich gefühlt hatte, nachdem sie Italien geradezu fluchtartig verlassen hatte.
Ich muss hier weg, sagte sie sich und richtete sich auf. Doch prompt wurde ihr schwindlig.
Sandro machte einige Schritte auf sie zu und hielt inne, als sie unwillkürlich zusammenzuckte. „Ich gebe zu, es ist kein angenehmer Anblick“, erklärte er kühl. „Man hätte dich darauf vorbereiten müssen.“
Als er näher kam, entdeckte sie die Narbe, die seine eine Gesichtshälfte vom Augenwinkel bis zum Kinn verunstaltete. Er wirkte viel älter, und in seinen braunen Augen lag so etwas wie Müdigkeit oder Erschöpfung.
Polly wurde klar, dass er annahm, sie fände seinen Anblick abstoßend. Sie atmete tief ein. Er wollte ihr Mitleid nicht, und er hatte es auch nicht verdient. Für seinen Reichtum und seine Macht hatte er offenbar einen hohen Preis bezahlt. Polly konnte froh sein, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun hatte.
„Ich verstehe das alles nicht“, brachte sie angespannt hervor. „Was ist passiert?“
„Sie sind ohnmächtig geworden, Signorina“, antwortete die Contessa. „Sie sind vor meinem Neffen zusammengebrochen.“
„Vor Ihrem Neffen?“, wiederholte Polly wie betäubt. „Soll das ein Scherz sein?“
Die Contessa zog arrogant die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Alessandro ist der Sohn des Cousins meines verstorbenen Mannes. Er ist dessen einziges Kind.“
„Nein, das kann nicht sein“, flüsterte Polly.
„Ich bin nicht daran gewöhnt, dass man meine Worte in Zweifel zieht, Signorina Fairfax“, stellte die Contessa kühl fest. „Aber da es Ihnen momentan nicht gut geht, verzeihe ich Ihnen.“ Sie reichte Polly ein Glas Wasser. „Trinken Sie das bitte. Ich lasse Ihnen etwas zu essen kommen. Danach geht es Ihnen bestimmt wieder besser.“
„Vielen Dank. Ich möchte nichts essen.“ Polly trank das Wasser und stellte das Glas hin, ehe sie versuchte aufzustehen. „Ich muss mich verabschieden, sonst verpasse ich den Rückflug.“
„Das ist nicht nett von dir, meine liebe Paola“, sagte Sandro viel zu sanft. „Ich habe dich extra herkommen lassen, um dich wiederzusehen.“
„Dann hast nur deine Zeit verschwendet“, entgegnete Polly. „Ich wollte dich nicht wiedersehen.“ Es überlief sie kalt. Sie war in eine Falle geraten. Die Contessa hatte sie hereingelegt. Offenbar hatte Sandro starken Einfluss auf sie.
„Meinst du nicht, du könntest etwas netter zu mir sein?“ Sandro verzog die Lippen. „Immerhin hat uns einmal viel verbunden.“
„Es gibt für mich keinen Grund, nett zu dir zu sein. Ich bin nur hier, weil ich die Contessa begleitet habe. Außerdem hat uns nichts verbunden“, erwiderte Polly angespannt.
„So? Dann muss ich wohl dein Gedächtnis auffrischen, meine Liebe.“
„Danke, das ist nicht nötig“, entgegnete sie hitzig. „Es würde sowieso nichts ändern. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“ Sie atmete tief ein. „Und jetzt möchte ich gehen.“
Sandro schüttelte den Kopf. „Du irrst dich, meine Liebe. Es gibt sehr viel zu sagen, sonst wäre ich nicht hier. Aber es ist wahrscheinlich besser, wir unterhalten uns unter vier Augen.“ Er drehte sich zu der Contessa um. „Würdest du uns bitte allein lassen, Antonia?“, fragte er höflich.