Haus der Geister - Frank Goldammer - E-Book

Haus der Geister E-Book

Frank Goldammer

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
Beschreibung

Tödliche Séancen und ein geheimes Bordell. Die grausame Rache einer Frau. Im heißen August 1881 werden Kriminalrat Gustav Heller und sein Assistent Schrumm in die alte Villa von Adele Blumfeld gerufen, um den plötzlichen Tod eines Teilnehmers der gerade stattgefundenen Séance aufzuklären. Im Gegensatz zu Schrumm glaubt Heller keine Sekunde an Geister oder die übersinnlichen Kräfte der exzentrischen Gastgeberin. Doch das morbide Haus und vor allem Hermina, das stumme und seit einem Unfall schwer entstellte Dienstmädchen, scheinen ein Geheimnis zu hüten, dem Heller auf den Grund gehen will. Und was hat es mit dem »Roten Verlies« auf sich, von dem immer die Rede ist? Als es zu weiteren mysteriösen Todesfällen in der Villa kommt, nimmt Heller selbst an einer Séance teil und tappt beinahe in eine tödliche Falle …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 485

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Im heißen August 1881 werden Kriminalrat Gustav Heller und sein Assistent Schrumm in die alte Villa von Adele Blumfeld gerufen, um den plötzlichen Tod eines Teilnehmers der gerade stattgefundenen Séance aufzuklären. Im Gegensatz zu Schrumm glaubt Heller keine Sekunde an Geister oder die übersinnlichen Kräfte der exzentrischen Gastgeberin. Doch das morbide Haus und vor allem Hermina, das stumme und seit einem Unfall schwer entstellte Dienstmädchen, scheinen ein Geheimnis zu hüten, dem Heller auf den Grund gehen will. Und was hat es mit dem »Roten Verlies« auf sich, von dem immer die Rede ist? Als es zu weiteren mysteriösen Todesfällen in der Villa kommt, nimmt Heller selbst an einer Séance teil und tappt beinahe in eine tödliche Falle …

 

Von Frank Goldammer sind im dtv u.a. erschienen:

 

Die Max-Heller-Reihe

Der Angstmann

Tausend Teufel

Vergessene Seelen

Roter Rabe

Juni 53

Verlorene Engel

Feind des Volkes

In Zeiten des Verbrechens

 

Die Gustav-Heller Reihe:

Tod auf der Elbe

Frank Goldammer

Haus der Geister

Kriminalrat Gustav Heller

Band 2

August 1881

1

Es war weit nach Mitternacht, als Gustav Heller sich endlich Pillnitz näherte. Wieder einmal hatte ihn eine ebenso lange wie unnötige Beratung in Dresden aufgehalten. Wieder einmal hatten sich wichtige Männer aufgeblasen, wichtige Reden gehalten und doch nur heiße Luft fabriziert. Im Hotel zu übernachten, dafür war Heller das Geld zu schade gewesen. Lieber nahm er den nächtlichen Ritt auf sich. Die Temperaturen waren angenehm, die Luft war lau, und er freute sich auf zu Hause.

Stille lag über Oberpoyritz. In der kleinen Ortschaft nahe Pillnitz herrschte Dunkelheit. Es war zwar Vollmond, doch der versteckte sich hinter einer dichten Wolkendecke. Eine unerwartet starke Bö fuhr ihm ins Gesicht und ließ das Pferd schnauben.

Heller brachte das Tier zum Stehen, lauschte. Er war schon fast angekommen, nur noch wenige Hundert Meter, dann hätte er seinen Hof erreicht. Vielleicht war sein Stallmeister Thomas noch wach, vielleicht schliefen aber auch schon alle.

Heller stemmte sich mit der Hand auf den Sattelkranz, drehte sich um und starrte prüfend in die Finsternis. Knisterte da etwas? Knackte ein Zweig? Er war auf der Hut, denn es wäre nicht der erste Versuch, ihn zu überfallen. Vorsorglich legte er seine Hand auf den Revolver. Ziehen, spannen, das war eine fließende Bewegung, hundertfach geübt.

Seine sonst ruhige Stute warf den Kopf hoch, schnaubte.

»Was ist denn, Mädchen?«, fragte Heller leise. Er könnte sie antraben lassen, doch er zog es vor zu warten. Er wollte sehen, was geschah. Nach einer Weile kam Wind auf. Und vielleicht war es ja auch nur das: ein Wetterumschwung, der nach mehreren Wochen Hochsommer – in dem der Pegelstand der Elbe so weit abgesunken war, dass die großen Schiffe nicht mehr fahren konnten – endlich Abkühlung versprach. Sicher war ein Gewitter im Anmarsch.

»Na los, meine Gutste!«, sagte er und ließ die Zügel locker, doch das Tier bewegte sich nicht.

Heller schnalzte mit der Zunge. Die Stute tat keinen Schritt.

»Na, sag«, murrte Heller. Plötzlich lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Was war los? Würde gleich ein Blitz einschlagen?

»Wirst du wohl!«, befahl Heller, und endlich bewegte sich das Pferd, doch nur ein paar Schritte. Dann begann es zu tänzeln und ging wieder rückwärts. Heller sah auf. Unten bei der Kirche glaubte er eine weiße Gestalt zu sehen, die sich langsam zur Tür hinbewegte. Die Stute schnaubte noch einmal und legte die Ohren an, sie drängte weiter zurück, wurde immer unruhiger und warf den Kopf hoch.

»Ist gut!«, mahnte Heller, sprang ab und packte das Zaumzeug, um das Tier zu führen. Er sah erneut zur Kirche, wo jetzt auch die Gestalt in Weiß stehen geblieben war. Obwohl er das auf die Entfernung gar nicht erkennen konnte, war ihm, als starrte sie zu ihm herüber.

Heller verharrte. Und von einer Sekunde zur nächsten war die Gestalt verschwunden. Wie konnte das sein? Heller rieb sich die Augen und suchte nach einer Bewegung. War es eine Täuschung gewesen? Das wäre durchaus möglich, so finster, wie es war. Und sein Pferd?

»Na, komm jetzt!«, sprach Heller das Tier an und zog am Halfter. Jetzt hatte es sich etwas beruhigt und ließ sich führen. Heller stieß Luft durch die Nase und saß wieder auf. Nun hoffte er wirklich, Thomas wäre noch wach und würde ihm das Absatteln abnehmen.

Ein weiteres Mal sah er zur Kirche hinüber, obwohl er seiner Phantasie nicht noch mehr Nahrung geben wollte. Umso heftiger zuckte er zusammen, als die weiße Gestalt wieder dastand.

 

»Das war die Weiße Frau!«, raunte Helene ihm am nächsten Morgen in der Küche zu.

»Red kein Zeug!«, lachte er, doch seine Frau blieb ernst.

»Du hast es doch gerade selbst erzählt!«

Damit hatte sie recht, und er bereute es. Aber sie amüsierte sich nicht darüber, im Gegenteil, sie nahm es zu wichtig. Zum Glück waren sie noch allein in der Küche.

»Du wärst auch nicht der Erste!«

»Helene, genug jetzt.«

»Aber was sperrst du dich so? Erinnerst du dich, als Johanna noch ganz klein war und sie morgens zu uns ins Bett kam? Da kicherte und lachte sie die ganze Zeit und zeigte mit ihren kleinen Fingerchen in die Luft. Und als ich sie fragte, was denn da sei, sagte sie: viele alte Menschen!«

»Mag sein, Helene, ich erinnere mich. Aber weiß man, was ein zweijähriges Kind alles sieht und denkt!?«

Helene stand jetzt dicht vor ihm und sah ihn mit blitzenden Augen an. »Herr Rittmeister bekommt es wohl mit der Angst?«

»Höchstens mit dem Zorn! Das ist doch Unfug. Weiß ich, wer da um diese Zeit herumgeistert?« Heller verstummte. Er hatte sich gerade selbst überlistet.

Helene kommentierte das mit einer leicht belustigten Miene.

»Ich habe schon manchmal den einen oder anderen im Ort über die Weiße Frau reden hören. Es soll sie schon lange hier geben.«

»Helene!«, ermahnte Heller seine Frau noch einmal. Jederzeit konnte eine der Mägde hereinkommen, dann würden sie kein Ende finden, sich Geistergeschichten zu erzählen. Das würde ihm gerade noch fehlen.

»Ich hätte sie gern gesehen«, sagte Helene.

»Ist recht«, erwiderte er einsilbig und ging hinaus.

»Guten Morgen, Herr Rittmeister!«, grüßte Thomas, der schon im Stall gearbeitet hatte. Er war gut gelaunt wie immer, egal, was der Tag ihm an schwerer Arbeit versprach. Heller war die Laune verhagelt, doch er zwang sich, so freundlich wie möglich zurückzugrüßen.

»Thomas, ich nehme den Braunen für einen kurzen Ritt.«

»Sehr wohl, ich will gleich …«

»Du brauchst nicht aufzusatteln, es sind nur ein paar Meter.«

 

Der Wallach nahm den morgendlichen Ausritt gelassen. Er kannte das, mit oder ohne Sattel. Heller ritt die Dorfstraße entlang, hinaus aus dem Ort. An der Gabelung überlegte er, ob er nach rechts zum Wald oder nach links zum Fluss reiten sollte, dann aber ließ er das Pferd wenden. Er musste sich nichts vormachen.

Bei der Kirche angelangt scheute der Wallach, als hätte er eine Kreuzotter bemerkt. Heller ließ ihn seitwärts tänzeln, bis er sich beruhigte. Dann stieg Heller ab und band die Zügel an einen Pfahl. Er ging zu der Stelle, an der das Tier zurückgeschreckt war. Doch da war nichts zu sehen. Nur ein sandiger Weg. Keine Schlange, nicht mal die Spuren einer Maus.

Heller sah sich noch weiter um, versuchte nachzuvollziehen, wo die weiße Gestalt in der Nacht gestanden haben mochte. Doch es war nichts Auffälliges auszumachen, keine eindeutige Spur zu erkennen. Vielmehr waren da Hunderte Spuren im Staub, in ihrer Menge völlig nutzlos.

»Herr Kriminalrat, guten Morgen!«, grüßte der Pastor, ein junger Mann, dem man diese Gemeinde erst vor drei Jahren zugewiesen hatte.

Heller schnaufte. Den Pastor hatte er nicht unbedingt antreffen wollen. »Guten Morgen!«, grüßte er trotzdem zurück und griff sich an den Hut.

»Wollten Sie mich sprechen?«, fragte der junge Mann.

»Nein, nein, mein Pferd scheute nur gerade, und ich wollte nachsehen, warum.« Das war nicht einmal gelogen.

»Vielleicht wollte es Ihnen ein Zeichen geben, dass Sie an den meisten Sonntagen des Jahres in unserem Gotteshaus schmerzlich vermisst werden«, versuchte es der Pastor halb im Scherz.

»Wenn Sie mich schmerzlich vermissen, kommen Sie doch gelegentlich auf einen Besuch«, konterte Heller. Auch das noch. Ihm genügte schon die Rüge seiner Frau, die gern und regelmäßig die Gottesdienste besuchte.

Der Pastor verstand zwar, dass mit Heller heute nicht zu scherzen war. Doch er zog sich nicht zurück, im Gegenteil, er kam näher heran.

»Heinze, mein Kalfaktor, der bei mir im Dachgeschoss ein Zimmer bewohnt, meinte heute Morgen, ihm sei die Weiße Frau erschienen. Das geschehe nicht oft, meinte er noch, aber kündige meist ein Unglück an.«

Heller versuchte, seinen Unmut über diese Nachricht zu verbergen. »Wann soll das gewesen sein?«

»Nach Mitternacht. Wissen Sie, der Mann leidet unter verschiedenen Altmännerproblemen und muss in der Nacht mehrmals hinaus. Dabei hat er sie wohl gesehen.«

Heller nickte unwillig. »Jaja, das Märchen von der Weißen Frau geht hier schon ewig um. Aber keiner weiß wirklich, wer sie ist und was sie umtreibt.«

»Nun ja, Heinze weiß das durchaus. Sie verlor ihre Kinder in einem Feuer, das sie wohl selbst in Unachtsamkeit verursacht hatte. Darüber grämte sie sich so sehr, dass sie sich erhängte. Muss wohl um die hundert Jahre oder länger her sein. Seither kündigt ihr Erscheinen Brände an.« Der Pastor hing kurz seinen Gedanken nach. Dann klärte sich sein Gesicht auf. »Doch nun will ich Sie nicht länger damit belästigen. Ich weiß ja, was Herr Kriminalrat von solcherart Geschichten halten.«

»Genau. Alles Humbug!«, bestätigte Heller, mehr sich selbst als dem anderen.

»Weiß man’s?«, erwiderte der Pastor. »Zwischen Himmel und Erde gibt es Dinge, die zu erklären nicht in unserer Macht steht.«

»Ich denke, alles lässt sich erklären, wenn man nur lange genug forscht! Wollen wir doch mal einen Blick darauf haben, ob es brennen wird. Doch geb’s Gott, dass dem nicht so ist. Einen guten Tag noch!«

Heller grüßte und ging zurück zu seinem Pferd, das jetzt ruhig dastand. Und auch als er aufsaß und es absichtlich noch einmal zu der Stelle lenkte, wo es zuvor gescheut hatte, passierte – nichts.

2

»Guten Morgen, Herr Kriminalrat«, begrüßte Kriminalassistent Schrumm seinen Vorgesetzten. Ob Adelbert Schrumm gut gelaunt war oder nicht, war fast nie auszumachen. Er verbarg beides, Freud und Leid.

»Hatten Sie einen guten Sonntag?«, fragte Heller seinen Assistenten.

Schrumm, hoch aufgeschossen und spindeldürr, schien kurz durch Heller hindurchzusehen. Als müsste er erst rekapitulieren, was einen Sonntag schön machte und ob nun dieser Sonntag alle Kriterien erfüllt hatte.

»Hat das kurze Gewitter Sie in Ihrer Dachkammer etwa erschreckt? Und gab es vielversprechende Antworten auf Ihre neuen Annoncen?«, hakte Heller nach.

»Dass Sie nur immer fragen müssen«, schmollte Schrumm.

»Anders würde ich ja nie erfahren, ob Ihnen Erfolg beschieden war.«

»Das Gegenteil ist der Fall, Herr Kriminalrat. Wenn man es als Misserfolg werten möchte, dass niemand Standesgemäßes auf meine Annoncen reagiert und man sich offenbar einen Spaß mit mir erlaubt.«

»Inwiefern?«

»Insofern, dass man mich da und dort hinbestellt, um mich umsonst warten zu lassen, und sich vermutlich köstlich über meine Betroffenheit amüsiert.«

»Wollen wir der Sache nachgehen?«, fragte Heller ernst.

»Nein, selbstverständlich nicht. Aber ich verspreche Ihnen, Herr Kriminalrat, sollte mir Erfolg beschieden sein, werde ich Sie umgehend in Kenntnis setzen. Nur bitte: Fragen Sie mich nicht mehr!«

»Also gut«, lenkte Heller ein. Er setzte sich an seinen Platz und ärgerte sich ein wenig über sich selbst, weil er seinen Assistenten so aufgebracht hatte. Mehr noch ärgerte er sich über dessen empfindliche Reaktion. Auf Hellers Pferdehof oder gar in der Armee wäre einer wie Schrumm völlig aufgeschmissen.

»Gibt es etwas Neues?«

»Allerdings, Herr Kriminalrat. Es hat einen Toten gegeben, in einer Villa hinter dem Großen Garten.«

»Ein Überfall?«, fragte Heller nach.

»Nein, es handelt sich offenbar um einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall.«

»Ist das schon attestiert?«

»Ja, von einem Arzt, der in der Gegend praktiziert.«

»Was ficht es uns dann an?«, fragte Heller, dessen Interesse bereits geweckt war.

»Bei dem Mann handelt es sich um Kommerzienrat Adam Wilhelm Gust. Deshalb bat man uns, den Fall näher zu betrachten, um eine Straftat auszuschließen.«

»Schrumm, reden Sie nicht dauernd um den heißen Brei herum! Kommen Sie mal zur Sache!«

»Der Mann starb während einer Séance.«

»Bei einer Geisterbeschwörung?« Das hatte Heller nicht erwartet.

»So ist es hier notiert.« Schrumm hob wie zum Beweis das Papier an und nickte bestätigend.

Heller hatte sich noch nie darum geschert, was auf hausinternen Papieren stand. »Da hol mich doch der Teufel«, grollte er.

Schrumm schlug eilig ein Kreuz und fragte: »Warum?«

»Ach, nichts«, wiegelte Heller ab. Er hatte jetzt keine Lust, die Geschichte von der Weißen Frau zu erzählen. »Wann ist es denn geschehen?«

»In der vergangenen Nacht.«

»Also liegt er noch da, dieser Adam Wilhelm Gust?«

Der Assistent nickte eifrig.

»Dann los, packen wir es an, Schrumm!«

 

Die Villa lag abseits, in Richtung des kleinen Ortes Reick, gerade noch im Stadtgebiet. Das Haus stand auf einer leichten Anhöhe in Sichtweite der neuen Gasanstalt, eines riesigen Gebäudes mit kreisförmigem Grundriss, war aber trotzdem nicht leicht einzusehen. Denn das Grundstück, welches es umgab, war mit hohen Bäumen bewachsen und verwildert. Wahrscheinlich hatte die Villa früher mal allein auf weiter Flur gestanden. Mittlerweile waren die Straßen befestigt und Eisenbahngleise gelegt worden, viele neue Häuser, Ställe, Werkstätten waren entstanden, eine neue Kirche und Gaslaternen an der Hauptstraße errichtet und Telegraphenmasten aufgestellt worden. Die Stadt hatte sich hier in den letzten zwanzig, dreißig Jahren ausgebreitet wie heißer Brei aus einem umgestürzten Topf, dachte Heller.

Der Kutscher lenkte die offene Kutsche die Auffahrt hinauf und musste sich auf seinem Bock unter tief hängenden Ästen und Zweigen bücken. Kies knirschte unter den Hufen und Rädern. Der hoch aufgeschossene Schrumm musste seinen Zylinder festhalten, damit er ihm nicht vom Kopf gefegt wurde.

»Hier hat schon lange kein Gärtner mehr beschnitten«, kommentierte Heller.

»Die Frau, die hier jetzt wohnt, ist verarmt«, wusste Schrumm. »Sie ist geschieden, wohl seit einiger Zeit schon.«

»Vielleicht etwas für Sie, Schrumm?«, scherzte Heller.

»Warum, Herr Kriminalrat, weil sie arm ist?«, fragte dieser schnell zurück und klang schon wieder ein wenig beleidigt.

»Nein, weil Sie …« Heller verstummte. Er hatte einen Spaß machen wollen, doch nun fiel ihm keine Begründung ein, die nicht verletzend wäre. »Verzeihen Sie, Schrumm«, bat er zerknirscht.

Dann hielt die Kutsche vor dem Haus. Ein Brunnen zierte das Rondell vor der breiten Eingangstreppe, der jedoch kein Wasser hatte und völlig von Unkraut überwuchert war. Auch das Haus selbst, einst ein herrschaftliches Gebäude, bot einen traurigen Anblick. Farbe und Putz der Fassade blätterten ab, Fensterläden hingen schief, Efeu wuchs an den Wänden bis zum Dach hinauf. In den Steinritzen der Treppe wucherte das Gras. Insgesamt herrschte eine düstere Atmosphäre, die Bäume standen dicht und hoch um das Haus, und das Dickicht hatte übermannshoch die ehemaligen Rasenflächen und Beete erobert.

Heller sah sich um. An diesem Ort sagte ihm rein gar nichts zu.

»Hier müsste mal eine Heerschar Gärtner ran, und zwar beizeiten, sonst wird das noch zu einem Dornröschenschloss.«

In dem Moment öffnete sich die Tür, und eine Frau erschien. Heller schätzte sie auf etwa fünfzig. Sie trug ein weit ausladendes Kleid, unter dem sicher ein Reifrock verborgen war. Wahrscheinlich trug sie ein Korsett, vermutete Heller. Ihre Frisur sah aus wie eine Perücke aus dem vorigen Jahrhundert. Sie war geschminkt wie eine Theaterschauspielerin: zu viel Rouge auf den Wangen, die Augen schwarz umrahmt, die Lippen dunkelrot. Ein seltsamer Auftritt, fand Heller, dafür, dass ein Toter im Haus lag.

»Sind Sie hier, um den Leichnam abzuholen?«, fragte sie mit der tragenden Stimme einer Bühnendarstellerin.

»Frau Blumfeld?«, erkundigte sich Heller.

»Zu Ihren Diensten, Adele Amalia Blumfeld.« Sie deutete einen Knicks an.

Heller stieg aus der Kutsche und wartete auf Schrumm, der sich umständlich vom Sitz erhob. »Kriminalrat Heller, Kriminalassistent Schrumm von der Königlich Sächsischen Polizei. Wir wollen den Toten nur ansehen«, gab er zu verstehen.

»Soll er etwa noch lange hierbleiben?«, fragte die Blumfeld und wirkte besorgt. »Das wird denen gar nicht gefallen«, fügte sie leise hinzu.

»Wem?«, fragte Heller.

»Ach, nicht so wichtig«, sagte Frau Blumfeld.

»Dann führen Sie uns bitte hinein. Ich nehme an, ein Bestatter wurde schon bestellt und die Familie des Mannes informiert? Dann wird ihn auch sicher bald jemand abholen.«

»Die Familie ist ganz sicher informiert«, antwortete die Frau, nachdem sie die Männer hineingelassen hatte. »Seine Frau war ja dabei!«

Heller hatte diese Bemerkung zwar gehört, doch vorerst verlangte das Innere des Hauses seine ganze Aufmerksamkeit. Von außen war es ihm nicht aufgefallen, aber jetzt bemerkte er, dass die großen Fenster der Eingangshalle völlig verhängt waren, sodass der Raum in kompletter Finsternis vor ihm lag. Es war stickig und staubig und roch leicht faulig.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« Frau Blumfeld führte die Männer zu einer Doppeltür, die sie öffnete, und bat sie in einen weiteren, ebenfalls dunklen Raum.

»Wollen Sie nicht wenigstens die Vorhänge etwas öffnen?«, fragte Heller irritiert.

»Ja, natürlich«, erwiderte die Frau, ging zu einem der Fenster, zog und zerrte vergeblich an einem der schweren dunklen Vorhänge, bis Heller Schrumm anstieß und ihn veranlasste, ihr zur Hand zu gehen. Gemeinsam öffneten sie den Vorhang, aber nur einen Spaltbreit. Dabei blieb es. Heller begriff, dass diese Vorhänge sonst immer geschlossen waren. Wenigstens aber fiel nun ein wenig Licht in den Raum, und man konnte einen großen runden Tisch auf einem massigen Fuß erkennen, an dem ein Dutzend Stühle standen. Über dem Tisch hing ein großer Kronleuchter aus Messing. Heller zählte noch vier weitere hohe Fenster. Auch vor diesen befanden sich dunkle Vorhänge, so lang, dass sie sich auf dem Boden stauchten. Zwischen den Fenstern standen große schwere Schränke, die genau wie die Wandvertäfelung aus geschwärzter Eiche hergestellt waren.

»Leben Sie immer in dieser Dunkelheit?«, fragte Heller.

»Nein, oben, wo ich mich zum Lesen und Schlafen aufzuhalten pflege, ist es heller. Aber für das, was ich hier tue, brauche ich kein Licht, vielmehr ist es sogar hinderlich.«

Endlich bemerkten sie den Leichnam auf dem Boden. Man hatte ihm ein kleines Kissen unter den Kopf gelegt, außerdem die Hände vor der Brust gefaltet und mit einem dünnen Strick fixiert. Gust war offenbar ein mittelgroßer, eher unscheinbarer Mann gewesen.

»Hier hat der Arzt ihn untersucht?«, fragte Heller.

»Ja. Er konnte nur den Tod feststellen und kam schnell zu dem Schluss, dass er einem Herzanfall erlegen sei.«

»Herr Kriminalrat«, meldete sich Schrumm leise zu Wort. Er war neben dem Toten in die Hocke gegangen. Heller trat näher und betrachtete im schwachen Licht das Gesicht des Toten. Es war zu einer Maske des Grauens erstarrt.

»Seine Augen wollten sich nicht schließen lassen«, raunte Frau Blumfeld.

Gust starrte ins Leere, doch er tat es mit einem Blick voller Entsetzen.

»Was mag er wohl gesehen haben?«, fragte Schrumm mit belegter Stimme.

»Werden Sie nicht albern«, hielt Heller dagegen, »es ist der Schmerz, der aus dieser Miene spricht, oder die Erkenntnis, sterben zu müssen.«

Jetzt stand auch die Blumfeld neben ihnen. »Ich weiß, was er gesehen hat, meine Herren. Er sah einen Geist!«, behauptete sie.

»Ach ja?« Heller sah sie auffordernd an. »Haben Sie den Geist auch gesehen?«

»Nein. Ich falle während der Sitzungen in einen Zustand, in dem ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin. Aber andere, auch seine Frau, sahen den Geist ebenfalls und hörten ihn sprechen.«

»Was sagte er denn? Haben die anderen etwas darüber berichtet?«

»Nun, es war nicht eindeutig. Gust solle für seine Sünden büßen oder so ähnlich.«

»Welch Überraschung!« Heller konnte sich die Worte nicht verkneifen. »Sagen das nicht alle Geister? Richtet einer auch mal freundliche Grüße aus oder verrät etwas Interessantes?«

»Allerdings.« Frau Blumfeld ließ sich den Schneid nicht abkaufen. »Es gibt Seelen, die ihre Verwandten nur gut versorgt wissen wollen oder auch das eine oder andere Geheimnis verraten.«

»Fassen wir zusammen«, versuchte Heller diese kleine Niederlage zu übergehen. »Sie laden gelegentlich zu Séancen ein.«

»Ich lade nicht ein, ich werde darum gebeten. Und wenn sich eine Anzahl Interessenten gefunden hat, dann findet eine Sitzung statt.«

»Wie viel Gebühr verlangen Sie dafür?«

»Gar keine!«

»Keine?«

»Wie könnte ich von einer gottgeschenkten Gabe profitieren wollen?«

»Auch ein talentierter Komponist oder Maler profitiert von seiner gottgeschenkten Gabe.«

»Ich denke doch, das ist etwas anderes, werter Herr Rittmeister!«

»Letzte Nacht also begannen Sie eine Sitzung …« Heller hielt inne. »Haben Sie mich gerade mit Rittmeister angesprochen?«

Frau Blumfeld schürzte die überschminkten Lippen. »Mag sein, ja.«

»Ich kann mich nicht entsinnen, mich so vorgestellt zu haben, Frau Blumfeld.«

»Dann wurde es mir eingeflüstert.«

»Von wem? Hat man mich angekündigt?«

»Jemand hier im Haus verriet es mir.« Frau Blumfeld hob die Hände und sah zur Decke. »Dieses Haus ist ein Ort, an dem sich die verlorenen Seelen, die unruhigen Geister versammeln!«

Heller unterbrach sie mit einer ungeduldigen Geste. »Letzte Nacht also hielten Sie eine Séance ab. Neben Herrn Gust waren seine Frau und einige andere dabei, deren Namen Sie uns sicherlich noch nennen werden. Wie verlief die Sitzung?«

»Sie war sehr erfolgreich. Es begann sogleich damit, dass ich einen Kontakt fand. Ich öffnete mich, und jemand trat direkt in das offene Tor, so bezeichne ich das. Von da an entsinne ich mich an nichts mehr, bis ich aus meiner Ohnmacht erwachte und die allgemeine Hysterie um mich herum bemerkte.«

»Es war dunkel?«

»Wir benötigen nur eine Kerze, die wir in die Mitte des Tisches stellen.«

»Wann begannen Sie mit der Séance?«

»Kurz vor Mitternacht, das ist die beste Stunde.«

»Sie leben ganz allein hier?«

»Ich und mein Hausmädchen Hermina, sonst niemand.«

»Wovon leben Sie?«

»Von kleinen Spenden.«

»Fürchten Sie nicht, Frau Gust könnte Sie verklagen?«

»Warum?« Frau Blumfeld lächelte. »Sie gehört zu meinen Stammkunden und war nicht nur einmal Zeugin einer erfolgreichen Sitzung. Sie wollte ihrem Mann beweisen, dass es sich dabei nicht um Betrug handelte, wie er immer behauptet hatte. Und offenbar hat sich das auf schreckliche Weise bestätigt!«

Heller nickte. »Ich würde jetzt gern mit Ihrer Dienstmagd sprechen.«

»Hermina? Sie können mit ihr sprechen, doch viel wird das nicht bringen. Sie ist stumm und kann weder lesen noch schreiben. Sie kann sich nur mit Gesten verständigen. Aber ich rufe sie gerne.« Frau Blumfeld griff in eine verborgene Tasche ihres voluminösen Kleides und holte eine beinahe faustgroße Glocke hervor, mit der sie läutete.

Es dauerte eine Weile, und nichts deutete darauf hin, dass Hermina das Läuten vernommen hatte. Dann aber stand sie plötzlich in der Tür, ohne dass Heller vorher Schritte vernommen hatte. Hermina war eine junge Frau, eigentlich fast noch ein Mädchen. Sie trug ein schlichtes Hauskleid und hatte ein Tuch um ihre Haare gebunden.

»Komm herein, Hermina, die Herren sind von der Kriminalpolizei und möchten dich zum Ableben dieses Herrn befragen.« Frau Blumfeld deutete auf den Toten, als hätte sie ihn gerade erst in diesem Moment entdeckt.

Hermina kam näher, und als sie ins Licht trat, sog Schrumm entsetzt die Luft ein. Auch Heller konnte sein Entsetzen kaum verbergen. Zwei hässliche Narben verliefen diagonal über Wange und Mund. Ein Auge hing tief, wie bei einem Schlaganfallopfer, und tränte. Die Haut ihrer linken Gesichtshälfte war großflächig verbrannt.

»Lieber Himmel, armes Kind, was ist dir denn geschehen?«, stieß Heller erschrocken aus.

Frau Blumfeld legte einen Arm um Herminas Schultern. »Ich will für sie antworten. So wie ich es verstanden habe, hatte sie vor einigen Jahren einen Unfall mit einem Pferdefuhrwerk. Der Karren war mit Petroleumfässern beladen und fuhr ihr buchstäblich über das Gesicht. Zu allem Übel kippte das Gefährt um, einige Fässer zerbrachen, und weil es Nacht war, hing eine Laterne an der Kutsche, die das ausgelaufene Brennöl entzündete. Man zerrte sie aus den Flammen. Ein Arzt, ein guter Mann, kümmerte sich um sie. Er behandelte ihre Wunden, so gut es ging, und verlangte nicht einmal Geld von ihr. War es nicht so?«

Hermina nickte.

»Der Unfall hat sie so dermaßen entsetzt, dass sie ihre Stimme verlor.«

»Sie spricht gar nicht?«, fragte Heller.

»Nicht ein Ton kommt ihr über die Lippen.«

»Stehen Sie in verwandtschaftlichem Verhältnis?«

»Nein, ich fand sie sozusagen und hatte Mitleid mit ihr. Das arme Ding, verarmt, verstümmelt, niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ich glaube ja, sie wurde von ihren Eltern verstoßen, doch das will sie mir nicht bestätigen.« Frau Blumfeld sah Hermina auffordernd an, doch diese starrte nur ausdruckslos vor sich hin.

Heller machte ein paar Schritte auf das Mädchen zu. Er zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen.

»Wie alt bist du?«, fragte er und erinnerte sich im selben Moment, dass sie nicht antworten konnte. »Fünfzehn?«, schätzte er.

Sie hob einen Finger.

»Sechzehn, also?«

Nun nickte sie, hob aber unsicher die Schultern.

»Du bist Frau Blumfeld zu Diensten?«

Sie nickte.

»Hilfst du bei den Geisterbeschwörungen?«

Wieder nickte sie.

»Was ist deine Aufgabe? Die Gäste hineinführen? Getränke reichen?«

Nicken, Kopfschütteln.

»Wir reichen weder Speis noch Trank«, erklärte jetzt die Blumfeld.

»Hast du sonst irgendwelche Aufgaben?«, fragte Heller das Mädchen weiter.

Hermina nickte, zeigte auf Frau Blumfeld, deutete leichte Klapse mit der Hand an und gab zu verstehen, dass sie ihr etwas zu trinken gab.

»Sie holt mich aus meiner Ohnmacht, die mich zum Ende hin immer ereilt«, übersetzte Frau Blumfeld.

»Verbirgst du dein Gesicht vor den Gästen?«, fragte Heller.

Hermina zögerte kurz und nickte dann. Sie holte ein Stück Gaze aus einer Tasche ihres Rocks, hielt es sich vor das Gesicht und zeigte, wie sie das Tuch unter den Saum ihres Kopftuches schob, um es wie einen Schleier zu tragen.

»Du sprichst nicht, Hermina? Niemals? Selbst wenn dein Leben davon abhinge?«

Das Mädchen nickte. Heller schürzte die Lippen, sah Hilfe suchend zu Schrumm. »Und du hast wirklich keine anderen Aufgaben?«

Jetzt mischte sich ihre Herrin wieder ein. »Doch, natürlich. Sie putzt und kocht, holt Wasser, wäscht, kauft ein. Das ist unser Arrangement. Dafür erhält sie freie Kost und Logis. Und ich zahle ihr in eine – zugegebenermaßen sehr bescheidene – Rente ein, damit sie etwas hat, wenn ich einst sterben werde. Sie ist ja so viel jünger als ich.«

»Sehr gut«, lobte Heller. »Ich meinte jedoch, ob ihr bei den Séancen noch weitere Aufgaben zufallen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Frau Blumfeld misstrauisch.

»Auf gar nichts, ich wollte nur meine Neugier befriedigen.« Dann wandte er sich wieder an Hermina. »Du bist bei den Séancen dabei? Die ganze Zeit?«

Das Hausmädchen nickte.

»Hast du keine Angst?«

Nun zögerte sie wieder.

»Nun, gib es ruhig zu, es ist keine Schande«, ermunterte Frau Blumfeld sie. Daraufhin nickte Hermina erneut, kreuzte die Arme vor der Brust und rieb sich die Schultern, als fröre sie.

»Hast du den Geist gesehen, der diesen Herrn zu Tode erschreckte?«

Hermina dachte kurz nach, sah zu ihrer Herrin und nickte dann ganz knapp.

»Er sprach zu Gust?«

Nun hob sie sehr zögerlich die Schultern. Dann deutete sie auf ihre Ohren.

»Sie hat etwas gehört«, erklärte Frau Blumfeld, die Herminas Gesten besser zu lesen wusste.

»Und was?«

Hermina hob nun bedauernd die Hände, deutete auf ihren Mund.

»Sagte er, Gust solle für seine Taten büßen?«

Hermina öffnete den Mund. Heller glaubte schon, er hätte sie mit seiner Fragerei überlistet, doch dann schloss sie ihren Mund wieder und nickte.

»Und es kann keiner der anderen Gäste gewesen sein?«

Hermina überlegte wieder lang und nickte schließlich.

Heller spürte Ungeduld in sich aufsteigen, wie Milch in einem Kochtopf. Ihn frustrierten das stumme Nicken und Kopfschütteln.

»Sie, nehme ich an, haben den Geist nicht gesehen und gehört?«, wandte er sich an Frau Blumfeld.

»Nein. Wie schon gesagt, trete ich an einem gewissen Punkt der Beschwörung in einen Zustand, der mich nichts hören und sehen lässt.«

»Gut, belassen wir es vorerst dabei. Sie wissen nicht zufällig, wo wir Frau Gust finden können?«

 

Die nun verwitwete Frau war untröstlich, und Heller musste ihre Diener und Zofen fast nötigen, ihn und Schrumm zu ihr zu lassen, als sie nach kurzer Kutschfahrt die Gust’sche Villa erreicht hatten.

Frau Gust lag auf einer Chaiselongue. Eine ihrer Bediensteten fächerte ihr Luft zu, eine andere reichte ihr frische Taschentücher.

»Ich bin schuld«, hauchte sie. »Ich wollte ihm beweisen, dass die Frau keine Betrügerin ist!«

»Hat er das denn vermutet?«, nahm Heller den Hinweis auf.

»Aber ja! Obwohl ich ihm versicherte, dass die Dame kein Geld nimmt, und mehrfach bewiesen ist, dass sie mit den Toten sprechen kann. Oder sie heraufbeschwört. Sie hat Geheimnisse aufgedeckt, ich war dabei.«

»Hatte Ihr Mann ein schwaches Herz? Sonstige Beschwerden?«

»Nun, er war erst kürzlich bei einem Arzt gewesen, um sich einer körperlichen Untersuchung zu unterziehen. Und diese brachte nur gute Ergebnisse. Andererseits fiel ihm das Treppensteigen schon schwerer als früher. Ein wenig kurzatmig war er auch.«

»Sie haben den Geist gesehen, der ihn erschreckte?«

»Nein. Die Kerze ging aus, das geschieht gelegentlich. Ein Lufthauch fährt durch den Raum, der von nirgendwo zu kommen scheint und das Licht löscht.«

»Hörten Sie den Geist sprechen?«

Frau Gust schlug sich die Hände vor das Gesicht und nickte heftig.

»Was sagte er?«, fragte Heller. Sein Verdacht, es könnte ein Streich der Frau gewesen sein, den sie ihrem Mann hatte spielen wollen, erhärtete sich durch ihr Verhalten nur.

»Sagte er etwas in der Art, dass er für seine Sünden büßen solle?«, drang Heller auf sie ein.

Sie nickte wieder und schluchzte in ihre Hände.

»Haben Sie das Hausmädchen der Blumfeld gesehen, Hermina?«

»Hab ich«, brachte Frau Gust heraus.

»Wissen Sie um die Verstümmelungen in ihrem Gesicht?«

»Ich sah sie schon oft und habe mich an den Anblick gewöhnt.«

»Ihr Mann aber nicht?«

Frau Gust schüttelte den Kopf, und eine neue Welle der Verzweiflung brach über sie herein.

 

»Wir gehen? Einfach so?«, fragte Schrumm, als sie auf die Straße traten.

»Was wollen wir noch hier?«, erwiderte Heller, nachdem er dem Kutscher Anweisung gegeben hatte, sie zum Präsidium zurückzufahren. »Mir ist das Ganze recht schlüssig. Der Mann hat einen Infarkt erlitten. Möglich, dass er sich von seiner Frau zu der Teilnahme hatte überreden lassen. Es mag sein, dass er auf dem Hinweg noch darüber gescherzt hat, spätestens beim Anblick dieser düsteren zugewachsenen Villa ist ihm jedoch der Spaß vergangen. Sein Herz, vielleicht schon angegriffen, schlug heftig. Und noch heftiger, als die Sitzung schließlich begann. Auch ich würde lieber daheim an einem gemütlichen Kaminfeuer sitzen, als um Mitternacht in diesem Haus zu sein. Sie erinnern sich sicher, dass ein kurzes Gewitter über der Stadt niederging, ich sah es aus der Ferne. Und sogar der Zeitpunkt passt genau, das lässt sich gewiss noch nachprüfen.

Frau Blumfeld murmelt ihre Beschwörungen, das Hausmädchen macht ein paar Geräusche, klappert und flüstert, und schon ist der Zauber perfekt. Dann raunt die Blumfeld ihm zu, er solle für seine Sünden büßen – am Ende wurde sie sogar von Gusts Frau dazu angestiftet, um ihr einen kleinen Vorteil zu verschaffen –, doch der Scherz ging nach hinten los. Hermina schleicht sich an ihn heran und zeigt ihm ihr Gesicht. Der Mann greift sich an die Brust und fällt um. Alle schreien in Panik. Frau Blumfeld tut, als wüsste sie von nichts. Quod erat demonstrandum!«

»Bewiesen ist gar nichts, Herr Kriminalrat.« Für Schrumm war die Sache offenbar nicht so eindeutig. »Welchen Vorteil will Frau Gust sich verschaffen?«

»Schrumm, Sie wissen das nicht, weil Sie keine Frau haben. Aber ein Eheweib wird nichts Vergnüglicheres finden, als ihren Mann tagelang damit aufzuziehen, welche Sünden er denn zu gestehen hätte. Und der wird mächtig in die Bredouille geraten, denn irgendwelche Sünden hält jeder geheim.«

»Sie auch?«, fragte Schrumm etwas übergriffig.

»Das wüssten Sie gern, Schrumm!«, rügte Heller.

»Und was halten Sie davon, dass die Blumfeld plötzlich Ihren militärischen Rang kannte?«

»Nichts da, Schrumm. Den hat ihr irgendjemand verraten, vielleicht nur nebenbei. Oder sie mag schon von mir gehört haben. Diese Frau ist eine Betrügerin, sie wird ihr Geld mit der Gutgläubigkeit einiger Menschen verdienen. Solche Leute sind geschickt und gut informiert. Ihr Auftreten, die Villa, alles trägt zu ihrem Ruf bei. Diese Hermina mag zwar vorgeben, stumm zu sein, doch das glaube ich ihr nicht. Sie wird für eine angemessene Geräuschkulisse gesorgt haben. Wenn sich jemand auf solcherart Humbug einlässt, dann riskiert er bereitwillig, einen Herzinfarkt zu bekommen.«

»Keine Anklage? Gegen die Blumfeld oder Frau Gust?«

»Worauf sollte die basieren, Schrumm? Der Blumfeld und ihrer Magd kann man höchstens eine kleine Betrügerei unterstellen. Aber nicht in unlauterer Absicht, denn es scheint ja so, dass die Blumfeld keine Gebühren für ihren Zauber verlangt. Frau Gust konnte bestenfalls damit rechnen, dass ihr Mann sich erschrecken würde, wie vor einer Hexe oder einem Troll in einer Grottenbahn. Und sollte sie wirklich verantwortlich sein, dann ist sie doch genug gestraft! Belassen wir es dabei.«

3

Der Sommer ging vorüber. Der Herbst vertrieb die drückende Hitze, zauberte einen goldenen Oktober und ließ die Bäume an den Elbhängen gelb und rot leuchten, doch nun war es so kalt in der Nacht, dass man bald mit dem ersten Frost rechnen musste. Es regnete immer häufiger, bis die Wege schließlich nicht mehr trockneten. Stürme kamen auf, das Laub fiel. Die Ernte war eingebracht. Die Pferde standen mit gesenkten Köpfen regungslos auf der Koppel, wenn der kalte Regen einsetzte. Morgens bedeckte Raureif die Felder und Wiesen. Kastanien und Eicheln wurden gesammelt, und bald war es nicht mehr zu leugnen, dass der Winter nahte.

Das war die Zeit, in der sie begannen, Johannas Atem zu lauschen und bei jedem Räuspern aufzuschrecken. Bei jedem leichten Husten bangten sie, dass er sich zu einem Anfall steigern könnte. Eine Schwere legte sich auf sie, weil Johanna nun noch mehr zu einer Gefangenen wurde. Sie sollte nicht mehr hinausgehen, so hatten es die Ärzte schon vor Jahren für sie bestimmt. Sie durfte auch nicht mehr die Hühner und Karnickel im Stall besuchen. Sie verbrachte Tage und Wochen in ihrem Zimmer, klaglos zwar, aber doch sicher an Lebensschmerz leidend.

Obwohl immer mehr Straßen gepflastert wurden, war der Weg nach Dresden beschwerlich. Weil ihm der Wind scharf ins Gesicht blies, zog Heller den Hut tiefer und klappte den Kragen seines steifen Mantels hoch. Er hatte ihn aus dem Krieg mitgebracht, und auch wenn er nicht besonders ansehnlich war, tat er ihm jetzt schon zehn Jahre lang guten Dienst.

Trotz der Umstände war Heller guten Mutes. Er glaubte fest daran, dass seine Tochter auch diesen Winter überstehen würde. Sie war inzwischen kein Kind mehr, wusste auf sich achtzugeben und mit ihrer Situation umzugehen.

Außerdem hatten sie einige Pferde verkauft, zu guten Konditionen. Die nächste Generation stand schon im Stall. Die Scheune war voller Heu, die Vorratsräume gut bestückt.

Als er im Präsidium ankam und den Vorraum seines Büros betrat, erhob sein Sekretär Klenkel sich von seinem Platz.

»Guten Morgen, Herr Kriminalrat!«

»Guten Morgen, Klenkel. Sie sehen aus, als gäbe es Neuigkeiten.«

»So ist es, Herr Kriminalrat. Es gibt offenbar einen Selbstmord. Man möchte, dass Sie sich darum kümmern. Die Angelegenheit mit dem gepanschten Wein soll Kriminalrat Neubert übernehmen. Er bittet deshalb um eine Unterredung.«

»Ich habe nichts dagegen, dieses Gezänk bin ich sowieso leid.« Ein Wirtsehepaar hatte Wein gestreckt und dafür eine Flüssigkeit verwendet, die mehreren Gästen übel bekommen war. Jetzt stritten die beiden darüber, wer der Schuldige sein sollte, und arbeiteten dreißig unglückliche Ehejahre aneinander ab. Er vermutete, dahinter steckte Kalkül. Denn auf diese Art und Weise verzögerten sie die Ermittlungen, lenkten ab, zerrten an seinen Nerven. Sollte Neubert sich damit herumplagen.

»Kriminalassistent Schrumm ist übrigens noch nicht da«, meldete Klenkel.

Nun stutzte Heller. Das war noch nie vorgekommen. »Ist er krank?«

»Am Freitag ging es ihm noch blendend«, meinte Klenkel.

»Lassen Sie jemanden nach ihm schicken. Was diesen Selbstmord betrifft, welche Informationen haben Sie da bekommen?«

Klenkel reichte Heller eine Mappe. »Der Ort des Geschehens sollte Ihnen bekannt und der Name der Besitzerin geläufig sein. So ich mich erinnere, waren Sie im Sommer schon bei dieser Frau.«

Heller hob das Kinn und schlug in der Mappe nach. »Tatsächlich, Frau Blumfeld. Na, da bin ich aber gespannt.«

Die Tür sprang auf. Schrumm trat ein und erstarrte angesichts seines Vorgesetzten. Er war es gewohnt, vor ihm da zu sein. Schrumm riss sich den Zylinder vom Kopf. »Guten Morgen, Herr Kriminalrat. Guten Morgen, Herr Klenkel.«

»Warum so spät dran, Schrumm?«, fragte Heller. Der Kriminalassistent wirkte ein wenig gehetzt.

»Meine Haushälterin versäumte es, mich zu wecken. Zwar behauptet sie, geklingelt zu haben, doch ich kann mich dessen nicht entsinnen.«

»Haben Sie Schlafprobleme?«, fragte Heller und hob die Hand, als Schrumm seinen Mantel ausziehen wollte. »Bleiben Sie angekleidet. Wir machen uns sogleich auf den Weg. Erinnern Sie sich an Frau Blumfeld?«

Schrumm erschrak. »Allerdings«, sagte er.

»Was ist denn nur mit Ihnen?«, fragte Heller misstrauisch. »Wenn man es recht bedenkt, wirken Sie seit einiger Zeit schon ein wenig zerstreut. So kenne ich Sie gar nicht.«

»Es ist nichts. Nur dass ich seit geraumer Zeit das erste Mal wieder eine Annonce geschaltet habe, nachdem man mich mehrmals gefoppt hatte. Und prompt hat man mich wieder an der Nase herumgeführt.« Schrumm straffte sich. »Sei’s drum«, gab er sich kämpferisch. »Was ist mit der Frau Blumfeld?«

»Ein Selbstmord in ihrem Haus. Ich entnehme dem Schreiben, dass sie selbst dieses Unglück angezeigt hat.«

 

Heller kannte das inzwischen gut genug. Wann immer etwas geschah, sammelten sich Schaulustige an, die Stunden, wenn nicht ganze Tage damit verbrachten auszuharren. In der Hoffnung, etwas zu erfahren oder sogar einen Blick auf einen Leichnam zu erhaschen. Was war es nur, fragte er sich, das die Leute dazu veranlasste? Neugier? Diese war grundsätzlich etwas Gutes, sie trieb die Menschheit voran. Sie sorgte dafür, dass Entdeckungen gemacht wurden. Doch diese Leute waren nicht aus konstruktiven Gründen hier, sondern aus blanker Sensationslust. Ihre Anwesenheit bediente niedrigste Bedürfnisse und verschaffte für einen kurzen Moment einen Wissensvorsprung; vielleicht erfuhr man etwas, womit man dann hausieren gehen konnte. Hatten sie nichts zu tun, dass sie es sich leisten konnten, hier stundenlang Maulaffen feilzuhalten?

»Platz da!«, rief der Kutscher und hielt auf die Schaulustigen zu, die die Einfahrt blockierten. Dann lenkte er die Kutsche durch den Hohlweg, der wegen der tief hängenden Äste in dieser Jahreszeit noch bedrückender wirkte. Schrumm sah sich wieder gezwungen, seinen Zylinder festzuhalten. Heller bestand auch bei schlechtem Wetter auf der offenen Kutsche.

Bis zur Villa von Frau Blumfeld selbst hatte sich niemand herangewagt. Heller fragte sich, woher die Leute überhaupt von dem Selbstmord wussten. Doch sicherlich hatte die Blumfeld selbst dafür gesorgt. Schrumm hatte ihm unterwegs erzählt, dass sich der Tod von Adam Wilhelm Gust im Sommer keineswegs negativ auf die Geschäfte dieser Frau ausgewirkt hatte. Im Gegenteil, sie schien einigen Zulauf an Kundschaft bekommen zu haben.

Frau Blumfeld erschien in der Tür. An ihrem Äußeren hatte sich nicht viel geändert. Nach wie vor war sie überschminkt und altmodisch gekleidet. Das einzig Neue war eine riesige weißhaarige Perücke auf dem Kopf, mit eingesetzten Bändchen, billigem Schmuck und einer rot gefärbten Feder.

»Der Herr Kriminalrat wieder«, nahm sie Heller in Empfang, als er aus der Kutsche sprang. »Und sein Assistent Herr Schrumm. Sie schlafen nicht gut!«

Schrumm war gerade neben Heller getreten und erstarrte vor Schreck.

»Haben Sie Kerzen oder Leuchten dabei?«, fragte die Blumfeld.

»Die Kutschenlaterne allenfalls«, erwiderte Heller.

»Nun, da, wo ich Sie hinführe, ist es sehr düster. Und zugegebenermaßen ist es um meine Finanzen nicht so gut bestellt, als dass ich es mir leisten könnte, viele Kerzen oder Laternen anzuzünden.«

Heller ließ sich vom Kutscher die Laterne reichen.

»Wenn die Herren mir dann folgen wollen? Ich warne Sie jedoch, es gibt einige Treppen zu steigen.« Frau Blumfeld raffte ihr Kleid und ging voran.

»Schrumm, nehmen Sie sich zusammen. Was ist denn nur mit Ihnen?«, mahnte Heller.

»Woher weiß sie, dass ich schlecht schlafe?«

»Das ist doch keine Kunst. Man sieht es Ihnen an«, raunte Heller, doch Schrumm war damit augenscheinlich nicht zufrieden.

Jetzt galt es aber zunächst, der Frau zu folgen, die sie die Treppe ins erste Geschoss hinaufführte. Wie schon bei ihrem ersten Besuch war es in dem Haus sehr dunkel. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen, kein Lichtstrahl drang ins Innere. Im ersten Obergeschoss, wo die Frau lebte, war es kaum heller. Einzig die Kutschenlaterne spendete für diesen Moment etwas Licht.

»Vielleicht sollten Sie die Vorhänge aufziehen, dann sparen Sie sich am Tage wenigstens ein paar Kerzen«, merkte Heller an.

Frau Blumfeld setzte ihren Weg fort. Eine weitere Treppe führte hinauf in das zweite Geschoss. »Mir behagt es, so zu leben. Ich brauche nicht viel Licht. Ich glaube, Licht vertreibt meine Gäste.«

»Ihre Gäste, kommen die hier hoch?«

»Sie meint ihre Dauergäste«, erklärte Schrumm mit belegter Stimme.

Heller verstummte. Er hatte verstanden. Sie folgten der Frau weiter durch die Villa, noch ein Stockwerk höher, wo es ebenso finster war. Heller leuchtete mit der Laterne, erkannte Türen, die zu mehreren kleinen Räumen führten, Zimmer für Bedienstete wohl. Hier war alles mit Möbeln, Kisten und Körben vollgestellt. Kaum möglich, sich frei zu bewegen.

»Wohnt hier noch jemand außer Ihrem Dienstmädchen?«

»Nein, nur Hermina.«

»Hat sie keine Angst in einem solchen Haus?«

»Sie hat gelernt, mit den Gästen umzugehen.«

Frau Blumfeld führte sie zu einer unscheinbaren Tür, hinter der eine Stiege zum Dachboden hinaufging. »Ich hatte Hermina nach oben geschickt, um etwas zu suchen. Kurze Zeit später kam sie zu mir und gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Da ahnte ich schon, was los war.«

»Sie ahnten es?«, fragte Heller.

Frau Blumfeld war an der Stiege stehen geblieben. Offenbar war sie nicht gewillt hinaufzusteigen. Das Treppensteigen hatte sie außer Atem gebracht. Sie nickte und fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu. »Es war ja nicht das erste Mal.«

»Nein?«

»Nein. Schon als wir das Haus bezogen, erzählte man uns, dass hier bereits mehrere Leute Selbstmord begangen haben. Alle dort oben. Da ist wohl etwas.«

Heller sah die Stiege hinauf, wo jedoch alles in tiefster Finsternis lag. »Dieses Etwas macht Ihnen keine Sorgen?«

»Ich bin nicht besorgt, nein. Ich glaube ja, ist einmal der Geist eines Selbstmörders hier gefangen, dann ruft er andere Lebensmüde herbei. Ich jedoch habe keinen Grund, mich umzubringen. Wenn die Herren bitte selbst sehen wollen?«

Heller nickte und ging voran. Schrumm zögerte, doch sein Pflichtbewusstsein ließ ihn letztlich doch folgen.

»Oben müssen Sie sich nach links wenden. Sie werden es nicht verfehlen«, rief Frau Blumfeld ihnen nach.

Als Heller oben ankam, hob er die Laterne. Der verwinkelte Dachboden war mit diversen Sachen vollgestellt, außerdem waren verschiedene Bereiche durch Holzwände abgetrennt. Auch schien es noch mehrere Ebenen zu geben, die man mit wenigen Stufen erklimmen musste. Einen Sinn konnte er hinter all dem nicht erkennen. Waren das Kammern? Hatten hier früher noch mehr Bedienstete gewohnt?

»Nach links also«, murmelte Heller grimmig. Er duckte sich unter niedrigen Balken hindurch und hörte, wie Schrumm sich an Ecken und Kanten stieß und leise stöhnte. Nachdem Hellers Säbel mehrmals irgendwo hängen geblieben war, schnallte er seinen Gürtel ab und trug ihn in der Hand.

»Also, wenn es hier nicht spukt, wo denn dann?«, schimpfte Heller leise.

»Ich bitte Sie«, flehte Schrumm. »Damit sollte man keine Späße treiben.«

Heller war nicht zum Widerspruch aufgelegt. Es war ihm hier zu düster, und es galt, einen Toten zu finden, sonst hätte er seinen Assistenten sicher noch ein wenig aufgezogen. Stattdessen kämpfte er sich weiter den schmalen Pfad entlang, denn anders konnte man den Weg über den Dachboden nicht beschreiben. »Ich bin ja versucht, Frau Blumfeld zusätzlich um eine Kerze anzuhalten, doch ich fürchte, hier könnte bei einer unbedachten Bewegung alles in Flammen aufgehen«, sprach er über die Schulter hinweg. Plötzlich fielen ihm die Weiße Frau und die Geschichte ein, dass ihre Erscheinung ein Feuer ankündigte. Noch hatte es keins gegeben; er würde demnächst den Pastor darauf ansprechen.

»Aber sehen Sie, Schrumm, da vorn ist es ein wenig heller!«

Dort, wo der Schornsteinfeger üblicherweise auf das Dach kletterte, war ein Fenster eingelassen, durch welches schwaches Tageslicht fiel. Nun war die Kontur einer Person auszumachen. Sie hing nicht direkt unter dem Fenster, sondern ein Stück abseits, die Füße knapp über dem Boden. Es war eine Frau, eine recht junge, wie Heller erkannte, als er näher trat und ihr ins Gesicht leuchtete. Ihr Mund war leicht geöffnet, die Zunge von innen gegen die Zähne gepresst. Die Augen standen halb offen, als schaute sie müde unter ihren Lidern hindurch.

Sie hatte Schuhe getragen, einer jedoch war ihr vom Fuß gefallen, vielleicht in ihren letzten Zuckungen. Eine gewisse Note, die sich unter den muffigen Dachbodengeruch mischte, verriet, dass sich wohl auch ihre Blase entleert hatte. Aufgrund ihres Kleides war nicht unbedingt anzunehmen, dass sie wohlhabend gewesen war, jedoch auch nicht besonders arm. Ihre Arme hingen seitlich an ihrem Körper herunter, ein goldener Armreif an einem Handgelenk, mehrere Ringe an den Fingern.

»Ich habe viele Fragen, Schrumm«, sagte Heller leise und lehnte seinen Säbel gegen eine Kiste.

Sein Assistent blieb stumm. Er bemühte sich sehr, seine Furcht zu verbergen, und sah sich um. Schrumm hörte wohl Geräusche, die ihm sein angeregter Geist vormachte.

Heller leuchtete am Seil hinauf, an dem die Tote hing. Es war über einen Balken gezogen worden und führte straff wieder hinab zu einem Pfosten, wo es auf Brusthöhe festgeknotet war.

»Sehen Sie, Schrumm. Offenbar hat sie auf diesem Absatz gestanden und ist dann nach vorn ins Leere getreten.« Heller stellte sich neben die Tote auf eine Art Podest, das etwa einen halben Meter hoch war. An dieser Stelle gabelte sich der Weg durch das Dachbodenlabyrinth. Auf der unteren Ebene ging es geradeaus weiter. Der Weg nach rechts war etwas erhöht. Beide verloren sich wieder in Finsternis. Von der höheren Stelle aus ein Seil über den Balken zu werfen, es an dem Pfosten festzumachen und sich die Schlinge um den Hals zu legen, war keine wirkliche Schwierigkeit.

Heller berührte die rechte Hand der Toten. »Schwer zu sagen, wie lange sie schon hier hängt. Nach Löbbers’ Tabelle müsste es mehr als ein Tag sein, da die Leichenstarre wieder nachgelassen hat. Wenn das Seil erst mal vom Hals entfernt ist, werden wir sicher sehen, ob sich darunter vom gestockten Blut schwarze Flecke gebildet haben.«

Medizinalrat Löbbers hatte auf Hellers Bitte damit begonnen, seine Beobachtungen an Sterbenden und Verstorbenen sowie die verschiedenen Zustände, die sie durchlaufen, zu protokollieren und tabellarisch zu verarbeiten. Dabei sollte er Umgebungstemperatur, Feuchtigkeit und weitere äußere Umstände wie Insektenbefall in Betracht ziehen. Der sonst von Zeitnot geplagte Löbbers war dieser Bitte bereitwillig gefolgt und überlegte mittlerweile sogar, seine Ergebnisse in einem allgemeinen Handbuch für Kriminalisten zu veröffentlichen.

»Wollen Sie mir erst einmal helfen, sie von dem Seil zu nehmen?«, fragte Heller. »Wir heben sie ein Stück an, ich schneide das Seil durch, dann legen wir sie hin.« Schrumm nickte stumm. Er kam heran und hob die Hände, doch es war offensichtlich, dass er nicht wusste, wie und wo er die Tote anfassen sollte.

»Schrumm, keine Skrupel. Für uns ist sie jetzt ein Objekt.«

Schrumm nickte wieder, konnte sich aber nicht überwinden. Mehrmals setzte er an, die Frau an der Hüfte zu fassen, doch es war unvermeidlich, dass sein Oberkörper oder gar sein Gesicht in Kontakt mit dem Leib der Toten kam. Heller schaute sich das nur wenige Sekunden lang an.

Wortlos reichte er Schrumm sein Messer und stellte die Laterne ab. Dann trat er von hinten an die Tote, umfasste sie unterhalb der Hüfte und stemmte den leblosen Körper hoch. »Los, Schrumm«, keuchte er, und Schrumm begann, an dem Seil zu schneiden. Nach wenigen Augenblicken war es durch. Heller ließ die Tote herab auf ihre Füße und ließ sie dann sanft nach hinten kippen, bis sie auf dem Boden lag. Er nahm ihre Arme und legte sie auf ihrem Leib ab, wobei er die Handgelenke überkreuzte, damit sie nicht herunterrutschten. Ein leises Blubbern wanderte durch ihren Leib. Beide Männer betrachteten angespannt den Leichnam, dann entfuhr dem Mund der Toten ein Rülpsen.

»Sie lebt noch«, schnappte Schrumm.

»Nicht albern werden«, mahnte Heller. »Das sind nur Gase, die sich im Körper gebildet haben.« Er kniete sich hin und stellte die Laterne so, dass er Hals und Seil gut sehen konnte. Er drehte den Kopf der Toten, um den Knoten zu betrachten. Es war ein simpler Knoten, nicht der eines Henkers, auch kein besonderer Seemannsknoten, sondern ein Doppelter, wie ihn jedes Kind kannte.

Heller erhob sich. »Bringen wir sie hinunter. Und dann habe ich etwa tausend Fragen an Frau Blumfeld.«

»Wir können sie aber nicht tragen und gleichzeitig die Laterne halten. Und ohne Laterne können wir sie nicht zur Treppe bringen, man sieht ja die Hand vor Augen nicht!«

Heller ahnte, dass Schrumm versuchte, sich um diese undankbare und anstrengende Aufgabe zu drücken. Doch er wollte ihn nicht so leicht davonkommen lassen. »Dann gehen Sie zur Treppe und rufen die Blumfeld, damit sie uns diese Hermina schickt.«

»Wie? Ohne Licht?«, fragte Schrumm entsetzt.

Nun wurde Heller wirklich ein wenig ungehalten. »Nehmen Sie die Laterne mit, ich warte derweil hier. Mir macht das nichts!«

Schrumm fügte sich, nahm die Laterne und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Heller war unterdessen im schwachen Licht zur Untätigkeit gezwungen, also lehnte er sich an einen Pfosten und wartete. Im toten Leib zu seinen Füßen gluckste und blubberte es weiter leise. Durch die Bewegung waren die Gase und Flüssigkeiten in Wallung geraten, und es war zu befürchten, dass es nicht bei einem Aufstoßen bleiben würde, wenn sie die Leiche gleich forttrugen. Für eine Sekunde war ihm sogar, als hätte sich der Unterleib bewegt. Heller beobachtete ihn, so gut es im wenigen Licht ging, und kaum hatte er seinen Blick abgewendet, fiel der linke Arm der toten Frau zu Boden.

»Das lassen wir lieber, werte Dame!«, gab Heller sich gelassen, um den Schreck zu überspielen. Plötzlich rumpelte es, doch das war nur Schrumm, der sich ihm wieder näherte und es trotz Laterne schaffte, gegen Kisten und Körbe zu stoßen.

»Haben Sie auch gerade eine Stimme vernommen?«, fragte Schrumm verschüchtert.

»Das war ich«, beruhigte Heller ihn. »Haben Sie Bescheid geben können?«

»Ja. Frau Blumfeld ging Hermina rufen. Wenn sie unten oder im Keller ist, hört sie nichts, was man ihr von oben aus zuruft.«

»Gut, warten wir.« Heller lehnte sich wieder an den Pfosten.

»Hatten Sie ihr nicht die Hände übereinandergelegt?«, fragte Schrumm.

Heller seufzte. »Ich habe nur etwas überprüft«, log er.

Schrumm hob das Kinn, und sein Kopf zuckte zur Seite.

»Schrumm, was ist denn bloß mit Ihnen los? Wieso schlafen Sie schlecht? Warum so nervös?«

»Nichts ist los. Und Sie lachen mich ja doch nur aus.«

»Also ist etwas. Und ich werde nicht lachen, versprochen.«

»Nun, ich wünschte, ich wäre so gestrickt wie Sie, Herr Kriminalrat. Sie geben ja nichts auf das Ganze, und mir behagt es nicht, in ihrer Gegenwart davon zu sprechen.« Er deutete auf die Tote. »Ich jedoch denke schon, dass eine Seele, die keine Ruhe findet, hier auf Erden bleibt und Ungemach verursacht. Es kann gut sein, dass sie schon hier ist, uns sieht und unserem Gespräch lauscht. Ich glaube daran, dass manche Orte prädestiniert sind, solcherart verlorene Seelen anzuziehen. Und wenn es stimmt, was die Blumfeld sagt, dass sich hier früher schon Menschen das Leben nahmen, dann könnte dieses Haus einer jener Orte sein. Denn sich selbst zu richten, ist eine Sünde, die Gott nicht verzeiht.«

»Gut, nehmen wir das jetzt so auf, ich will Ihnen da nicht widersprechen. Zumal meine Gattin ganz ähnlich denkt. Aber was hat es damit zu tun, dass Sie nachts schlecht schlafen und morgens dann das Klopfen Ihrer Vermieterin nicht hören? Von diesem Suizid wissen wir gerade erst seit ein paar Stunden.«

»Ich kann nicht einschlafen, weil es mich daheim verfolgt, seitdem wir im August hier waren!«

»Nicht wahr!«, entfuhr es Heller.

»Sie lachen ja doch!«

»Ich lache gar nicht, und diesen Ausruf des Unglaubens müssen Sie mir erlauben. Das hört man ja nicht alle Tage!«

»Sie vielleicht nicht. Aber die Menschen, mit denen ich sonst verkehre, sehen das durchaus so wie ich!«, ereiferte sich Schrumm ein wenig. Dann quiekte er plötzlich und sprang erschrocken zurück.

Auch Heller zuckte, als er nach rechts schaute und im trüben Zwielicht eine hässliche Fratze erblickte.

»Hermina, gottverflucht!«, schimpfte er die Magd, die lautlos herangekommen war. »Kein Wunder, dass ein herzschwacher Mann tot umfällt. Wenn du schon nicht in der Lage bist zu sprechen, dann schleich dich doch nicht auch noch an. Klopfe wenigstens oder pfeife.«

Sie sah ihn nur stumm an.

»Dann nimm jetzt meinen Säbel und die Laterne. Schrumm, nehmen Sie die arme Frau bei den Füßen. Ich übernehme den Oberkörper.«

Der Kriminalassistent schlug angesichts der Situation und Hellers Fluchen nicht nur eins, sondern gleich drei Kreuze, dann bückte er sich und nahm die Tote bei den Fußgelenken. Beide Männer ächzten, als sie die Frau anhoben.

Hermina setzte sich in Bewegung. Sie lief rückwärts und leuchtete den schmalen Pfad aus. Schrumm, ebenfalls rückwärtslaufend, folgte ihr mit kurzem Abstand und blickte dabei über seine Schulter. Heller mit der Hauptlast, seine Hände unter den Achseln der Toten, begann sogleich zu schwitzen. Als sie die steile Holztreppe erreichten, mussten sie erst einen Plan schmieden, wie sie den Leichnam würdevoll hinunter bekommen konnten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihn auf den Stufen abzulegen und ihn vorsichtig und gebremst hinabrutschen zu lassen.

Unten angekommen, konnten sie die Leiche wieder richtig tragen, und wenige Minuten später hatten sie sie unten im Vorsaal der Villa. Hermina breitete eine Decke aus, auf der sie den Leichnam ablegten. Dann schlugen sie die Decke ein und bedeckten Leib und Gesicht der Toten.

»Ich bitte Sie, öffnen Sie die Tür und lassen Sie Licht und Luft herein«, wandte Heller sich an Frau Blumfeld, während er den Säbel wieder umschnallte, den Hermina ihm gereicht hatte.

Die Hausherrin folgte seiner Bitte. Heller genoss die frische Luft und knöpfte seinen Kragen auf, während Schrumm inzwischen das zehnte Kreuz schlug.

»Das macht es auch nicht besser«, raunte Heller ihm ungehalten zu. Sie waren Kriminalbeamte, also konnte man von ihnen etwas mehr Contenance und ein bisschen weniger Aberglaube erwarten.

»So, Frau Blumfeld, machen Sie es sich bequem. Ich werde Ihnen jetzt eine ganze Menge Fragen stellen müssen«, begann er. »Derweil schicken wir den Kutscher, um nach einem Leichenwagen zu kabeln. Gehen wir in den Salon. Und Hermina kommt mit.«

Frau Blumfeld widersprach nicht, und so fanden sie sich wenige Augenblicke später an dem großen massiven Tisch wieder, an dem sie ihre Séancen abhielt. Schrumms Aufgabe war es, Notizen zu machen und Nachfragen zu stellen, sollte ihm ein Gedanke kommen, den Heller anzusprechen verpasst hatte.

»Zuerst: Kennen Sie diese Frau? Und wenn ja, wer ist sie?«

»Das arme Wesen da draußen ist Melissa Helma Schaarschmidt. Sie besuchte meine letzte Séance am Freitag.«

»Vor drei Tagen also?«

Frau Blumfeld nickte. »Sie war mit ihrer Busenfreundin Auguste Sophia Blink hier. Leider kam es zu einem Drama.«

»Ach ja? Erzählen Sie!«

»Ich kann einmal mehr nur wiedergeben, was ich von anderen hörte. Denn ich war erneut in meinen Zustand verfallen, in dem ich nichts von der Außenwelt registriere. Frau Schaarschmidt, sie muss etwa dreißig Lenze zählen, wurde früh zur Witwe. Ihr Mann war Offizier bei der Armee gewesen und kam bei einem Übungsgefecht ums Leben. Er stürzte wohl unglücklich vom Pferd. Frau Schaarschmidt war von Haus aus recht gut situiert, erbte nach seinem Tod auch Haus und Grund ihres Mannes und erhielt zudem noch eine Witwenrente von der Armee. Nichtsdestotrotz war sie um den Tod ihres Mannes untröstlich.«

»Kam sie in der Absicht zu Ihnen, mit ihrem Gatten Kontakt aufzunehmen?«

»Nun, ich weiß nicht recht. Sie suchte Trost, irgendeine Art von Trost. Sie wollte, so denke ich, nicht unbedingt ihn sprechen. Sie war wohl in Glaubenszweifel geraten.«

»Wie muss ich das verstehen? Sie wollte nicht mehr an Gott glauben? Und kam deshalb zu Ihnen?«

»Sie fragte sich wohl, welchen Sinn der Tod ihres Mannes ergab, da sie noch nicht mal ein Kind in die Welt hatten setzen können. Sie fragte sich, warum Gott sie mit diesem Leid prüfte.«

»Nun«, setzte Schrumm an, »Gottes Wege …«

»Nicht, Schrumm!«, warnte Heller. »Fahren Sie fort«, forderte er die Frau auf.

»Um es kurz zu machen, sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Mann im Himmel einmal wirklich wiedersehen würde. Sie wollte einen Beweis für ein Leben nach dem Tode.«

»Ah, ich verstehe. Ihr wäre also jeder Geist recht gewesen.«

Frau Blumfeld nickte ernst. »Aber sie bekam wohl mehr, als sie erhofft hatte«, verkündete sie unheilschwanger.

»Sie bekam ihren Mann?«

»So sagte man es mir. Er stellte sich mit Namen vor und sprach sie mit ihrem Kosenamen an, den nur die beiden kannten.«

»Der da wäre?«

»Rosenblüte.«

»Das sollte ihr ein Grund zur Freude gewesen sein, nicht Grund zum Selbstmord.«

»Nun, nicht nach dem, was sie von ihm erfuhr.«

»Frau Blumfeld, spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Sie erfuhr, dass ihr geliebter Mann sie betrogen hatte, und zwar mit ihrer liebsten Freundin«, sagte Frau Blumfeld mit bedauernder Miene.

»Das hat sie im Beisein ebendieser Freundin erfahren?«

Frau Blumfeld nickte nur, und als Heller sie ansah, nickte auch Hermina.

»Du hast das gehört?«, fragte Heller die Dienstmagd, worauf sie erneut nickte.

»Wie reagierte die Freundin? Sie stritt ab, nehme ich an?«

»Frau Blink ist schon mehrmals bei meinen Sitzungen dabei gewesen. Sie war oft genug Zeuge von Geistererscheinungen oder Stimmen und weiß, dass es keinen Sinn hat zu leugnen. Warum sollte ein Geist lügen?«

Heller sprach nicht gleich weiter, sondern versuchte, sich zunächst auszumalen, welche Reaktionen auf diese Aussage gefolgt waren.

»Worauf Frau Schaarschmidt sogleich hinaufging, um sich zu erhängen?«

»Ach was. Natürlich nicht. Sie war entsetzt, sie war der Ohnmacht nahe. Als ich aus meinem Zustand erwachte, kümmerten sich die anderen Gäste gerade um sie. Frau Blink stand abseits. Sie war betroffen, doch nicht sehr. Vielmehr entnahm ich ihren Bemerkungen, dass sie geglaubt hatte, Frau Schaarschmidt hätte über die Liaison längst Bescheid gewusst und sie im Stillen geduldet.«

Wieder musste Heller innehalten. Sein Beruf brachte es mit sich, dass man in das Leben anderer eindrang. Dabei musste man immer wieder feststellen, dass die eigenen Vorstellungen vom Leben längst nicht von allen geteilt wurden. Moral war ein weit dehnbarer Begriff, Freundschaft oder Familie ebenso.

»Und dass Frau Schaarschmidt später in Ihr Haus zurückkehrte, um sich zu erhängen, das bemerkten Sie nicht? Deutete sie dergleichen an?«

»Das bemerkte ich natürlich nicht, und Hermina auch nicht. Sonst hätten wir die Frau ja daran gehindert. Sie sagte auch nichts. An dem Abend verließ sie in Begleitung ihrer Freundin mein Haus.«

»Trotz der schockierenden Neuigkeit?«

Frau Blumfeld nickte traurig. »Ich meine aber, sie war nicht ganz Herr ihrer Sinne. Sie lehnte sich nur an sie, weil sie irgendeinen Halt suchte.«

»Frau Blink nahm Ihnen das alles nicht übel?«

Frau Blumfeld hatte keine Skrupel. »Wer zu mir kommt, muss mit so etwas rechnen. Wer ein Geheimnis hat, von dem keiner erfahren soll, der sollte meinen Sitzungen nicht beiwohnen.«

»Also war sie Ihnen nicht bös?«

»Nein!«, antwortete Frau Blumfeld bestimmt.

»Kommen wir zu Frau Schaarschmidt. Wie kam sie später in Ihr Haus?«