Bruch: Durch finstere Zeiten - Frank Goldammer - E-Book

Bruch: Durch finstere Zeiten E-Book

Frank Goldammer

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Beschreibung

Prepperszene und Polizistenmord. Gekonnt verpackt Goldammer aktuelle Themen in einen starken Plot. In den frühen Morgenstunden werden zwei Polizisten auf einer Landstraße bei Dresden erschossen. Die junge Beamtin und der Familienvater waren beliebt und unauffällig, in ihrem Umfeld finden die Ermittler Felix Bruch und Nicole Schauer zunächst keine Spur. Zeugen wollen einen schwarzen Pick-up am Tatort gesehen haben. Dessen mutmaßlicher Besitzer führt die Ermittler in ein Milieu des Untergangs – zu einem Prepper, einem Mann, der an den Ernstfall glaubt und sich akribisch darauf vorbereitet. Je tiefer Bruch und Schauer in dessen Welt eindringen, desto radikaler wird die Stimmung seiner Unterstützer. Als im Wald eine weitere Leiche gefunden wird, spitzt sich die Lage zu. Bruch jedoch ist der festen Überzeugung, dass die Lösung ganz woanders liegt ...

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Frank Goldammer

Bruch: Durch finstere Zeiten

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Nichts ist, wie es scheint.

In der Abenddämmerung werden zwei Polizisten kaltblütig auf einer Landstraße erschossen. Die Ermittler Bruch und Schauer stehen vor einem Rätsel – niemand kann sich erklären, was die Streife außerhalb von Dresden wollte, die Opfer waren beliebt und unauffällig. Zeugen wollen einen schwarzen Pick-up in der Nähe des Tatorts gesehen haben. Diese Spur führt sie zu einem Mann, der sich als Prepper erweist. Je tiefer die Ermittler in seine Welt eindringen, desto radikaler wird die Stimmung seiner Unterstützer. Als nahe seinem Grundstück eine weitere Leiche gefunden wird, spitzt sich die Lage zu. Bruch ist jedoch der festen Überzeugung, dass sie an der falschen Stelle ermitteln …

 

Realistisch, fesselnd, aufregend.

Der dritte Fall für Bruch und Schauer.

Vita

Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist Handwerksmeister und kam, neben seinem Beruf, schon früh zum Schreiben. Mit seinen Büchern landet er regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Der Autor lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Silas Manhood/Trevillion Images; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01914-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

1

Die Räder des BMW rauschten über den Asphalt. Das Scheinwerferlicht durchschnitt die Finsternis. In dem kleinen Waldstück war es völlig dunkel, obwohl es erst kurz nach fünf am Nachmittag war. Es war Mitte März, der letzte Schnee längst geschmolzen, trotzdem wollte es nicht Frühling werden. Der Himmel ewig trüb. Die Felder aufgeweicht und matschig. Alles braun und grau hier auf dem Land.

Nicole Schauer kniff die Lippen zusammen. Der Fahrer des Audi vor ihnen benötigte einige Augenblicke, um das Blaulicht in seinem Rückspiegel zu bemerken, und noch ein paar, um endlich zu reagieren. Schauer schnaufte ungehalten, drückte das Gaspedal des Dienstwagens durch. Der BMW beschleunigte, schoss an dem Audi vorbei, der nur ein wenig nach rechts gefahren war und sein Tempo lediglich leicht gedrosselt hatte, anstatt anzuhalten. Als sie wieder auf die rechte Fahrbahn einscherte, fühlte sie das Heck leicht ausbrechen, fing den Wagen jedoch ab. Sie fragte sich, ob Bruch, der neben ihr saß, das auch bemerkt hatte. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken. Wie immer.

Mehrmals blendete der Gegenverkehr auf, wenn sie die Kurven leicht schnitt. Dann spürte sie Wut aufkeimen, weil sie Polizisten waren und die anderen ihnen unmittelbar Platz machen sollten. Es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben, sich zu ermahnen, dass die Fahrer das sicherlich erst realisierten, wenn der BMW an ihnen vorbeigeschossen war.

Kaum aus dem Waldstück heraus, sie waren keine fünfhundert Meter vorbei an graugrünem Feld gefahren, tauchten sie schon wieder in den nächsten Wald ein. Gleich danach eine Kurve, enger als vermutet. Sie hatte alle Not, den Wagen in der Spur zu halten, ließ nur das Gas los, verbot sich, auf die Bremse zu treten, der Wagen würde sofort ausbrechen. Und Bruch? Saß neben ihr und starrte nach vorn. Als hätte es nie einen Unfall gegeben, bei dem er ebenso auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, er aus dem Wagen geschleudert und sein Kollege ums Leben gekommen war. Vor gerade mal einem halben Jahr. Vertraute er ihren Fahrkünsten so sehr? Oder war es ihm so vollkommen egal? Was sie sich noch darüber Gedanken machte. Letzteres natürlich.

Wieder wurden sie von einer Kolonne Fahrzeuge aufgehalten. Alles Pendler. Früh aus dem Haus, schönes Eigenheim, eine Stunde rein nach Dresden zum Arbeitsplatz – gar nicht schlimm, wenn man sich mal dran gewöhnt hat, nachmittags wieder eine Stunde nach Hause – das ist nun mal der Preis, den man zahlte, wenn man ruhig und preiswert wohnen wollte. Schauer wartete nicht, ob jemand rechts ranfuhr. Sie beschleunigte, zog links an allen vorbei. Bruch blieb stoisch. Beschwerte sich nicht, obwohl sie gar nicht rasen müssten. Es war längst alles zu spät. Und je näher sie kamen, desto mehr spürte sie die Angst in sich hochkriechen.

 

Sie fürchtete sich, wusste Bruch. Deshalb fuhr sie so schnell. Um sich abzulenken. Weil sie konzentriert bleiben musste. Doch sie fürchtete sich vor dem, was sie sehen würden. Eigentlich hatten sie gerade Dienstschluss gehabt. Wären heimgefahren. Jeder in seinen kleinen Kasten, den sie Leben nannten. Er zu seiner Katze in den Plattenbau, umgeben von Tausenden Geräuschen und Gerüchen und dennoch allein. Sie in ihr teures Wohnviertel, in die schöne kleine Wohnung, in der nichts war als die Erinnerungsfetzen einer gescheiterten Beziehung, die sie nach Dresden geführt hatte. Sie war genauso allein wie er. Nur dass seine Einsamkeit auf seiner Vergangenheit und den Tabletten beruhte, die er einnahm. Ihre eigene Einsamkeit hatte sie selbst verschuldet. Der Zorn schwelte in ihr. Ihre Unwilligkeit, sich anzupassen, war offensichtlich. Am meisten mangelte es ihr aber an der Einsicht, dies zuzugeben, sich dies einzugestehen. Aber wer war er schon, sie darauf hinzuweisen?

Sie fürchtete sich. Wünschte sich sicherlich, aus dem Funkgerät kämen neue Anweisungen. Mehrmals schon hatte sie geprüft, ob es funktionstüchtig war, vermutlich hatte sie es gar nicht bewusst getan. Zwei Polizisten waren tot. In einem Waldstück, mitten auf der Straße lagen sie. Aus nächster Nähe erschossen, hieß es. Eine von beiden eine ganz junge Frau, gerade fertig mit der Ausbildung, noch kein halbes Jahr im Dienst. Trotz allem, was Nicole in ihren Dienstjahren schon gesehen hatte, davor fürchtete sie sich. Es war immer schlimm, wenn ein Mensch ermordet wurde. Zumindest das wusste er noch, auch wenn es ihm meist verwehrt war, irgendeine Emotion wahrzunehmen. Doch wenn es einen von ihnen erwischte, einen Polizisten oder sogar zwei, dann fuhr es ihnen durch die Glieder, dann fühlten sie sich alle angegriffen, dann war es, als hätte es ein Familienmitglied getroffen. Dann machte es blitzschnell die Runde, dann riefen sie sich an, weckten diejenigen, die in der Nachtschicht waren, schrieben jenen, die sich im Urlaub befanden. Und vor allem war der Druck, Ergebnisse zu liefern, die Tat aufzuklären, noch ungemein höher.

«Brems!», sagte er.

 

Schauer bremste automatisch, obwohl sie gar nicht sah, aus welchem Grund. Im nächsten Moment sprang ein Reh über die Straße, keine zwei Meter vor ihnen, kollidierte fast mit einem entgegenkommenden Auto, verschwand auf der anderen Seite im Wald.

Von einer Sekunde zur nächsten war es wie aus dem Nichts aufgetaucht. Einzig das kurze Tippen aufs Bremspedal hatte den Unfall verhindert. Doch schon waren sie hundert Meter weiter, keine Zeit, sich noch darüber Gedanken zu machen. Sie begriff nicht, wie Bruch das Reh gesehen hatte. Tja, das war Felix Bruch. Bekam sonst das Maul nicht auf. Sagte nicht Guten Tag und Tschüss. Sagte nicht Bitte und nicht Danke, starrte in die Ferne, ins Leere. Sie selbst hatte ihn davon überzeugt, die Tabletten weiter zu nehmen. Dann war er berechenbarer. Lieber so, abgestumpft, emotionslos, aber funktionierend, lenkbar. Lieber das als die beiden anderen Extreme, die sie schon erlebt hatte. Manisch, überdreht, blitzschnell, immer drei Gedanken voraus. Oder depressiv, wie tot im Bett liegend, an die Decke starrend.

Schon hatten sie das nächste Waldstück passiert. Wieder schien der Himmel über dem freien Feld eine Nuance dunkler. Weiter vorn erkannte sie eine lange Reihe von Bremslichtern, dort wurde der Verkehr aufgehalten. Heute war nichts mit pünktlichem Abendbrot, werte Pendler. Das würde sich hinziehen. Über Funk hatten sie Straßensperren angeordnet. Die Straße wand sich in einer leichten Kurve übers Feld. Brauner Acker, sanft ansteigend, eine Anhöhe. Für einen Moment war sie abgelenkt. Ein großer Hund schien da zu stehen, ganz allein. Aber was machte der Köter da, und warum sah er so riesig aus?

Ein Wolf, dachte sie, meine Güte. Na klar, die rannten hier seit ein paar Jahren wieder herum. Rissen dutzendweise Schafe. Zumindest erzählten das die Leute. Aber jetzt und hier? Sie sah nach rechts. Bruch hatte den Kopf gedreht, sah dem Tier nach. Er hatte es also auch gesehen, und das hatte ihn immerhin veranlasst, sich zu bewegen. Und schon fuhren sie ins nächste Waldstück, erreichten das Ende des Staus, wo zwei uniformierte Polizisten standen und sie anhielten.

Trotz des Blaulichts und der quäkenden Sirene wurden sie gestoppt, mussten ihre Ausweise vorzeigen. Dann wurden sie an der Reihe der Autos vorbeigeleitet, die am Straßenrand warten mussten.

«Brems!», sagte Bruch noch einmal, doch diesmal hatte sie selbst gesehen, dass einer der Fahrer die Geduld verloren hatte und ausscherte, um zu wenden, just in dem Moment, als sie kamen, und ganz sicher, ohne in den Rückspiegel zu sehen. Absichtlich passierte sie ihn so knapp, dass es ihm eine Lehre sein würde, dies noch mal zu tun. Wieder hielt sie ein Uniformierter auf, kontrollierte noch einmal ihre Ausweise, winkte sie durch. Die Kolonne an Fahrzeugen, die sie jetzt überholten, schien endlos. Doch trotzdem waren es nur noch wenige Sekunden, da tauchten sie in eine Blase aus blinkenden Lichtern, verursacht von Rettungswagen, Polizeifahrzeugen, Scheinwerfern. Ein Polizist wies ein paar Leute an, eine Gasse für ihren BMW zu bilden. Auch er wollte noch einmal ihre Ausweise sehen.

«Stellen Sie das Auto am besten da drüben ab.» Er zeigte nach links, hob dann das Flatterband an, damit der Wagen passieren konnte.

Schauer folgte seiner Anweisung, stellte den Motor aus. Eine Sekunde hielt sie inne. Ich kann das nicht, wollte sie sagen. Ich kann nicht. Doch Bruch hatte die Tür schon geöffnet, stieg aus.

«Komm», sagte er, und das verblüffte sie. Er musste es gespürt haben, denn sonst sagte er nie so etwas. Sie atmete durch, stieg ebenfalls aus. Also gut, sagte sie sich, es ist dein Job, selbst ausgesucht. Selbst gewähltes Leid. Jetzt warf sie die Tür zu, schob die Hände in die Jackentaschen. Bruch war schon losgelaufen, langsam. Sie holte ihn ein, bestimmte das Tempo, lief einen halben Schritt vor ihm. Sie liefen dem Zentrum des Geschehens entgegen. Drei Rettungswagen standen hier, vier Streifenwagen, ein Transporter. Zehn, zwanzig Leute. Die meisten standen nur, gaben den Weg frei. Gesichter drehten sich ihnen zu. Jetzt wurden sie nicht mehr nach Ausweisen gefragt. Stattdessen sah man sie an, als erhoffte man sich von ihnen die Rettung, die Lösung, Anweisungen, Befehle. Jetzt waren sie die Instanz. Ein Mann in Zivil drehte sich nach ihnen um, ließ sogleich von seinem Gesprächspartner ab, kam auf sie zu. Schauer hämmerte das Herz in der Brust. Ihre Narben begannen zu schmerzen. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Dahinten, etwa dreißig Meter weiter, hinter einer weiteren Flatterbandsperre, um die herum mehr Leute standen, Uniformierte hauptsächlich, sah sie die beiden Toten auf der Straße liegen.

«Schauer und Bruch?», sagte der Mann. Trotz der blauen und orangefarbigen Lichter, die in seinem Gesicht reflektierten, war es grau und steif, als trüge er eine Maske. Schauer nickte.

«Grundke, Polizeiobermeister, Dienststelle Radeberg. Wir sind dem Revier in Kamenz unterstellt. Bin eigentlich außer Dienst, deshalb Zivil. Man rief mich, weil ich nicht weit weg von hier wohne.»

«Können Sie einen kurzen Lagebericht geben?», bat Schauer, bemühte sich, ihre Stimme beherrscht klingen zu lassen. Sie musste jetzt Ansagen machen.

Grundke sah auf die Uhr. «Vor einer knappen Stunde ging ein Notruf ein. Eine Frau meldete zwei leblose Menschen auf der Straße. Sie wollte anonym bleiben, doch ihre Nummer lässt sich bestimmt zurückverfolgen. Sie wollte nicht halten, weil sie allein war und Angst hatte. Kurz darauf gingen weitere Notrufe ein. Andere Autofahrer hielten. Der Transporter da, das war der erste. Der Mann hielt an, traute sich, zu den Kollegen hinzugehen, und stellte fest, dass beide tot waren. Inzwischen waren aber schon zwei Streifenwagen unterwegs, beide vom Revier Kamenz, und der Rettungsdienst war auch schon ausgefahren. Sie trafen dreizehn Minuten nach dem ersten Anruf ein, doch es gab keine Möglichkeit, etwas für die Opfer zu tun. Die Kollegen vom Streifendienst sperrten den Bereich ab, stoppten den Durchgangsverkehr. Von den ersten Leuten vor Ort haben sie die Personalien aufgenommen. Spurensicherung ist auf dem Weg.»

Die ersten Fahrzeuge sind also vorbeigefahren, fasste Schauer für sich zusammen. Wer weiß, wie viele. Die müssen regelrecht drum herumgefahren sein. Die Spuren zeigen, dass die Autos über den Fahrbahnrand der Gegenfahrbahn und dann zurück auf die Spur gefahren sind.

«Und was ist passiert?», fragte Schauer.

«Sie können gleich selbst sehen.»

«Ich meine, wie kamen sie ums Leben?» Noch konnte sie professionell tun, doch gleich gingen ihr die Fragen aus. Warum nur scheute sie sich so? Sie hatte alles gesehen. Ertrunkene, Erhängte, Verbrannte, Drogentote, Totgeschlagene. Mädchen, die sich versehentlich den goldenen Schuss gesetzt hatten, überfahrene Kinder. Selbst schuld, wenn man sich diesen Job aussuchte.

Grundke quälte sich, es auszusprechen. «Zwei Schüsse auf jeden, die Ärzte sagen, aus nächster Nähe.»

«Ist das eine sehr belebte Straße?», fragte sie. Sie wusste, viel länger würde sie es nicht herauszögern können, sich die Toten anzusehen.

«Eher eine Nebenstraße, nur so jetzt im Berufsverkehr ist was los. Früher war es nur eher so ein Geheimtipp. Inzwischen wissen aber zu viele davon.»

«Also was?», hakte Schauer nach. «Sehr belebt oder nicht?»

Grundke nickte. «Im Berufsverkehr ist sie sehr belebt.»

«Das kann also kaum ohne Zeugen geschehen sein.» Schauer sah zu Bruch. Der sagte gar nichts. Scannte die Gegend oder starrte einfach nur. Manchmal mochte sie ihm eine klatschen, einfach nur um zu sehen, ob er noch bei sich war. Und um ihren Frust loszuwerden.

«Also gut, sehen wir es uns an.»

Grundke trat zur Seite, ließ sie vorgehen. Ehe sie die zweite Absperrung erreichten, warf sie Bruch noch einen verstohlenen Blick zu. Der zeigte keine Regung, schien gar nicht auf die Toten zu achten. Jetzt drehten sich die Uniformierten, die an der inneren Absperrung standen, nach ihnen um. Wieder tat sich ihnen eine Gasse auf, breiter als nötig, ungefragt hob jemand das Absperrband an. Das war ihr Ruf, wusste Schauer. Bruchs Aura des Unberührbaren, des Aussätzigen hatte auch auf sie abgefärbt. Erst recht nach dem Tod des Chefs der Mordkommission, Karsten Simon, der im Präsidium, in seinem Büro, an seinem Schreibtisch sitzend, erschossen wurde.

Eine Sechzehnjährige sollte es gewesen sein, deren Motiv: Rache. Längst war sich die Öffentlichkeit einig, dass dies nicht stimmen konnte, zumindest die in den sozialen Medien. Nicht die öffentliche Öffentlichkeit. Wenzel, ihr neuer Chef, hielt den Fall für abgeschlossen, so wurde es in der Presse kommuniziert. Schauer wusste es besser. Es gab keinen Beweis, dass die Täterin auch nur in der Nähe des Präsidiums gewesen war. Das Motiv war viel zu schwach. Und Simon war weit vor Dienstbeginn in seinem Büro gewesen, so als hätte er eine Verabredung gehabt. Als hätte man ihn bestellt. Eine kurze Zeit lang war sie überzeugt gewesen, Bruch hätte Simon umgebracht, und wohl die meisten, die Bruch kannten, trauten ihm das zu. Er hatte geschworen, dass er es nicht gewesen war. Nein, nicht geschworen. Bei Weitem nicht. Einen einzigen Satz hatte er gesagt: Ich habe Simon nicht erschossen.

 

Bruch trat an die beiden Toten heran, während Schauer hinter ihm zögerte. Einer der beiden, ein Mann, lag lang gestreckt auf dem Rücken, die Füße etwa in der Mitte der Fahrbahn in Richtung Dresden, der Kopf über dem Mittelstreifen. Seine Kollegin fast parallel neben ihm. Ihr Streifenwagen stand mitten auf der Fahrbahn, die Zündung immer noch eingeschaltet, auf dem Dach signalisierte das Display in Spiegelschrift: Stopp Polizei.

Bruch sah zum Straßenrand, da waren im Dreck neben der Grasnarbe Reifenspuren zu erkennen. Sie hatten einen Wagen zum Halten gezwungen. Sie waren ausgestiegen, ans Fahrerfenster getreten, um Führerschein und Ausweis zu verlangen. Die Schüsse müssen sofort gefallen sein. Bruch drehte sich wieder zu den Toten um. Die Polizistin hielt ihre Waffe in der Hand. Trotzdem sie die Pistole gezogen hatte, war sie von dem Schuss überrascht worden, so schnell muss es gegangen sein. Sicherlich hatte der Täter zuerst auf sie geschossen. Ihr Kollege hatte seine Hand noch an die Waffe legen können. Dort befand sie sich noch, die Finger um den Griff geschlossen. Zwei Sekunden zu spät. Zwei Sekunden, die über Leben und Tod entschieden.

Schauer trat neben ihn.

«Das war eine regelrechte Hinrichtung», hauchte sie, um Fassung bemüht.

«Der erste Schuss hat die Schutzwesten nicht durchdrungen», sagte er, «aber beide wurden von dem Aufprall der Kugeln umgeworfen und waren besinnungslos oder bewegungsunfähig.»

«Woher willst du das wissen?»

«Weil der Täter Zeit hatte, ihnen in den Kopf zu schießen.»

Bruch hockte sich hin, tastete nach der Eintrittsstelle der Kugel. Bei dem Mann musste man nicht suchen, die Kugel hatte das halbe Gesicht zertrümmert. Dem Schusswinkel nach, war der Täter vermutlich nicht einmal aus dem Wagen gestiegen. Er musste auch diese Schüsse aus dem Fenster heraus abgegeben haben.

«Mensch, Felix», flüsterte Schauer. Warum Menschen das tun mussten, fragte er sich. Ihrer Erschütterung Ausdruck verleihen. Es änderte gar nichts. Er erhob sich wieder, ging zwei Schritte zum Straßenrand, leuchtete mit der Lampe den Seitenstreifen ab.

«Er hat ein Stück zurückgesetzt», schlussfolgerte er dann.

«Wie meinst du?», fragte Schauer.

«Er fuhr zwei Meter zurück.»

«Warum? Um ihr besser in den Kopf …» Schauer schloss den Mund.

Bruch nickte ihr zuliebe, er wusste, dass sie diese kleinen Zeichen brauchte. Das schloss eine Kurzschlusshandlung aus. Wer so viel Verstand bewies, den Rückwärtsgang einzulegen, ein Stück zurückzufahren, um besser zielen zu können, handelte nicht im Affekt. Dies hier war Heimtücke.

 

Ihr war speiübel. Es war noch schlimmer als gedacht. Das war eine neue Dimension. Auf offener Straße abgeknallt. Zwei Menschenleben ausgelöscht. Ohne Skrupel. Wie alt war das Mädel gewesen, gerade fertig ausgebildet? Dreiundzwanzig? Was hatte sie von ihrem Leben gehabt? Nichts. Was mochte ihr letzter Gedanke gewesen sein? Verstand sie überhaupt, was vor sich ging? Schauer konnte ihren Blick nicht von dem Elend wenden. Wer auch immer hatte ihr ins Gesicht geschossen. Sie war versucht, der jungen Frau die Hand zu halten. Sie wusste, das war Blödsinn, sie war so tot, wie es nur ging, aber ein letzter Gruß, ein Abschied. Irgendetwas Menschliches. Die war doch eigentlich noch ein Kind gewesen.

«Es ist ein Dresdner Streifenwagen», sagte Bruch. Er hatte sich gelöst, ließ seinen Blick suchend über den Straßenbelag streifen, über das Gras am Rand.

Schauer nahm die Hand zurück, die sie schon ausgestreckt hatte. «Du meinst, sie hatten hier eigentlich nichts zu suchen?»

Bruch erwiderte nichts.

«Vielleicht haben sie jemanden verfolgt», sagte sie. Doch dafür stand ihr Wagen eigentlich in der falschen Richtung, wenn sie jemanden von Dresden weg aufs Land gefolgt waren.

«Ob das Zufall war?», fragte sie laut, damit er sie hören konnte, denn Bruch war ein paar Meter weitergelaufen, aus dem Licht heraus. Dann zeigte er auf den Boden. Schauer erhob sich und ging zu ihm. Eine Patronenhülse lag da. Von einem Autoreifen zerdrückt, vermutlich vom Fahrzeug des Täters.

«Kein Zufall», sagte Bruch und beließ es einmal mehr dabei, dem keine Erklärung hinzuzufügen.

Schauer schnaubte nur. «Die sehen einen verdächtigen Wagen. Sie halten ihn an, und der Typ erschießt sie.» Und wer weiß, wie viele das gesehen haben, dachte sie weiter.

«Was soll ihn verdächtig gemacht haben?», fragte Bruch.

«Dann eben doch Zufall. Die halten einen an, der was zu verbergen hat. Einen Wilderer oder einen Drogenkurier. Oder er hatte illegale Waffen bei sich. Oder illegale Einwanderer.»

Bruch blieb stehen und deutete auf eine Stelle im dreckigen Gras. Eine weitere Patronenhülse glänzte dort matt. Schauer rieb sich über das Gesicht. Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man glauben, er hörte ihr gar nicht zu. Lief herum, fand Hülsen wie andere Leute Pilze. Gab keinen Ton von sich. Beteiligte sich an keinem Gedanken, war weder dafür noch dagegen.

«Kein Zufall», wiederholte er noch einmal und ganz unvermittelt.

«Was ist deine Vermutung?», fragte sie.

Bruch erwiderte nichts. Stattdessen starrte er in den Wald.

«Gut», fuhr Schauer auf. «Was tun wir?»

«Straßensperren», sagte Bruch.

«Straßensperren gibt es schon. Aber überleg mal, wonach sollen die suchen? Nach einer Waffe? Einer Pistole? Und in welchem Umkreis, wohin kommt man in einer Stunde? So viele Polizisten gibt es gar nicht auf der ganzen Welt.»

Bruch blieb ungerührt. «Die Straßensperren müssen ausgeweitet werden. Hubschrauber mit Wärmebildkamera benötigen wir. Sie sollen die Umgebung nach abgestellten Fahrzeugen absuchen.»

«Nach einer Stunde ist auch ein Motor abgekühlt», widersprach sie und spürte, dass sie das nur reflexhaft tat. Eigentlich war es eine gute Idee.

2

Er war spät in der Nacht heimgekommen, hatte seiner Katze zu fressen gegeben. Dann hatte er sich ins Bett gelegt, um nach gerade fünf Stunden wieder aufzustehen. Geträumt hatte er. Das kam sonst nie vor. War es überhaupt ein Traum gewesen? Eigentlich nur eine Erinnerung. Der Wolf auf dem Feld.

Jetzt saßen sie im Beratungsraum.

«Also, was haben wir?», fragte Wenzel in die Runde, es war kurz nach sieben. Dann sah er Schauer an. Bruch sollte das recht sein.

«Nicht viel», antwortete Schauer, nachdem sie ihm jetzt doch einen mürrischen Blick zugeworfen hatte. Auch das löste in ihm nichts aus. Sie tat immer, als hätte sie all die Arbeit, müsste für alle die Ansprechpartnerin sein. Doch er wusste, in Wirklichkeit mochte sie das, hatte sich in diese Rolle gefügt. Seine Kollegin zu sein war kein Makel mehr für sie. Vermutlich fühlte sie sich eher wie eine Marinetaucherin oder eine Kanalarbeiterin, die knietief im Dreck stand, auf jeden Fall eine, die einen richtig harten Job machte. Und je dreckiger und härter ein Job war, desto stolzer konnte man doch darauf sein.

«Zwei tote Kollegen», fasste Schauer zusammen, übernächtigt sah sie aus. «Obermeister Oliver Kummer, achtunddreißig. Polizeimeisterin Melanie Wemke, vierundzwanzig. Beiden wurde mit einer Neun-Millimeter-Pistole je in die Brust und anschließend in den Kopf geschossen.»

Den Anwesenden entfuhr an dieser Stelle ein Seufzen. Das erschütterte sie. Es hatte welche von ihnen erwischt. Eine junge Frau und einen Familienvater. Schmidtke, die sich sonst immer tough gab, wischte sich die Augen.

«Die Schutzwesten hielten den Schüssen stand, doch die Wucht des Aufpralls ließ beide Kollegen stürzen, vermutlich bewusstlos. Nach erster Analyse wurden die Patronen speziell für die Pistole Makarov PM hergestellt. Man kann davon ausgehen, dass diese Waffe aus ehemaligen Armeebeständen der vierundneunzig abgerückten Sowjetarmee stammt. Wie viele davon illegal im Umlauf sind, ist unmöglich zu beziffern», las Schauer von einem Blatt ab, das man ihnen kurz zuvor in das Besprechungszimmer gereicht hatte.

«Keine Zeugen?», fragte der Kollege Buchholz.

Schauer legte den Zettel weg. «Es gab sieben Anrufe beim Rettungsdienst, vier Mal wurde der Polizeinotruf genutzt. Man ist dabei, die Anrufer zu identifizieren. Zuerst angehalten und einen Versuch der Ersten Hilfe geleistet hat ein Handwerker.»

«Elf Leute haben einen Notruf abgegeben und sind weitergefahren?», rief jemand entrüstet.

Schauer zuckte nur mit den Achseln. Wieder sah sie Bruch an. Dieser Vorwurf betraf sie gar nicht, trotzdem schien sie um Hilfe zu bitten.

«Sie hatten Angst», sagte er deshalb und erntete Schweigen. Wem konnte man zumuten, anzuhalten und auszusteigen, mitten im Wald, ohne zu wissen, ob sich der Schütze nicht vielleicht zwischen den Bäumen versteckte?

«Nun», fühlte sich Wenzel bemüßigt zu sagen, «es herrscht ja hier eine gewisse Ignoranz den Staatsdienern gegenüber.»

«Was soll denn das heißen?», fragte Schmidtke, die sich von dieser sehr verallgemeinerten Unterstellung getroffen fühlte und den Anlass nutzte, sich von ihrem Entsetzen abzulenken.

«Es gibt Reifenspuren, die noch analysiert werden, sehr breit, stark profiliert», unterband Schauer eine weitere Diskussion. «Genaues gibt’s noch nicht, jedoch deuten sie auf ein größeres Fahrzeug hin. Sonst haben wir vorerst keine weiteren Anhaltspunkte. Es gab einige stichprobenartige Fahrzeugkontrollen, ein Hubschrauber hat die Umgebung nach verdächtigen Fahrzeugen abgesucht, doch alles ohne Ergebnis. Beide Kollegen kommen vom Polizeirevier Nord auf der Stauffenbergallee. Was sie außerhalb der Stadtgrenzen zu erledigen hatten, ist unbekannt. Bis zu ihrem Tod wurden sie betreffend keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Einen besonderen Auftrag hatten sie nicht. Sie haben das Streifengebiet verlassen, ohne sich abzumelden.»

«Warum sollten sie das tun, ohne wenigstens über Funk Bescheid zu geben?», fragte jemand.

Schauer hob nur die Schultern, sie hatte eine vage Idee, sah Bruch, doch sie genierte sich, wollte nicht diejenige sein, die damit herauskam.

«Vielleicht haben sie einen privaten Weg erledigt», meinte jemand.

Das kam Schauers Idee nahe, aber sie hatte etwas anderes im Sinn. Bruch sah, wie es in ihr arbeitete. Er wusste, was sie sagen wollte, er könnte es aussprechen für sie. Doch er würde es nicht tun. Es hatte keine Relevanz.

Wieder hielt Oberkommissarin Schmidtke dagegen. «Die waren gerade ein paar Wochen zusammen auf Streife. Ich glaube nicht, dass der Obermeister sich auf eine Privatfahrt eingelassen hätte.»

Wieder eines der unnötigen Scharmützel, um die Sache zu verarbeiten.

«Würde ich nicht drauf wetten», konterte Buchholz, «junge Frauen können schon überzeugende Argumente haben.»

«Das ist sexistisch!», blaffte Schmidtke.

«Das ist Realität!», erwiderte Buchholz. Auch er war nicht frei von Dünkel. Ihn wurmte, dass man ihn nicht zum Ersten Hauptkommissar gemacht hatte, sondern Wenzel, einen aus dem Westen.

«Kollegen», mahnte der jetzt, «gerade jetzt sollte keine Zwietracht in unseren Reihen entstehen. Noch haben wir keinen Ermittlungsansatz. Lassen Sie uns offen allen Ideen gegenüber sein.»

Etwas Ähnliches hatte er auch vor drei Monaten gesagt, als Simon an seinem eigenen Schreibtisch umgebracht worden war. Stattdessen aber haben sie in der Leitung und der Presseabteilung alles getan, um die wildesten Gerüchte anzufeuern und Misstrauen zu säen. Wenzel selbst war in Vorurteile verstrickt, war hierhergekommen, des Postens wegen, hatte sein Bild von den Leuten hier schon mitgebracht. Und in den letzten Wochen hatte er feststellen müssen, dass ihm das Führen nicht so leichtfiel. Dass die Leute hier streitbar waren. Wusste selbst nicht, was er wollte, am liebsten wohl Chef sein und der gute Vater, den alle mochten, gleichzeitig. Bruch sah die Worte regelrecht, die in Wenzels Hals aufstiegen.

 

«Wir sind doch im Prinzip eine Familie», sagte Wenzel. Ein Geräusch ließ sie allesamt ihren Kopf drehen.

Auch Schauer sah zu Bruch, denn das hatte sie noch nie erlebt. Er hatte gelacht. Dieses Lachen, ein kurzes trockenes Geräusch, hing noch in der Luft und hinterließ in seinem Gesicht ein kleines Lächeln, das sich jetzt ganz schnell verlor.

«Gibt es für Hauptkommissar Bruch irgendetwas, an dem er uns teilhaben lassen möchte?», fragte Wenzel.

Bruchs Gesicht wurde wieder wächsern, jegliche menschliche Regung verlor sich. Er stand von seinem Stuhl auf, und für einen Moment glaubte Schauer, er würde in seine Jacke nach seiner Pistole greifen, sie auf Wenzel richten und ihn abknallen, so wie Simon abgeknallt worden war. Und Wenzels Reaktion bewies ihr, dass er dasselbe dachte. Zwar gelang es ihm, sein leicht herablassendes Lächeln zu halten, doch in seinen Augen war Angst, und sein Oberkörper wich ein paar Zentimeter zurück. Sie wussten es nicht, dachte Schauer, sie wussten nicht, wer Simon ermordet hatte, und sie trauten es Bruch zu. Aber warum behaupteten sie dann, jemand anders wäre es gewesen, warum ermittelten sie nicht gegen ihn?

«Melanie Wemke stammt aus Frankenberg. Nicole und ich fahren hin, ihre Eltern in Kenntnis setzen», sagte Bruch.

Jetzt sah er sie an. Das war seine Aufforderung aufzustehen, ihm zu folgen, Wenzel einfach sitzen zu lassen. Völlig unerwartet musste sie sich jetzt entscheiden, ihn stehen zu lassen oder ihren Chef zu konfrontieren, danke schön, großartig, zumal sie von seinem Plan, in dieses Frankenberg zu fahren, gar nichts wusste. Nun richteten sich alle Blicke auf sie. Ganz herrlich.

Sie erhob sich. «Zuerst fahren wir zu der Frau von Obermeister Kummer», bestimmte sie. Das gefiel beiden nicht. Wenzel und Bruch.

«Moment», protestierte Wenzel, «setzen Sie sich wieder. Ich bin immer noch derjenige, der hier Befehle gibt.» Bruch blieb stehen, und in diesem Moment hasste sie ihn dafür, denn es zwang sie, sich schon wieder zu entscheiden.

Doch Wenzel tat ihr den Gefallen, nicht darauf zu bestehen, im Gegenteil, er tat, als wäre diese Angelegenheit für ihn erledigt. «Es wird eine Sonderkommission gebildet», hob er zu sprechen an. «Ich habe schon veranlasst, dass uns Leute zur Verfügung gestellt werden, die das Gebiet großräumig nach Waffen oder abgestellten Fahrzeugen durchsuchen. Über das Radio und die sozialen Medien wird ein weitreichender Zeugenaufruf gestartet. Der große Beratungsraum wird für diesen Zeitraum unsere Einsatzzentrale. Wer die einzelnen Aufgabengebiete anleitet, habe ich ja schon bekannt gegeben. Ich werde in wenigen Minuten erfahren, wie viele Kollegen wir noch zur Verfügung gestellt bekommen, bis dahin fangen wir einfach an, hauptsächlich wird die Arbeit hier drinnen daraus bestehen, eingehende Zeugenaussagen zu prüfen. Für die Einsatzleitung der Suchtrupps vor Ort wurde mir Püschel zugewiesen, den kennen wohl einige von Ihnen schon von anderen Einsätzen. Schauer und Bruch sollen die Angehörigen kontaktieren. Soweit nichts anderes bekannt gegeben wird und es keine gravierenden Entwicklungen gibt, treffen sich die Leiter der einzelnen Arbeitsgruppen zweimal am Tag im großen Beratungsraum, um über den Stand ihrer Ermittlungen zu berichten, ich würde sagen, halb zehn vormittags und halb drei am Nachmittag.»

«Entschuldigung!» Schmidtke erhob sich.

Wenzel sah fragend auf.

«Halten Sie das für eine gute Idee, dass, na ja …» Schmidtke zuckte mit den Achseln, «also, dass ausgerechnet die beiden die Angehörigen informieren sollen?» Ihr Kopf wurde hochrot, sie blickte starr nach vorn zu Wenzel.

Schauer stieß es sauer auf. Bleib cool, dachte sie sich. Bleib einfach locker. Doch was sollte das heißen? Dass Bruch in seiner Art nicht gerade geeignet schien, den Angehörigen solche schlimmen Nachrichten zu übermitteln, mochte ja sein. Aber galt das Gleiche auch für sie? Dass ausgerechnet Schmidtke, als eine der wenigen Frauen hier, ihr so in den Rücken fiel. Sie sah Bruch an, den das natürlich nicht ein bisschen tangierte. So sollte sie auch sein. «Willst du es machen?», hörte sie sich trotzdem sagen.

Nun drehte Schmidtke ihr doch den Kopf zu. «Nee, aber … ich denke nur … so eine furchtbare Nachricht.»

«Was, glaubst du, machen wir da?», fragte Schauer und hörte selbst, wie aggressiv sie war. Schmidtke wich auch gleich zurück, obwohl locker vier Meter Abstand zwischen ihnen war.

«Davon abgesehen», mischte sich Wenzel wieder einmal zu spät ein, «werden die Angehörigen auf irgendeine Art und Weise schon davon erfahren haben, und davon abgesehen ist es vielleicht zuträglich, dass gerade jemand diese Aufgabe übernimmt, der nicht so emotional reagiert.»

Schmidtke senkte den Kopf wie eine Schülerin, die etwas ausgefressen hat, und beinahe tat es Schauer schon wieder leid, dass sie so barsch gewesen war, aber eben nur beinahe.

 

«Wo liegt denn dieses Frankenberg?», fragte sie Bruch, als sie ins Auto gestiegen waren. «Habe ich hier noch nie gehört.»

«In Richtung Chemnitz», erwiderte Bruch.

«Richtung Ch…, echt? Wie lang fährt man dahin?»

«Es ist nicht so weit. Keine Stunde.»

Schauer, die den Motor gerade hatte starten wollen, hielt inne. Eine Stunde hin, eine zurück, dazwischen reden, wer weiß, wie lang, da war der halbe Tag weg. «Haben wir echt nichts Besseres zu tun? Ich meine, ich will mich nicht drücken.»

«Die Lösung liegt da.» Mehr sagte er nicht. Kein: Diskutier nicht rum, Schnecke, fahr jetzt, glaub mir, sei doch froh, haben wir wenigstens was zu tun. Das war schlecht, aber auch gut. Wenn sie jetzt sagte, sie würde nicht fahren, würde er es akzeptieren.

«Die Lösung liegt in Frankenberg?»

Bruch sah sie an, er blinzelte. Es schien, als suchte er nach Worten, um das genauer zu erläutern, ohne viel sprechen zu müssen. Dann gab er einfach auf, sah wieder nach vorn.

«Gott, du gehst einem echt auf die Nerven. Du meinst, die Lösung liegt bei Melanie Wemke? Du glaubst, es war kein Zufall, dass es ausgerechnet die erwischte?»

Wieder sah er sie an. «Ja», sagte er.

«Na also …»

«Und nein.»

Sie hatte schon wieder nach dem Schlüssel greifen wollen, um ihn im Zündschloss zu drehen, wieder hielt sie inne. «Du weißt, es ist nicht die Zeit für blöde Scherze!»

Er nickte.

«Du scherzt nicht, ich weiß. Nie. Aber gelacht hast du vorhin. Hast du noch nie gemacht, echt, seit ich dich kenne. Noch nie! Nicht mal ein Lächeln, selbst wenn du manisch bist. Ist das deine Art, das zu verarbeiten?»

«Nein, ich habe gelacht, weil Menschen manchmal so …» Er verstummte.

«Ja, das dachte ich mir, du hältst dich gar nicht für einen Menschen. Weißt du, wie ich das verarbeite? Ich habe geheult. Direkt als ich heimkam, habe ich losgeheult. Wegen all dem Elend. Die liegt da, noch nicht mal Mitte zwanzig, gerade fertig mit der Ausbildung. Das Leben fängt gerade erst an. Einfach in den Kopf geschossen. Wer macht so was? Wer? Wie bekloppt kann man sein? Und ich muss mir das ansehen, weil ich es mir so ausgesucht hab. Ich bin heim, habe angefangen zu heulen und erst heute Morgen damit aufgehört. Ich will die Sau erwischen, die das gemacht hat.»

«Und er?», fragte Bruch, sah sie nicht an, starrte irgendetwas vorn auf dem Parkplatz an.

«Was ‹und er›?» Kaum hatte sie gefragt, wusste sie, was er meinte. «Ja, er natürlich auch, hatte Frau und Kinder, genauso furchtbar. Aber du weißt schon, wie ich das meine. Das ist keine Wertung oder so, also nicht weil sie eine Frau ist oder, ich meine, das ist …»

«Menschlich», sagte Bruch. «Oliver Kummer wohnte in Pieschen. Fahr, ich sag, wo lang.»

 

«Sag du mir nicht, was menschlich ist», murrte sie und fuhr endlich los.

«Über die Brücke, dann links», sagte er und spürte, wie es ihn belastete, so viel sprechen zu müssen. Wenn die Leute nur verstünden, dass sie mit ihrem Gerede, mit ihren Mutmaßungen, mit ihren Befindlichkeiten nur Zeit verschwendeten.

«Ich weiß, wo Pieschen liegt.» Schauer beschleunigte, fuhr eher bei Rot als bei Gelb über die Ampel und konnte von Glück reden, dass der Blitzer seit den letzten Bauarbeiten nicht funktionierte. Sie war wütend auf Schmidtke, die ihr gewissermaßen Unfähigkeit unterstellt hatte, zumindest im Umgang mit Angehörigen von Opfern.

Und sie war wütend auf ihn. Lange schon. Seit dem letzten Fall, der ihrer Meinung nach auch Licht in seine Vergangenheit gebracht hatte. Der Zufall hatte ein zweites Mal seinen Weg mit der Person gekreuzt, die ihm in frühester Kindheit aus reiner Boshaftigkeit schwerste Traumata verursacht hatte. Jetzt glaubte Nicole, alles müsste besser werden. Jetzt glaubte sie, er wäre es ihr schuldig, sich wenigstens ihr gegenüber normal zu benehmen. Wenn sie nur wüsste, wie sehr er sich schon bemühte. Jedes Wort, das er sprach, war ein Zugeständnis nur an sie.

Sie hatte recht. Ein Teil seiner dunklen Vergangenheit schien beleuchtet. Die dunklen Gestalten, die sich in den Schatten bewegten, waren erstarrt. Die Stimmen, die ihm zugeflüstert hatten, waren verstummt. Vorerst zumindest. Doch er traute dem Frieden nicht. Denn was sie über sein Leben hatten in Erfahrung bringen können, reichte allenfalls bis zu seinem siebten Lebensjahr. Jede Erinnerung an seine Eltern schien gelöscht. Es war ihm unmöglich, irgendein Bild aufzurufen. Stattdessen erinnerte er sich an die erste Schulklasse, an das Gesicht der Lehrerin. Und dann brach alles ab. Er erinnerte sich an vage Schemen, geflüsterte Sätze, Uringeruch, leises Weinen und Kälte. Dunkle, scheinbar endlose Flure. Furcht.

Große Teile seines Lebens fehlten weiterhin in seinen Erinnerungen. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie es ihm in der Polizeischule ergangen war oder wie er seinen Kollegen Michael kennengelernt hatte, der vor einem halben Jahr ums Leben gekommen war. Klarer vor Augen hatte er die Zeit, in der er Conny kennenlernte, sie heirateten und ein Kind bekamen. Seine Tochter hatte er seit Jahren nicht gesehen. Aber alles davor war wie ausgelöscht, einzig Fetzen tauchten willkürlich auf, ergaben kaum Zusammenhang. Es hätte alles bleiben können, wie es war. Doch diese Kiste tauchte auf, als seine Tochter gerade ein Jahr alt war oder zwei, riss mit ihrem Inhalt Löcher in den Kokon um ihn herum. Sie enthielt Relikte aus seiner Vergangenheit, und diese brachten Unsicherheit, stellten alles infrage.

Nein, nichts war besser geworden. Doch er bemühte sich. Schauer zuliebe. Weil sie in ihm etwas ausgelöst hatte, was er bis dahin allenfalls seiner Katze zugestanden hatte.

«Geradeaus», sagte er, weil er an ihrer Fahrweise sah, dass sie sich unsicher war. Zwar fuhr sie auf der linken der beiden Spuren, doch pendelte sie immer ganz leicht nach rechts, ging unmerklich vom Gas.

«Weiß ich selbst.» Sie beschleunigte wieder.

Wenn die Menschen nicht ständig reden müssten, dachte er, sich von nutzlosen Dingen ablenken lassen, ihnen würde sich eine ganz andere Welt auftun.

Nein, dachte er sogleich. Das war nicht sein Satz. Das war keiner seiner Gedanken. Dies war eine Erinnerung gewesen.

 

«Ist was?», fragte sie ihn, denn er hatte sich bewegt, war regelrecht zusammengezuckt.

Er schüttelte den Kopf, aber sie war sich sicher, etwas war gerade geschehen. Und sofort kämpften zwei Nicoles in ihr gegeneinander an, die eine, die nachsetzen, insistieren wollte, und die andere, die zur Besonnenheit mahnte. Letztere gewann. Sie durfte nicht zu viel erwarten von ihm. Sie hatte schon viel erreicht, in gerade einmal vier, fünf Monaten.

«Ich muss jetzt mal was loswerden», sagte sie stattdessen. «Und ich weiß, du hasst unnötiges Gerede. Mir ist klar, ich bin Polizistin, ich sollte sachlicher denken. Ich sollte zwischen den Toten keine Unterschiede machen, zwischen dem Mann und der jungen Frau. Ich tu es aber trotzdem, weil das so in einem drinsteckt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich immer wieder vor Augen hatte, wie der die Knarre zieht, den Kollegen umschießt und sie auf mich richtet. Was denkt man in der Sekunde? Denkt man irgendwas? Aber die hatte ja die Waffe in der Hand, also sie muss ja reagiert haben. Überleg nur mal, wie du an deinem Holster zerrst, die Knarre bleibt hängen, oder du willst abdrücken und hast nicht entsichert, Mensch, das lässt mir keine Ruhe.»

«Was willst du sagen?», unterbrach Bruch.

Ich bin ja schon dabei, wollte sie ihn anfahren, doch er hatte recht, sie redete um den heißen Brei herum.

«Was ich sagen will, wir sind Polizisten, wir müssen unsere Arbeit machen, dürfen uns nicht von den Gefühlen ablenken lassen. Und ich bin schon sicher, wir finden den Täter. Auch wenn alle behaupten, es wäre nicht so, wir haben schon ein gutes Rechtssystem in unserem Land, eines, das ja eher dazu ausgelegt ist, Menschen davor zu bewahren, unschuldig in diese Justizmaschine zu geraten wie, keine Ahnung, in den Staaten zum Beispiel, wo du, wenn du Pech hast, in der Todeszelle landest, nur weil du schwarz bist und zur falschen Zeit Zigaretten an der Tanke holen wolltest.»

«Nicole», sagte Bruch. Sie warf ihm einen kurzen wütenden Blick zu. Doch er hatte recht, sie hatte noch immer nicht gesagt, was sie hatte sagen wollen.

«Ich will sagen, wenn ich mir ausmale, wir kriegen den Typen, und dann sitzen die da, in einem ewig langen Gerichtsprozess, und seine Anwälte, die gehen uns auf den Sack, fechten alle Indizien an oder erklären uns, dass der eine schlimme Kindheit hatte oder sich in einer Stresssituation befand, und dann vielleicht noch, dass die von den Kollegen selbst verursacht war, oder der Typ war besoffen oder stand unter Drogen. Und der sitzt und schweigt und lacht sich ins Fäustchen. Und das geht über Monate so, und dann geht der in den Bau für, was weiß ich, sieben Jahre und wird dadrinnen noch gefeiert, weil er zwei Bullen umgenietet hat, und draußen demonstrieren sie noch, weil er angeblich keinen fairen Prozess hatte oder was weiß ich.»

«Nicole», sagte Bruch noch einmal.

«Gottverflucht», entfuhr es ihr jetzt, weil sie sich hineingesteigert hatte und weil sie es hasste, wenn man sie mit ihrem Namen ansprach, und gleichzeitig war es ihr fast wie ein Glücksgefühl, wenn Bruch es tat, der sonst niemanden mit seinem Namen ansprach. «Ich will sagen, wenn wir den mal erwischen, dann weiß ich nicht, will ich für nichts garantieren, und vielleicht könntest du dann auf mich achten und im Notfall irgendwie das Schlimmste verhindern.»

«Du gehst davon aus, dass es ein Mann war», sagte Bruch, und das war wie ein Schwall kalten Wassers über sie.

Und schon war da wieder dieser Impuls, ihm über den Mund zu fahren. Doch er hatte recht, sie war davon ausgegangen. «Das macht keine Frau», sagte sie leise.

Bruch erwiderte darauf nichts. Sie fuhren eine Weile stumm, bis das Stadtteilschild Pieschen auftauchte.

«Die Polizistin wurde zuerst erschossen», sagte Bruch.

«Ach ja, weißt du das? Denkst du das nur? Und hat das was zu bedeuten?» Mensch, drei Fragen hintereinander, krieg dich ein, mahnte sie sich. Und wie ein alter Computer, den man mit zu vielen Eingaben überfordert hat, blieb Bruch stumm und zeigte keinerlei Regung mehr.

 

Bei Kummer reagierte niemand, als sie klingelten. Schauer sah auf die Uhr. «Könnte schon auf Arbeit sein.»

Bruch sah sich um, die Hände in den Jackentaschen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er für die Jahreszeit zu dünn angezogen war. Zwar herrschte längst kein Frost mehr, aber es war sehr frisch, und durch die hohe Luftfeuchtigkeit fühlte es sich noch kälter an. Außerdem ging unangenehmer Wind. Doch offenbar machte ihm das nichts aus, und was ihr jetzt noch auffiel: Er wurde scheinbar nie krank. Körperlich zumindest, denn kranker als er konnte man geistig kaum sein. Doch in den Monaten, die sie ihn jetzt kannte, war er immer unangemessen gekleidet gewesen und hatte weder eine Grippe, geschweige denn einen Schnupfen bekommen.

«Da!», sagte er und sah zu einer Frau hin, die etwa hundert Meter entfernt die Straße überquerte und ungefähr in ihre Richtung lief.

Tatsächlich steuerte die Frau nun direkt auf die Haustür zu, verzögerte leicht, als ihr die beiden Personen gewahr wurden, die da standen.

«Frau Kummer?», fragte Schauer.

«Ja?», fragte sie leicht gedehnt wie jemand, der schlechte Nachrichten erwartete.

«Bruch, Schauer, Kripo. Können wir bitte hineingehen!»

Frau Kummer nickte, trat an die Haustür, um aufzuschließen. Sie ging zuerst hinein, Schauer folgte ihr, fühlte sich ganz leicht am Jackenarm gezupft, sah sich nach Bruch um.

Er raunte ihr etwas zu, so leise, dass sie nicht verstand.

«Aufzug oder Treppe? Wir müssen in die vierte», fragte Frau Kummer, ehe Schauer noch einmal nachhaken konnte.

«Treppe», sagte sie, denn zu dritt im Aufzug stehen, nicht zu wissen, was man sagen sollte, kam ihr gerade unerträglich vor. Frau Kummer nickte, ging voran. Sie sah ganz durchschnittlich aus, nicht zu hässlich, nicht zu hübsch, nicht zu klein oder zu groß. Ein wenig erschöpft.

«Hab gerade die Kinder zur Schule gebracht», sagte sie, als müsste sie sich irgendwie rechtfertigen. Dann schwiegen sie wieder alle, bis sie oben angelangt waren. Dort schloss sie auf.

Schauer wartete kurz, manche Leute mochten es nicht, wenn man mit Schuhen die Wohnung betrat, Frau Kummer jedoch ging selbst mit Schuhen hinein, drehte sich dann im Wohnungsflur zu ihnen um.

«Es sieht nicht besonders aufgeräumt aus», sagte sie, sah zu Boden, als schämte sie sich.

Das stimmte nicht ganz, denn es war gar nicht aufgeräumt. Es sah aus, als tanzten hier zwei Kinder ihren Eltern auf der Nase herum. Der Boden der Küche, des Wohnzimmers, des Kinderzimmers und sogar des elterlichen Schlafzimmers lag voll mit Spielzeug, Kinderschuhen, Kleidung, Pappkartons, Töpfen und allem, womit Kinder spielten, wenn man sie ließ. Die Garderobe im Flur war überladen mit Jacken, darunter lagen kreuz und quer die Schuhe der Erwachsenen, in der Küche stapelte sich das Geschirr mehrerer Tage. Es schien, als hätte hier jemand ein wenig die Kontrolle verloren. Schauer spürte, wie ihr das Herz im Hals klopfte. Trotz ihres seltsamen Verhaltens, denn sie schien sich gar nicht zu fragen, warum die Kripo vor der Tür stand, schien die Frau ahnungslos. Gleich musste das Unvermeidliche gesagt werden. Von Bruch war da sicher nichts zu erwarten. Aber wusste sie tatsächlich nichts? Müsste sie sich nicht wundern, wo ihr Mann geblieben war, hatte sie gar keine Nachrichten gehört? Die Medien waren voll davon.

«Die Schule ist doch die Straße hinunter», sagte Bruch völlig unerwartet.

Frau Kummer sah auf, runzelte die Augenbrauen. Schauer schwieg verblüfft.

«Ihre Kinder gehen doch zur Grundschule, die ist die Straße hinunter. Sie kamen von der anderen Seite.»

Was ging es ihn an, dachte Schauer. Sie konnte eine Runde spazieren gewesen sein, Luft schnappen, nachdem sie die Kinder an der Schule abgeliefert hatte. Außerdem konnten sie in eine andere Schule gehen, oder sie hatte einfach ihr Auto in einer Nebenstraße parken müssen. Doch Bruch sagte nie etwas grundlos.

«Ich war bei einem Bekannten klingeln», sagte Frau Kummer.

«Warum?», fragte Bruch.

Nun musste Schauer ihn doch fragend ansehen, denn sie waren zu einem anderen Zweck gekommen.

Frau Kummer gelang es nicht, aufzusehen. «Ich konnte meinen Mann nicht erreichen.»

«Und Sie vermuteten ihn bei einem Bekannten?», mischte sich Schauer ein.

Frau Kummer strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Er sollte die Kinder zur Schule bringen, ich hätte einen Termin gehabt. Den habe ich jetzt abgesagt.»

«Er kam nicht heim, und Sie glaubten, er sei bei einem Bekannten?», fragte Schauer. Just in dem Moment ging ihr auf, was Bruch an der Haustür zu ihr gesagt hatte. «Sie haben sich getrennt? Sie und Ihr Mann?»

Frau Kummer nickte ganz schuldbewusst und wurde rot im Gesicht.

«Und er schläft nicht mehr hier?»

«Doch, im Wohnzimmer, aber manchmal übernachtet er bei einem Freund. Und manchmal geht er nicht ans Telefon. Heute bin ich hin, weil ich so wütend war. Aber es macht dort niemand auf.»

Schauer hielt inne. Die Frau war seltsam. Sie müsste sich nicht schuldig fühlen, weil sie sich getrennt hatten, sie würde Gründe gehabt haben, und Leute trennten sich heutzutage andauernd. Warum also dieses Verhalten?

«Sie hatten Besuch?», fragte Bruch, und sie würde alles Geld der Welt geben, um nur mal eine Stunde in seinem Kopf dabei sein zu dürfen, dachte sich Schauer, nur Passagier.

«Als er nicht heimkam, dachte ich, er bleibt über Nacht weg, ich habe eine Freundin eingeladen, wir haben Wein getrunken und geredet.»

Schauer sah Bruch an, und auch wenn seine Miene keine Reaktion zeigte, war sie sich sicher, dass er der Frau nicht glaubte. Und dies erklärte einen Teil ihres Verhaltens, denn sie schien ein schlechtes Gewissen zu plagen. Schauer vermutete, sie hatte Männerbesuch gehabt. Und auch dies war kein Grund mehr, sich zu schämen.

«Frau Kummer …», hob sie nun zu sprechen an, denn es musste raus jetzt. «Wir müssen …»

«Sie weiß es», unterbrach Bruch, und Frau Kummer schlug sich vor Scham die Hände vors Gesicht.

«Ich habe es gerade gelesen», flüsterte Frau Kummer durch ihre Hände. «Ich hatte gestern den ganzen Tag kein Facebook an, nichts. Jetzt war ich bei Franz, und niemand machte auf, da habe ich ihn angerufen, und der fragt mich, ob ich nicht die Nachrichten gesehen hab.»

Die hatte Männerbesuch, weil ihr Mann nicht heimkam, und während der in der Leichenhalle seziert wird, hat sie es auf der Couch getrieben, auf der er sonst schläft. Himmel, dachte Schauer, das konnte nicht blöder laufen.

«Was genau wissen Sie?», fragte Bruch.

Jetzt sah Frau Kummer ihn an. «Er ist es, oder? Der Polizist, den es erwischt hat?»

Schauer antwortete. «Oliver Kummer, Polizeiobermeister, und seine Kollegin Polizeimeisterin Melanie Wemke.»

«Die junge?», fragte Frau Kummer mit ehrlichem Entsetzen. «Was ist passiert?»

«Offenbar wurden sie bei einer Verkehrskontrolle überrascht und mit einer Pistole erschossen, sie hatten keine Chance …»

Frau Kummer schwankte leicht. Sie war entsetzt, keine Frage, aber sie war in einer seltsamen Situation. «Meine Güte», flüsterte sie. «Was mach ich denn jetzt? Wie mach ich das denn jetzt?»

«Wie lange leben Sie getrennt?»

«Schon drei Monate, zuerst haben wir es für uns behalten, erst vor zwei Wochen haben wir es unseren Eltern erzählt. Sagen Sie, wie mach ich das denn jetzt? Ich bin doch gar nicht …» Sie verstummte.

Schauer hatte das Gefühl, dazu etwas sagen zu müssen. «Sie sind trotz allem noch seine Ehefrau, hatten noch nicht einmal ein Trennungsjahr. Und so gehen Sie jetzt damit um.»

«Aber alle wissen es jetzt, oh Gott, wie soll ich es den Kindern erklären?» Die Frau wandte sich ab, steuerte auf die Küche zu, einem Stuhl entgegen. Dabei taumelte sie, und Schauer wollte vorschnellen, um sie zu fangen, doch Bruch bremste sie, indem er ihren Ellbogen festhielt. Sie riss sich wütend los, doch sah dann, dass Frau Kummer sich fing und auf einen der Stühle setzte. Jetzt bedeckte sie wieder das Gesicht mit beiden Händen.

Bruch musterte sie mit unbewegter Miene. Schauer beschloss, in die Offensive zu gehen, anstatt dauernd herumrätseln zu müssen, sie schob Bruch im Flur ein Stück weg von der Küchentür.

«Du traust ihr nicht?», fragte sie flüsternd.

«Sie ist im Schock, aber warum?», erwiderte er.

«Warum? Weil …» Schauer sprach nicht weiter, sie hatte seine Frage jetzt verstanden. Wenn sie nur nicht immer reflexhaft widersprechen müsste. Bruch fragte sich, welcher Umstand Frau Kummer schockiert hatte. Dass ihr Mann, von dem sie sich getrennt hatte, tot war oder dass es die junge Kollegin ebenfalls erwischt hatte. Und war es nicht so, dass man seinem Expartner manchmal das Allerschlimmste wünschte? Allein schon um einem Sorgerechtsstreit aus dem Weg zu gehen. Um sich nicht wegen der Wohnung streiten zu müssen. Es gab Zeiten, direkt nach der Trennung, da hatte Schauer selbst ihrem Ex Sebastian gewünscht, dass er unter den Bus geriet, so wütend war sie auf ihn gewesen.

«Also gut, wie wollen wir vorgehen?», flüsterte sie.

«Frag nach seiner Kollegin.»

Schauer nickte und trat in die Küchentür. «Frau Kummer, hatte Ihr Mann in letzter Zeit irgendwelche Probleme, gab es ungewöhnliche Vorfälle?»

«Wir haben in letzter Zeit nicht so oft miteinander gesprochen. Vor den Kindern taten wir so, als wäre alles normal, aber ansonsten, wie gesagt.»

«Fiel Ihnen etwas auf, an seinem Verhalten? Von Ihrer Trennung mal abgesehen?»

«Nein, wirklich, nicht dass ich wüsste. Denken Sie denn, es war seinetwegen? Also gezielt?»

Schauer ging darauf nicht ein, das hatte sie sich von Bruch abgeschaut, einfach ignorieren, was nicht relevant war. Klappte nicht immer, aber immer öfter. «Und aus früheren Zeiten, als Sie noch miteinander sprachen, gab es da etwas, das ihm nachhing, eine persönliche Feindschaft, jemand, mit dem er sich angelegt hat?»

«Na ja, er hat mal einen Araber verhaften müssen, der hat ihm gedroht, dass er sich rächt.»

«Einen Araber?»

«Nafri, hat er gesagt.» Frau Kummer hob unsicher die Schultern.

«Und wer soll das gewesen sein? Können Sie das konkretisieren? Oder sagen, wann das war?»

«Na, vor was weiß ich, vor einem Jahr.»

«Müsste sich ja nachprüfen lassen», wandte sich Schauer absichtlich an Bruch. Der nickte.

«Oder vor zwei Jahren?», sinnierte Frau Kummer. «Kann auch schon länger her sein. Vielleicht ist der längst abgeschoben.»

«Die neue Kollegin Ihres Mannes, Frau Wemke, kannten Sie die?»

«Hab sie mal gesehen. Oliver erzählte vor ein paar Monaten, dass er eine neue bekommt. Eine ganz jungsche.»

«Waren das jetzt seine Worte oder Ihre?»

Frau Kummer senkte den Kopf und wurde rot. «Meine, aber das war nicht abwertend, ich war nicht eifersüchtig oder so.»

«Wann bekam er die neue Kollegin?»

«Wissen Sie das nicht besser? Vor drei Monaten, glaub ich.»

«Vor oder nach Ihrer Trennung?»

«Also das muss davor gewesen sein …», antwortete Frau Kummer, dann aber erkannte sie die kleine Falle. «Nee, also im Ernst, das hat damit nichts zu tun. Ich habe mich von ihm getrennt. Aber nicht deswegen. Mir war das zu viel alles. Das ganze Leben. Immer seine Schichten, dann was er alles erzählte. Der ganze Frust, alle tanzen denen auf der Nase rum, die ganzen Ausländer, die Jugendlichen, Schulhöfe sind voll mit Dealern, die Araber bringen alle Messer mit. Taschenkontrolle darfste keine mehr machen. Überall wirste angepöbelt und ausgelacht.»

«Wäre es da nicht besser gewesen, Sie hätten ihn irgendwie unterstützt?», fragte Schauer, hörte selbst, wie gehässig das klang.

«Habe ich, können Sie mir glauben», erwiderte die Witwe jetzt auch recht wütend, «aber irgendwann konnte ich das nicht mehr hören. Den Beruf wechseln wollte er auch nicht, stattdessen immer schön Bierchen trinken und bei den Kumpels Playstation zocken wie so ein Teenager. Aber mit der Melanie Wemke hat das nichts zu tun.»

 

«Das hat ja eine ganz andere Wendung genommen, als ich dachte», murmelte Schauer auf dem Weg nach draußen. «Ich denke, die müssen wir genauer beleuchten. Ich werde das gleich mal durchgeben, wir sollten ihre Bekanntschaften prüfen, ihren Freundeskreis, ihren Arbeitsplatz und herausfinden, wen die in den letzten Monaten getroffen hat. Soll sich doch die Schmidtke hinsetzen und das erledigen. Klingt zwar nicht wahrscheinlich, aber vielleicht hat die einen bezahlt, ihren Mann umzulegen. Dass die ausgerechnet gestern Besuch hatte, passt ja gerade in den Kram. Und ich denke, die war nur geschockt, dass es Melanie Wemke mit erwischt hat. Also, sofern es so gewesen war.»

Bruch glaubte, darauf nichts erwidern zu müssen. Schauer hatte oft das Bedürfnis, Situationskommentare oder Vermutungen abzugeben. Das war ihre Art, sich bei der Verarbeitung zu helfen. Sie lag damit falsch und würde es irgendwann von selbst erkennen. Jetzt dagegenzuargumentieren, hatte er gelernt, würde nichts bringen. Er dagegen fragte sich rein aus Interesse an der menschlichen Natur, wie lang diese Frau schon darüber nachgedacht hatte, ihren Mann umzubringen. Sicherlich hatte sie sich schon Dutzende Szenarien ausgemalt, wie sich aus seiner Dienstwaffe versehentlich ein Schuss löste oder dass ihm im Dienst etwas geschah, wie es jetzt Realität geworden war. Diese Frau stand unter Schock, doch er hatte ihr angesehen, dass ihr andere Dinge durch den Kopf gingen als die Frage, wie sie es den Kindern beibringen sollte. Selbst dies hatte sie schon Hunderte Male im Geiste durchgespielt. Nein, sie stand unter Schock, weil der Zufall ihr einen Streich gespielt hatte, dass ihr Mann ums Leben kam, während sie Sex mit einem anderen hatte. Aber viel schlimmer noch, sie wünschte sich, es wäre ein wenig eher geschehen oder sie hätten die Trennung noch nicht bekannt gegeben. Da hätte sie als trauernde Witwe dastehen können.

«Man müsste herausfinden, wer von den beiden darauf bestanden hat, ihre Verwandten und Bekannten über die Trennung zu informieren», meinte Schauer unten auf der Straße und zeigte damit einmal mehr, dass sie beide ganz ähnlich dachten, nur oft verschiedene Schlüsse zogen. «Auf jeden Fall muss die beobachtet werden. Nicht dass sie demnächst die Koffer packt und mit ihren Kids verschwindet. Hätten wir vielleicht weniger aggressiv sein sollen?»

Nein, dachte Bruch, doch er sagte weiterhin nichts. Schauer war jetzt nicht von ihrem Plan abzubringen. Sie hatte sich die Arbeitsplatzadresse von diesem Franz geben lassen, dem Freund, bei dem Kummer gelegentlich übernachtete. Das hielt sie noch länger davon ab, Melanie Wemkes Eltern zu besuchen.

Nun hielt Schauer abrupt an, um ihm ins Gesicht zu sehen. «Sag mal, ich kann mich irren, aber hast du nicht auch den Eindruck, die hat gar nicht geweint oder so? Die hat sich die Hände vors Gesicht geschlagen, weil sie ein Lachen verbergen musste, oder? Kann jemand so sein? Also ich meine, jemanden so hassen, dass es sogar egal ist, dass er der Vater ihrer Kinder ist?»

«Natürlich», nahm sie sein Schweigen als Antwort, «dir ist das nicht zu absurd. Dir ist nichts zu absurd.»

Sie hatte recht. Es hatte alles schon gegeben. Viel Schlimmeres noch. Sie wusste es selbst. Menschen, die schreckliche Dinge taten, gab es immer und überall. Menschen, die schreckliche Dinge dachten, noch tausendmal mehr. Selbst der moralisch einwandfreiste, der friedliebendste, toleranteste Mensch war in Gedanken manchmal ein Mörder. Daran hatte er keine Zweifel.

«Nicht jeder Mensch ist schlecht», sagte Schauer leise und bewies einmal mehr, dass sie dasselbe dachten. «Und du, du tust immer, als stündest du über allen Dingen, als gehörtest du nicht dazu. Aber du bist auch ein Mensch, du bist nichts Besonderes.»

Sie hatte recht. Er betrachtete die Menschen oft und glaubte, nicht dazuzugehören, einfach weil ihm vieles, was sie taten, so absurd erschien.

 

Franz Czerny, Oliver Kummers Freund, arbeitete in einem Pflegeheim, nicht weit entfernt von seiner Wohnung. Sie mussten nicht lang nach ihm suchen. Unfähig zu arbeiten, war er in einen kleinen Pausenraum gesetzt worden, wo ihm eine Kollegin beiseitestand, die einen Arm um seine Schultern gelegt hatte, ihm so vertraut zuflüsterte, dass es den Anschein hatte, sie wären mehr als nur Kollegen.

Als sie den Raum betraten, sah die Frau auf.

«Kripo Dresden», machte Schauer es kurz, «können wir bitte Herrn Czerny allein sprechen?»

«Ja, natürlich.» Die Frau huschte aus dem Zimmer, nachdem sie den Mann noch einmal fest an sich gedrückt hatte.

Czerny wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Er schien am Boden zerstört.

Schauer setzte sich an den Tisch, dem Mann gegenüber. «Herr Czerny, Oliver Kummer war Ihr Freund?», fragte Schauer.

Czerny nickte. «Er wollte aufhören», stieß er hervor, «seit Jahren redete er davon, und jetzt war er endlich so weit, er wollte kündigen, dieses Jahr, und nun …» Wie Frau Kummer schlug er sich die Hände vor das Gesicht.

«Waren Sie lange befreundet?»

«Seit der Grundschule!», presste der Mann heraus.

Ob er insistiert hatte, fragte sich Bruch. Czerny war alleinstehend, wussten sie von Kummers Frau, getrennt nach langer Beziehung. Hatte er seinen Freund dazu gebracht, sich von Beruf und Frau abzuwenden? Auch das war ein realistisches Szenario. Mochte sich gut anfühlen, nachdem man Ehe und Kind probiert hatte. Finanziell abgesichert, ab und zu die Kinder da, den Rest der Zeit mit dem alten Kumpel am Computer zocken, ins Stadion gehen, Bierchen trinken, über alte Zeiten reden. Czerny schien so verzweifelt, wie es Kummers Frau hätte sein sollen. Vielleicht steckte auch da noch mehr dahinter, dachte Bruch, etwas, das nur von Czerny ausging oder von beiden und vielleicht noch gar nicht erkannt oder akzeptiert war. Aber auch das war nicht relevant, ging sie nichts an. Vielleicht trauerte Czerny einfach nur. Bruch suchte nach diesem Gefühl in sich, versuchte an seine Eltern zu denken und welches Leben er mit ihnen gehabt hätte, versuchte auch an seine Tochter zu denken, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, einfach nur um sie zu schützen. Nichts, da war nichts. Selbst der Gedanke daran, wie es wäre, die Katze zu verlieren, löste nichts aus. Und selbst die Vorstellung, Schauer könnte etwas zustoßen. Vielleicht sollte er froh darüber sein.

«Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Oliver?», fragte Schauer. Alles verschwendete Zeit. Wenn es etwas zu erfahren gab, dann in Frankenberg im Erzgebirge, bei Melanie Wemkes Eltern.

«Gestern früh, er hatte bei mir übernachtet. Er hat extra leise gemacht, weil er früh rausmusste und ich eigentlich noch länger schlafen konnte. Ich bin trotzdem aufgewacht, hab ihm einen schönen Tag gewünscht.»

«War irgendetwas ungewöhnlich in den letzten Tagen?», fragte Schauer, ehe Czerny sich in die Erinnerung an diese letzten Worte hineinsteigerte.

Czerny schüttelte den Kopf. «Er hatte die Nase voll, er fand das alles frustrierend. Dass sie nie durchgreifen konnten, dass sie sich ständig rechtfertigen mussten. Vor ein paar Wochen erst hat er so einen Klimakleber von der Straße gezerrt und Anzeige wegen Körperverletzung bekommen, weil der Idiot sich den Kopf an einem Straßenschild gestoßen hat. Und davor erst hat ihm einer bei einer Demo ins Gesicht gerotzt. Das hat ihn alles dermaßen angestunken.»

«Diese Auseinandersetzung mit dem Aktivisten, hatte die irgendeine Fortsetzung? Liefen die beiden sich noch mal über den Weg?»

«Nicht dass ich wüsste. Er hätte es mir gesagt, ich weiß schon, was Sie meinen, dass er dem vielleicht privat eine verpassen wollte oder so? Nee, so einer war Oliver nicht. Er war eigentlich viel zu nett für seinen Beruf.»

«Was hätte er denn stattdessen machen sollen?»

«Hier, die haben ihm extra eine Stelle als Hausmeister frei machen wollen, weil ich einen ganz guten Stand bei der Chefin habe und weil wir sowieso einen brauchen, der sich um alles kümmert.»

Schauer schrieb in ihrem kleinen Heftchen mit. Bruch bewegte sich nicht, beobachtete sie nur.

«Wie gestaltete sich denn die Trennung von ihm und seiner Frau?», sah Schauer nun auf.

«Von Jenny? Na ja, ich wusste das ja schon lang. Aber sie wollte das nicht publik machen, es war ihr peinlich, hat sie immer zu ihm gesagt.»

«Von wem ging die Trennung aus? Oliver oder seiner Frau?»

«Von ihr, würde ich sagen. Olli hat auch oft abgekotzt wegen der, aber das ist ja normal, war bei mir früher auch so. Aber an Trennung hat der nicht gedacht, schon alleine wegen der Kinder.»

Schauer nickte, schrieb stumm.

«Seine neue Kollegin, wissen Sie von der?»