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Bruno Courrèges – Polizist, Gourmet, Sporttrainer und begehrtester Junggeselle von Saint-Denis – wird an den Tatort eines Mordes gerufen. Ein algerischer Einwanderer, dessen Kinder in der Ortschaft wohnen, ist tot aufgefunden worden. Das Opfer ist ein Kriegsveteran, Träger des Croix de Guerre, und weil das Verbrechen offenbar rassistische Hintergründe hat, werden auch nationale Polizeibehörden eingeschaltet, die Bruno von den Ermittlungen ausschließen wollen. Doch der nutzt seine Ortskenntnisse und Beziehungen, ermittelt auf eigene Faust und deckt die weit in der Vergangenheit wurzelnden Ursachen des Verbrechens auf.
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Seitenzahl: 350
Martin Walker
Bruno
Chef de police
Roman
Aus dem Englischen von
Michael Windgassen
Titel der 2008 bei Quercus, London, erschienenen Originalausgabe:
›Bruno, Chief of Police‹
Copyright © 2008 by Walker and Watson, Ltd.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Foto von Oliver Strewe (Ausschnitt)
Copyright © Oliver Strewe / Lonely Planet Images / Getty Images
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2016
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24046 7 (20. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60181 7
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[7] 1
An einem strahlenden Maimorgen, so früh, dass über der großen Flussbiegung noch Nebelreste hingen, hielt ein weißer Kleintransporter mit dunkelblauen Seitenstreifen auf der Anhöhe über dem französischen Städtchen Saint-Denis. Ein Mann stieg aus. Er ging an den Straßenrand, reckte sich und ließ die vertraute Aussicht auf sich wirken. Er war noch jung, und seine geschmeidigen, energischen Bewegungen zeugten von guter Kondition. Aber als er die Arme sinken ließ, fingerte er doch besorgt an seiner Taille herum, wo er immer zuerst Fett ansetzte – vor allem im Frühling, wenn die Rugbysaison schon zu Ende war und die Jagdzeit eben erst begann. Von seiner Uniform trug er nur das hellblaue Hemd mit Schulterklappen, gebügelt, aber ohne Krawatte, dazu schwarze Stiefel und die marineblaue Hose. Sein dichtes dunkles Haar war kurz geschnitten, die braunen Augen blickten verschmitzt, und die vollen Lippen unter dem sorgfältig gestutzten kleinen Schnauzbart lachten sichtlich gern. Auf dem Dienstabzeichen an seinem Hemd und seitlich am Kleintransporter standen die Worte ›police municipale‹. Eine ziemlich staubige Schirmmütze lag nachlässig hingeworfen auf dem Beifahrersitz.
Hinten im Wagen standen, eingekeilt zwischen einer Brechstange und einem Gewirr von Starterkabeln, ein Korb [8] mit frischen Eiern und ein zweiter mit den ersten Gartenerbsen. Außerdem waren da zwei Tennisschläger, ein Paar Rugbystiefel, Turnschuhe und eine große prall gefüllte Sporttasche, in deren Schulterriemen die Ersatzschnur einer Angelrute verheddert war. Noch weiter hinten kam auch noch ein Verbandskasten zum Vorschein, außerdem eine kleine Werkzeugkiste, eine Wolldecke sowie ein Picknickkorb mit Tellern und Gläsern, Salz- und Pfefferstreuern, einer Knoblauchknolle und einem Laguiole-Taschenmesser mit Horngriff und Korkenzieher. Unter dem Fahrersitz versteckt lag das Geschenk eines befreundeten Bauern: eine Flasche nicht ganz legal gebrannter Schnaps, aus dem der Polizist, wenn am St.-Katharinen-Tag die grünen Walnüsse geerntet wurden, seinen Privatvorrat an vin de noix ansetzen wollte. Benoît Courrèges, Polizeichef der 2900-Seelen-Gemeinde Saint-Denis, gemeinhin bekannt als Bruno, war stets auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Oder auf fast alle. Er verzichtete auf den breiten Gürtel mit Halfter samt Pistole, Handschellen und Stablampe, mit Schlüsseln, Notizbuch und all den übrigen Utensilien, mit denen sich die meisten anderen französischen Polizisten abschleppten. Ein solcher Gürtel lag auch nicht in seinem Wagen. Zwar würde sich irgendwo aus dem Durcheinander im Heck ein Paar alter Handschellen zutage fördern lassen, doch wo sich der Schlüssel dazu befand, hatte Bruno längst vergessen. Immerhin besaß er eine Stablampe, für die er schon seit Tagen neue Batterien kaufen wollte. Im Handschuhfach schließlich steckten mehrere Stifte und ein Notizbuch, das allerdings bis jetzt nur Kochrezepte enthielt sowie das Protokoll der letzten Mitgliederversammlung des [9] Tennisvereins und eine Liste mit den Namen und Telefonnummern der minimes, der Knirpse, die sich bei ihm zum Rugbytraining angemeldet hatten.
Brunos Dienstwaffe, eine ziemlich alte MAB 9mm Halbautomatik, lag im Safe seines Büros in der mairie und wurde nur einmal im Jahr zum Schießtraining auf dem Polizeischießstand in Périgueux herausgeholt. In seinen acht Jahren bei der police municipale hatte er sie genau dreimal im Einsatz getragen: das erste Mal, als in der Nachbargemeinde ein tollwütiger Hund gesichtet und die gesamte Polizei in Alarmbereitschaft versetzt worden war; das zweite Mal, als der französische Präsident auf dem Weg zu den berühmten Höhlenmalereien von Lascaux über Saint-Denis gefahren war, um seinen alten Freund Gérard Mangin zu begrüßen, den Bürgermeister und somit Brunos Vorgesetzten. Mit seiner Pistole bewaffnet hatte Bruno vor der mairie Wache gestanden, dem Staatsoberhaupt einen zackigen Gruß entrichtet und sich mit dessen sehr viel schwerer bewaffneten Bodyguards unterhalten, wobei sich herausstellte, dass er einen von ihnen aus seiner Armeezeit kannte. Seinen dritten Einsatz mit der Waffe hatte ein boxendes Känguru erzwungen, das aus einem Zirkus ausgerissen war und die Gegend unsicher gemacht hatte … doch das war eine andere Geschichte. Nie hatte Bruno im Dienst tatsächlich schießen müssen, und darauf war er insgeheim sehr stolz. Während der Jagdsaison zog er allerdings wie die meisten anderen Männer (und nicht wenige Frauen) der Gemeinde von Saint-Denis fast täglich mit der Flinte los – und wenn er nicht gerade der notorisch scheuen, aber besonders schmackhaften bécasse nachpirschte, traf er in der Regel auch.
[10] Bruno schaute zufrieden auf seine Stadt hinab, und wie so oft verweilte sein Blick zunächst auf dem glitzernden Lichtspiel der Sonne in den Strudeln der Vézère vor den alten steinernen Brückenbögen, wanderte weiter zum hell blinkenden Wetterhahn auf dem Kirchturm, dann zu dem Adler über dem Kriegerdenkmal, wo er sich heute Punkt zwölf zu einer Gedenkveranstaltung einfinden musste, und dann hinüber auf die reflektierenden Windschutzscheiben und Chromteile der Autos und Wohnwagen auf dem Parkplatz hinter dem Krankenhaus.
Allmählich kam Leben in das friedliche Bild. Die ersten Gäste steuerten auf Fauquets Café zu, und selbst von der fernen Anhöhe aus hörte Bruno das Metallrollo klappern, das vor Lespinasse’ tabac hochgezogen wurde, wo man außer Zigaretten auch Angelzeug, Waffen und Munition kaufen konnte. Ein nicht gerade gesundheitsförderndes Sortiment, dachte Bruno.
Auch ohne hinsehen zu müssen, wusste Bruno, dass Madame Lespinasse jetzt den Laden öffnete und sich ihr Mann als erster Gast im Café ein kleines Glas Weißwein genehmigte, dem er im Laufe des Tages noch viele für den angenehmen Dauerrausch folgen lassen würde. Bruno wusste auch, dass bei Fauquet wie immer die gleiche Runde alter Herren beieinanderhockte. Sie studierten Listen der Sportwetten und schlürften ihren ersten petit blanc, während die Mitarbeiter der mairie an ihren Croissants knabberten, Kaffee tranken und die Schlagzeilen der aktuellen Ausgabe der Sud-Ouest lasen. Er wusste, dass Schuster Bachelot bei Fauquet an seinem Morgengläschen nippte, während sein Erzfeind und Nachbar Jean-Pierre, der den Fahrradladen [11] führte, sein Tagwerk in Ivans Café de la Libération begann. Ihre Feindschaft ging auf die Tage der Résistance zurück, als der eine einer kommunistischen Gruppe und der andere der Armée secrète von de Gaulle angehört hatte. Bruno erinnerte sich nicht mehr, wer welchem Lager zuzuordnen war. Er wusste nur, dass die beiden seit dem Krieg kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt hatten und das Gleiche von ihren Angehörigen verlangten, denen sie allenfalls ein frostiges bonjour erlaubten. Außerdem wurde gemunkelt, dass beide Männer seit Jahren heimlich und unbeirrt versuchten, die Ehefrau des anderen zu verführen. Der Bürgermeister hatte Bruno einmal bei einem Glas Wein anvertraut, er sei überzeugt davon, dass beide, Bachelot wie auch Jean-Pierre, ihr Ziel erreicht hätten. Bruno war allerdings lange genug Polizist, um den meisten Gerüchten über Seitensprünge zu misstrauen, und als jemand, der in delikaten Dingen selbst streng auf Verschwiegenheit achtete, räumte er anderen dasselbe Recht auf Diskretion ein.
All diese kleinen Eigenheiten von Saint-Denis waren Bruno so vertraut wie seine eigenen morgendlichen Routinen: seine von Radio Périgord begleitete Frühgymnastik, das Duschbad mit Spezialshampoos zur Vorbeugung gegen Haarausfall und der nach grünen Äpfeln duftenden Seife, dann das Hühnerfüttern, während der Kaffee kochte, und schließlich das gemeinsame Frühstück mit seinem Hund Gigi – getoastete Baguettescheiben vom Vortag.
Bruno blickte zu den Höhlen in den Kalksteinfelsen jenseits des kleinen Wasserlaufs, der vor der Stadt in die Vézère mündete. Diese unheimlichen Höhlen mit ihren uralten Zeichnungen und Gemälden lockten Wissenschaftler und [12] Touristen aus aller Welt in dieses Tal, vom Verkehrsamt als ›Wiege der Menschheit‹ bezeichnet, weil es angeblich der am längsten kontinuierlich bewohnte Kulturraum Europas war. Hier lebten Menschen seit 40000 Jahren; Eiszeiten und Hitzeperioden, Überflutungen, Kriege und Hungersnöte hatten sie nicht vertreiben können. Bruno verstand die Verbundenheit mit diesem Ort, obwohl er sich vorstellen konnte, dass es auch anderswo sehenswerte Höhlen mit einzigartigen Felszeichnungen gab.
Unten am Flussufer sah er die verrückte Engländerin, die nach ihrem allmorgendlichen Ausritt ihr Pferd tränkte. Wie immer war sie äußerst sorgfältig gekleidet, trug blank polierte schwarze Stiefel, eine beigefarbene Reithose und ein schwarzes Jackett. Unter der schwarzen Reitkappe wucherte rotbraunes Haar wie ein Fuchsschwanz hervor. Bruno fragte sich, warum sie bei allen die verrückte Engländerin hieß. Auf ihn machte sie einen ganz und gar vernünftigen Eindruck, und ihr kleines Gästehaus schien sie ebenfalls bestens zu führen. Sogar ihr Französisch war durchaus verständlich, was von dem der wenigsten anderen Engländer, die sich hier niedergelassen hatten, behauptet werden konnte. Er schaute auf die Straße, die dem Flusslauf folgte, sah die ersten Bauern mit ihren Lastwagen zum Wochenmarkt fahren und fand, dass es allmählich Zeit wurde, seinen Dienst anzutreten. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die ihm vertraute Nummer des Bahnhofshotels.
»Sind sie bei dir aufgekreuzt, Marie?«, fragte er. »Sie waren gestern auf dem Markt von Saint-Alvère, müssten also in der Gegend sein.«
»Nein, Bruno. Hier waren nur die Jungs vom [13] Museumsprojekt und ein spanischer Lastwagenfahrer«, antwortete die Wirtin. »Weißt du noch? Als sie das letzte Mal hier waren und nichts gefunden haben, wollten sie sich in Périgueux ein Auto mieten, um dich damit von ihrer Spur abzubringen. Verdammte Gestapo.«
Bruno spielte mit den EU-Inspektoren, die auf den französischen Märkten die Hygieneverordnungen für Lebensmittel durchzusetzen versuchten, ein Katz-und-Maus-Spiel; er fühlte sich in erster Linie seiner Gemeinde, ihrem Markt und Bürgermeister verpflichtet, weniger den geschriebenen Gesetzen Frankreichs, zumal wenn diese tatsächlich aus Brüssel stammten. Gegen Hygiene war zwar nichts einzuwenden, aber die Bauern der Gemeinde von Saint-Denis stellten ihre pâté de foie gras und ihre rillettes de porc schon seit Jahrhunderten her, und dass ihnen irgendwelche fremden Bürokraten vorschrieben, unter welchen Bedingungen sie ihre Gänseleberpastete und ihren durch langes Schmoren und Rühren von Fleisch- und Fettresten des Schweins gewonnenen Brotaufstrich verkaufen durften, passte ihnen überhaupt nicht. Also hatte Bruno zusammen mit anderen Mitgliedern der regionalen police municipale ein komplexes Frühwarnsystem entwickelt, um die Markthändler rechtzeitig alarmieren zu können, wenn Kontrollen zu erwarten waren.
Die Inspektoren – in einer Gegend Frankreichs, die der deutschen Besatzung entschieden Widerstand geleistet hatte, gemeinhin Gestapo genannt – waren zu ihrem ersten Kontrollbesuch in einem Auto mit roten belgischen Nummernschildern auf den Märkten des Périgord aufgekreuzt. Beim zweiten Besuch, vor dem Bruno gewarnt hatte, waren [14] alle vier Reifen plattgestochen worden. Daraufhin kamen sie in einem Auto aus Paris mit den Endziffern 75 auf dem Kennzeichen. Aber auch sie bekamen es mit der Résistance zu tun, und Bruno fürchtete schon, dass die Gegenmaßnahmen vor Ort außer Kontrolle geraten könnten. Er ahnte sehr wohl, wer für die platten Reifen verantwortlich war, und hatte mit ein paar mahnenden Worten unter vier Augen die Wogen zu glätten versucht. Gewaltakte waren überflüssig, solange das hiesige Frühwarnsystem gewährleisten konnte, dass die nicht EU-konformen Waren von den Märkten verschwunden waren, bis die Inspektoren eintrafen. In der Folgezeit änderten die Inspektoren ihre Taktik. Sie kamen mit dem Zug und quartierten sich in den jeweiligen Bahnhofshotels ein. Doch sie wurden von den Hotelbetreibern auf den ersten Blick erkannt, und die hatten alle jede Menge Cousins und Zulieferer, die crottins aus Ziegenkäse und foie gras herstellten, Marmeladen und Speiseöle, gewürzt mit Walnüssen oder Trüffeln, Butter und Joghurt, pâtés und mousses und confits, dank deren das Périgord als das Herzstück der gastronomischen Kultur Frankreichs galt – zumindest für Lokalpatrioten wie Bruno und seinen einzigen Vorgesetzten, den Bürgermeister von Saint-Denis, sowie alle gewählten Ratsmitglieder der Gemeinde und selbst für Montsouris, den Kommunisten. Bruno verstand es deshalb auch als seinen amtlichen Auftrag, Nachbarn und Freunde vor den Idioten aus Brüssel in Schutz zu nehmen, die sich unter gutem Essen allenfalls Miesmuscheln und Pommes frites vorstellen konnten und dann auch noch edle Kartoffeln mit Fertigmayonnaise verhunzten.
Jetzt versuchten es die Inspektoren also mit einer neuen [15] Finte: Sie inszenierten ihren Überfall mit einem vor Ort gemieteten Auto, um nicht aufzufallen und später mit intakten Reifen wieder verschwinden zu können. Gestern war es ihnen in Saint-Alvère tatsächlich gelungen, vier Strafprotokolle auszustellen. Auf dem Markt von Saint-Denis aber, mit seiner fast 700-jährigen Tradition, würden sie keinen Erfolg haben, nicht wenn Bruno seine Leute schützen konnte.
Er warf einen letzten Blick auf den kleinen ihm anvertrauten Winkel des Paradieses, atmete seine Heimatluft tief ein und wappnete sich für den Tag.
[16] 2
Bruno hatte zwar nie mitgezählt, aber an Markttagen küsste er an die hundert Frauen auf die Wange und schüttelte ebenso vielen Männern die Hand. Als Erste küsste er an diesem Morgen die dicke Jeanne, wie sie von den Schulkindern genannt wurde. Nur in Frankreich, einem Land, das für die Rätsel der Weiblichkeit besonders aufgeschlossen ist, gibt es den beispiellosen Begriff der jolie laide – der »hübschen Hässlichen« –, der eine wenig ansehnliche Frau beschreibt, die sich in ihrer Haut aber so wohl fühlt und so viel gute Laune ausstrahlt, dass sie dadurch hübsch und liebenswert wird. Die dicke Jeanne war eine solche jolie laide, Anfang fünfzig und nahezu kugelrund. Die alte braune Ledertasche, in der sie die bescheidenen Standgebühren von den Händlern auf dem Markt von Saint-Denis einsammelte, prallte mit Wucht gegen Brunos Schenkel, als Jeanne mit einem freudigen Quieklaut herumwirbelte, um ihm zur Begrüßung die Wange hinzuhalten. Anschließend steckte sie ihm eine frische Erdbeere von Madame Verniets Stand in den Mund, wofür der chef de police sich bei der schelmisch grinsenden alten Witwe mit einem Kuss auf beide runzeligen Wangen bedankte.
»Das sind Fotos der Inspektoren, die Louis gestern in Saint-Alvère aufgenommen hat«, sagte Bruno und zog aus [17] seiner Brusttasche ein paar Ausdrucke, die er am Vorabend bei seinem Kollegen abgeholt hatte. Er hätte die Bilder auch an den Computer der mairie mailen können, doch vorsichtig, wie er war, wollte Bruno nicht riskieren, dass er auf seinem heimlichen Feldzug gegen die Brüsseler Inspektoren elektronische Spuren hinterließ.
»Wenn du einen von ihnen siehst, ruf mich an. Und verteil bitte die Abzüge hier an Ivan im Café, Jeannot im Bistro und an Yvette im tabac. Und wenn du schon mal dort bist, könntest du auch gleich die Händler hinter der Kirche warnen. Ich werde den anderen vor der Brücke Bescheid sagen.«
Seit 1346, als nach der Schlacht von Crécy die Hälfte des französischen Adels von den Engländern gefangen genommen worden war und die gräfliche Familie Brillamont ihr Oberhaupt mit geliehenem Geld hatte freikaufen müssen, wurde in der kleinen Périgord-Gemeinde Saint-Denis jeden Dienstag Markt abgehalten. Dieses Privileg hatte die Stadtbevölkerung durch Zahlung der stattlichen Summe von fünfzig Livre in Silber an den Feudalherrn erworben, um sich den Vorteil der günstigen Stadtlage an der Mündung des kleinen Flüsschens Le Mauzens in die Vézère zu sichern, wo noch die Ruinen der alten Römerbrücke aus dem Wasser ragten. Elf Jahre später waren die unterlegenen Edelmänner und Ritter Frankreichs erneut auf ihren schweren Streitrössern gegen die englischen Langbogenschützen in den Krieg gezogen – und viele waren dabei gefallen. Nach der Schlacht von Poitiers hatte der Seigneur de Brillamont abermals von den siegreichen Engländern freigekauft werden müssen. Inzwischen aber war durch [18] Marktsteuern so viel Geld zusammengekommen, dass die alte Römerbrücke provisorisch repariert werden konnte. Und für weitere fünfzig Livre erwarb die Stadt von den Brillamonts das Recht, auf der Brücke Zollgebühren zu erheben. Die Einkünfte der Stadt waren damit auf Dauer gesichert.
In der Folgezeit hatten sich französische Bauern, Zolleintreiber und Vertreter der Staatsmacht wiederholt kleine bis größere Kämpfe geliefert. Der jüngste Ärger mit den Inspektoren (Franzosen, die ihre Befehle aus Brüssel entgegennahmen!) war nur der vorläufig letzte Höhepunkt in einem endlosen Streit. Wären die neuen Gesetze und Verordnungen in Frankreich ausgeheckt worden, hätte Bruno sie wahrscheinlich nicht so beharrlich und lustvoll zu durchkreuzen versucht. Aber dem war nicht so. Sie stammten aus Brüssel, von der fernen Europäischen Union, die jungen Dänen, Portugiesen und Iren genau wie Franzosen gestattete, während des Sommers auf den hiesigen Campingplätzen und in der Gastronomie Geld zu verdienen. Aber die Bauern der Gegend – allesamt Brunos Freunde und Nachbarn – hatten ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und was sie auf dem Markt verdienten, reichte nicht einmal für die Bezahlung der Ordnungsstrafen, die die Inspektoren verhängten.
Es gab nicht mehr viele, die gewarnt werden mussten. Auf dem Markt machten sich immer mehr Ortsfremde breit, die Kleider verkauften, Jeans und Stoffe, billige Pullover, T-Shirts und Secondhandklamotten. Da waren zum Beispiel zwei pechschwarze Senegalesen mit ihrem Angebot aus bunten Kittelhemden, Ledergürteln und Taschen gleich [19] neben einem ansässigen Töpferehepaar mit seiner Keramik. An einem Stand gab es Brot aus biologisch angebautem Getreide, und mehrere einheimische Winzer verkauften ihren Bergerac und den süßen Dessertwein Monbazillac, den der himmlische Vater in seiner unendlichen Güte als idealen Begleiter für foie gras geschaffen hatte. Da waren ein Scherenschleifer und Kesselflicker, Diem, der Vietnamese mit seinen Nems, und Jules, der mit Nüssen und Oliven handelte, während seine Frau in einer riesigen Pfanne Paella kochte. Wer Obst und Gemüse, Kräuter und Tomatensetzlinge verkaufte, blieb von den Männern aus Brüssel – noch – verschont.
Aber all diejenigen, die Käse oder pâté aus eigener Produktion zum Kauf anboten oder Geflügel, das im Hinterhof mit dem Beil auf einem alten Hauklotz geköpft worden war anstatt in einem weiß gefliesten Schlachthaus von Männern in weißen Kitteln und mit Haarnetzen – sie alle musste Bruno rechtzeitig warnen. Er half dann den älteren Frauen, ihre Stände abzuräumen, die frisch gerupften Hühner einzusacken und sie im nahe gelegenen Büro von Patricks Fahrschule in Sicherheit zu bringen. Die reicheren Bauern, die sich mobile Kühlschränke leisten konnten, erklärten sich immer spontan bereit, die nicht ganz legal hergestellten Käsespezialitäten von tante Marie und grand-mère Colette zwischen der eigenen Ware zu verstecken. Auf dem Markt waren alle miteinander verschworen.
Brunos Handy piepte. »Die Mistkerle sind hier«, sagte Jeanne in einer Stimmlage, die sie wohl für ein Flüstern hielt. »Sie parken vor der Bank. Marie-Louise hat sie auf dem Foto wiedererkannt, das ich Ivan gegeben habe. Sie [20] war da, um ihren petit café zu trinken, und hat’s gesehen. Sie ist sich sicher, dass sie es sind.«
»Hat sie auch deren Auto gesehen?«, fragte Bruno.
»Einen silbernen Renault Laguna, ziemlich neu«, antwortete Jeanne und nannte die Zulassungsnummer. Interessant, dachte Bruno, ein Kennzeichen aus dem Département Corrèze. Anscheinend waren die Herren mit dem Zug nach Brive gefahren und dort, also jenseits der Départementgrenze, in den Wagen umgestiegen. Offenbar wussten sie inzwischen, dass sie es hier im Périgord mit einem gut organisierten Netzwerk aus einheimischen Spionen zu tun hatten. Bruno ging über die Fußgängerzone auf den Platz vor der alten Steinbrücke. Um zum Markt zu gelangen, würden die Inspektoren an ihm vorbeikommen müssen. Er hatte bereits seine Kollegen der benachbarten Marktflecken angerufen und ihnen gesagt, auf welches Auto mit welchem Kennzeichen sie achten mussten. Damit hatte er seine Pflicht erfüllt. Nein, noch nicht ganz. Die Händler waren gewarnt, aber nun galt es, sie vor sich selbst in Schutz zu nehmen.
Also rief er den alten Jo an, seinen Vorgänger, der vierzig Jahre lang in Saint-Denis Polizist gewesen war und nun seine Zeit damit zubrachte, sich auf den hiesigen Märkten herumzutreiben und bei Gelegenheit Arbeitskleidung und Schürzen in Übergröße aus seinem Lieferwagen an das Landvolk zu verhökern. Vor allem aber ging es ihm darum, mit Sportsfreunden aus seiner Zeit als Rugbyspieler ein Gläschen Rotwein zu trinken. Er trug den kleinen roten Anstecker der légion d’honneur am Revers, der ihm schon als jungem Burschen für seine Dienste als Bote der Résistance gegen die Deutschen verliehen worden war. Bruno [21] glaubte, sicher sein zu können, dass Jo von der Reifenstecherei wusste und vielleicht sogar mitgeholfen hatte, die Anschläge zu organisieren. Jo kannte in der näheren Umgebung so gut wie jeden, natürlich auch die meisten jüngeren Rugbyspieler von Saint-Denis, die als die Schrecken der Liga gefürchtet waren.
»Folgendes, Jo«, sagte Bruno, als sich der Alte wie immer mit einem ruppigen Bellen am Telefon meldete. »Die Inspektoren haben wir im Griff. Der Markt ist sauber, und wir wissen, wer sie sind. Wir brauchen also keine Scherereien, die alles nur schlimmer machen. Verstanden?«
»Meinst du dieses Auto, das vor der Bank parkt? Den silbernen Laguna?«, fragte Jo mit seiner tiefen, von jahrzehntelangem Gauloises- und Weingenuss heiser gewordenen Stimme. »Ich glaube, darum kümmert sich schon jemand. Keine Sorge, mein Kleiner. Die Gestapo findet auch zu Fuß nach Hause zurück. Wie beim letzten Mal.«
»Jo, mach keinen Ärger«, mahnte Bruno, obwohl er wusste, dass er genauso gut gegen eine Wand hätte reden können. Wieso zum Teufel wusste Jo überhaupt Bescheid? Wahrscheinlich war er in Ivans Café gewesen, als Jeanne die Fotos herumgezeigt hatte. Und dass das Auto vor der Bank parkte, hatte ihm wohl Marie-Louise gesteckt, die in der Bank arbeitete und mit Jos Neffen verheiratet war. »Und Ärger wird’s geben, wenn wir nicht vorsichtig sind«, fuhr Bruno fort. »Tu bitte nichts, was mich zwingen würde, in Aktion zu treten.«
Bruno klappte sein Handy zu und hielt wieder Ausschau nach den Inspektoren. Von den Leuten, die über die Brücke kamen, kannte er die meisten. Plötzlich tauchte der alte [22] verbeulte Renault Twingo auf, mit dem die örtliche Gendarmerie Zivilstreife fuhr. Am Steuer saß der neue capitaine, den Bruno bislang noch nicht persönlich kennengelernt hatte, ein mürrischer dünner Kerl mit Namen Duroc, von dem es hieß, dass er aus der Normandie stammte und seinen Dienst stur nach Vorschrift machte. Beunruhigt meldete sich Bruno wieder bei Jo.
»Blas alles ab, sofort«, drängte Bruno. »Sie werden auf ihre Reifen diesmal besser aufpassen. Soeben ist der neue Hauptmann der Gendarmerie in Zivil hier vorbeigekommen. Sieht so aus, als würden unsere Freunde ihr Auto bewachen lassen. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Merde«, knurrte Jo. »Klar, damit hätten wir rechnen müssen, aber jetzt ist es zu spät. Ich habe Karim in der Bar Bescheid gegeben, und der wollte die Sache unbedingt selbst in die Hand nehmen. Hoffentlich erwische ich ihn noch und kann ihn zurückpfeifen.«
Bruno rief im Café des Sports an, das von Karim und seiner hübschen und hochschwangeren Frau Rashida geführt wurde. Karim war bereits aufgebrochen und hatte, wie Rashida vermutete, sein Handy nicht mitgenommen. Idiot, fluchte Bruno im Stillen. Eilig überquerte er die schmale Brücke und steuerte auf den großen Parkplatz vor der Bank zu, um Karim abzufangen.
Bruno kannte Karim, seit dieser vor rund zehn Jahren als Teenager in die Stadt gekommen war, ein schwergewichtiger, düster dreinblickender Araber, entschlossen, jedem jungen Franzosen »eins auf den Deckel zu geben«, der es wagte, ihn zu provozieren. Bruno wusste, wie er mit jungen Männern seines Schlages umgehen musste, und hatte ihm [23] mit der Zeit beigebracht, seine Ressentiments auf dem Rugbyfeld abzureagieren. Er trainierte ihn zweimal pro Woche, ließ ihn jeden Samstag zum Match antreten, spielte im Sommer mit ihm Tennis und versuchte zu verhindern, dass er in Schlägereien geriet. Er hatte ihm einen Stammplatz in der Schulmannschaft verschafft, dann im Team von Saint-Denis und schließlich in einem Ligaverein, wo der junge Riese so viel Geld verdiente, dass er seine Rashida heiraten und das Café kaufen konnte. Bruno hatte bei ihrer Hochzeit die Tischrede gehalten.
Was für ein Idiot! Falls Karim jetzt Dummheiten machte, würde er sich verdammt großen Ärger einhandeln. Es stand zu befürchten, dass die Inspektoren über ihren Vorgesetzten Druck auf den Präfekten ausübten, der die police nationale oder vielleicht sogar das Verteidigungsministerium einschalten würde. Die Gendarmerie müsste anrücken und würde Karim in die Mangel nehmen, dann sähe es für ihn zappenduster aus. Mutwillige Beschädigung öffentlichen Eigentums – unter Anklage gestellt, würde Karim seine Lizenz für den Verkauf von Tabak verlieren und seinen Laden dichtmachen können. Er selbst würde vielleicht jede Aussage verweigern, nicht aber Rashida, die sich um ihr Kind Sorgen machte und dem Druck nicht standhalten könnte. Wenn sie aussagen würde, ginge es auch dem alten Jo und dem Rest der Rugbymannschaft an den Kragen, und über kurz oder lang wäre das sorgfältig geknüpfte Netzwerk der friedlichen Gemeinde von Saint-Denis aufgelöst. Das konnte Bruno nicht zulassen.
Vorsichtshalber verlangsamte Bruno seinen Schritt, als er vor der Tafel für amtliche Mitteilungen um die Ecke bog, [24] das Kriegerdenkmal passierte und an den parkenden Autos vorbeiging, die wie bunte Soldaten vor der Bank Crédit Agricole Wache standen. Er suchte nach dem Twingo der Gendarmerie und entdeckte Duroc in der Warteschlange vor dem Geldautomaten der Bank. Ein paar Schritt hinter ihm stand Karim, der sich mit Colette von der chemischen Reinigung unterhielt. Erleichtert ging Bruno auf ihn zu.
»Karim«, sagte er und beeilte sich hinzuzufügen: »Bonjour, Colette.« Er gab ihr einen Kuss auf beide Wangen und wandte sich dann wieder Karim zu: »Ich muss mit dir über die Aufstellung für das Sonntagsspiel sprechen. Es dauert nicht lange.« Damit fasste er den großen Araber am Ellbogen, verabschiedete sich von Colette und führte ihn in Richtung Brücke.
»Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Vermutlich wird das Auto observiert. Es könnte sogar sein, dass irgendjemand der Gendarmerie einen Tipp gegeben hat«, erklärte Bruno. Karim blieb stehen und grinste.
»Daran habe ich selbst schon gedacht, Bruno. Der neue capitaine steht dort drüben in der Schlange vor dem Automaten und schaut sich ständig um. Also habe ich Abstand gehalten und abgewartet. Sei’s drum, es hat auch so geklappt.«
»Was? Du hast doch nicht etwa in Durocs Beisein die Reifen zerstochen?« Bruno war entsetzt.
»Natürlich nicht!« Karim grinste. »Ich habe meinen kleinen Neffen und seine Freunde eingespannt. Sie sind angeschlichen und haben eine Kartoffel in den Auspuff gepfropft, während ich mit Colette geplaudert habe. Der Karren macht’s nicht mehr weit.«
[25] 3
Als Punkt zwölf die Sirene losheulte, stand Bruno in Habtachtstellung vor der mairie und fragte sich, ob mit demselben schrillen Laut, der den ganzen Ort beschallte, auch vor dem Einmarsch der Deutschen gewarnt worden war. Bilder aus alten Wochenschauen gingen ihm durch den Kopf: Stukas im Steilflug, Menschenscharen, die Hals über Kopf in Luftschutzbunkern Zuflucht suchten, die Wehrmacht, wie sie 1940 im Stechschritt durch den Arc de Triomphe und über die Champs-Élysées marschierte. Aber heute war der 8. Mai, der Tag, an dem Frankreich seinen Sieg-in-letzter-Minute feierte, und obwohl manche meinten, dass eine solche Feier altmodisch und in einem vereinten Europa unangebracht sei, erinnerte man sich in Saint-Denis an die Befreiung wie jedes Jahr mit einer Parade der ehrwürdigen Veteranen.
Bruno hatte die Verbotsschilder aufgestellt, um die Straße frei zu halten, und dafür gesorgt, dass die Blumenkränze rechtzeitig geliefert wurden. Er hatte seine Krawatte umgebunden, die Schuhe geputzt und den Mützenschirm poliert, den alten Männern in beiden Cafés Bescheid gesagt, dass es bald an der Zeit sei, und die Fahnen aus dem Keller der mairie geholt. Der Bürgermeister hatte schon seine Schärpe umgelegt und die kleine rote Rosette der légion d’honneur[26] ans Revers geheftet, und während die Gendarmen den Verkehr umleiteten, fragten Hausfrauen mit schweren Einkaufstaschen verärgert, wann sie endlich die Hauptstraße überqueren könnten.
Jean-Pierre, der Inhaber des Fahrradladens, trug die Trikolore, Schuster Bachelot die Fahne mit dem Lothringer Kreuz, dem Symbol der Exilregierung unter de Gaulle und des Freien Frankreich. Die alte Marie-Louise, die als junges Mädchen Kurierdienste für eine der Widerstandsgruppen geleistet und das Konzentrationslager von Ravensbrück überlebt hatte, trug das Banner von Saint-Denis. Für die kommunistische Ratsfraktion schwenkte Montsouris eine kleine Fahne der Sowjetunion, während der alte Monsieur Jackson den Union Jack, die Fahne seines Heimatlandes, hochhalten durfte – eine Geste, für die sich Bruno persönlich stark gemacht hatte. Monsieur Jackson war nach seiner Pensionierung vom Schuldienst nach Saint-Denis gezogen, um bei seiner Tochter und ihrem Mann Pascal von der örtlichen Versicherungsagentur zu wohnen. Als Achtzehnjähriger war Monsieur Jackson 1945 in den letzten Kriegswochen eingezogen worden, weshalb er nun als Kampfgenosse ein Anrecht darauf hatte, an der Siegesparade teilzunehmen. Eines Tages, dachte Bruno, würde er auch einen waschechten Amerikaner ausfindig machen, doch in diesem Jahr sollte noch Karim als Star des Rugbyteams das Sternenbanner tragen.
Auf ein Zeichen des Bürgermeisters legte die Blaskapelle der Stadt mit der Marseillaise los. Bruno und die Gendarmen salutierten, als Jean-Pierre die französische Fahne hisste. Die kleine Prozession setzte sich in Bewegung und [27] marschierte über die Brücke, gefolgt von einer Dreierreihe aus denjenigen Männern, die in der Nachkriegszeit ihren Militärdienst abgeleistet hatten und es als eine ehrenvolle Pflicht ansahen, an der Parade teilzunehmen. Ihnen folgten die Angehörigen von jung bis alt, und Bruno bemerkte, dass auch Karims Familie gekommen war, um ihren Fahnenträger zu sehen. Den Abschluss bildete eine Schar kleiner Jungen, die mit piepsigen Stimmen die Hymne trällerten. Nach der Brücke ging es nach links, entlang dem Fluss und über den Parkplatz hin zum Kriegerdenkmal, einem bronzenen Soldatenstandbild, das an den Ersten Weltkrieg erinnerte, den die Franzosen la Grande Guerre, den Großen Krieg, nennen. In den Sockel des Denkmals waren auf drei Seiten die Namen der gefallenen Söhne von Saint-Denis eingemeißelt. Die Bronze war mit den Jahren dunkel geworden, aber der große Siegesadler, der mit ausgebreiteten Flügeln auf der Schulter des Soldaten hockte, leuchtete in frisch poliertem Gold. Dafür hatte der Bürgermeister gesorgt. Die vierte Seite des Sockels bot genügend Platz für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs wie auch der späteren Kämpfe in Indochina und Algerien, und bei den jüngsten Einsätzen auf dem Balkan, an denen auch Bruno hatte teilnehmen müssen, war glücklicherweise niemand aus Saint-Denis umgekommen. Umso mehr bestürzte es ihn, dass eine so kleine Gemeinde zwischen 1914 und 1918 über zweihundert junge Männer hatte verlieren können.
Die Schulkinder der Stadt hatten zu beiden Seiten des Denkmals Aufstellung genommen. Die ganz Kleinen aus dem Kindergarten hielten einander bei den Händen oder nuckelten am Daumen. Die etwas Größeren in Jeans und [28] T-Shirts waren noch jung genug, um sich von dem Spektakel faszinieren zu lassen, während die Teenager von der Mittelschule die Gesichter verzogen und sich darüber mokierten, dass es in ihrem neuen Europa immer noch derart antiquierte Demonstrationen nationalen Stolzes gab. Doch auch sie zollten letztlich Respekt und gedachten ihrer Großväter und Urgroßväter, deren Namen auf dem Sockel geschrieben standen, Namen, die etwas aussagten über ihre Herkunft, über die Schrecken des Krieges und darüber, welche Opfer ihr Land womöglich irgendwann wieder einmal von ihnen verlangen würde.
Möglich, dass Jean-Pierre und Bachelot seit über fünfzig Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, doch sie wussten in diesem Moment um ihre rituellen Pflichten, traten vor und senkten ihre Fahnen vor dem bronzenen Soldaten und seinem Adler. Montsouris und Marie-Louise folgten ihrem Beispiel, und auch Karim und der alte Monsieur Jackson, wenn auch ein wenig zögerlich und unsicher, was das richtige Timing anbelangte. Dann bestieg der Bürgermeister langsam das kleine Podest, das Bruno vor das Denkmal geschoben hatte, und ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
»Französinnen und Franzosen«, hob er an. »Und ihr, die Repräsentanten unserer tapferen Verbündeten. Wir sind heute zusammengekommen, um einen Tag des Sieges zu feiern, der auch zu einem Tag des Friedens wurde, den 8. Mai, der den Untergang des Nationalsozialismus markiert wie auch den Beginn der Versöhnung in Europa. Wir verdanken diesen Frieden nicht zuletzt den tapferen Söhnen von Saint-Denis, deren Namen hier eingeschrieben sind, [29] und auch den älteren Männern und Frauen, die vor euch stehen und sich der Herrschaft der Invasoren nie gebeugt haben. Wenn immer Frankreich tödlicher Gefahr ausgesetzt ist, stehen die Söhne und Töchter von Saint-Denis auf, um dem Ruf zu folgen: für Frankreich, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und für die Menschenrechte, die sich unsere Nation auf die Fahne geschrieben hat.«
Er hielt inne und nickte Sylvie von der Bäckerei zu, worauf diese ihre kleine Tochter, die den Blumenkranz trug, nach vorn schob. Das kleine Mädchen in rotem Röckchen, blauer Bluse und langen weißen Strümpfen trat zögernd auf den Bürgermeister zu, reichte ihm den Kranz und schrak zurück, als der ältere Herr sich herabbeugte, um ihr einen Kuss auf beide Wangen zu geben. Der Bürgermeister ging langsam mit dem Kranz auf das Denkmal zu, lehnte ihn an das bronzene Bein des Soldaten, trat einen Schritt zurück und rief: »Vive la France, vive la République!«
Auf dieses Stichwort hin hoben Jean-Pierre und Bachelot ihre Fahnen in die Höhe, was ihnen, schon ein wenig altersschwach, sichtlich schwerfiel, und die Kapelle stimmte die alte Widerstandshymne Le Chant des Partisans an. Tränen rollten über die Wangen der beiden alten Männer, die sich mieden wie die Pest, und die alte Marie-Louise fing so heftig zu schluchzen an, dass ihre Fahne ins Wanken geriet. Alle Kinder, selbst die Teenager, wirkten betroffen und verlegen angesichts dieser Reaktionen auf das, was die Alten erfahren hatten, für sie selbst aber völlig fremd war.
Als die Musik verklang, wurden die drei Fahnen der Alliierten, die sowjetische, britische und amerikanische, durch die Luft geschwenkt, und dann wartete Bruno mit seiner [30] Überraschung auf: der Darbietung einer kleinen Einlage, die er mit dem Bürgermeister heimlich verabredet hatte. Sie war dem alten Erzfeind England gewidmet, der über ein Jahrtausend lang Frankreich bekämpft hatte und seit einem Jahrhundert sein Verbündeter war.
Monsieur Jacksons Enkel, ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren, verließ seinen Platz in der Blaskapelle, wo er Trompete spielte, und nahm ein blitzblank poliertes Signalhorn zur Hand, das an einer roten Schärpe hing. Er trat auf das Denkmal zu, entrichtete dem Bürgermeister einen militärischen Gruß, setzte das Horn an die Lippen und spielte zur Verwunderung der verstummten Menge, die auf diese Abweichung von der zeremoniellen Routine nicht gefasst war, die ersten beiden langen, eindringlichen Töne von The Last Post, dem wohl bewegendsten aller Militärsignale. Bruno bekam feuchte Augen und sah, wie die Schultern von Monsieur Jackson und der Union Jack, den er hielt, zu zittern anfingen. Der Bürgermeister wischte sich eine Träne aus dem Auge, als die letzten glasklaren Hornklänge verhallten. Die Menge schwieg, bis der Junge das Horn absetzte, brach aber dann in einen wahren Beifallssturm aus. Karim ging auf den Jungen zu und schüttelte ihm die Hand. Sein Sternenbanner streifte kurz die britische und französische Fahne, und Bruno registrierte, dass Fotoapparate klickten.
Donnerwetter, dachte er überrascht und beschloss spontan, The Last Post zum festen Bestandteil der Jahresfeier zu machen. Und als er sich umschaute, um zu sehen, ob er ordnend eingreifen musste, weil die Menge sich jetzt zerstreute, entdeckte er den jungen Philippe Delaron, der als [31] Sportreporter für die Sud-Ouest arbeitete und gerade mit einem Notizblock in der Hand den alten Monsieur Jackson und dessen Enkel interviewte. Nun ja, eine kleine Zeitungsnotiz über einen echten britischen Verbündeten, der an der Siegesparade teilnahm, mochte durchaus nützlich sein, wo doch zurzeit so viele Engländer in der Gemeinde Häuser und Grundstücke erwarben. Vielleicht würden sie sich ja sogar mit den hohen Grundsteuern und Wasserkosten für ihre Swimmingpools abfinden.
Plötzlich fiel ihm etwas Sonderbares auf. In den vorangegangenen Jahren und bei allen Paraden – ob zum 11. November, dem Ende des Ersten Weltkriegs, zum 18. Juni, der Verkündung des Freien Frankreich durch de Gaulle, oder zum 14. Juli, wenn Frankreich seine Revolution feiert –, an all diesen Feiertagen hatten sich Jean-Pierre und Bachelot, kaum dass die Zeremonie vorüber war, grußlos voneinander abgewandt und waren einer nach dem anderen zur mairie gegangen, um ihre Fahnen zurückzubringen. Diesmal jedoch blieben sie noch lange stehen und beäugten einander. Sie sagten nichts, kommunizierten aber irgendwie. Erstaunlich, dachte Bruno, was ein Signalhorn auszurichten vermag. Wenn ich zur nächsten Parade ein paar Amerikaner gewinnen kann, werden die beiden vielleicht wieder miteinander sprechen und die Frau des jeweils anderen in Ruhe lassen.
Bruno nahm Marie-Louise, die immer noch Tränen in den Augen hatte, die Fahne ab und überquerte damit die Brücke. Dichtauf folgten der Bürgermeister, Monsieur Jackson, dessen Tochter und Enkel. Karim war mit seiner Familie schon ein Stück voraus, während Jean-Pierre und [32] Bachelot mit ihren zum Verwechseln ähnlich aussehenden Frauen die Nachhut bildeten und eisern schweigend Abstand voneinander hielten. Im Hintergrund spielte die Blaskapelle ohne ihren besten Trompeter ein Lied, das viele rührte: J’attendrai. Mit diesem Lied hatten die Französinnen 1940 ihre Männer verabschiedet, die in den Krieg zogen, ein sechswöchiges Desaster erlebten und dann für fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft gerieten. »Tag und Nacht werde ich auf deine Rückkehr warten.« Die Geschichte Frankreichs spiegelt sich in Kriegsliedern, dachte Bruno, meist traurigen, manchmal heroischen, aber immer voller Verlust.
Die Menge verlief sich – es war Mittagszeit. Manche Familien kehrten auch zur Feier des Tages in Jeannots Bistro neben der mairie ein oder in die Pizzeria jenseits der Brücke. Bruno hätte sich normalerweise mit einigen Freunden in Ivans Café getroffen und sein Tagesgericht bestellt. Bei Ivan gab es immer Steak und Pommes frites – bis auf die Zeit, als er sich in ein belgisches Mädchen vom Campingplatz verliebt und statt der Steaks Miesmuscheln serviert hatte, drei glückliche, leidenschaftliche Monate lang, bis die Angebetete schließlich nach Charleroi zurückgekehrt war. Danach hatte es wochenlang überhaupt kein Tagesgericht mehr gegeben, bis Bruno mit Ivan eines Tages losgezogen war, um sich mit ihm heillos zu betrinken.
Heute aber war ein besonderer Tag, und der Bürgermeister hatte alle, die zum Gelingen der Parade beigetragen hatten, zu einem Bankett eingeladen. Sie stiegen über die Steinstufen, die im Laufe der Jahrhunderte zur Mitte hin abgewetzt waren, ins Obergeschoss der mairie, wo sich der [33] Ratssaal befand. Der uralte lange Tisch, an dem sonst beraten wurde, zählte zu den Schmuckstücken der Stadt und war, wie es hieß, für den Speisesaal des Châteaus der Brillamont-Familie getischlert geworden, noch in jenen glücklichen Tagen, ehe der Seigneur von den Engländern gefangen genommen worden war. Bruno zählte die Gedecke – für über zwanzig Personen – und sah sich neugierig im Saal um, wer sonst noch alles eingeladen war.
Außer dem Bürgermeister und seinem Stellvertreter mit Familie waren da Jean-Pierre und Bachelot, die sich mit ihren Frauen automatisch in gegenüberliegende Winkel des Raumes zurückgezogen hatten. Zum ersten Mal waren auch Karim und seine Frau eingeladen worden. Sie unterhielten sich mit Montsouris, dem Kommunisten, und dessen Frau, einem wahren Drachen, die politisch noch weiter links stand als ihr Mann. Der alte Monsieur Jackson, Sylvie und deren Sohn tauschten Höflichkeiten mit Rollo aus, dem Rektor und Musiklehrer der Schule, der auch die Blaskapelle und den Kirchenchor leitete und Brunos Tennispartner war. Bruno hatte erwartet, mit dem neuen capitaine der Gendarmerie Bekanntschaft zu machen, doch der schien nicht gekommen zu sein. Pater Sentout, der überaus korpulente Priester der alten Kirche von Saint-Denis, der so gern Bischof werden wollte, trat schwer atmend aus dem neu gebauten Fahrstuhl. Er hatte sich die enge Kabine mit dem Baron teilen müssen, einem Respekt einflößenden pensionierten Industriellen, größtem Grundbesitzer der Gemeinde, der ein streitbarer Atheist und ebenfalls Brunos Tennispartner war.
Die dicke Jeanne vom Wochenmarkt kam mit einem [34] Tablett voller Champagnergläser, gefolgt von Claire, der Sekretärin des Bürgermeisters, die auf ihrem riesigen Tablett selbstgemachte Appetithäppchen anbot. Sie hatte mit Bruno, den sie ganz besonders gern mochte, seit Tagen über nichts anderes als ihre Häppchen gesprochen und, statt die Briefe des Bürgermeisters zu tippen, in Madame Figaro und Marie-Claire nach geeigneten Rezepten gesucht. Bruno fand das Ergebnis wenig überzeugend: mit Weichkäse bestrichener Stangensellerie, mit Anchovis gefüllte Oliven und Toastscheiben mit kleingehackten Tomaten.
»Das ist Bruschetta, eine italienische Spezialität«, erklärte Claire und sah wie immer Bruno tief in die Augen. Sie war recht hübsch, wenn auch sehr geschwätzig, doch hatte sich Bruno zur Regel gemacht, nie im beruflichen Umfeld zu flirten. Er hätte sich selbst dann zurückgehalten, wenn eine junge Juliette Binoche mit einem Job in der mairie betraut worden wäre. Trotzdem war er für Claire und ihre Mutter – wie übrigens für die meisten Mütter von Saint-Denis– der begehrteste Junggeselle der Stadt, und sie alle wachten mit eifersüchtigen Blicken darüber, dass sich keine andere junge Frau an ihn heranmachte. Bruno einzufangen war längst ein kleines Gesellschaftsspiel, Thema für mancherlei Klatsch unter den Frauen und für wohlwollende Spekulationen unter den verheirateten Männern, die Brunos Verhängnis schon besiegelt sahen, auch wenn er sich anscheinend noch tapfer dagegen wehrte. Immerhin respektierte man seine Diskretion in privaten Angelegenheiten und seine höfliche Raffinesse, mit der er die Mütter aller heiratsfähigen Töchter frustrierte und seine Freiheit behauptete.
»Köstlich«, sagte Bruno und beschränkte sich auf eine [35] einzige Olive. »Gut gemacht, Claire. Deine Mühe hat sich gelohnt.«
»Oh, Bruno«, entgegnete sie. »Findest du wirklich?«
»Die Frau Bürgermeister scheint Hunger zu haben«, sagte er und nahm sich ein Glas Champagner vom Tablett der dicken Jeanne, die wie ein großer Schoner an ihm vorbeisegelte. »Du solltest ihr mal was von deinen Leckereien anbieten.« Er führte sie zu dem hohen Fenster, vor dem der Bürgermeister mit seiner Frau stand, und bemerkte, dass sich ihm eine lang aufgeschossene düstere Gestalt von der Seite näherte.
»Bruno«, grüßte eine laute Stimme, die durchaus geeignet war, feurige Reden vor streikenden Arbeitern zu halten. »Du hast den Sieg unseres Volkes zu einer Feier der britischen Krone gemacht. Absichtlich?«
»Hallo, Yves.« Bruno schmunzelte. »Hör mir auf mit dem Quatsch vom Sieg unseres Volkes. Du und all die anderen Kommunisten, ihr würdet heute deutsch sprechen, wenn uns die Briten und Amerikaner nicht zu Hilfe gekommen wären.«
»Papperlapapp«, blaffte Montsouris. »Selbst die Briten würden deutsch sprechen, wenn es Stalin und die Rote Armee nicht gegeben hätte.«
»Ja, und wenn es nach denen gegangen wäre, würden wir russisch sprechen, und du wärst Bürgermeister.«
»Wenn schon, dann Kommissar«, erwiderte Montsouris. Ihm war selbst klar, dass er nur deshalb der Kommunistischen Partei angehörte, weil er als Eisenbahner von seiner Gewerkschaft, der CGT, dazu gedrängt worden war. Er hatte zwar ein Parteibuch und half bei allen Wahlkämpfen [36] mit, vertrat aber eine ausgesprochen konservative Politik. Manchmal fragte sich Bruno, wem Montsouris tatsächlich seine Stimme gab, wenn er, ohne seine radikale Frau im Nacken, allein und unbeobachtet in der Wahlkabine stand.
»Meine Damen und Herren«, rief der Bürgermeister. »Ich bitte zu Tisch, bevor die Suppe warm wird.«
Monsieur Jackson fing lauthals zu lachen an, verstummte aber sofort, als er bemerkte, dass niemand sonst den bemühten Scherz komisch fand. Sylvie nahm ihn beim Arm und führte ihn an seinen Platz. Brunos Tischnachbar war wie häufig bei solchen Anlässen Pater Sentout, der ihn mit einem flüchtigen Blick beehrte. Er grüßte höflich und widmete seine Aufmerksamkeit der vichyssoise, einer kalten Kartoffelsuppe.
»Haben Sie eine Erklärung dafür, dass der Bürgermeister nicht zulässt, dass ich zur Feier des Sieges ein kurzes Gebet spreche?«, fragte der Pater wie jedes Jahr.
»Vielleicht weil’s ein republikanisches Fest ist, Pater«, antwortete Bruno wohl schon zum vierzehnten Mal. »Sie kennen doch das 1905 verabschiedete Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat.«
»Aber die Mehrzahl unserer tapferen Jungs, die in den Krieg gezogen und für Gott und das Vaterland gefallen sind, waren gute Katholiken.«
»Ich hoffe, Sie haben recht, Pater«, erwiderte Bruno freundlich. »Und es müsste Ihnen doch gefallen, dass Sie zu diesem Bankett eingeladen wurden. Sie können das Tischgebet sprechen. Die meisten Bürgermeister würden nicht einmal das erlauben.«
»Ah ja, was hier aufgetischt wird, ist wahrhaftig ein [37] Genuss, verglichen mit dem Höllenfraß, den mir meine Haushälterin vorsetzt. Aber ich will nichts Schlechtes über sie sagen, sie ist eine fromme Seele und tut ihr Bestes.«
Bruno runzelte unwillkürlich die Stirn in Erinnerung an ein opulentes Mahl in der Pfarrei, mit dem der Priester kirchliche Würdenträger und auch ihn als Gast bewirtet hatte. Seine Stirn glättete sich wieder, als Jeanne seine Kartoffelsuppe wegnahm und ihm stattdessen einen Teller mit einer großzügigen Scheibe foie gras und einem Klecks ihrer selbstgemachten Zwiebelmarmelade vorsetzte. Claire schenkte ihm goldenen Monbazillac ein, von dem er wusste, dass er vom Cousin des Bürgermeisters gekeltert worden war. In den Trinksprüchen, die nun die Runde machten, wurde der junge Hornbläser lobend hervorgehoben, und bald taten der Champagner und der Monbazillac ihre magische Wirkung, worauf sich die Stimmung merklich auflockerte. Zur Forelle wurde ein trockener weißer Bergerac serviert, zum Lamm ein edler Pécharmant von 2001, und die Tischgesellschaft wurde immer vergnügter.
»Wissen Sie, ob dieser junge Araber ein Muslim ist?«, fragte Pater Sentout betont beiläufig und deutete mit seinem Glas auf Karim.
»Ich habe ihn nie gefragt«, antwortete Bruno. »Wenn ja, nimmt er’s mit seiner Religion nicht so genau. Er verneigt sich nicht nach Mekka, und vor einem großen Spiel bekreuzigt er sich, also ist er vielleicht Christ. Außerdem ist er hier geboren, ein Franzose wie Sie und ich.«
»Aber er kommt nie zur Beichte. So wenig wie Sie, Bruno. Und in der Kirche sehen wir Sie nur bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen.«
[38] »Und zur Chorprobe«, protestierte Bruno. »Und zu Weihnachten und Ostern.«
»Lenken Sie nicht ab«, sagte der Priester. »Es geht hier jetzt nicht um Sie, sondern um Karim und seine Familie.«
»Ich weiß nicht, welcher Konfession Karim angehört. Vielleicht keiner. Sein Vater ist jedenfalls Atheist. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass er Mathematik unterrichtet.«
»Kennen Sie auch den Rest der Familie?«, hakte der Priester nach.
»Ich kenne Karims Frau, seine Cousins und einige seiner Neffen, die bei den minimes spielen, und seine Nichte Fatima, die gute Chancen hat, die Tennismeisterschaft der Junioren zu gewinnen. Alles liebe Leute.«
»Und die ältere Generation?«, fragte der Priester.
Bruno hob den Blick von seinem Teller und schaute dem Priester in die Augen.
»Was soll damit sein? Ich habe den Großvater kennengelernt, bei Karims Hochzeit hier in der mairie, und es waren übrigens weder ein Priester noch ein Mullah zugegen. Versuchen Sie, mir irgendetwas zu sagen oder zu entlocken?«
»Gott bewahre«, antwortete Pater Sentout nervös. »Nein, ich habe nur zufällig den Alten getroffen. Er scheint an unserer Kirche interessiert zu sein, und darum frage ich mich … Wissen Sie, er saß ganz allein in der Kirche und hat, glaube ich, gebetet. Darum würde ich natürlich gern wissen, ob er Muslim ist oder nicht.«
»Haben Sie ihn gefragt?«
»Nein. Als ich auf ihn zugegangen bin, hatte er es plötzlich eilig wegzukommen. Seltsam. Er hat nicht einmal [39] guten Tag gesagt. Dabei hätte ich gern erfahren, ob er am Katholizismus interessiert ist.«
Bruno zuckte mit den Achseln, die religiösen Neigungen eines alten Mannes interessierten ihn nicht. In diesem Moment tippte der Bürgermeister mit einem Messer an sein Glas und stand auf, um wie gewöhnlich eine kurze Rede zu halten. Bruno hörte pflichtschuldig zu und sehnte sich nach einem Kaffee, vielleicht auch nach einem kleinen Mittagsschläfchen auf der alten Couch in seinem Büro. Er bereitete sich innerlich auf einen langweiligen Nachmittag vor, den er am Schreibtisch würde verbringen müssen.
[40] 4
Bruno bemühte sich um gute Beziehungen zur örtlichen Gendarmerie, sechs Männern und zwei Frauen, die eine kleine Polizeistation am Stadtrand hatten, gleich neben dem Mietshaus, in dem sie wohnten. Da sie mehrere Gemeinden in dem weitläufigen Landbezirk eines der größten DépartementsFrankreichs beaufsichtigten, wurde die Polizeistation von einem capitaine