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Nichts ist vergessen. Ein interner Mordfall streut Angst und Misstrauen unter den Kollegen der Dresdner Mordkommission. In dieser Hektik werden die Ermittler Felix Bruch und Nicole Schauer zu einem Tatort gerufen. Ein Mann wurde in seinem Haus angeschossen, die vermeintliche Täterin war noch vor Ort. Schauer ist geschockt, als sie erfährt, dass Bruch die junge Frau kennt. Als Bruch und Schauer die Ermittlungen aufnehmen wollen, wird die gesamte Abteilung beurlaubt. Doch Schauer bekommt Informationen zugespielt, die sie dazu veranlassen, auf eigene Faust weitere Nachforschungen anzustellen. Bruch wird durch die Ereignisse ruhelos, er gräbt tief in seiner Vergangenheit und beginnt langsam die Kontrolle zu verlieren … Düster, packend und mitreißend. Der zweite Fall für Bruch und Schauer. lieren …
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Seitenzahl: 559
Frank Goldammer
In eisigen Nächten
Kriminalroman
Nichts ist vergessen.
Ein interner Mordfall streut Angst und Misstrauen unter den Kollegen der Dresdner Mordkommission. In dieser Hektik werden die Ermittler Felix Bruch und Nicole Schauer zu einem Tatort gerufen. Ein Mann wurde in seinem Haus angeschossen, die vermeintliche Täterin war noch vor Ort. Schauer ist geschockt, als sie erfährt, dass Bruch die junge Frau kennt. Als Bruch und Schauer die Ermittlungen aufnehmen wollen, wird die gesamte Abteilung beurlaubt. Doch Schauer bekommt Informationen zugespielt, die sie dazu veranlassen, auf eigene Faust weitere Nachforschungen anzustellen. Bruch wird durch die Ereignisse ruhelos, er gräbt tief in seiner Vergangenheit und beginnt langsam die Kontrolle zu verlieren …
Düster, packend und mitreißend.
Der zweite Fall für Bruch und Schauer.
Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist Handwerksmeister und kam, neben seinem Beruf, schon früh zum Schreiben. Mit seinen Büchern landet er regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Der Autor lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt.
Dem Roman liegt eine wahre Begebenheit zugrunde. Alle Figuren dieses Romans sind fiktiv.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Shutterstock; iStock; Silas Manhood/Trevillion Images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-01046-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Karsten Simon, Erster Hauptkommissar der Dresdner Kripo, saß in seinem Büro. Es war noch sehr früh, weit vor Dienstbeginn. Er hatte einen Anruf bekommen, man verlangte seine Anwesenheit von oberster Stelle. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch und wartete ungeduldig, fragte sich, warum man ihn bestellt hatte, denn niemand kam, keiner rief an, nichts geschah.
Simon war ein großer, stämmiger Mann mit Glatze, einem Stiernacken und einem Faible für großblättrige Zimmerpflanzen. So hatte er inzwischen die Zeit genutzt, hatte seine Pflanzen, die in zahlreichen Töpfen auf der Fensterbank standen, mit Wasser besprüht, die Blätter mit einem Lappen abgewischt, vertrocknete Teile entfernt und in den Papierkorb geworfen. Seine Unterlagen hatte er ein wenig sortiert. Nun lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, keine Lust, noch irgendetwas zu tun.
Nach einigen Minuten fiel sein Blick auf die Schublade unter der Tischplatte. Er öffnete sie, blies kurz die Backen auf. Es herrschte blankes Chaos. Zettel, Stifte, Heftklammern, Reißzwecken, Radiergummis, Ladekabel. Eines nach dem anderen nahm er heraus, sortierte es wieder ein. Normalerweise bestellte man ihn nicht umsonst, normalerweise folgte ein Treffen, oder es kamen Instruktionen. War etwas dazwischengekommen? Langsam verlor er die Geduld und wurde unsicher, hatte er etwas falsch verstanden?
Dann, endlich, hörte er Schritte, seine Tür wurde geöffnet, ohne dass jemand geklopft hatte.
Simon riss die Augen auf.
«Was machst du denn hier?», fragte er. «Und wieso zum Teufel …?»
Es waren seine letzten Worte, denn ein Schuss fiel, schmetterte ihn samt seinem Stuhl an die Wand. Von dort prallte er nach vorne und kippte um. Ehe er auf den Boden schlug, war er tot.
In den letzten Wochen hatte sich Nicole Schauer daran gewöhnt, mit der Straßenbahn zu fahren. Es war ganz unkompliziert und tausendmal besser, als jeden Tag einen Parkschein für ihren kleinen Volvo zu ziehen. Es war noch sehr früh, nur wenige andere Menschen waren in der Bahn. Während sie mit halb geschlossenen Augen döste, kam etwas Unruhe auf, als die Bahn den Pirnaischen Platz überquerte. Vor dem Polizeigebäude auf der Schießgasse schien etwas vor sich zu gehen. Es war, als ob da im hellen Laternenschein vor dem Haupteingang Uniformierte mit Maschinenpistolen standen, Blaulicht flackerte. Doch zu spät hatte sie es registriert, den Kopf gehoben, schon war der Blick verdeckt, die Bahn fuhr in die Haltestelle ein. Nicole Schauer erhob sich von ihrem Platz, stieg aus. Es war ganz ruhig, keine Sirenen gingen, niemand rief etwas. Wer weiß, dachte sie sich, was ich gesehen habe? Vielleicht hatte sie nur geträumt. Nun überquerte sie die Fahrbahn. Kalt war es, zumindest kalt genug, dass der wenige Schnee liegen blieb, der gestern gefallen war, und es war noch immer stockdunkel. Man könnte es sich in seinem Büro direkt ein bisschen weihnachtlich gemütlich machen, überflüssige Unterlagen schreddern oder ein paar alte Sachen sichten, die liegen geblieben waren. Mord verjährte schließlich nicht. Es sei denn, man hatte einen Kollegen, der Felix Bruch hieß, dann war nämlich nichts normal und erst recht nichts mit Gemütlichmachen. Einer wie er tickte am Ende noch aus, wenn man ein Räucherkerzchen anzündete. Und sicherlich war das aus Brandschutzgründen sowieso verboten.
Als sie um die Hausecke des Präsidiums bog, zögerte sie. Da stand tatsächlich ein Rettungswagen, dessen Blaulicht angeschaltet war, zwei Uniformierte im Kampfanzug mit Maschinenpistole bewachten den Eingang. Es herrschte keine Hektik. Vielleicht hatte irgendein Spinner versucht, ins Haus zu gelangen, wäre nicht das erste Mal. Sie setzte sich wieder in Bewegung, lief die letzten fünfzig Meter zum Haupteingang, dort stellte sich ihr einer der Polizisten in den Weg.
«Ich arbeite da drinnen», sagte Schauer, wollte in ihre Jacke greifen, um den Ausweis zu zeigen, da zuckte der Mann zurück und richtete die Maschinenpistole auf sie.
«Mensch, bleib mal locker», mahnte Schauer, «ich hole nur meinen Ausweis heraus.» Der Bursche war ganz jung, hatte sicher noch nicht mal Bartwuchs, so weich, wie sein Gesicht aussah.
«Was ist denn überhaupt los?», fragte sie und zeigte dem Mann ihren Ausweis.
«Sie können rein!», erwiderte der Polizist nur.
Drinnen musste sie erneut den Ausweis vorzeigen. Noch im Erdgeschoss, vor dem Treppenhaus, sah sie schon Buchholz stehen, gemeinsam mit ein paar anderen Kollegen ihrer Abteilung. Richtig warm war sie mit allen noch nicht geworden, in den wenigen Wochen, die sie nun schon hier war. Kein Wunder, wenn man die Partnerin eines so schrägen Typs wie Felix Bruch war. Mitgefangen, mitgehangen war die Devise. Niemand im Team schien Bruch zu mögen, und doch war er durch eine seltsame Aura der Unantastbarkeit vor jeglichen offenen Anfeindungen geschützt. Gerüchte der übelsten Art kursierten über ihn, doch niemand wagte ihn direkt zu konfrontieren. Vielleicht lag es daran, dass ihr Chef Simon seine Hand über ihn hielt, vielleicht aber auch nur, weil er ganz unberechenbar schien.
«Was ist denn los?», fragte Schauer ihre Kollegen, ohne vorher zu grüßen, und tat so gelassen wie möglich, dabei hatte sie ein ganz ungutes Gefühl beschlichen.
Buchholz hob die Schultern. «Muss irgendwas vorgefallen sein.»
Nein, wirklich, dachte sie zynisch, behielt es aber für sich. «Und was?», fragte sie nach. Einfach nur, damit sie nicht schweigend herumstehen mussten. «Können wir nicht hoch?»
«Nee, das ist es ja, auf unserer Etage muss was vorgefallen sein, eine Schießerei oder so.»
Schauer hob das Kinn. Eine Schießerei. Oder so. Viel konkreter ging es wohl nicht. Nun kam Oberkommissarin Schmidtke die rückwärtige Treppe hoch, sie hatte das Gebäude durch den Hintereingang betreten.
«Simons Auto steht hinten», sagte sie leise. Sie war wohl extra nachsehen gegangen.
Das bedeutete, dass Simon da war. Schauer wunderte sich über die betroffenen Gesichter. Was war los? Wusste Buchholz doch mehr? Wurde sie hier bei irgendetwas ausgeschlossen?
«Was ist denn? Kann mal einer Tacheles reden?», fragte Schauer jetzt deutlicher.
Schmidtke nickte ihr zu, hob die Schultern, reckte das Kinn. «Jemand war oben, eine Reinigungskraft. Dann haben sie den Arzt ins Büro vom Chef gerufen und nach dem Rettungsdienst verlangt. Irgendwas ist. Wir sollen noch nicht hoch.»
«Simon hat bestimmt einen Herzinfarkt», mutmaßte einer. «Der hatte in letzter Zeit immer so einen roten Kopf.»
«Oder einen Schlaganfall, sein Vater hatte mal einen in ganz jungen Jahren», wusste es jemand besser.
«Deshalb sollen wir nicht hoch?», fragte Schauer misstrauisch, und ihr übles Gefühl wurde zu etwas Handfestem, als stellte sich Bauchweh ein, nachdem man schlecht gegessen hatte. Sie sah sich unauffällig nach Bruch um. Langsam sollte der hier auch eintreffen. Oder war er schon da? Eigentlich war er immer einer der Ersten. Gut möglich also, dass er schon oben im Büro hockte, im Dunkeln, wie vor einigen Wochen, als sie ihm das erste Mal begegnet war.
Sein letzter Depressionsschub hatte ihn regungslos in seinem Bett liegen lassen wie einen aufgebahrten Toten. So lag er, wann immer sie ihn besuchte. Mehrere Tage, besorgniserregend lang. Ob er gegessen und getrunken hatte, schien fraglich, doch immerhin musste er wenigstens einmal am Tag aufgestanden sein, er hatte seine Katze gefüttert. Vielleicht hatte ihn das letztlich wieder auf die Beine gebracht, sodass er eines Tages plötzlich wieder im Büro erschienen war. Danach war er zuerst wieder ins alte Schema verfallen, wortkarg, kalt, ohne jede menschliche Regung. Erst in den letzten Tagen, ganz aus heiterem Himmel, schien etwas in ihm vorgegangen zu sein, das ihn in einen neuen, beinahe noch unheimlicheren Zustand versetzt hatte. Ob es daran lag, dass es geschneit hatte, dass die Leute ihre Weihnachtsbeleuchtungen rausgeholt hatten, dass gelegentlich die Sonne schien, was auch immer, Bruch wirkte zunehmend aufgedrehter. Er saß nie lang still, trommelte mit den Fingern, blinzelte auffällig oft, war immer ein paar Gedankensprünge voraus, als würde die Zeit für ihn schneller vergehen. Vor allem registrierte er Dinge, die sonst keiner bemerkte. Dass einmal ein Auto mit Münchner Kennzeichen an drei Tagen auf dem großen Parkplatz gegenüber an derselben Stelle stand oder Buchholz zwei verschiedenfarbige Socken trug, obwohl man die eigentlich gar nicht sah, oder dass eine der Leuchtstoffröhren in ihrem Büro ganz unmerklich anderes Licht gab.
Schauer beschloss, einfach hochzugehen, denn genau genommen hatte ihr noch niemand untersagt, das zu tun. Auf der Treppe drehte sie sich nicht um, sie wusste, dass ihr alle nachschauten. Es hielt sie niemand auf, jedoch folgte ihr auch keiner.
Oben auf ihrer Etage war alles ruhig. Doch vor Simons Büro stand eine Fahrtrage aus einem Rettungswagen, und im nächsten Moment trat auch schon jemand vom Rettungsdienst durch die Tür in den Flur. Der Mann bewegte sich ganz gelassen, Hektik schien nicht vonnöten.
«Guten Morgen. Sind Sie von der Spurensicherung?», sprach er sie direkt an.
Wahrheitsgemäß schüttelte Schauer den Kopf. «Das ist meine Abteilung.» Die Spurensicherung sollte kommen? Sie lief einfach weiter den Gang runter auf Simons Büro zu.
«Man hat uns eigentlich gesagt, dass die Spurensicherung hier reinmuss, bevor irgendwer sonst kommt. Ich meine, ich weiß ja nicht, wie Sie das jetzt handhaben.» Der Mann zuckte mit den Achseln. Nun entstand Bewegung, ein weiterer Rettungssanitäter kam aus dem Raum, hob seinen Rucksack auf die Trage und begann den Inhalt zu sortieren. Schauer nickte er knapp zu. Noch immer war sie nicht an Simons Tür angelangt. Nun trat eine Notärztin in den Gang, zog sich blutige Handschuhe von den Fingern. Eine kleine Frau von ihrem Alter etwa, noch nicht ganz vierzig.
«Sind Sie von hier? Kriminalpolizei?», fragte sie scharf.
Schauer nickte. «Mordkommission», sagte sie, und bisher war nichts davon gelogen. «Was ist geschehen?», fragte sie leise. Ihr Magen hatte sich in einen schweren Stein verwandelt.
Die Notärztin schüttelte knapp den Kopf. «Da kann man nichts mehr machen. Glatter Schuss ins Herz. Durchschuss. Sofort tödlich. Was die Putzfrau gesehen haben will, kann nur ein Nervenzucken gewesen sein.»
«Was hat sie denn gesehen?», fragte Schauer vorsichtig, als könnte sie dieses fragile Gebilde von Vertrautheit mit der Notärztin mit einem zu lauten Ton zerstören. Eigentlich sollte sie nicht hier sein. Besser wäre, sie hätte mit den anderen unten ausgeharrt.
«Er hätte gezwinkert, sagt sie. Vermutlich haben die Augenlider gezittert, man weiß ja nicht, was in so einem Körper in dem Moment vor sich geht.»
Schauer nickte. Früher hatte sie gelegentlich ihren Großvater bei der Jagd begleitet, hatte nicht nur einmal gesehen, wie ein eigentlich tödlich getroffenes Wildschwein Veitstänze aufführte oder ein Reh mit einem Bleibolzen im Herzen noch Hunderte Meter rannte. Unmerklich veränderte sie nun ihre Position, bis sie an der Ärztin vorbei in Simons Büro sehen konnte. Der lag auf dem Boden, den Kopf in Richtung des Fensters, auf dem Rücken, sein blutiges Hemd aufgerissen, der Brustkorb freigelegt, ein Loch in der Mitte, groß wie ein Zweieurostück.
«Das war kein Suizid», sagte sie leise.
Die Ärztin glaubte das an sich gerichtet. «Nein, ziemlich sicher nicht. Erstens hatte der keine Waffe in der Hand, zweitens wäre es sehr ungewöhnlich, sich ins Herz zu schießen.»
«Wo befand er sich?» Schauer hätte gern mehr gesehen, wagte sich jedoch nicht näher an die Tür. Hier musste tatsächlich die Spurensicherung ran, und die Überwachungsvideos mussten geprüft werden. Es kam keiner ins Haus, ohne gefilmt zu werden.
«Als ich kam, lag er schon auf dem Boden, auf dem Bauch, wir haben ihn hinter dem Schreibtisch hervorgezogen», gab die Ärztin arglos Antwort. «Kannten Sie ihn?»
«Mein Chef, meine Abteilung, Mordkommission.»
«Das ist der Chef der Mordkommission?», fragte die Frau noch einmal nach.
Schauer nickte und nahm sich jetzt doch einfach die Freiheit. Ohne den Raum zu betreten, beugte sie sich so weit wie möglich hinein. Sah, dass alles an seinem Platz stand, die Pflanzen wirkten aufgefrischt. Der Schreibtisch war aufgeräumt, sein Handy und die Brieftasche lagen noch da, keine Schranktür stand offen. Der Schuss hatte ein Loch in die Rückenlehne des Stuhls gerissen und war in die Wand eingedrungen. Das musste eine Waffe mit großem Kaliber und hoher Durchschlagskraft gewesen sein.
«Kollegin!», mahnte plötzlich eine Stimme. Das war Klemm, der Chef der Spurensicherung. Schauer nahm den Kopf aus der Tür. Ganz ernst und besorgt blickte er drein, logisch. Jemand war im Polizeipräsidium umgebracht worden. Doch während er auf sie zukam, kam es ihr vor, als ob seine Besorgnis viel tiefgründiger war. Schauer zwang sich, ihn nicht allzu lang zu mustern. Sie musste aufpassen, nicht zu viel in die Gesichter zu interpretieren.
«Wir müssen das hier erst mal alles sperren!», sagte Klemm. Er hatte Schutzanzug und Handschuhe angezogen, seinen Mundschutz trug er noch unter dem Kinn. Er war groß, hager. Hinter ihm standen vier Kollegen, ebenfalls in Schutzkleidung. «Haben Sie was angefasst, Schauer?»
Sie schüttelte den Kopf, verkniff sich mit aller Mühe eine pampige Bemerkung. Sie war ja nicht dämlich, wollte sie sagen.
«Das gab’s noch nie», sagte Klemm. «Kann ja im Prinzip auch jeder im Haus gewesen sein.»
Das war es also, was ihm Sorgen machte. Und ihr noch mehr.
«Gibt’s da was, das man wissen müsste?», fragte Schauer. Natürlich gab es da was, das war ihr schon von der ersten Sekunde an aufgefallen. Hier ging es schon seit Langem nicht mehr mit rechten Dingen zu. Lange bevor sie hierherkam, bevor Michael Bartko bei einem Autounfall starb, der Freund und Kollege von Bruch. Bruch, der für seine psychischen Probleme von einer Unbekannten Tabletten bezog, der geschützt wurde von Simon und wer weiß noch wem von ganz oben. Wer weiß, welche krummen Geschäfte hier liefen, möglich war vieles.
Klemm schürzte die Lippen. Schien zu überlegen, was er ihr erzählen konnte. Er müsste ihr nur sagen, dass es besser wäre, sie würde von hier verschwinden. Sie würde es vermutlich tun. Vergiss den Job, es wird schon irgendetwas anderes geben. In einer anderen Stadt.
Jetzt schüttelte Klemm den Kopf, und was ihr so ewig erschienen war, wie lange er darüber hatte nachdenken müssen, war vielleicht nur eine Sekunde gewesen. Jemand betrat weiter hinten beim Treppenhaus den Gang. Es war Bruch.
Er hatte registriert, dass etwas geschehen war. Vermutlich hätte er stehen bleiben müssen, sich zu den anderen gesellen. Informationen austauschen, Gerüchte, Mutmaßungen. Doch gerade hatte er Mühe, überhaupt mit der Realität in Kontakt zu bleiben. Die Augen brannten ihm, vom grellen Licht im Gang, vom Schnee draußen, der in klirrendem Weiß das Licht der Scheinwerfer und Laternen reflektiert hatte. Bruch hatte den Anblick kaum ertragen können. Auch jetzt war ihm, als müsste er die Augen schließen, sie zukneifen, um sie zu schützen. Doch er hielt stand. Denn er wusste, ihm würde nichts geschehen. In ihm brannte die Sonne. Ein Feuerball aus gleißendem Gold. Es würde seinen Augen nicht schaden. Im Gegenteil. Er saugte das grelle Licht, die Farben, die Gerüche in sich ein, auch wenn es schmerzte. Seine Füße berührten den Boden nicht. Zumindest spürte er ihn nicht, das war für ihn dasselbe. In diesen Momenten wusste er, war er unbesiegbar. Weder spürte er die Hitze des Glutballs noch die Kälte des Winters. Niemand konnte ihm etwas anhaben. So war er hier angekommen, ohne jede Erinnerung daran, wie. Mit den Händen in den Jackentaschen hatte er das Präsidium betreten, als öffneten sich alle Türen für ihn, als durchschritte er Wände. Er sah weder nach rechts noch nach links, als er die Gänge durchmaß. Um ihn war alles in Zeitlupenmorast getaucht. Das war seine Zeit. Er kreierte sie, bestimmte den Takt der Sekunden. Er war derjenige, der sie durchschnitt wie eine scharfe Klinge. Er sah Schauer an Simons Tür stehen. Er sah Klemm und dessen Leute. Ihre weißen Schutzanzüge blendeten ihn. Er wusste, was zu tun wäre. Wie er sich geben müsste, um zu ihnen zu gehören, als normaler Mensch zu gelten. Simon musste etwas geschehen sein. Sie alle waren betroffen. Die Betroffenheit floss aus ihren Augen, aus all ihren Poren. Sie sahen ihn an. Sie erwarteten, dass er zu ihnen käme, um zu fragen, was geschehen war, um selbst Betroffenheit zu zeigen. Er hatte es vor. Sich zu ihnen zu stellen, zu fragen, was geschehen war, zu tun, als wäre er einer von ihnen. Doch ganz sicher konnte er nicht sein, ob er das auch tun würde. In diesem Zustand waren die Dinge, die er tun wollte und schließlich tat, nicht immer dieselben.
Als bemerkte er all die Leute nicht, kam er näher. Automatisch gaben ihm alle den Weg frei. Etwas hatte er an sich, dachte Schauer. Dem traute keiner, nicht einmal die Sanitäter, die ihn überhaupt nicht kannten.
«Moin», sagte Schauer, bevor er an ihr vorbeilaufen konnte. Ihm zuliebe. Damit ihm die Möglichkeit gegeben wurde, wie ein Mensch zu agieren. Jetzt verzögerte er seinen Schritt. Bis zu diesem Moment hätte man ihm noch zugestehen können, dass er vielleicht nicht ausgeschlafen war, nicht erkannt hatte, was passiert war, dass überhaupt etwas passiert war.
Bruch sah sie an, sah an ihr vorbei in Simons Büro, alles innerhalb einer Sekunde. Nein, er war nicht unausgeschlafen, er war nur ganz in seiner Welt, wo immer das auch war in diesem Moment.
Er sah, was geschehen war, ersparte sich jede Frage. Ob es ihn traf, Simon da liegen zu sehen, ob es ihn überhaupt tangierte, war nicht zu erkennen.
Alle blieben stumm, und Schauer sah sich gezwungen, etwas zu sagen. Nur um ihm das Reden abzunehmen, damit sie als Partnerin nicht dumm dastanden. «Ihm wurde direkt ins Herz geschossen.»
Bruch verlagerte sein Gewicht ein wenig, um aus unmerklich anderem Winkel ins Zimmer sehen zu können. «Das da», sagte er und zeigte auf den Schreibtisch.
Klemm von der Spurensicherung sah sich genötigt, sich umzudrehen. «Was denn?»
«Er hat seinen Schreibtisch aufgeräumt. Die Schublade.»
Wie er darauf kam, wusste Schauer nicht, zwei Radiergummis lagen auf der Schreibtischplatte, ein paar Büroklammern, ein paar Zettel, Kugelschreiber.
«Und?», fragte Klemm.
Wüsste sie nicht, was es mit Bruch auf sich hatte, es wäre ihr genauso egal gewesen. «Kann das sein?», fragte Schauer.
Klemm zuckte wieder mit den Achseln, zog sich die Maske über Mund und Nase, betrat Simons Büro. Mit großen Schritten machte er einen großen Bogen um den Leichnam, ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf.
«Kann sein, ja», sagte er, kam zurück. «Und?»
«Warum ist das wichtig?», fragte Schauer ihn. Gerade noch war ihm die Antwort plausibel erschienen. Doch nun, in der Sekunde, da er es begründen musste, blieb nur ein vages Gefühl, dass es irgendetwas bedeutete. Und schon hatte er vergessen, was sie ihn gefragt hatte, denn von einer Blattspitze fiel ein letzter Tropfen. Bruch sah ihn auf dem Boden zerplatzen und in seine Atome zerstäuben. Er sah, wie das Leben in den Äderchen der Pflanzen pulsierte, hörte, wie es in den Zellen rumorte. Er zwinkerte mit den Augen, kämpfte um seine eigene Aufmerksamkeit. Er musste gewisse Regeln einhalten, damit er nicht als völlig irre abgestempelt wurde. Doch es war schwer in diesem Zustand, in dem alles voller Farben und grellem Licht war. Niemand kam vor Dienstbeginn ins Büro, nur um seinen Schreibtisch aufzuräumen. Simon war zeitiger gekommen, weil jemand es von ihm verlangt hatte. Er hatte sich gelangweilt, weil nichts geschah. Hatte die Pflanzen gepflegt, den Schreibtisch aufgeräumt. Dann war sein Mörder gekommen und hatte ihn umgebracht. Man musste nur in Erfahrung bringen, wer ihn so früh ins Büro bestellt hatte, dann würde man wissen, wer den Auftrag zum Mord gegeben hatte. Es war so einfach, so offensichtlich, und doch, ahnte er, würde genau das nicht geschehen.
«Ist es nicht völlig egal?», fragte Klemm, «Vielleicht kam er deshalb so früh ins Büro, weil er aufräumen wollte.»
Bruch löste seinen Blick von den Pflanzen, richtete sein Augenmerk auf Schauer. Nun bemerkte sie seinen Blick. «Was ist?», formten ihre Augen die Frage.
«Wie geht das denn jetzt weiter?», fragte Klemm, dem das Schweigen zu lang und unangenehm wurde.
«Jemand wird Simons Posten besetzen müssen», sagte Bruch, wandte sich ab und ging zu seinem Büro. Er hörte, dass Schauer ihm folgte.
«Was geht hier vor sich?», fragte Schauer, nachdem sie sich in ihr Büro gesetzt und einige Minuten geschwiegen hatten. Sie spürte, dass sie jetzt erst zu realisieren begann, was geschehen war, was sie gesehen hatte. Die Ungeheuerlichkeit nahm Ausmaße an. Ihr wurde heiß am ganzen Körper. Der Drang, fortzugehen von hier, jetzt in diesem Moment, wurde beinahe übermächtig. Ihr Chef war in seinem Büro eiskalt erschossen worden. Mitten in der Stadt, mitten im Polizeipräsidium. Niemand wollte den Schuss gehört haben. Die Putzfrau, die am frühen Morgen ihre Runde ging, hatte ihn entdeckt, wenige Minuten nach der Tat, immerhin hatten ihren Angaben nach Simons Lider noch gezuckt. Hier war etwas geschehen, das Einfluss auf ihr Leben nahm. So viele Tote hatte sie schon gesehen. Erfrorene, überfahrene, unglücklich gestürzte, Leute, die sich den goldenen Schuss gesetzt hatten, aber auch jene, deren Leben von Menschenhand beendet worden war, sei es in einer Prügelei im Suff auf dem Kiez, in wilder Rage oder mit Vorsatz. Doch niemals war sie so involviert gewesen wie hier. Das hier betraf sie direkt.
Sie kannte Simon zu wenig, als dass sie nun wirklich traurig war. Was sie in den letzten Wochen mitbekommen hatte, warf kein gutes Licht auf ihn und überhaupt jemanden hier in der Abteilung.
«Felix», wiederholte sie, «was geht hier vor sich? Ist hier etwas vorgefallen, von dem ich wissen sollte? Hat das etwas mit dir zu tun? Mit deinem Kollegen Bartko? Was hat das alles zu bedeuten?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Bruch in einem Tonfall, der jedoch nur bedeutete, sie sollte aufhören zu fragen.
«Felix, wer marschiert hier am frühen Morgen rein und knallt den ab? Es ist ja gut möglich, dass sich der Täter noch im Haus befindet. Felix, ein Polizistenmörder ist unter uns, verstehst du das? Das könnte jeder sein. Könnte hier reinkommen und beschließen, dass ich die Nächste bin oder du oder sonst wer.» Er reagierte gar nicht, schien sich da keine großen Sorgen zu machen. «Felix, weißt du etwas? Über Simon? Gibt es jemanden, der Anlass dafür hat, ihn umzubringen? Warum hier, warum nicht bei ihm daheim, oder beim Joggen an der Elbe?»
«Du weißt es selbst», sagte Bruch. «Du hast es gerade gesagt.»
Sie wollte sogleich widersprechen, doch sie besann sich, denn er hatte recht. Sie hatte es selbst gesagt: Hier drinnen war der Täter geschützt. Jeder, der hier reinkam, war legitimiert, viele trugen Waffen mit sich. Eine überzählige Patrone zu besorgen, sollte nicht schwer sein. So wie bei der Bundeswehr jährlich Tausende Schuss Munition abhandenkamen.
Sie sah auf, und noch während sie es aussprach, wurde ihr die Bedeutung ihrer Worte bewusst. «Felix. Du weißt, was das bedeutet. Jeder hier im Haus ist verdächtig. Jede Waffe muss geprüft werden. Das ganze Präsidium muss auf den Kopf gestellt werden.»
Bruch nickte.
«Jetzt, Felix, es müsste jetzt sofort passieren.»
Bruch nickte wieder, und was auch immer das in seinem Gesicht war, es sollte wohl ein Lächeln sein.
Sag doch, was du sagen willst, wollte sie auffahren, denn es schien, als versuchte er, ihr die Worte in den Kopf zu pflanzen, anstatt sie selbst auszusprechen. Wer sollte das befehlen, dachte sie, wer bestimmte, dass jedes Büro, jede Kammer, jede Tasche, jede Schublade durchsucht wurde? Welches Misstrauen würde gesät unter den Kollegen? Wer sollte die Durchsuchung durchführen? Man brauchte unheimlich viele Leute dafür. Sollte eine Abteilung die Räume der anderen durchsuchen? Das war es, was Felix mit seinem Blick zum Ausdruck brachte. Und es mochte sein, dass er damit genau das erreichte, was er wollte. Mit einem Schlag verlor sich all ihre Angespanntheit, das Gefühl, sofort etwas tun zu müssen. Zu handeln, zu agieren, dies oder das anzuweisen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. In diesem Moment konnte sie nichts tun.
«Felix, ich mach da nicht mit. Verstehst du?» Sie sah ihn an. Er erwiderte den Blick, konnte ihr nicht ruhig in die Augen sehen, seine Pupillen zuckten, es war, als scannte er immerzu ihr Gesicht auf jede Regung.
«Felix, ich habe keine Ahnung, was hier abgelaufen ist. Und ich will es nicht herausfinden. Ich will keinem in die Augen sehen müssen, der seine Waffe auf mich richtet und abdrückt. Davor hab ich Angst. Verstehst du das?»
Natürlich verstand er es nicht. Oder wollte nicht, wollte sie zappeln lassen oder war in Gedanken schon längst viel weiter.
«Ich glaube nämlich», sah sie sich gezwungen zu erklären, denn sie hatte das dringende Bedürfnis, ihm zu sagen, dass sie keine Angst vor dem Tod hatte, «ich glaube nämlich, dieser Moment, wenn jemand ins Zimmer kommt, die Waffe hebt, und du kannst nichts tun, dieser Moment, der wird eine Ewigkeit dauern. Davor hab ich Angst.»
«Ich weiß, was Ewigkeit ist», sagte Bruch.
Wie immer spürte sie den Drang, ihm sofort eine sarkastische Bemerkung an den Kopf zu werfen, doch sie konnte sich beherrschen. Vielleicht wirkte dieser dämliche Antiaggressionskurs ja doch, an dem teilzunehmen Simon sie gezwungen hat. Einmal die Woche saß sie zusammen mit Jugendlichen, Hooligans und anderen Typen, die ihre Fäuste nicht unter Kontrolle hatten. Manche von denen hatte sie fast schon lieb gewonnen, so dämlich waren die, und manche von denen hatten eine Kindheit, die zwangsläufig dazu führen musste, dass sie Gewalttäter wurden. Da fragte sie sich, was ihr Problem eigentlich war, denn gegen diese Aneinanderreihungen von Prügelstrafen, Alkoholexzessen, Erniedrigungen und Missbräuchen war ihr Leben der reinste Ponyhof gewesen.
Dass Bruch wusste, was Ewigkeit ist, konnte sie sich denken. Was sollte es anderes sein, wenn man tagelang nur lag und an die Decke starrte. Im Moment fehlten ihr alle Worte.
«Etwas wird passieren», sagte Bruch in die Stille hinein.
«Es ist etwas passiert!», korrigierte Schauer. Dann sah sie ihn wieder an. Dass er einfach so sprach, war nicht gewöhnlich. Vielleicht dachte er gar nicht an Simon, sondern meinte etwas ganz anderes.
«Was meinst du?», fragte sie und bereute es schon wieder. Denn es konnte gar keine Antwort darauf geben. Was sollte er schon wissen?
Bruch erhob sich und ging zur Jalousie, zupfte eine Lamelle zurecht, die ein ganz klein wenig schief gehangen hatte.
Etwas war mit ihm. Er tat Dinge, die er in ihrer Gegenwart noch nie getan hatte. Redete. Bewegte sich unaufgefordert.
«Es geschieht. Lange Zeit war es ausgeblieben, doch seit einigen Jahren geschieht es wieder.»
Schauer realisierte, dass er über sich selbst sprach. Brachte er Simons Tod mit seiner Vergangenheit in Verbindung? Es wäre fast logisch. «Du meinst deine Depressionsschübe? Du hattest das schon als Kind?»
Bruch dachte nach. «Möglich, ja. Ich kann mich an nicht viel erinnern.» Er ging wieder an seinen Platz. «Eine Zeit lang war es unter Kontrolle. Bis ich diese Kiste bekam.»
«Es begann wieder, als du diese Kiste bekamst? Dieser Karton, der unter deinem Bett liegt?»
«Als die Kiste kam, war es, als hätte mir jemand ein Gift gespritzt, das mich langsam, aber sicher umbringen wird. Mir wurde klar, das Leben, das ich bis dahin führte, war nicht echt.»
Die Kiste, zwei Polaroidbilder, eine Keramikscherbe, ein Ohrring, ein verschmorter Plüschteddy. Ob er überhaupt wusste, dass sie sich den Inhalt angesehen hatte? Dass sie sich schon gefragt hatte, warum er, der kaum etwas besaß, diese Dinge aufbewahrte und was sie zu bedeuten hatten?
«Du weißt», sagte Bruch, «dass wir nur Teile der Wirklichkeit sehen, dass uns das meiste vorenthalten wird.» Er wischte mit den flachen Händen über den Tisch, betrachtete jetzt seine Handflächen, als gäbe es da etwas Interessantes zu sehen.
Sie wusste nicht, was er ihr sagen wollte. Dass er ausgerechnet jetzt, in dieser Situation, anfing, über sich selbst zu sprechen, überforderte sie. «Felix, du musst zum Arzt. Ich kenne mich nicht aus, aber du bist manisch-depressiv. Oder hast eine bipolare Störung oder wie das alles heißt. Du musst dir helfen lassen, du darfst nicht einfach so diese Tabletten nehmen. Das muss unter ärztlicher Kontrolle geschehen, das muss eingestellt werden. Du musst in eine Klinik. Mag sein, dass das kein besonders schöner Gedanke ist. Aber danach geht es dir besser. Du kannst dann bestimmt auch wieder deine Tochter sehen.» Schauer schloss den Mund. Das hätte sie sich verkneifen können. Es ging sie nichts an, es war sein Leben. Die Entscheidung, seine Tochter nicht mehr zu sehen, den Kontakt zu ihr abzubrechen, hatte er selbst getroffen.
Bruch legte die Hände flach auf den Tisch. Einen Moment verharrte er so, und die Vorstellung, dass er in seine Jacke greifen, seine Pistole ziehen und sie abknallen könnte, wurde so realistisch, dass sie vor Angst regelrecht gelähmt war. Doch nun nickte er.
Mit dieser Kiste hatte es wieder begonnen. Dieser Karton, der unter seinem Bett lag, hatte ihm gezeigt, dass alles, was er glaubte zu wissen, alles, was er glaubte zu besitzen, alles, wovon er glaubte, es gehörte zu ihm, nur eine Illusion war. Seine Frau, sein Kind, sein Beruf, sein Leben. Es hatte ihn in Depression gestürzt, noch dazu, weil er sich, obwohl er wusste, dass alles falsch war, an nichts von dem erinnern konnte, was real gewesen war. Er war in ein tiefes Loch gefallen, und hätte er die Tabletten nicht bekommen, er wäre sicherlich nicht mehr am Leben. Die Tabletten halfen ihm, doch sie schalteten alles ab, was ihn menschlich machte, sie machten aus ihm ein kaltes Etwas, umhüllt von einem Kokon, etwas, das man niemandem zumuten konnte. So lebte er zwar, doch hatte er seine Frau und seine Tochter verloren, hatte vor allem Letztere aufgegeben, nur um sie vor sich zu schützen.
Doch was Schauer nicht wusste, nicht einmal ahnte: Allein durch ihre Anwesenheit, durch ihre beharrlichen Fragen, hatte sie etwas in Gang gebracht, das sich vermutlich nicht mehr aufhalten ließ. Mit ihm geschah etwas, etwas veränderte sich, und er wusste nicht, ob er das gutheißen sollte. Ein Riss hatte sich aufgetan in diesem Sarkophag aus Beton, der seine Vergangenheit umschlossen hatte.
«Die Kugel stammt nach ersten Untersuchungen nicht aus Polizeibeständen», gab der Mann vorn bekannt. Irgendeiner aus der Ballistik. Schauer kannte ihn nicht. «Sie ist natürlich sehr deformiert, aber vermutlich handelt es sich um eine Neunmillimeterpatrone. Die Zusammensetzung wird noch metallurgisch geprüft, doch einige Hinweise lassen darauf schließen, dass es sich, wie gesagt, nicht um Munition aus unseren Beständen handelt. Nach der Durchschlagskraft kommen einige Waffen infrage. Es ist zwecklos, dahingehend zu spekulieren.» Mehr gab’s nicht zu sagen. Der Mann setzte sich an seinen Platz.
Im großen Besprechungsraum kam einiges an Gemurmel auf. Schauer sah viele betroffene Gesichter. Ein paar Kollegen weinten, der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Gerade Schmidtke, die sich sonst so hart gab, konnte gar nicht aufhören zu schluchzen. Auch Buchholz hatte immer wieder alle Mühe, sich zusammenzunehmen. Nur Bruch guckte, als ginge ihn das alles nichts an. Niemand beachtete ihn.
Hundert Leute saßen vielleicht hier. Schauer hatte sich an den Rand gesetzt, lehnte mit dem Rücken an der Wand, konnte so recht unbemerkt alle betrachten. Einer von ihnen könnte es gewesen sein, dachte sie. Einer sitzt hier und heuchelt.
Jetzt trat Voss vor, Oberkommissar, auf Bildauswertung spezialisiert. «Soweit wir die Aufnahmen der Überwachungskameras gesichtet haben, ist keine verdächtige Bewegung zu erkennen. Keine Person, die unbefugt das Präsidium betreten hat oder auf den ersten Blick als Täter infrage kommt. Es gab keinerlei Besucherverkehr, niemand Hausfremdes. Das heißt jedoch nicht, dass sich nicht schon am Vortag jemand im Haus versteckt haben könnte. Das werden wir natürlich noch überprüfen. Es scheint auch niemand im Zeitraum kurz nach der Tat das Haus zu verlassen. Das Reinigungspersonal und alle Zulieferfirmen werden noch geprüft, doch auch hier scheint es so, dass niemand Neues an den üblichen Vorgängen beteiligt war, sondern nur angestammtes und geprüftes Personal.»
«Könnte ja ein Schläfer gewesen sein!», rief jemand dazwischen.
Voss sah sich nach Hilfe um, das war nicht sein Metier. Er hatte nur die Videoaufnahmen ausgewertet. Der Raum füllte sich mit Raunen und Getuschel.
Jetzt erhob sich vorne ein Mann, Schauer hatte ihn noch nie gesehen. Wahrscheinlich ein Chefinspektor, extra eilig mit dem Hubschrauber eingeflogen. Neben ihm der Polizeipräsident. Das war eine Sache von politischer Tragweite. Nicht lang, da wird die Presse vor der Tür stehen, überlegte Schauer.
«Kolleginnen und Kollegen. Spekulationen haben keinen Sinn. Noch ist nicht einmal geklärt, ob Kollege Simon gezielt angegriffen oder nur Opfer eines Zufalls wurde.»
Keine Spekulation, sagt er, dachte Schauer und begann sogleich selbst damit.
«Natürlich steht die Frage über ein weiteres Vorgehen im Raum. Es bedarf einer gründlichen Untersuchung, der Aufmerksamkeit aller. Alle Vorgänge im Haus müssen geprüft werden.»
Sogleich kam erneut großes Raunen auf, dabei sagte der Mann nur, was logisch war. Sie konnten sich gegenseitig nicht mehr trauen, bis der Täter gefunden war. Jeder hier war mehr oder weniger verdächtig. Viele waren erst nach der Tat zum Dienst erschienen, aber einige waren schon im Haus gewesen, und von denen hatten einige hier auf der Etage oder direkt darüber oder darunter gesessen und wollten von nichts gehört haben.
«Natürlich», hob der Inspektor die Stimme, um gegen den Unmut und die aufbrandenden Diskussionen anzukommen, «natürlich ist Misstrauen kein Zustand unter uns Kollegen, der den Alltag bestimmen darf. Was ich verlange, ist Kooperation und Aufmerksamkeit, alle müssen an einem Strang ziehen. Jeder Einzelne muss sich fragen, ob es nicht etwas gibt, das uns bei der Aufklärung dieser Tat helfen könnte. Das hat nichts mit Verrat zu tun oder gegenseitigem Bespitzeln. Es wird nicht ausbleiben, dass wir in den nächsten Stunden und Tagen Einzelbefragungen durchführen.» Wieder musste er die Stimme heben, um gegen die aufkommende Lautstärke anzukämpfen. «Kollegen. Bleiben Sie konstruktiv. Es ist eine schwierige Zeit. Gemeinsam können wir sie überstehen. Bitte bleiben Sie sachlich. Und ich muss Sie alle darauf hinweisen, dass dies äußerst diskret behandelt werden muss. Wie wir mit dieser Angelegenheit an die Öffentlichkeit treten, werden wir in den nächsten Minuten intern besprechen. Ich bitte Sie alle, sich an keinen Spekulationen zu beteiligen oder sie noch zu befeuern, geben Sie das auch in Ihren Abteilungen so weiter. Und ich muss nicht extra erwähnen, dass diese Angelegenheit aus ermittlungstechnischen Gründen bis zu einer ersten öffentlichen Stellungnahme und darüber hinaus streng vertraulich behandelt werden muss.»
«Moment, Hauptkommissarin Schauer?»
Sie war gerade auf dem Weg nach draußen, hatte gewartet, bis die meisten den Raum schon verlassen hatten. «Ja?» Sie sah die junge Frau an, die sie aufgehalten hatte. Locker erst Mitte zwanzig. Sie trug zivile Kleidung, war im Gefolge des Inspektors gekommen.
«Wenn Sie mir bitte gleich folgen würden!»
«Wohin denn bitte?», fragte Schauer.
«Da gleich in den kleinen Besprechungsraum.»
Vielleicht hatte sie die Frage falsch formuliert, warum denn, hätte sie fragen sollen, und vor allem, warum ich. Sie folgte der jungen Frau, einfach aus purer Verblüffung. An der Tür ließ die andere ihr den Vortritt, schloss hinter ihr. Nun sah sie sich einem Tisch gegenüber, an dem drei Männer saßen, allesamt um die fünfzig Jahre oder älter.
«Hauptkommissarin Schauer, setzen Sie sich bitte», bat der Mittlere. «Wir sind Polizeirat Erler», er zeigte auf den Mann rechts von ihm, dann nach links, «Erster Hauptkommissar Schüttburg und meine Wenigkeit, Hauptkommissar Wenzel, wie Bube.»
«Wenzel wie Bube?», fragte Schauer.
«Wie beim Kartenspiel.» Wenzel versuchte es mit einem Lächeln. «Wir möchten Sie als eine der Ersten vor Ort zum Anschlag auf Kollege Simon befragen.»
«Moment bitte.» Schauer hob die Hand, bemerkte es aber erst, als sie oben war, und nahm sie gleich wieder runter, sie war hier nicht in der Schule. «Ich war längst nicht eine der Ersten vor Ort!»
«Nein?» Wenzel sah nach rechts und links zu seinen schweigenden Nachbarn.
«Nein!», sagte Schauer mit Nachdruck. «Als ich kam, standen unten im Erdgeschoss schon mehrere Kollegen von mir. Als ich hochging, waren zwei Rettungsassistenten und eine Notärztin bei Simon. Soweit ich weiß, hat ihn eine Putzfrau gefunden, dann muss ein Arzt aus dem Haus der Nächste gewesen sein, der den Raum betrat, und wer weiß, wer sonst noch.»
«Nun ja, aber trotzdem waren Sie ja einer der Ersten.»
Schauer atmete aus. «Was ich sagen will, ich kann Ihnen nicht helfen. Als ich kam, lag Simon schon auf dem Boden, die Durchführung lebenserhaltender Maßnahmen war beendet, und mindestens fünf Menschen waren vor Ort, in dem Zimmer oder im Flur. Im Haus selbst waren auch schon mindestens vier oder fünf Kollegen aus unserer Abteilung. Ich bin also die vollkommen falsche Ansprechpartnerin. Und außerdem …» Das wurde ihr gerade erst bewusst. «Kann das sein, dass ich die Allererste bin, die deshalb vernommen wird?»
Wenzel schürzte die Lippen. «Irgendwo muss man anfangen.»
«Ja, stimmt», sagte Schauer und spürte etwas in sich aufsteigen, das dringend unterdrückt und kleingehalten werden musste. Warum redet ihr nicht zuerst mit diesem übergeschnappten Typen in meinem Büro, drängte es sie zu sagen, warum lernt ihr nicht erst mal, richtig Deutsch zu sprechen, war der nächste Gedanke.
«Welches Verhältnis hatten Sie zu Hauptkommissar Simon?»
«Welches? … gar keins. Er war mein Chef. Wie Sie sicher wissen, bin ich erst ein paar Wochen hier in der Abteilung. Ich hatte kaum Gelegenheit, ihn kennenzulernen, es gab gleich viel zu tun.» Ein Kind war vermisst gewesen, es zu finden, hatte sie beide, Bruch und sie, an den Rand körperlicher und geistiger Erschöpfung gebracht.
«Und sonst? Sie müssen ja gesprochen haben.»
Ihr wurde gerade bewusst, dass der Typ gar nicht sächsisch sprach. Das war irgendein anderer Dialekt. Kam gar nicht von hier. Westdeutscher. Wie vermutlich auch die anderen beiden. «Natürlich haben wir miteinander gesprochen. Aber welches Verhältnis baut man zu seinem Chef in vier, fünf Wochen auf? Guten Tag, auf Wiedersehen, wie geht’s der Frau?»
«Kannten Sie seine Frau?», nahm Wenzel das sofort auf.
«Ob ich … das war nur so dahergesagt, ich weiß noch nicht mal, ob er eine hatte.» Schauer lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hätte ihre Fäuste gern in die Jackentaschen gesteckt, doch sie hatte keine Jacke an, und die Hose war zu eng dafür. Deshalb musste sie sich so behelfen. Aber das war nicht gut. Gar nicht.
«Simon lebte in Trennung von seiner Frau», half Wenzel aus.
«Keine Ahnung!»
Wenzel nickte. «So ist es aber.» Er blickte auf sein Papier, sah wieder hoch. «Hauptkommissar Simon hat vor einigen Wochen veranlasst, dass Sie an einem Kurs teilnehmen.»
Schauer sah ihn an, dann Erler und Schüttburg, die regungslos auf ihren Stühlen saßen. «Ist das eine Frage?» Nimm dich zusammen, mahnte sie sich. Bleib cool. Denk dran, du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, andere haben größere Probleme. War aber leicht gesagt, denn man hatte ja nun mal immer nur seine eigenen Probleme.
«Nein, im Prinzip nicht. Was ist das genau für ein Kurs?»
«Ein Kurs zur Aggressionsbewältigung. Hauptkommissar Simon war der Meinung, ich hätte das nötig.»
«Nicht nur er», sagte Erler leise. Auch er hatte einen westdeutschen Dialekt, bayrisch oder so was. Nicht nur er. Was hieß das, war sie bekannt? Hatte man mit ihren ehemaligen Vorgesetzten in Hamburg geredet? Rote Blitze zuckten vor ihren Augen. Versuche, dich auf deine Mitte zu konzentrieren. Such deinen inneren Kern. Finde einen Ruhepol.
«Haben Sie das Gefühl, es trägt Früchte? Wie oft sind Sie da, einmal pro Woche?», übernahm Wenzel wieder.
«Ungemein viele Früchte. Ich bin die einzige Frau dort. Von der Kursleiterin abgesehen. Wir unterhalten uns ganz prima. Basteln Knetfiguren. Demnächst wollen wir mit Yoga beginnen.»
«Sie sind sarkastisch, Kollegin, das ist nicht konstruktiv.»
Schauer beugte sich vor, presste die Arme an den Leib, zwang sich die Fäuste unter die Achseln. «Bitte sagen Sie mir, was konstruktiv an Ihren Fragen ist. Was hat das alles mit Simons Tod zu tun?»
«Wann sind Sie heute Morgen zum Dienst erschienen?», fragte Schüttburg.
«Kurz vor sechs. Das muss nachprüfbar sein. Ich bin durch den Haupteingang gekommen und wurde zweimal kontrolliert.»
«Es wird auch nachgeprüft. Wann waren Sie oben und haben Simons Büro betreten?»
«Kurz nach sechs war ich oben. Aber ich habe es nicht betreten.»
«Wann sahen Sie Simon das letzte Mal lebend?»
«Gestern zum Dienstende. Ich hab Tschüs gesagt.»
«Sie waren am Abend nicht bei ihm?»
Schauer musste erst mal innehalten, um zu überlegen, ob sie wirklich richtig gehört hatte. «Ob ich bei ihm war? Natürlich nicht, nein. Ich habe dazu keinerlei Veranlassung.»
«Seine Ex- oder zumindest Noch-Ehefrau vermutet schon seit Längerem, dass er eine Affäre unterhält.»
«Das hat sie Ihnen gerade gesagt?», konnte Schauer sich nicht verkneifen zu fragen.
«Wir wissen das schon länger. Also?»
«Also was?», fragte Schauer. Bleib locker, Mädel, dachte sie, bleib locker, die müssen das fragen, würdest du auch machen. Vielleicht nicht so überheblich und selbstgefällig wie diese Kerle, aber fragen müsstest du doch. Die Sache war bloß die: Heute Morgen noch war sie zur Arbeit gegangen und hatte geglaubt, ein Kollege, der heimlich Psychopharmaka zu sich nimmt, wäre ihr größtes Problem. Nun schien es, als wäre das ein gewaltiger Irrtum. Sie atmete durch, schloss kurz die Augen, dachte an die Typen in ihrem Kurs, von denen alle schon geflennt hatten, nachdem ihnen bewusst geworden war, welch schreckliche Personen sie waren, nur sie noch nicht. Die hatten Probleme. Vom Vater missbraucht oder vom Onkel, drogensüchtig mit dreizehn, von der Mutter verlassen im Kindesalter. Was war da schon ein kleines Mädchen, dem es eigentlich an nichts gemangelt hatte, außer vielleicht ein bisschen Liebe von Mutti und Vati, die nur Augen für die kleinere Schwester hatten?
«Wie gut kannten Sie Simon, verkehrten Sie auch privat mit ihm?», konkretisierte Wenzel.
«So, ganz einfach und zum Mitschreiben», sagte sie, «ich kannte Simon nur über die Arbeit. Ich weiß weder, wann er Geburtstag hatte, noch, wo er wohnte, noch kenne ich seine Familienverhältnisse. Ich hatte keine Affäre mit ihm oder mit sonst wem hier im Haus. Ich habe mich gestern von ihm verabschiedet, und als ich heute Morgen kam, war er wohl schon eine halbe Stunde oder länger tot. Ich kenne keinen, der ein persönliches Motiv hätte, Simon umzubringen, weil ich weder von dessen Privatleben noch von irgendeiner Vorgeschichte einen blassen Schimmer habe!» Schauer lehnte sich wieder zurück und wagte, die Hände auseinanderzunehmen.
Wenzel sah wieder nach rechts und links. Tja, Sportsfreund, dachte sie, da gibt’s jetzt erst mal nichts nachzuhaken. Jetzt liegt es an euch, die Aussagen zu prüfen.
Es sei denn, irgendein falscher Zeuge behauptete einfach, sie, oder zumindest eine schlanke Frau mittlerer Größe, mit schwarz gefärbtem kurzem Haar, wäre gestern bei Simon daheim gewesen, hätte sie durchs Fenster gesehen oder sonst was. Weil er vielleicht dafür bezahlt wurde. Schon war es vorbei mit dem Höhenflug. Sie musste sich zum Atmen zwingen, so angespannt war sie.
Doch Wenzel nickte nur, notierte sich etwas. «Ich muss Sie bitten, uns Ihre Dienstwaffe zur Prüfung zu überlassen.»
«Machen Sie das bei allen oder nur bei mir?», schoss es sofort aus ihr heraus.
«Bei allen natürlich!»
«Das müssen Sie mir aber quittieren.»
«Natürlich!»
Jetzt saß sie in ihrem Büro, wusste nicht, was sie denken sollte. Bruch war ebenfalls da, starrte auf seinen Computerbildschirm. Herrgott, wo war sie hier nur gelandet! Da war es doch in Hamburg tausendmal schöner gewesen, vergaß man einfach mal die alltäglichen kleinen Erniedrigungen, die sexuellen Anspielungen vom Volk draußen und den Kollegen drinnen. Wie einfach waren all die Gewaltdelikte zu behandeln, wo die besoffene Alte ihren Mann im Affekt abstach. Wo ein Penner den anderen totschlug, weil der ihm angeblich ’ne halbe Pulle gestohlen hat. Da musste man zwar jeden Abend ewig duschen, bis man das Gefühl hatte, den Dreck von der Straße loszuwerden. Und manchmal heulte man, ganz für sich allein, weil die Welt ein so beschissener Ort sein konnte. Nee, nicht die Welt, die Menschen, weil Menschen so beschissen sein konnten. Weil Menschen anderen Menschen Dinge antaten, die kein Tier einem anderen antun würde. Weil es manche gab, die hundert Leben bräuchten, um ihr Geld zu verbrauchen, und andere, deren Kinder aus der Mülltonne fressen mussten.
«Und haben sie dich schon verhört?», platzte es nun aus ihr heraus, weil Bruch nicht einmal gefragt hatte, wo sie so lange geblieben war.
Bruch schüttelte den Kopf. Und so würde es auch bleiben, dachte sie, den befragt niemand, weil es sich niemand getraute. Weil Bruch irre war, das wussten alle. Weil der Einzige, der ihn hier halbwegs hatte händeln können, gerade im Leichenwagen abgefahren war. Und weil im Raum stand, dass jemand seine Hand über Bruch hielt, jemand, der noch über Simon stand. Jemand hier im Haus, jemand beim polizeiärztlichen Dienst, vielleicht sogar einer von den dreien vorhin.
«Die haben meine Waffe zur Untersuchung eingezogen. Deine auch?»
Jetzt nickte er. Wenigstens das. Wenigstens. Aber es half trotzdem nicht, gegen das Gefühl anzukämpfen, das sie seit dem Verhör beschlich. Dieses elende Gefühl, dass es irgendwie einem gelungen war, ihre Waffe auszutauschen, gegen die Mordwaffe, vorher oder nachher. Oder schlimmer noch: dass die ihre Waffe einfach so manipulierten, dass alles schön passte. Die aus Hamburg war’s, würden sie sagen. Hat es mit Simon getrieben, war sauer, weil er nur vögeln wollte, keine Beziehung, schon gar nicht mit einer Kollegin. Die ist reinmarschiert, hat erst diskutiert, war ja klar, dann ist die ausgerastet, weil die nämlich ständig ausrastet. Also ich meine, richtig aus-ras-tet. Hat die nicht schon ein paarmal richtig zugelangt? In Hamburg und in Dresden, hat die nicht sogar ihren Ex-Verlobten krankenhausreif geschlagen? Die diskutiert mit Simon, der lässt sie abblitzen, sie kriegt einen Film, zieht die Waffe, drückt ab, aus die Maus!
Schauer gab sich einen Ruck und setzte sich gerade hin – Herrgott, was war nur mit ihr los?
Schauer hatte Angst, er sah es ihr an. Sie leuchtete nicht mehr, eine dunkle Aura umschloss sie. Nicht unberechtigt. Niemandem konnte man trauen. Er wollte ihr helfen. Er konnte jedoch nicht. Nicht ehe er wirklich wusste, was vor sich ging.
Bruch wusste, dass Schauer ihm geholfen hatte, einen Weg aus dieser schwarzen Leere zu finden, allein dass sie ihn besucht hatte an jedem dieser endlos langen Tage. Er hatte dann auch wieder begonnen, seine Tabletten zu nehmen. Er wusste, das, was nach der Schwärze folgte, war der andere Scheitelpunkt der Amplitude. Dann sah er und hörte und schmeckte und roch und fühlte Dinge, von denen er nicht wusste, ob sie nur in seinem Hirn so leuchteten und pulsierten und bei niemandem anderem sonst. Fakt war jedoch, dass er in diesem Zustand Rätsel lösen konnte, Knoten entwirren. Dass sekündlich Eindrücke und Wahrnehmungen auf ihn eindrangen, seine Aufmerksamkeit verlangten. Dann hatte er ebenso viel Mühe, all das zu sortieren, zu unterdrücken, zu ignorieren, wie er sonst Mühe hatte, überhaupt Zugang zu dem zu finden, was andere Alltag nannten. In den Tagen, Wochen und Monaten der Lethargie, durch die Tabletten verursacht, konnte er tagelang ohne Schlaf auskommen, durch das Fernsehprogramm zappen, auf der Suche nach etwas, von dem er gar nicht wusste, was es war. Doch nun, da alles zu leuchten begonnen hatte, zu glänzen, zu vibrieren, da fuhr er durch die Stadt, auf der Suche nach dem Haus auf der Fotografie. Die Fotografie, die er in einer Kiste aufbewahrte – ein Relikt aus seiner Vergangenheit, das er nicht zuordnen konnte. Darauf war ein Haus mit lila Anstrich zu sehen. Dieses wollte er finden, in der Hoffnung, dass sich ihm dort eine weitere Tür in seine Erinnerungen öffnete. So viele Straßen konnte es in dieser Stadt nicht geben. Es musste zu finden sein und damit vielleicht der zweite Ohrring, der Ursprung der blauen Scherbe, die sich ebenfalls in der Kiste befanden. Und die Schulter, die sich in das Bild geschoben hatte.
«Sie werden nichts finden», sagte er, damit sie sich nicht ganz allein fühlte.
«Nein?» So schnell wie sie geantwortet hatte, musste ihr die Zeit, in der sie geschwiegen hatten, unendlich lang vorgekommen sein. Sie focht einen Kampf aus, einen inneren, wollte ihn hassen und hing doch an seinen Lippen, wollte ihm glauben, denn sofort verflüchtigte sich ein Teil ihrer dunklen Aura. Sie gab sich hart. Sie wollte hart sein, und sie war hart. Doch es gab Zustände, die existierten gleichzeitig. So konnte man hart und stark sein und zugleich ganz weich und schwach. So konnte man leben und war doch gleichzeitig nicht existent.
«Sie werden nichts finden», sagte er noch einmal.
«Na, wenn du das sagst», murmelte sie.
Sie fühlte sich wie gerädert. Es war eine unruhige Nacht gewesen, trotz Bruchs Versicherung, dass an ihrer Pistole nichts gefunden werden würde. Sie glaubte ihm. Wenn er es sagte, würde es auch so sein, denn offenbar kannte er sich aus mit solcherart Untersuchungen im Haus. Dass sie sich aber nur etwas vormachte, war ihr ebenso bewusst, denn der Typ wusste ja noch nicht einmal, was mit ihm selbst los war. Kein Wunder, dass sie sich die ganze Nacht im Bett rumgewälzt hatte und in einer endlosen Schleife von Träumen gefangen war, in denen sie immer wieder festgenommen und des Mordes an Simon angeklagt worden war. Wie im Fieber war das gewesen, wenn der Körper gegen eine Krankheit ankämpfte.
Sie rieb sich den Nacken, als sie den Gang zu ihrem Büro passierte. Simons Büro war versiegelt. Die Spurensicherung war sicher dabei, die Arbeit des gestrigen Tages auszuwerten. Buchholz kam aus der Küche, mit seiner Tasse in der Hand. Er grüßte mit einem Nicken.
«Moin», zwang Schauer sich zu sagen.
«Ach, Nicole. Du kannst deine Waffe wieder abholen», meinte Buchholz, als er schon fast bei seinem Büro war.
Es schien, als sei er nicht so gesprächig wie sonst. Mochte sein, das lag an Simons Tod. Mochte auch sein, er war nicht ganz unvoreingenommen. Immerhin war sie gestern vor aller Augen als Erste zur Vernehmung gebeten worden. Ob er jetzt eigentlich der neue Chef wurde? War es noch zu kurz nach der Tat, so was zu fragen? «Geht klar», erwiderte sie nur. Das schien ein gutes Zeichen. Ein klein bisschen Erleichterung machte sich breit. «Sonst Neuigkeiten?»
Buchholz schüttelte den Kopf, wollte weiter. Ob er auch vernommen worden war? Oder war hier niemand weiter vernommen worden außer ihr? Bleib cool, flüsterte sie sich zu, bleib cool, du warst den Rest des Tages im Büro, du kannst es gar nicht wissen.
«Gibt’s hier noch mehr Leute, die glauben, ich hätte etwas mit Simon gehabt?», hörte sie sich sagen.
Buchholz zuckte regelrecht zusammen. «Ach, Blödsinn», sagte er, was sich in ihren Ohren anhörte wie: ja, alle.
«Ja, Blödsinn!», betonte sie. «Bis dann!» Sie hob knapp die Hand, lief weiter, den Gang runter bis zu ihrem Büro.
Bruch saß dort, im Dunkeln. Sie wunderte das längst nicht mehr. Ob er nun manisch drauf war oder depressiv, er schien kein Licht zu brauchen. Ohne zu fragen, schlug sie auf den Lichtschalter. «Moin.»
Bruch sah sie an, sah aus, als hätte er nicht geschlafen. Tiefe Augenringe hatte er, wirkte sehr ausgezehrt. Mehr als sonst. Gut, sagst du eben nichts, dachte Schauer. Sie wagte einen genaueren Blick. Schien, als ob seine Pupillen auf die Helligkeit gar nicht reagierten, obwohl sie ganz weit waren.
Ihr kam plötzlich eine Idee, und sie hatte alle Mühe, nicht laut auszusprechen, was sie dachte. Was, wenn sie sich ein bisschen Einblick verschaffte, was Simon betraf? Musste doch möglich sein, zu erfahren, was der so getrieben hat in seiner Freizeit. Vielleicht hatte er wirklich ein Verhältnis mit irgendwem. Oder mit jemandem Speziellem. Bruchs Ex-Frau schien über interne Vorgänge sehr gut informiert gewesen zu sein, sie hatte bei ihrem Gespräch vor einigen Wochen sogar von ihrer Vergangenheit in Hamburg gewusst. Simon könnte ihr davon erzählt haben. Sie kannten sich bestimmt, sicher gab es Weihnachtsfeiern, Ausflüge, auch mit Partnern und Kindern, da entstanden manchmal Sympathien. Doch wollte sie das, sich derart einmischen? Darüber musste sie nachdenken. Vorher aber wollte sie Bruch klarmachen, dass er nicht einfach so davonkam, ohne einen Gruß am frühen Morgen. Dann aber klingelte ihr Telefon.
«Schauer», ging sie ran. «Gut.» Sie notierte sich die Adresse. «Ist festgenommen? Geht in Ordnung, wir fahren los!» Sie legte auf, sah Bruch an. «Offenbar ist ein Raubüberfall auf ein Eigenheim eskaliert. Ein Mann schwebt in akuter Lebensgefahr. Eine Tatverdächtige wurde festgenommen. Wir sollen uns darum kümmern.»
Bruch nickte, erhob sich und hielt sich kurz am Tisch fest, doch nicht, als wäre ihm schwindelig, sondern als fürchtete er abzuheben.
«Bist du irgendwie auf Koks oder so?», fragte sie misstrauisch, doch er schüttelte nur den Kopf.
Gut, reden wir eben nicht, dachte sie, während sie auf rutschigen Straßen zum Tatort fuhren. Sie mussten auf die andere Elbseite, die Bautzner Straße hinauf, wo irgendwo mal dieses Stasigefängnis gewesen war. Sie musste sich eingestehen, dass sie nach über zwei Jahren in Dresden noch immer nicht wusste, wo es genau lag.
Der Verkehr bewegte sich zäh. Der Schnee auf den Straßen war längst zu grauem Brei zerfahren, sprühte auf, legte sich als Film auf die Frontscheibe. Hier in Dresden schneite es kaum. Und wenn, dann blieb der Schnee nur ein paar Tage liegen. Konnte ihr egal sein, sie brauchte das Zeug nicht. Sie wurde nur sentimental, wenn es mal richtig in dicken Flocken fiel. Dachte dann an irgendwelche alten Zeiten, die es niemals wirklich gegeben hat. Alles nur Verklärung.
«Irgendwas?», ging sie Bruch so unvermittelt an, dass sie selbst ein wenig darüber erschrak. «Nichts zu sagen? Gut geschlafen?»
Bruch antwortete nicht. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, wenigstens irgendwie reagieren könnte er. Doch sie sah, dass er nach unten blickte. Die Hände auf seinen Oberschenkeln nach oben gekehrt, starrte er seine Handflächen an.
«Was ist denn mit deinen Händen passiert?», fragte Schauer neugierig und entsetzt zugleich. Nun sah Bruch auf, und seinem Gesichtsausdruck nach wusste er das auch nicht.
«Zeig mal», forderte sie, nahm einfach sein linkes Handgelenk, hob seinen Arm an, damit sie während der Fahrt einen genaueren Blick darauf werfen konnte. Die Innenseiten seiner Finger schienen wund, und auch auf seinem Handteller waren aufgescheuerte und blutige Stellen, wie Blasen in zu engen Schuhen.
«Bist du gestürzt?», fragte sie und gab die Hand wieder frei. Bruch schüttelte nur den Kopf. Aber wie Schürfwunden von einem Sturz sah das wirklich nicht aus. Jetzt nahm sie selbst die Linke vom Steuer, betrachtete die Innenseite ein paar Augenblicke. Von ihrem festen Griff am Lenkrad markierten sich genau die Stellen, die bei Bruch blutig waren. War das gestern bei ihm auch schon so gewesen? Da hatte sie nicht darauf geachtet, sie hatten fast nur an ihren Schreibtischen gesessen. Und den Tag davor auch.
«Felix, woher ist das? Kommt das vom Autofahren?»
Er antwortete nicht. «Pass auf!», sagte er aber.
Eilig sah sie nach vorn, und ein Kleinwagen links neben ihr, der auf der zweispurigen Straße bis zu diesem Moment keinerlei derartige Anstalten gemacht hatte, wechselte plötzlich in ihre Spur. Schauer musste recht heftig bremsen, beherrschte den Drang, mit der Faust auf die Hupe zu schlagen.
«Felix, was machst du? Fährst du? Wann denn, nachts? Die ganze Nacht? Alle Nächte?», fragte sie erneut. So einen hatte sie schon mal, der war auf Ecstasy gewesen, ist in drei Tagen einmal rund um Deutschland gefahren. Seine Hände hatten genauso ausgesehen. Hatte man erst nachträglich in Erfahrung gebracht, durch Überwachungsaufnahmen von Tankstellen. Der Typ selbst wusste nichts mehr davon. Hat danach in einer Minute vier Stück Torte gegessen, die seine Mutter ihm in den Knast gebracht hatte.
Bruch sah wieder seine Hände an. Und so, wie er sie ansah, lohnte sich keine weitere Frage. Er konnte sich wohl selbst keinen Reim darauf machen. Toll, toll, ganz großartig, dachte sie. Konnte kaum noch besser werden.
Er wusste, wie sehr es sie verletzte, dass er nicht sprach, aber gerade fiel es ihm schwer genug, seine Sinne zusammenzunehmen und zu atmen. Durch einen Tunnel aus Licht raste er. Noch war es ein Gefühl, als würde er fliegen. Als wäre er derjenige, der all dies erschuf. Doch er wusste, irgendwann musste es unweigerlich einen Aufprall geben.
Seine Hände waren blutig, sie schmerzten, doch es störte ihn nicht ungemein. Sie hatte recht. Er war gefahren, diese Nacht und die davor und wer weiß wie viele Nächte noch. Was ihn irritierte, war der Umstand, dass er sich nicht genau daran erinnern konnte. Wenn er versuchte, sich zu erinnern, hatte er nur immer die gleichen Bilder vor Augen, er sah nur Lichter in der Dunkelheit an sich vorbeifliegen, spürte eisigen Wind im Gesicht, als hätte er alle Fenster offen gehabt.
Als Schauer in die Straße einbog, sahen sie schon Streifenwagen, einen Transporter der Polizei, einen Rettungswagen. Ein jüngerer Uniformierter kam ihnen gleich entgegen. Bruch kannte den Mann, hatte ihn schon einige Male gesehen. Das war einer, der das Leben leichtnahm. Vielleicht nicht für immer, jedoch momentan. Seine Miene war voller ehrlicher Gefühle. Ihn mochte er nicht, das zeigte sein Blick, auf Schauer schien er neugierig.
Der junge Uniformierte wartete vor dem Auto, bis sie ausgestiegen waren, salutierte lässig. «Gerade haben sie den Mann weggebracht, gleich rüber in die Uniklinik. Es sieht schlecht aus, Schuss in den Brustkorb. Die hatten ihn gerade so stabil, dass sie losfahren konnten. Die Tatverdächtige wurde auch schon abgeführt.»
«Moment», Schauer hob die Hand. Bruch trat heran, sah, dass auch in ihr eine Saite anschlug, obwohl der Polizeimeister sicher viel jünger war. «Ein Schuss?»
«Pistole. Ich hab sie nicht gesehen. Kollegen sagen, es wäre eine Beretta. Ein Schuss wurde abgefeuert. Die Nachbarn haben es gehört und die Polizei gerufen.»
«Jetzt? Also heute Morgen?»
«Ja, vor einer Stunde etwa.»
«Und wer wurde abgeführt? Seine Frau?»
«Nein, eine Frau, eine junge. Die Umstände sind noch völlig unklar. Bisher gingen die Kollegen davon aus, dass sie versucht hat, in das Haus einzubrechen, der Besitzer hat sie überrascht, sie hat geschossen.»
«Das Opfer ist wie alt?», fragte Schauer weiter.
«Zweiundsechzig. Die Frau sechzehn.»
«Sechzehn? Das ist ja ein Kind!» Schauer sah Bruch an.
Ihr Geruch hatte sich verändert. Der Geruch des Uniformierten auch. Schon wandte sie sich wieder von ihm ab, Bruch war es recht. Er glaubte, noch etwas riechen zu können. Ein bekannter Duft, kaum mehr als eine Note. Nicht der Erwähnung wert. Zudem konnte er gar nicht wissen, ob der nur in seiner Einbildung existierte.
«Gehen wir rein?», fragte Schauer. Bruch stimmte mit einem Nicken zu und folgte ihr.
Das Haus war eines dieser neuartigen Eigenheime, ein Versuch, sich modern zu geben, mit Betonelementen, Glas, geformt wie eine Schachtel, davor straff organisiertes Grün. Am Eingang empfingen sie zwei Kolleginnen vom Dauerdienst, die den Tatort von den Streifenpolizisten übernommen hatten. Beide grüßten nur mit knappem Nicken. Ihre Ablehnung galt nicht nur ihm, auch von Schauer schienen sie sich ihr Bild gemacht zu haben. Sie gaben sich abgebrüht, doch unter dieser Fassade konnte er deutlich sehen, dass sie geschockt waren.
Gemeinsam betraten sie das Haus, das auch innen gleichsam teuer und geschmacklos aussah, ebenfalls viel Glas, viel Beton. Durch einen Flur gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer. Ein großer Raum, mit Parkettfußboden, einem riesigen Fenster, viel teurer Technik. Das Haus war sehr sauber. Zwar überwog der Blutgeruch, doch Bruch roch auch Putzmittel, sah keinen Staub, sah keinen Schmutz an den Fenstern, trotz des Niederschlags die letzten Wochen. Der Mann schien viel Geld für eine Reinigungsfirma auszugeben. Noch andere Noten konnte Bruch ausmachen, Essensgeruch, Duschbad, Shampoo und anderes, Menschliches.
«Der Mann wohnt anscheinend allein», erklärte eine Kollegin vom Dauerdienst, sah dabei nicht ihn an, nur Schauer, «das hier ist sein Zweitwohnsitz, er stammt aus Baden-Württemberg, ist hier Geschäftsführer einer Controlling-Firma. Sein Name ist Walter Juskat. Er ist verheiratet, seine Frau lebt aber in der Nähe von Stuttgart. Die Täterin ist ins Haus eingedrungen, hat den Mann offenbar hier im Wohnzimmer überrascht. Sie drängte ihn mit vorgehaltener Waffe in Richtung der Küche», die Kollegin zeigte auf die Wohnküche. «Dort schoss sie, vielleicht gar nicht absichtlich. Sie traf, der Mann stürzte.»