Burkhard Heim - Illobrand von Ludwiger - E-Book

Burkhard Heim E-Book

Illobrand von Ludwiger

4,9

Beschreibung

Mit sechs Jahren entwirft er Raketen. Mit 13 stellt er Nitroglycerin her. Burkhard Heim ist hochbegabt. Doch dann, 1944, verliert er beide Hände Sowie Augenlicht und Gehör fast vollkommen. Zeitlebens wird er auf Hilfe angewiesen sein, doch sein Forscherdrang ist ungetrübt. Er beginnt sein Physikstudium u.a. bei Carl Friedrich von Weizsäcker. 1952 horcht die Welt auf, als Heim Einsteins Theorie weiterentwickelt und auf einem Kongress über die Möglichkeit eines Feldantriebs für die Raumfahrt spricht. Doch seine Doktorarbeit zur Feldtheorie wird am Max-Planck-Institut nicht angenommen, da er auf keine kompetenten Beurteiler stößt. Heim missachtet die Formalitäten des U niversitätsbetriebs. Weil er seine Theorien vornehmlich im Experiment beweisen will, publiziert er erst spät und wird von vielen Forschern nicht mehr wahrgenommen. Nur punktuell wird die wahre Größe der Heimschen Forschung erkannt. In seiner einheitlichen Feldtheorie zur Beschreibung der Masse der Elementarteilchen muss die Welt zwangsläufig in bis in die sechste Dimension vorstoßen und Relativitäts-, Quantentheorie und Teilchenphysik vereinen. Erst heute wird die wahre Genialität von Heims Denken langsam anerkannt – die vorliegende Biografie will dazu beitragen.

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Illobrand von Ludwiger

BURKHARD HEIM

Das Leben eines vergessenen

Genies

1. eBook-Ausgabe

© 2011 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München

Umschlaggestaltung: David Hauptmann,

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Motivs von Illobrand von Ludwiger

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub-ISBN: 978-3-942166-69-0

Inhaltsverzeichnis

Burkhards Kindheit und Schuljahre

Burkhards Erfindungen als Achtzehnjähriger: Atomrakete, Höhenraketenflugzeug und Fusionsbombe

Vom Rekruten zum Soldaten

Die Explosionskatastrophe und ihre Folgen

Flucht vor der Roten Armee

Mit eisernem Willen zurück in die Gesellschaft

Burkhard Heim als Student: die Entwicklung einer einheitlichen Quantenfeldtheorie

»Der geheimnisvollste Apparat der Bundesrepublik« 

Elektrische und elektronische Bastelarbeiten

Rettungsversuche zur Finanzierung der Laborarbeiten

Erfolglose Erfindungen und Entwicklungen

Untersuchungen von »Stimmenphänomenen« im Auftrag von Professor Hans Bender

Heims Versuche, seine Theorien in Fachzeitschriften zu publizieren

Heims fatale Fehlentscheidung und ihre Konsequenzen

Die Planung des Rotationsexperiments

Wenn Kritiker Ungelesenes bewerten

Burkhard Heims letzte körperliche Leiden

Epilog

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

KAPITEL 1

Burkhards Kindheit und Schuljahre

Freuden und Leiden eines hochbegabten Kindes

Burkhard Christian Ludwig Alexander Heim kam am 9. Februar 1925 gegen 22.15 Uhr in einer schwierigen Zangengeburt in Potsdam zur Welt, begrüßt von einem schrecklichen Unwetter. Die Mutter, Marie-Luise Heim, geborene Warneboldt, war vor ihrer Heirat als Schauspielerin tätig gewesen. Der Vater, Heinrich Heim, hatte eine Anstellung als Oberbeamter bei der Deutschen Bank in Berlin. Burkhard Heims Großeltern, Georg und Johanna Heim (geb. Eichner), wohnten in Rothenburg ob der Tauber.

Burkhard und seine Eltern wohnten in der Roonstraße 14 in Potsdam. Wann immer es die Urlaubszeiten zuließen, reiste Familie Heim zu Verwandten nach Northeim, Rothenburg, München oder an die Nordsee.

Marie-Luise Heims Vater war in Northeim bei Göttingen Schuldirektor. Ihre Schwester, Emmely Warneboldt, die als sogenannte Kolonialschwester in den deutschen Kolonien in Afrika gewesen war, arbeitete nun im Laboratorium eines Krankenhauses in Berlin. Heinrich Heims Mutter lebte in Rothenburg ob der Tauber, und seine Schwester war in München mit einem Konditor namens Schmidt verheiratet.

Der kleine Burkhard, »das Bübele«, war ein aufgewecktes Kerlchen, das vieles fragte und früh sprechen konnte. Am 26. August 1927 durfte er mit seinem Vater im Taxi mit zur Klinik fahren, wo die Mutter mit dem neugeborenen Schwesterchen Norgard lag, von dessen Ankunft er bereits so häufig reden gehört hatte. Er erwartete, ein kleines Mädchen mit langen Haaren zu sehen. Nun sah er ein rot angelaufenes, verschrumpeltes, quiekendes Etwas, das nicht seiner Vorstellung von einer Schwester entsprach. Schon nach kurzer Zeit wandte sich seine Aufmerksamkeit dem Kinderwagen zu, der im Zimmer stand und ihn viel mehr interessierte. Er tastete daran herum, und die Eltern wissen noch, dass der kleine Burkhard sagte: »Komischer Klapperatismus!«

Von seiner Tante lernte er, aus welchen Organen der menschliche Körper besteht und wozu sie da sind. Er lernte auch, wo das Gehirn im Kopf sitzt und dass man damit denkt. »Wenn man denkt,« fragt er Tante Emmely, »kann man dabei auch schlafen?« »Nein. Wenn man schläft, dann hat das Hirn Ruhe. Dann träumt es vielleicht.« »Aber wenn ich nicht denke, wer träumt dann in meinem Kopf?« Burkhard fragte immer so lange, bis der Befragte an seine Wissensgrenzen kam.

Manchmal saß er nur da, ohne zu spielen, und schien nachzudenken. Seine Mutter erinnert sich: »Oft haben wir gedacht, es fehlt ihm was, weil er so gar nicht wie andere Kinder ist, die in diesem Alter ausgelassen miteinander spielen. Aber dann, wenn er Lust hatte, konnte es passieren, dass er ganz unvermittelt die seltsamsten Fragen stellte.«

Der Vater von Tante Emmely, Großvater Warneboldt, war Schuldirektor in Northeim, ein Lehrer im Sinne Pestalozzis, klug, belesen, geduldig, kinderlieb. Er kannte sich aus in der Natur. Man hätte ihn geradezu als einen Weisen bezeichnen können. Von ihm lernte Burkhard die Namen der Pflanzen, Vögel und Insekten. Als Dreijähriger machte Burkhard Spaziergänge mit seinem Großvater durch die Wälder und lernte viel von ihm, denn er war von unstillbarer Neugier und fragte nach allem, was ihn interessierte. Der Großvater erklärte ihm, wie ein Ameisenstaat funktioniert, zeigte ihm Versteinerungen und nannte deren Alter; er machte ihn darauf aufmerksam, vor welchen giftigen Pflanzen, zum Beispiel den Nachtschattengewächsen, und vor welchen Pilzen er sich hüten musste und dass grüne Beeren noch nicht reif und daher ungenießbar sind. »Warum sind grüne Beeren giftig?«, fragte er. »Weil sie voller Essigsäure sind, die ganz sauer schmeckt«, erklärte der Großvater. »Erst wenn die Sonne lange auf die Beeren scheint, verwandelt sich die Essigsäure in Zuckersäure. Die Beeren werden rot, und dann kann man sie essen.« Solche sonderbaren Umwandlungsvorgänge in der Natur begeisterten Burkhard und weckten schon früh sein Interesse an chemischen Prozessen.

Bei einem Besuch bei Oma Heim in Rothenburg o. d. T. fragte ihn diese beim Zubettbringen einmal, was er denn später werden wolle. »Pastor will ich werden!« Die Oma war entzückt und begeistert: »Warum denn das?«, wollte sie wissen. »Da kann ich ganz allein reden, und alle anderen müssen still sein. Keiner darf reden – nur ich!«

Am stärksten beeinflusste Burkhard das Buch Aus fernen Welten von Bruno Bürgel. Darin fanden sich viele Bilder berühmter Astronomen, Abbildungen von Fernrohren, vom Mond und den Planeten sowie von den Sternbildern. Seine Mutter musste ihm ständig daraus vorlesen. Und abends versuchte der Kleine, am Himmel die Sternbilder wiederzufinden, die in dem »Sternchenbuch« abgebildet waren. Dabei half ihm die Mutter, die ebenfalls ein starkes Interesse an Himmelserscheinungen hatte. Aus fernen Welten war ein populär gehaltenes Astronomiebuch für Laien mit vielen interessanten geschichtlichen Episoden, das jedem auf unterhaltsame Weise den Blick für den Kosmos öffnete. Stundenlang konnte sich Burkhard, bäuchlings auf dem Teppich liegend, die Bilder darin ansehen. In seiner Fantasie malte er sich aus, wie es wohl wäre, mit einem »Mondschiff« in die abgebildete Wüstenlandschaft auf dem Mond zu fliegen. Solche Fluggeräte müsste man doch bauen können. Das wollte er später einmal tun.

Eines Abends, im November 1929, spielte Burkhard allein im großen Flur der elterlichen Wohnung in der Frankfurter Allee in Berlin. Es waren Gäste zu Besuch, aber der Flur war nur mit einer kleinen Lampe erleuchtet. Gegen 20 Uhr etwa erschien Burkhard plötzlich aus der Wand eine Frauengestalt in ägyptischer Kleidung. Sie ging mit vorgestreckten Armen über den Flur. Ihre Füße schwebten über den Boden, und die Augen waren geschlossen wie bei einer Schlafwandlerin. Auf der Brust ihrer togaähnlichen Kleidung befand sich ein großer rostbrauner Fleck wie aus getrocknetem Blut, und als Kopfbedeckung trug sie »eine Tüte« wie Nofretete. Als Burkhard einen überraschten Schrei ausstieß, reagierte sie nicht und verschwand innerhalb von fünf bis sechs Sekunden in der gegenüberliegenden Wand, hinter der sich sein Zimmer befand. Schreiend rannte Burkhard ins Wohnzimmer mit den Gästen und schrie: »Mama, bin bange, bin bange!« Dann erzählte er hastig von der Erscheinung. Alle versuchten, ihn zu beruhigen, und niemand glaubte ihm. Wohlwollend erklärte man ihm, er hätte das alles nur geträumt oder halluziniert. Doch Burkhard ängstigte sich sehr, weil er in dem Zimmer schlafen musste, in das die Erscheinung entschwunden war. Von nun an spielte Burkhard nicht mehr auf dem Flur.

Mit der Zeit vergaß er das Erlebnis. Erst im Sommer 1935 wurde es ihm wieder bewusst, als er mit seinem Großvater in Berlin das Pergamon-Museum besuchte. In der ägyptischen Abteilung kamen sie zu einem Sarkophag, auf dem das Bildnis einer verstorbenen Prinzessin aufgemalt war. Ihr Gesicht und ihre Kleidung glichen exakt jener Gestalt, die ihm fünf Jahre zuvor in der Berliner Wohnung erschienen war. Bei der Prinzessin handelte es sich um eine der Töchter des Pharao Ramses, seit Jahrtausenden tot, und Burkhard konnte sogar ihren von den Mumienbinden befreiten, vertrockneten Körper betrachten. Nun kehrte seine Furcht zurück. Später schilderte er seinen Schock so: »Ich war den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar, habe die Nacht nicht geschlafen. Ich wurde schreckhaft und habe mich von den Spielkameraden mehr und mehr zurückgezogen. Das prägt einen! Ich fing an, Hieroglyphenzeichen nachzuzeichnen. Mich interessierte alles über Ägypten. Allmählich löste sich der Schock auf. Die 18-jährige Tochter des Ramses war ein hübsches Mädel.«

So stellte sich der sechsjährige Burkhard in seiner Zeichnung eine Rakete vor.

Burkhard begann, sich selbst das Lesen beizubringen, um wenigstens die Bildunterschriften in seinen Büchern über Ägypten und über die Sterne verstehen zu können. Als er dann 1931 in Northeim in die Schule kam, konnte er bereits etwas lesen und schreiben.

Am 8. August 1931 starb Großvater Warneboldt in Northeim. Für Burkhard war dies eine Katastrophe. Im zweiten Halbjahr 1931 musste er die Schule wechseln, weil die Eltern nach Berlin gezogen waren. Er besuchte nun in Berlin die Gemeindeschule. 1932 stand ein erneuter Wechsel an, in die Eisenhartschule, eine Volksschule in Potsdam. Die Eltern hatten sich dort in der Roonstraße, in einer Reihenhaussiedlung, ein Haus gekauft.

Die häufigen Veränderungen taten Burkhards schulischen Leistungen nicht gut. Dennoch war er in der zweiten Klasse noch ein passabler Schüler. Dann allerdings störte es ihn, dass die Lehrer ihm Vorschriften machten, was er zu lernen hätte. Er beschäftigte sich nur mit Dingen, die ihn persönlich interessierten. Wie alle Schüler, so wurde auch er von den meisten Lehrern der damaligen Zeit nicht als vollwertiger Mensch behandelt, der trotz aller Wissensdefizite doch schon eine eigene Würde besaß. Burkhard verlangte hingegen, dass man auch ihn bereits als Persönlichkeit respektierte. Und weil die Lehrer ihm das verweigerten, widersetzte er sich ihren Befehlen. Heim resümierte später: »Meine ganze Schulzeit war ein Drama. Ich war ja erst ein ganz braver Junge. So im ersten und zweiten Schuljahr. Dann ging das unbedingt schief. Dann bin ich auf die schiefe Bahn geraten. Es war auch wieder der ständige Konflikt. Auf der einen Seite war der Vorgesetzte, den ich nicht anerkannte. Da stießen zwei Weltanschauungen hart aufeinander. In der Volksschule spitzte sich das schon ziemlich zu. Mir sagte schon ein alter Lehrer: ›Sie sind ein Widerstandskämpfer aus Passion.‹«

Auch der junge Einstein hatte ja bekanntlich ähnliche Schwierigkeiten in der Schule. Ihm kamen die deutschen Lehrer vor wie Unteroffiziere auf dem Kasernenhof, und genauso empfand es auch Burkhard: »In der damaligen Zeit wurde man mit ziemlich handfesten Methoden erzogen, die bei mir nicht viel nützten. Im Gegenteil, sie machten einen erst recht zum Rebellen. Nach preußischer Methode musste alles sehr zackig zugehen. Und ich war nun nicht zackig, und ich war auch nicht der Idealtyp des Schülers der damaligen Zeit. Denn der ideale Schüler musste doch folgendermaßen aussehen: zackiger Hitlerjugend-Führer, große Sportskanone, ein bisschen dummdreist. Das wurde als nett empfunden. Er musste gehorchen können und versprechen, ein guter Soldat zu werden. Der Intellektuelle war nicht allzu sehr gefragt. Die Jungen, die solche Interessen hatten, wurden immer als Außenseiter behandelt. Und ich war nun nichts von alledem. Ich meine, für mich wäre es gar kein Problem gewesen, geistige Leistungen hinzustellen, wenn ich in einem anderen Klima gewesen wäre. Aus Opposition tat ich nichts, obwohl ich durchaus das Talent dazu gehabt hätte.«

Als hätte er aus einem früheren Leben den Stolz eines Herrschers in seine Persönlichkeit mit übernommen, so wollte er auch jetzt von den Erwachsenen respektiert und geachtet werden. Nur das Lesen machte ihm weiterhin Spaß. Er nahm sich sein geliebtes Sternchenbuch und begann zum Erstaunen seiner Mutter versessen darin zu lesen. Er las das ganze Buch von der ersten bis zur letzten Seite durch. Dabei verstand er aber auf Anhieb nicht alles, also begann er wieder von vorn. Dass Lesen noch nicht Verstehen bedeutet, stellte er damals fest und fragte empört: »Warum verstehe ich nicht, was ich lesen kann?« Der Vater erklärte ihm den Unterschied, und Burkhard forderte: »Wenn jemand etwas schreibt, dann muss es doch verständlich sein, nicht wahr!« Er las weiter, konnte bald einige Stellen auswendig, und nach und nach entwickelte sich das Verständnis für viele astronomische Zusammenhänge.

Zu Hause lernte er Dinge, die in der Schule nicht gefordert waren. So brachte er sich beispielsweise als Achtjähriger selbst etwa 1000 chinesische Schriftzeichen bei. Als er einige Zeit später einmal mit seinen Eltern im Park Sanssouci spazieren ging, kamen sie an einen kleinen chinesischen Tempel mit einer chinesischen Inschrift. Burkhard erklärte seinen Eltern, was da geschrieben stand, doch die vorübergehenden Spaziergänger mokierten sich über den Jungen, der in ihren Augen so tat, als verstünde er Chinesisch. Die Eltern mussten den Umstehenden erklären, dass der Junge tatsächlich einige chinesische Zeichen lesen konnte. Er benutzte sie in einer abgewandelten Form für eine Geheimschrift, die er auch in der Schule praktisch anwandte: In Englisch sollten die Schüler eine Nacherzählung schreiben, und Burkhard notierte sich alles in seiner Geheimschrift auf einem Löschblatt. Von diesem Blatt übertrug er dann während der Prüfung den geforderten Text in sein Heft. Als Burkhard die Arbeit vom Englischlehrer zurückerhielt, erklärte ihm dieser, dass er so etwas bei ihm nicht wieder machen dürfe. Der Lehrer hatte seinen Trick durchschaut, weil er selbst einige Jahre in Hongkong gelebt und Chinesisch lesen gelernt hatte.

Alle technischen Geräte, vor allem Flugzeuge, hatten ihn seit jeher fasziniert. Dazu Burkhard Heim später: »Ich wollte mir sofort klarmachen, wie funktioniert das eigentlich? Jetzt ging ich aber nicht danach: Wie wird es gemacht? Sondern ich überlegte, wie würde ich es tun? Jagdpatronen interessierten mich zum Beispiel. Ich sagte mir, die gehen los, fliegen mit einer Geschwindigkeit. Wie würde ich nun eigentlich eine Patrone bauen? Auf diese Weise wurde die Fantasie sehr, sehr früh angeregt. Auch das ursächliche Nachdenken über Dinge und Zusammenhänge wurde wach gemacht. Ich hatte mich damals schon mit allen möglichen Sachen beschäftigt, wie man z. B. Munition machen muss, wie ein Ballon oder Flugzeug zu bauen ist usw.«

Die Ferien verbrachte er wieder in Northeim. Dort konstruierte er seine erste Rakete. Dazu wollte er einen ausgehöhlten Holzkeil mit Benzin antreiben. Das Benzin wiederum wollte er aus Kohle herstellen. Natürlich ging das schief.

Teile seiner Rakete kennzeichnete der achtjährige Burkhard mit einer selbst entwickelten Geheimschrift.

Für die Schule lernte Burkhard nichts. In Latein übersetzte er beispielsweise »Bellum Gallicum« mit »der schöne Gallier«. Das sagt alles! In der Quarta blieb er schließlich nicht nur wegen Latein, sondern auch wegen schlechter Kenntnisse in Mathematik und Physik sitzen und musste die Klasse wiederholen! Später (im Jahr 1957) erklärte er den Grund für sein Versagen in der Schule folgendermaßen: »Heute begreife ich, dass ich eigentlich von frühester Jugend an von dem gelebt habe, was man Information nennt. Ich muss zugeben, dass diese Art geistiger Nahrung – so wunderbar sie ist – doch auch gewisse Schattenseiten haben kann, wenn sie zu früh eingenommen wird. Der biologische Rhythmus vollzieht sich im eisernen Takt der Natur. Der Geist scheint diesem Gesetz nicht zu unterliegen. Er ist frei. Und wenn ihm Wissen in geeigneter Form angeboten wird, so nimmt er es und verarbeitet es, ohne nach dem Sinn zu fragen. Die Spannungen, die dabei entstehen, erschweren die Anpassung an die Umwelt und erzeugen falsche Einstellungen. Das ist der Schlüssel zu all den Schwierigkeiten vor und nach meinen Schuljahren. Heute verstehe ich die Sorgen meiner Eltern und so mancher guter Lehrer um mich, der sich oft so schwierig und rebellisch gebärdete. Hätte ich damals schon jenen Überblick gehabt, wie ich ihn heute besitze – vieles wäre anders gewesen! Gehorsam ist jene Druckstauung, die jeder schöpferischen Lebensleistung vorausgehen muss!«

Burkhard unglücklich als Pimpf mit zehn Jahren.

Nach Ostern 1935 kam er ins Victoria-Gymnasium in Potsdam. Seine Meinung über die Lehrer dort: »Aus den Unteroffizieren waren Leutnants geworden. Ich stellte wieder fest, dass man viele Vorgesetzte hatte, und dass man auf dem Gymnasium doch nicht das tun konnte, was man wollte.« Die ihm verhasste Bevormundung durch die Lehrer blieb dieselbe. Die Sommerferien verbrachte Burkhard am Meer. Im Herbst musste er zum Jungvolkdienst, der ihm verhasst wurde. Er war für sein Alter sehr rasch in die Höhe geschossen, und wegen Herzschwäche musste er vom Turnunterricht befreit werden. Gute sportliche Leistungen waren jedoch beim Jungvolk wichtig, und daher war klar, dass Burkhard dort bald große Schwierigkeiten bekam.

Zu Weihnachten 1936 schenkte ihm sein Vater einen Spielkasten für chemische Versuche. Burkhard richtete sich im Keller eine Laborecke mit Experimentiertisch ein, auf dem viele Chemikalien, Glaskolben und der Bunsenbrenner aufgebaut wurden. Er experimentierte viel, und bereits zu Silvester 1936/37 glaubte er, etwas Tolles erfunden zu haben. Zum Jahresanfang wollte er seinen Freunden aus der Nachbarschaft einen selbst gebastelten Feuerwerkskörper vorführen. Diesen und andere im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlichen Versuche schildert er später so: »Doch die Rakete qualmte nur und sagte gar nichts. Es war grauenvoll! Danach wurde ich natürlich die ganze Zeit gehänselt. Aber ich habe weiter meine Versuche gemacht, immer auf die Rakete abgestimmt. So manches Mal hörte man einen Mordsdonnerschlag im Keller. Das Pulver meint manchmal, es müsste auf einmal losgehen. Bloß der Rakete bekommt das nicht. Und es gibt dann ein militärisches Geräusch, und einem fliegen die Fetzen um die weit abstehenden Ohren. Es konnte auch vorkommen, dass das Ding sich vom Erdboden erhob und einem wie ein wild gewordener Eierkuchen durch die Gegend fegte, hinter einem her.

1937 hatte ich noch eine Erfindung gemacht: Knallplätzchen oder Radaupillen. Aber das waren nur Nebenprodukte. Ich wollte auf die Rakete hinaus. Kriegte aber keine Rakete zum Starten. Ich habe richtige Steuerschwänze gemacht und auch die Düsen richtig angelegt. Aber das zischte bloß. Oder sie flogen mit Blitz und Donner auseinander. Der richtige goldene Mittelweg war nie da! Ich habe am Tag fünf bis sechs Versuche gemacht. Mein ganzes Taschengeld wurde umgesetzt. Auf der anderen Seite musste ich aber meine Schulhefte vom Taschengeld bestreiten, brauchte das Geld aber dringend für Chemikalien. Ich bekam doch nur 50 Pfennig in der Woche. Dann wurde eine Technik entwickelt: Ich schrieb meine Tagehefte nur mit Bleistift. Wenn das Heft voll war, wurde alles wieder ausradiert.

Mit den Raketen wollte und wollte es nichts werden. Aber ich hatte inzwischen einige pyrotechnische Erfahrungen gesammelt. Ich konnte beispielsweise Leuchtkugeln fabrizieren. Ich konnte sie auch abschießen, Feuerregen und Kanonenschläge usw., die sogar Superwirkungen hatten: Ein mit Dynamit geladener Knallkörper hat nämlich eine katastrophale Wirkung.

Ich fabrizierte und verkaufte Knallkörper. Damit verdiente ich mein Taschengeld. Das ließ sich so schön herstellen. Da brauchte man bloß Kresol und Salpetersäure. So ein kleiner Knallkörper, auch Ekrasit, der dann mit Blitzlichtpulver (Magnesium) gezündet wurde, kostete mich nicht viel. Ich habe ihn aber zu Wucherpreisen an andere verkauft. Ich bekam auf diese Weise immer mehr Geld zusammen und konnte damit dann auch arbeiten. Ein Jahr lang war ich gehänselt worden. Im Jungvolk taugte ich nichts, und die Jungens waren alle Jungvolkführer. Es bestanden kleine Rivalitäten. Denn es ärgerte die, dass ich mit einem hübschen Mädelchen morgens zur Schule fuhr.

Dann war ich schließlich so weit, dass ich einen besonderen Feuerwerkskörper machen konnte, Silvester 1937/38. Ich nahm eine Pappröhre und füllte die mit lauter pyrotechnischen Sätzen. Sprühregen und Leuchtkugelsätze wechselten ab. Zu Silvester wurde das nun ausprobiert. Ich wollte das erst unter das andere Feuerwerk mogeln, denn es konnte ja sein, dass es wieder nicht funktionierte. Und dann wäre ich wieder ausgelacht worden. Aber das ging nicht. Alle Nachbarn hatten sich zusammengetan und Feuerwerkskörper gekauft, die gemeinsam abgebrannt wurden. Alle halbwüchsigen Bengel standen ringsherum und riefen durch die ganze Siedlung: ›Und jetzt kommt ein Feuerwerkskörper, den Burkhard konstruiert hat.‹ Da fing der ganze Verein an zu gröhlen und zu johlen. Ich war mir meiner Sache aber ziemlich sicher. Ich hatte einen ganz langen Glimmzünder angebracht, mit so einem Schwelzeug drin, das genauso qualmte wie der Feuerwerkskörper vor einem Jahr. Muttchen wurde unruhig. Frau Schmidt wurde unruhig, Paps auch.

Plötzlich zündete die Anfeuerung mit so ganz kleinen Flämmchen. Und unsere Nachbarin rief: ›Huch. Das funktioniert ja!‹ Dann plötzlich fing es an zu zischen und zu fauchen, und dann wurde der Sprühregen tischhoch, und es sprangen lauter so weiß strahlende Sternchen auf. Dann gab es einen hohlen Knack, und über die Dächer hinaus fegte eine blaue Leuchtkugel. Alles brüllte vor Begeisterung. Dann wurde der Feuerregen noch ein Stück höher, und dann kam wieder eine grüne Leuchtkugel raus. Dann wurde der Sprühregen mannshoch. Eine feuerrote Rakete flog raus. Mehr kriegte ich ja leider nicht in die Pappröhre rein. Dann brauste der Feuerregen mit einem dicken Strahl ein paar Meter in die Höhe, und silberne Flitterchen sprangen heraus. Die hatte ich aus Aluminiumfolie gemacht. Dann sank das Ganze in sich zusammen. Ich weiß noch: Alle Bengel waren ganz klein und hässlich geworden. Ich war ein kleiner Kerl von zwölf Jahren. Es wurde überall zum Tagesgespräch.«

Das war immerhin ein pyrotechnischer Erfolg, doch Burkhard hatte noch immer keine Rakete zum Steigen gebracht. Er führte aber weiter Raketenversuche durch, und schließlich klappte es. Er hatte nämlich immer vergessen, eine Seele zu bohren. Anfang 1938 kam er dahinter, dass dies der Fehler gewesen war. Mit seiner Schwester probierte er den neuen Treibsatz in einer Rakete im Garten hinter dem Haus in Potsdam aus. Seine Pulverrakete flog etwa 100 Meter hoch.

Auf diese Weise machte er weitere Experimente. Er fand oder erfand ein rauchloses Pulver, mit dem die Raketen hervorragend flogen. Allmählich ließ die Freude an der Raketentechnik allerdings nach, denn es war für den 13-Jährigen klar, dass er zwar die Treibstoffe noch weiter verbessern konnte, doch selbst wenn er ein halbes Pfund Treibstoff verwendete, käme die Rakete nicht viel höher als 500 bis 600 Meter. Um ein Raumschiff zu starten, hätte man dagegen Unmengen an Treibstoff gebraucht.

1937 verbrachte Familie Heim den Sommerurlaub auf Norderney.

Wenn man so wie er Pulverraketen baute und darüber Literatur las, lernte man ganz automatisch auch Explosivstoffe kennen. Dazu Heim später: »Dann fiel mir blödsinnigerweise auch noch eine Schrift der Dynamit AG in die Finger, eine Technologie der Spreng- und Zündmittel. Da standen nun die ganzen Fabrikationstricks drin. Und nun wurde bei uns Sprengstoff fabriziert.«

 Er hatte schon vorher versucht, Dynamit selbst herzustellen, und sich dabei nach dem Lexikon gerichtet: »›Man nehme Salpetersäure, Schwefelsäure, Glyzerin, das gibt Nitroglyzerin!‹ Ich habe das zusammengemixt. Das schäumte wie Brauselimonade. Es gab aber niemals Nitroglyzerin! Jetzt las ich, dass das mit Eis behandelt werden muss. Es muss gekühlt und getrocknete Luft durchgeblasen werden. Und das habe ich nun genau nach Vorschrift in einem Weckglas gemacht. Und das hätte ich lieber nicht tun sollen!

Nach einer halben Stunde war ein Drittel des Glases mit einem schweren braunen Öl gefüllt. Das musste ja nun notwendigerweise Nitroglyzerin sein, aber gleich in diesen fantastischen Mengen? Mein Freund Horst Drusiner hatte einen ziemlichen Schrecken bekommen und ich auch. Wir haben das dann ganz vorsichtig in Wasser abgegossen. Dann wurde es schon etwas heller. Und es stand auch extra die Warnung im Buch: ›Nitroglyzerin im verunreinigten Zustand sieht gelb bis gelbbraun aus. Es ist hochempfindlich!‹ Dann haben wir es mit Sodalösung behandelt – auch nach Vorschrift – und haben es wieder mit Wasser behandelt. Dann sah es manierlich aus, schön wasserklar! Anschließend wurde schnellstens paketweise Watte mit Salpetersäure behandelt und zu Schießbaumwolle gemacht. Ich habe noch nie so schnell nachher die ausgespülte Schießbaumwolle auf dem Ofen getrocknet. Und wenn man die in das Nitroglyzerin reinknetet, dann entsteht so eine gelatineartige Geschichte, und das ist das nobelsche Gelatinedynamit! So ein ganz großer Kloß war das. Ich wollte damit gern immer knallen. Es knallte aber nicht, sondern zischte bloß! Ich hab sogar etwas in den Ofen geschmissen. Aber mit einem Zischen ging es weg. Das war nicht ungefährlich. Aber Kinder und Betrunkene haben ihre Schutzengel.«

Danach schlief Burkhard monatelang über der Schießbaumwolle, die unter seinem Bett lagerte. Der große Kloß lag ebenfalls in seinem Zimmer in einem Schrank unter Verschluss. Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, den nicht mit in den Keller zu nehmen. Er spaltete ein erbsenroßes Stück von dem Kloß ab und gab dieses auf etwas Blitzlichtpulver und zündete es an. Das war falsch! Denn es gab einen ohrenbetäubenden Donnerschlag. Und Burkhard entdeckte, dass man mit dem Kloß doch knallen kann: » Dann ging das sofort los, und wir haben ›Hermann-Göring-Werk‹ gespielt: Alles wird verwendet! Wir gingen auf den Müllplatz und suchten uns diese großen Anoden-Batterien. Und dann wurden mit einer Zange die Kohlestifte herausgezogen (damit kann man so schön elektrische Lichtbögen machen) und die Braunsteinbeutel. Dann wurden die Zinkkapseln ausgewaschen und getrocknet. Es waren hübsche kleine, handliche Kapseln. Die Gelatine wurde da reingedrückt. Plötzlich kriegten wir die Sucht nach diesen kleinen Glasröhrchen, wo Dr. Oetkers Backpulver drin ist. Die wurden ausgewaschen und getrocknet und zu drei Vierteln mit Blitzlichtpulver gefüllt. Und dann konnte ich mir bei Oschatz, wo die anderen Jungens Schreckschusspistolen kauften, für 15 Pfennig einen Meter Zündschnur kaufen, diese weiße, wo innen die Pulverseele drin war. Wenn man sie anzündete, zischte es so. Nach einer Weile kommt an dem anderen Ende die Flamme heraus. Und die wurde nun kaputt geschnitten in 5 cm lange Stückchen, in die Backölröhrchen hineingedreht, ein bisschen Wachs herumgetan und das Röhrchen dann in diese knetbare Angelegenheit gedrückt. Oben eine Pappscheibe drauf. Das gab so niedliche Patronen. Wir nannten sie immer ›Satanseier‹. Man konnte nämlich so ein Ding anzünden und wegschmeißen. Nach so 15 Sekunden denkt man dann, die Welt geht unter. Es gibt einen solchen Blitz und einen solchen furchtbaren Knall.

Ich hatte eine ganze Zigarrenkiste voll! In den Hosentaschen ließen sie sich prima transportieren. Nun war Muttchen gerade weg. Da habe ich eine angebrannt, zum Fenster rausgeschmissen, eine zweite angebrannt, auch rausgeworfen. Nun lagen sie friedlich zischend und knisternd auf dem Rasen. Es war schon abends. Da, plötzlich ein lodernder Blitz und ohrenbetäubender Donnerschlag … ein zweiter Blitz. Muttchen war in der Stadt. Die hatte noch in fünf Kilometer Entfernung den Knall gehört.«

Aus Mutter Heims Kommentar dazu lässt sich fast so etwas wie Fatalismus herauslesen: »Ich hatte gedacht: Du lieber Gott! Jetzt ist wieder was passiert. Die Verwandten hatten ja immer in ihren Briefen angefragt: ›Steht Euer Haus noch?‹ Ich dachte, vielleicht is es jetzt hin.«

Es gab eine mächtige Standpauke vom Vater. Und dann hörte Burkhard, wie die Eltern mit Tante Emmely über das weitere Vorgehen berieten. »Weißt du, Heinz«, sagte die Mutter, »ich meine, dass Burkhard zur Hitlerjugend müsste. Das scheint mir der einzige Weg, ihn von seinem versessenen Studium abzubringen. Da findet er eine Menge gleichaltriger Kameraden und außerdem: Dort lernen sie auch gehorchen. Disziplin würde ihm schon nützen!«

Burkhards umständlicher Weg zum Abitur

Der Wechsel vom Jungvolk zur Hitlerjugend brachte Burkhard verschiedene, nicht unwillkommene Veränderungen. Er wurde Segelflieger in Sarmund, was ihm viel Spaß machte. Einen Exerzierdienst gab es dort nicht, auch keine HJ-Uniformen. Die HJ-Jungen wurden von einem älteren ehemaligen Marinefunker, Herrn Idel, im Funken ausgebildet. Sie hatten zwei Fluglehrer im Alter von 50 bis 60 Jahren und Erwachsene von den Arado-Werken, die sie beim Segelflugzeugbau anleiteten. Die Fluglehrer waren erfahrene Leute, von denen man vieles lernen konnte. Am Sonntag stand Fliegen auf dem Plan. Zweimal in der Woche gab es Funken und Anleitungen im Segelflugzeugbau. Dabei war er zwar immer in der Gemeinschaft mit Kameraden, dennoch blieb er im Grunde in der HJ sehr einsam. Denn das, was ihm so sehr am Herzen lag, die Raumschifffahrt, konnte er außer mit seinem Freund Horst Drusiner, der auch bei vielen seiner chemischen Experimente dabei gewesen war, mit niemandem diskutieren.

Burkhard in Segelfliegerkluft mit 15 Jahren; die Planskizzen für seine Raketen werden präziser.

Es konnte nicht ausbleiben, dass Burkhard eines Tages eines seiner »Satanseier« mit in die Schule nahm. Er und einige seiner Freunde wollten ausprobieren, wie die Lehrerschaft auf eine Explosion reagieren würde. Versehen mit einer besonders langen Zündschnur, deponierten sie nach Schulschluss ein »Satansei« in einem auf dem Schulhof aufgestellten Papierkorb aus Metallgeflecht und machten sich aus dem Staub. Als der Donnerknall ertönte, liefen sie mit anderen Schülern, die gerade auf dem Heimweg waren, zurück, um zu sehen, »was passiert war«. Keiner der verblüfften Lehrer konnte sich erklären, wer die »Handgranate« in den Papierkorb getan hatte.

Raketen-Konstruktionspläne Burkhards aus den 1930er-Jahren (1957 der Presse gezeigt).

Kurz darauf machte Burkhard eine eigene Erfindung. Die »Satanseier« waren schließlich nur eine Kopie gewesen. Später berichtet er ausführlich darüber, hier eine Kurzfassung davon: »Es war ein roter Brei, den konnte man auf Zeitungspapier tropfen. Ich konnte immerhin für eine Mark fünfzig an die 1000 Tröpfchen machen. Nun hat das Zeitungspapier doch diese Löschpapier-Wirkung, und nach kurzer Zeit war ringsum ein nasser Fleck. Aus dem Tröpfchen war ein roter, fester Beton geworden. Jetzt konnte man es abheben, ohne dass etwas passierte. Man hob es ab und legte es auf einen neuen Bogen. Dann wurden die Tröpfchen bei 70 Grad geröstet. Sie wurden ganz trocken, steinhart und kristallisierten … so groß wie eine Pyramidon-Tablette. Wenn man nun ein solches Plätzchen hinfallen ließ, gab es einen furchbaren Donnerschlag – als wenn man einen Karabiner abfeuert –, und es entstand eine Stichflamme, bläulich weiß, dann eine dicke grauschwarze stinkende Qualmwolke. Das Plätzchen hatte sich unter Blitz und Donner nur in stinkenden Geruch aufgelöst – kein Schnipsel, kein Fleck, nichts! Nun ließen sie sich für billiges Geld in rauen Mengen herstellen. Und da die Dinger sich leicht transportieren ließen, wurde ein furchtbarer Unfug damit getrieben.« Diese Knallpillen verkaufte Burkhard an seine Klassenkameraden. Für das Geld kaufte er sich weitere Chemikalien.

Eine noch erhaltene Raketenzeichnung aus den 1930er-Jahren mit Burkhards Geheimschrift.

1939 las Burkhard den Bericht über die gelungene Kernspaltung und dachte sofort daran, dass nun Möglichkeiten bestünden, Raketen mit gänzlich neuartigen Energien zu betreiben. Er versuchte sich telefonisch mit Professor Otto Hahn in Verbindung zu setzen, bekam ihn aber natürlich nicht ans Telefon. Daraufhin fuhr er nach Berlin-Dahlem zum Kaiser-Wilhelm-Institut und wollte Hahn persönlich aufsuchen. Doch als er vor dem Gebäude stand – so als Vierzehnjähriger mit kurzen Hosen –, wurde ihm doch bange, und er wagte sich nicht hinein. Stattdessen sagte er sich, er müsse schon selbst dahinterkommen, und begann alles über Kernspaltung zu lesen, was er in die Finger bekommen konnte. Bald schon beherrschte er die Transmutationsformeln, die Irene Curie über die künstliche Kernumwandlung veröffentlicht hatte.

Burkhard hatte zwei Schulfreunde, »den kleinen Kubani« und Achim Bellin. Die drei Jungen nannten sich das Triumvirat, nach dem Vorbild des Dreimännerbunds im alten Rom. Gelegentlich machten sie Hausaufgaben zusammen, obwohl alle drei unterschiedliche Interessen hatten. Der kleine schwarzhaarige Achim hatte Interesse an Biologie, der blonde Kubani liebte Physik, und Burkhard war ein Ass in Chemie. Manchmal fertigte einer von ihnen die Hausaufgabe an, und die anderen schrieben von ihm einfach ab. Burkhard hatte ein sehr ausgeprägtes Empfinden für Ungerechtigkeiten. Besonders Kinder spüren ja sehr deutlich, ob sie gerecht behandelt werden, ob Versprechen eingehalten oder ob sie angelogen werden. Lehrer sind sich dessen nicht immer bewusst. Viele von ihnen haben Lieblingsschüler in der Klasse, denen sie mehr Sympathie als anderen entgegenbringen, nicht ahnend, dass die Schüler dies aufmerksam registrieren. Am Victoria-Gymnasium passierte nach Burkhards Worten nun Folgendes: »Wir hatten Physik und Biologie bei ein und demselben Lehrer. Er war ein sehr netter Mensch. Aber typisch für das empfindliche Gemüt so mancher Jungens war folgende Szene: Wir hatten eine Physikaufgabe aufbekommen. Es drehte sich ums Kräfteparallelogramm. Unser kleiner angehender Physiker machte es ganz nett, mit Zirkel und Lineal und gestochener Schönschrift. Ich hatte keine Lust dazu, schmierte von dem einfach ab – zwar noch mit Lineal –, aber oberflächlich hingehauen. Und der dritte Kamerad, der angehende Biologe, hatte gar keine Lust, klierte das einfach ab, so mit freier Hand aus dem Stegreif. Das gaben wir dann ab. Nun mochte unser Lehrer aber diesen Biologen sehr gern. Mir gegenüber verhielt er sich indifferent, und unseren kleinen Physiker mochte er nicht leiden. Dann wurden die Arbeiten zensiert. Dieser biologische Freund bekam ›gut‹, ich ein ›befriedigend‹, und der Autor der Sache bekam ›ausreichend‹. Da hat’s gequalmt! Ich sehe den kleinen Kerl da noch stehen. Er hatte einen außerordentlich starken Gerechtigkeitssinn. Er ballte die Fäuste in der Tasche, die Stimme vibrierte vor Empörung. Ich muss sagen, wir anderen, die gut abgeschnitten hatten, haben uns auch darüber geärgert. Und dann japste der Kleine vor Wut: ›Der soll sich mit seinem Papierkragen und seiner Kellnerweste nur nicht einbilden, dass er uns schikanieren kann, Leute. Terror kann man nur mit Gegenterror brechen!‹

Wir beschlossen also, dass jeder 50 Pfennige gibt, damit wir für 1,50 Mark Pillen kaufen konnten. Dafür konnte ich etwa 6000 Pillen herstellen, um die Schule zu verminen. Die Parole lautete: Alles, was man anfasst, muss blitzen und knallen! Dabei hatten wir gegen diesen Lehrer eigentlich gar nichts. Bloß einer von uns fühlte sich schwer hintergangen und ungerecht behandelt. Es musste also etwas passieren!«

Die Pillen wurden also fabriziert, und die drei Schüler schlichen sich an einem Sonntag ins Victoria-Gymnasium ein. Einer passte auf, dass der Hausmeister nicht ins Gebäude kam. Die beiden anderen begannen im obersten Stock zu arbeiten. Überall in den Türrahmen, wo das Schloss einschnappt, in Fenster- und Schrankrahmen, in den Schubfächern der Tische, unter Fußabtretern und Papierkörben wurden Knallpillen deponiert. Auch am Kartenständer oben befanden sich Pillen, sodass sie, wenn die aufgerollte Karte hochfuhr, wie beim »Hau den Lukas« knallen sollten. Ließ man sie wieder runter, musste es dann nochmals knallen. Unter den Teppichläufer auf der Treppe wurde unter jeder Stufe eine Pille gelegt, und manche Pillen wurden einfach auf dem Boden verteilt.

Mit freudiger Erwartung kamen die drei Schüler am Montagmorgen früher als sonst zur Schule und versteckten sich in einiger Entfernung davor. Als Erster kam der Direktor. Beim ersten Knall an der Tür blieb er stehen und betrachtete längere Zeit den Türrahmen. Dann ging er ins Schulgebäude. Es machte peng!, peng!, peng!, peng!, peng! Offensichtlich lief er die Treppe hoch, mit jedem Knall schneller werdend. Dann Stille, und wieder: peng! … peng! In der Zwischenzeit kamen die anderen Schüler und Lehrer angelaufen. Immer wieder knallte es irgendwo in unregelmäßigen Abständen, und auch Tage später explodierten noch immer Knallpillen. Die Sextaner hofften, dass sie noch weitere Knaller auf den Fluren finden würden, und traten auf jeden Papierschnipsel, in der Hoffnung, es würde knallen.

Die Lehrerschaft hatte keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckte. Da kein Sachschaden entstanden war, hatte man die Polizei nicht holen müssen. Die Lehrer gingen wohl die Liste der üblichen Verdächtigen durch. Auf Burkhard fiel jedoch kein Verdacht, denn ihm hätte man »die Gemeinheit« zwar zugetraut, doch die Note über seine Chemiekenntnisse schloss das aus. Er hatte in Chemie nur immer die Note »ausreichend«.

Monatelang ging alles gut. Dann passierte Burkhard im Juni 1941 jedoch ein Missgeschick. Er hatte in seinem Labor alle möglichen Stoffe hergestellt, unter anderem auch Tränengas. Davon wollte er seinem Chemielehrer – ohne Hintergedanken – eine Probe zeigen. Heim beschreibt die Zusammensetzung seiner Rezeptur später folgendermaßen: »Es gibt zwei verschiedene Sorten. Da ist einmal das Chlorazeton. Aber was man leichter fabrizieren kann, ist das Bromazeton. Man nimmt Azeton, verdünnt das mit destilliertem Wasser und gibt Brom dazu. Das reagiert dann miteinander. Dies geht ganz still vor sich, schäumt ein bisschen; dann tut man etwas gebrannte Magnesia dazu, und dann ist es fertig.«

 Er brachte ein Glasfläschchen mit in die Schule, und das fiel ihm im Treppenflur aus der Hand und zerbrach. Die Dampfschwaden breiteten sich aus. Es gab ein gewaltiges Geschrei, und die Jungen stoben nach allen Seiten auseinander. Einige husteten fürchterlich, und alle rieben sich die Augen, die zu tränen begannen. Rasch füllten sich die Korridore mit dem Gas, das auch durch die Türritzen in die Klassen- und ins Lehrerzimmer drang. Die Fenster wurden aufgerissen, und alle liefen nach draußen.

»Das Zeug war ein ganz starkes Tränengas. Und dann stand der ganze Schulflügel unter Gas. Und da haben sie mich bei erwischt.«

Vater Heim wurde vorgeladen. Er stellte sich vor seinen Sohn und bestätigte, dass Burkhard viele Präparate und Chemikalien zu Hause im Keller entwickelt habe und dass er ganz gewiss nur das Tränengas zeigen, aber nicht freisetzen wollte. Burkhard bekam einen schriftlichen Verweis. Dabei kam auch heraus, dass er wirklich etwas von Chemie verstand. Und nun erinnerte man sich natürlich auch an die früheren Vorfälle, und es stand bald fest: Dann ist der das womöglich immer gewesen!

Burkhard hatte noch etwas anderes entdeckt. Hätte er diese andere – von ihm nicht näher bezeichnete – Chemikalie mit in die Schule gebracht, wäre etwas furchtbar Peinliches passiert! Er hatte nämlich ein Gas entwickelt, das, wenn man es einatmete, bewirkte, dass sich der Schließmuskel öffnete. Heim war in späteren Jahren in Versuchung, diese Erfindung der Polizei mitzuteilen. Er meinte, bei Demonstrationen müsste das Abschießen dieser Gaspatronen in eine grölende Menschenmenge »ganz lustige Wirkungen« zeitigen …

Ein schriftlicher Verweis bedeutete, dass man aus der Schule flog, sobald noch einmal etwas Unrechtmäßiges passieren sollte. Und es geschah natürlich wieder etwas Schlimmes. Im Musiksaal des Victoria-Gymnasiums befanden sich Sitzbänke, an deren Rückseite oben Metallleisten angebracht waren. Burkhard hatte bemerkt, dass sich die kleinen Schrauben leicht herausdrehen ließen. Mit denen bewarf er die vorne Sitzenden. Als er damit einen von ihnen so traf, dass er aufschrie, entdeckte der Musiklehrer, was passiert war und wer das getan hatte.

Jetzt war der Tatbestand der »Sabotage an der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes« gegeben! Im Mai 1942 flog Burkhard Heim von der Schule. Wegen des Sabotage-Eintrags im Abgangszeugnis war es für die von ihm enttäuschten Eltern schwer, eine neue Schule zu finden, die ihn aufnehmen wollte. Schließlich sollte er an der »Kanaluniversität« anfangen, der Potsdamer Realschule. Ihren Namen hatte sie von dem durch Potsdam verlaufenden holländischen Kanal, den Friedrich der Große gebaut hatte und der mittlerweile ein stinkendes Gewässer geworden war. In der Nähe befand sich auch der Fischmarkt. An diesem Kanal lagen die Oberrealschule und das Schauspielhaus. Doch in dieser Schule fühlte sich Burkhard auch nicht wohl und wollte auch dort nicht mehr zur Schule gehen, was den Eltern große Sorgen bereitete. Einen positiven Anstoß durch einen der Lehrer erhielt Burkhard jedoch, und er erinnerte sich später aus dieser Zeit nur noch an den alten Studienrat Thomsen, den sie »Knochenkalle« nannten: »Ich taugte damals in Mathematik natürlich auch nichts. Ich war da in Opposition, in Igelstellung. Thomsen sprach immer mit halber Lunge und war recht dürr. Daher wurde er Knochenkalle genannt. Der hat mir direkt ins Gesicht gesagt, dass es bei mir bloße Faulheit ist. Ich hatte im Mathematikunterricht mal einen lichten Moment. Da hatte der erkannt, dass ich mehr konnte, als ich gewillt war, in der Schule preiszugeben. Er sagte zu mir: ›Heim, ich weiß auch nicht, was mit Ihnen los ist. Sie sind ein völlig verkommenes und vertrotteltes Genie. Sie können nämlich alles, wenn Sie bloß wollen. Aber Sie wollen ja nicht!‹«

Auch sonst stand Burkhard neuer Ärger ins Haus: »Zugleich hatte ich noch einen Mordsskandal mit der Hitlerjugend gehabt. Ich hatte nämlich den Sturmführer vom Hitlerjugend-Streifendienst beleidigt. Ich hatte mich dem Sturmführer gegenüber ungeschickt verhalten. Er hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, mich in eine Erziehungsanstalt einweisen zu lassen. Wir waren deswegen auch zur Polizei bestellt worden. Die Gestapo hat dann die Sache einfach abgebogen, hat das ignoriert und gesagt: ›Haut bloß ab!‹ Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen. Hatte genug. Ich sagte mir: Es ist ja überall dasselbe. Überall wird man als ein Kind behandelt, man muss zackig aufspringen, militärische Antworten geben, und es ist überall dasselbe Klima.«

Zu Hause beschäftigte er sich nun mit Philosophie. Er las beispielsweise Kants Kritik der reinen Vernunft. Die moderne Atomphysik faszinierte ihn so, dass er später einen Aufsatz über Elektronenpaarbildung schrieb. Außerdem las er alles über Raketentechnik. Im Sommer 1941 besuchte er seine Schwester in Fischerkaten an der Ostsee, wohin diese durch die Kinderlandverschickung gekommen war. Dort begegnete er seiner ersten großen Liebe, Gisela, einem sehr gut aussehenden und klugen Mädchen. Sie hatte etwas an sich, das seinem Bekunden nach wie ein »Sog« auf ihn wirkte: »Sie hat durch ihr Vorhandensein und Zusammensein mit mir alles an Kräften aufgerufen, was ich geistig besaß.

Klar natürlich, dass daraus eine heftige Liebe wurde. Umso mehr habe ich mich angestrengt, ihr zu imponieren. Die ›Elektronenpaarbildung‹ war ein Ergebnis dieser Anstrengungen. Ich weiß noch genau, mit welchem Elan ich mich nun wieder auf die Weiterentwicklung der Thermitsprengstoff-Entwicklung stürzte, aber auch auf Biologie, Astronomie usw. Ich wollte unter allen Umständen etwas hinstellen. Ich habe damals förmlich einen Reifungssprung gemacht. Alles wegen Gisela. Ihretwegen wollte ich eine Persönlichkeit werden. Aber ich hatte auch festgestellt, dass ich noch ungeheuer viel lernen musste.«

Burkhard hatte zwischenzeitlich einen Thermitstoff entwickelt, den er seiner Familie vorführen wollte. Als man eines Sonntags in die Pirschheide zum Spazierengehen fahren wollte, bestand er darauf, auch Tante Emmely, die Burkhards chemische Experimente immer für Unsinn gehalten hatte, sollte mitgehen. Er wollte ihr beweisen, was man mit chemischen Kenntnissen alles machen kann. Während des Spaziergangs verkündete Burkhard in der Nähe eines Bahndamms, er wolle jetzt eine chemische Erfindung von sich demonstrieren. Er holte einen lächerlich kleinen, etwa zwei Kubikzentimeter großen Würfel aus seiner Hosentasche und zeigte ihn den Umstehenden. Die Substanz hatte das Aussehen eines kleinen Backsteins, hart und kristallin und rötlich schimmernd. »Wenn dieser Würfel einen Schlag bekommt oder wenn man ihn hinwirft, dann detoniert er mit etwa sechsmal größerer Gewalt als Gelatinedynamit«, erklärte er ihnen. Mit einem tüchtigen Schwung warf er die Kapsel weg. Als diese auf dem Boden auftraf, gab es einen fürchterlichen Donnerschlag, und eine etwa 1,50 Meter hohe rötliche Stichflamme, von der eine rund zehn Meter hohe schwarzgraue Qualmwolke nach oben stieg. Erschrocken kam von Weitem ein Bahnwärter aus seinem Häuschen gerannt, der annahm, es sei ein Eisenbahnattentat geschehen. Mutter Heim hielt sich noch etwa eine Minute lang die Ohren zu in der Furcht, es würde nochmals knallen. »Seht Ihr«, erklärte nun Burkhard, »das kann man nicht einfach aus bekannten Substanzen zusammenbasteln. Dazu muss man schon wissen, wie man das fabrizieren kann.« Vater Heim war mächtig beeindruckt und lobte Burkhards Erfindergabe.

Burkhard wollte nichts anderes als Chemiker werden und suchte den Verein Deutscher Chemiker in der Potsdamer Straße in Berlin auf, um sich dort zu bewerben. Es war das Geheimlaboratorium der Luftwaffe unter der Leitung des Kampfstoff-Chemikers Professor Schmidt, den sich Göring aus der Schweiz geholt hatte. Heim schildert seine erste Begegnung mit Professor Schmitt folgendermaßen: »Nun war ich an sich sehr selbstbewusst und zog frech zum Chef vom Verein Deutscher Chemiker, nahm Muttchen mit. Muttchen wollte erst gar nicht mit raufgehen. Für mich war das aber eine Selbstverständlichkeit, dort hinzugehen. Ich sagte mir, das ist der einzige Mann, wenn man ihm das richtig klarmacht, dann kann der mir schon helfen. Ich bin also rein, habe mich hingebaut und im Sekretariat gesagt, was ich vorhätte. Man schickte uns zum Assistenten von Professor Schmidt, der mir sagte: ›Professor Schmidt ist nicht zu sprechen.‹ Dann nahm mich dieser Dr. Voss ein bisschen in die Zange. Ich musste ihm erzählen, was ich in der Chemie gemacht hatte, ob ich mich analytisch-präparativ beschäftigt hatte. Er fand das auch sehr nett, was ich alles gemacht hatte. Unter anderem erzählte ich ihm von dem Gasangriff auf die Schule. Das lag ja gerade auf der richtigen Ebene. Die hatten sich dort ja mit Giftgasen und Kampfstoffen beschäftigt. Dann fragte Dr. Voss noch: ›Ja, haben Sie denn das alles selbst fabriziert, Chloracetonphenon usw.?‹ Das ist an sich schwer zu synthetisieren. Ich erzählte ihm dann, wie ich das angewendet hatte. Danach schriftlicher Verweis – Anfang vom Ende, Widersetzlichkeit usw.

Burkhard 1942 mit seiner Schwester Norle und seiner Mutter. Rechts daneben seine Tante, Emmely Warneboldt, und eine Bekannte der Familie Heim.

Und als ich das berichtet hatte, passierte es nun: Da rollte eine große Tür auseinander, und da stand ein Hüne drin, im weißen Laborkittel mit einer durchsichtigen Schutzschürze darüber. Und der lachte übers ganze Gesicht, stellte sich vor: ›Gestatten, Schmidt. Ich möchte ja so gerne noch einmal die Geschichte von dem Tränengasattentat auf diese Penne hören. Muss das herrlich gewesen sein!‹ Er fragte, ob ich das denn strategisch richtig angelegt hätte, dass die Rauchschwaden ganz richtig durchgehen. Wir hätten es oben unterm Dach machen müssen. Er war Sachverständiger. Dann sagte er: ›Also, mein lieber Junge. Das geht so auf keinen Fall. Ich könnte Sie natürlich von heute auf morgen hier beschäftigen. Aber das ist hier nicht das Richtige. Sie müssen das Abitur haben! Ein Kerl wie Sie muss studieren! Sonst ist das alles nur eine halbe Sache!‹«

Professor Schmidt vermittelte Burkhard dann eine Schule, die für ihn geeignet schien. Es handelte sich um eine Abendschule in Berlin unter der Leitung des Direktors Gabbe. Burkhard meinte, dass er nicht wieder nur ein guter Untertan in der Schule sein und wie ein Säugling behandelt werden wolle, sondern als Erwachsener. Dann sei das genau das Richtige für ihn, sagte Professor Schmidt.

An seinem 17. Geburtstag, am 9. Februar 1942, gelang Burkhard erneut ein erfolgreiches Raketenexperiment. Er wollte den in seinem heimischen Kellerlaboratorium (der »Giftküche«, laut Mutter Heim) entwickelten Pulvertreibstoff ausprobieren. Dazu hatte er aus einer Gardinenstange von einem halben Meter Länge eine Rakete mit vier Steuerstäben gebaut und mit dem rauchlosen Pulver gefüllt. In die Spitze wurde ein kleines Fläschchen mit Nitroglyzerin gesetzt. Mit diesem Gerät zogen er und sein Freund Horst zum Templiner See, der zu dieser Zeit noch mit einer etwa ein Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt war. Mit heulendem Donnern aus fünf Düsen schoss die Rakete in den Himmel. Nach dem Absturz zerbrach die Eisdecke beim Aufschlag mit einem großen dumpfen Knall. Weitere chemische Entwicklungen konnte er nicht mehr durchführen, weil er wegen des Krieges keine entsprechenden Chemikalien mehr bekam.

Im Herbst 1942 fuhren Mutter und Sohn Heim zur Abendschule in Berlin-Friedenau und sprachen mit Direktor Gabbe. Der fragte, was der Filius denn ausgefressen hätte, und als Mutter Heim all die chemischen Zwischenfälle erzählte, meinte Gabbe, wenn es weiter nichts wäre als solche Jungenstreiche, dann sei das nicht schlimm, und Burkhard hätte an seiner Schule sicher den richtigen Platz gefunden: »Entweder muss er hier arbeiten. Dann kommt er mit. Oder er wird abgehängt. Und dann ist es aussichtslos, dass er jemals sein Abi machen wird.«

Direktor Gabbe, ein Herr mit Spitzbart und lustigen, gutmütigen Augen, hatte sehr gute Lehrkräfte, zum Teil von der Universität und von der TU. Burkhard war mit seinen 17 Jahren der Jüngste in der Abendschule. Es waren aber auch 30-bis 35-jährige Schüler dort. Daher war es für ihn schwer, mit den anderen zu konkurrieren. Auswendiglernen konnte er als junger Mensch besser als die älteren, doch die Denkkapazität ist bei Erwachsenen viel größer. Zum Teil kam Burkhard im Unterricht einfach nicht mit. Sie hatten dort keine Schulstunden, sondern Collegs. Der Dozent trat in die Klasse. Die Schüler begrüßten ihn, aber nun nicht zackig mit Strammstehen und Setzen, sondern ganz kollegial. Es gab keinen Abfrageunterricht, keine Bestrafungen. Es wurde nur vorausgesetzt, dass man selbstkritisch genug war, seine Schwächen zu erkennen, wie auf der Universität.

Eine solche Umgebung hatte sich Burkhard immer gewünscht und war nun mit seiner Situation äußerst zufrieden: »Jetzt war es nun so: Kein Mensch zwang mich überhaupt, zum Unterricht zu kommen. Also bin ich immer hingegangen. Man konnte arbeiten, wie man wollte. Kein Mensch zwang einen, Schularbeiten zu machen. Man brauchte vor allem in seinem Lehrer keinen Vorgesetzten zu sehen, sondern einen Dozenten, von dem man eben etwas lernen will. Und das war genau das richtige Klima für mich. Da habe ich von selbst gearbeitet und erstaunlich viel gelernt. Und ich muss sagen, von meiner Jugend waren gerade die paar Monate, die ich dort auf die Schule gegangen bin, die glücklichste und produktivste Zeit, die ich mitgemacht habe. Ich habe am meisten gelernt und mich am wohlsten gefühlt. Ich möchte nicht einen Tag von dieser Zeit missen.«

Vater Heim kam es allerdings verdächtig vor, dass sein Sohn sich in dieser Schule so wohl fühlte und dass er nicht wieder Ermahnungen erhielt. Er glaubte daher nicht, dass man an der Abendschule wirklich das Abitur erwerben könnte, und suchte nach einer Schule, an der Burkhard – seiner Meinung nach – sein Abitur mit Sicherheit erwerben könnte. Hinzu kam noch, dass Schüler an der Abendschule zur Heimatflak gehen mussten. Auch das wollte Vater Heim verhindern.

Burkhard wurde daher am 4. Januar 1943 im Dorotheen-Gymnasium in Berlin angemeldet. Allerdings musste er dort erst eine Aufnahmeprüfung bestehen. Es wurde nichts von dem anerkannt, was er bereits in der Abendschule gelernt hatte. Man richtete sich ausschließlich nach dem, was im Abgangszeugnis von der öffentlichen Schule stand.

An der Abendschule war er schon in der Oberprima gewesen, denn er hatte eine Klasse überspringen dürfen, weil er so viel gearbeitet und gelernt hatte. Das Abitur war für April/ Mai 1943 geplant. Im Dorotheen-Gymnasium wurde er dagegen erst einmal eine Klasse zurückversetzt. Burkhard war maßlos enttäuscht über diese Neueinschulung und sah einzig in der Verhinderung, zur Heimatflak gehen zu müssen, einen Nutzen in der Entscheidung seines Vaters.

In der Aufnahmeprüfung für das Dorotheen-Gymnasium wurde er ausgerechnet in denjenigen Fächern geprüft, in denen er auf dem Victoria-Gymnasium in Potsdam die schlechtesten Noten bekommen hatte, also unter anderem in Mathematik. Inzwischen war er an der Abendschule jedoch zu einem »Ass« in Mathe« geworden, weil ihm der Unterricht dort jetzt Spaß machte.

Der Doktor, der ihn am Gymnasium nun in Mathematik prüfen sollte, nahm ihn mit in die Klasse. Burkhard redete mit ihm genauso, wie mit seinen Lehrern in der Abendschule, also ganz kollegial. Das verwunderte den Lehrer allerdings schon! Bereits auf dem Flur fragte Burkhard ihn: »Sagen Sie mal, Herr Doktor, wie weit sind Sie in Ihrer Klasse? Was machen Sie in Mathematik?« Der Mann war so perplex, dass er ihm über alles Auskunft gab. »Ach, na ja, das ist für mich gar kein Problem«, erwiderte ihm Burkhard. Und auf die Gegenfrage des Lehrers, was Burkhard denn in Mathematik könne, antwortete Burkhard ihm: »Sphärische Trigonometrie, Reihenentwicklungen usw.« »Ach du lieber Himmel! Können Sie das wirklich?«, fragte der Mathelehrer.

Die Prüfung war für Burkhard ein voller Erfolg. Im Lehrerkollegium erzählte der Mathelehrer, er habe jetzt einen tollen Mathematiker in der Klasse. In Physik sei er auch ganz groß, und Chemie und Biologie könne er ebenfalls. Der Direktor Vogt bestätigte noch, Heim habe den Deutschaufsatz in der Prüfung »ganz groß gebaut«. Alle waren also über den Neuzugang begeistert. Eine gesunde Skepsis wäre allerdings vernünftig gewesen, dann wären sie in der Folgezeit von Heim nicht so maßlos enttäuscht worden.

Heim erinnerte sich später, einer seiner Mitschüler habe Dietmar Schönherr geheißen. Als der sich der Klasse vorgestellt habe, hätte er gesagt: »Dietmar Schönherr. Eigentlich ›Edeler von Schönherr‹. Aber in Österreich ist das ›von‹ abgeschafft worden.« Er sei ein sehr guter Schüler und ganz groß in Latein gewesen, und immer in HJ-Uniform erschienen. Er hätte aus seiner Begabung später aber nichts gemacht und wäre nur Schauspieler geworden.

Der Lateinlehrer Dr. Wegelein war ein sehr netter älterer Herr, der einen kleinen privaten Zirkel aus Nachhilfelehrern gegründet hatte. Eines Tages ließ er Burkhard zu sich rufen, und Wegelein eröffnete ihm, er habe im Dorotheen-Gymnasium gehört, Burkhard hätte in Mathe und Physik »unverschämt was los«. Er sei Privatlehrer, leider nur Altphilologe, und habe eine Menge Schüler, denen er Latein beibrächte, jedoch könne er leider, leider nicht in Mathe mitreden. Er bräuchte jemanden, der das unterrichten könnte, sonst entgingen ihm zu viele Schüler. »Hätten Sie nicht Lust, das zu machen?«, fragte er Burkhard. Der war einverstanden und verpflichtete sich, täglich drei Stunden Nachhilfeunterricht zu geben. Aber lassen wir nun Burkhard Heim selbst erzählen: »Ich sagte ihm zu, denn ich fasste meinen Unterricht in der Dorotheenschule einfach bloß als Ausweichmanöver vor der Heimatflak auf, und hab’ da nie was getan. Bald war ich wieder der schlechteste Schüler dort. Denn ich bin nämlich abends noch zur Abendschule gegangen, um mich dort aufs Abi vorzubereiten. Und jetzt kam mir das gut zupasse. Denn ich dachte, den Nachmittag kann ich doch nichts in Berlin machen. Ich kann meiner Freundin auch nicht dauernd auf der Pelle sitzen. Das Mädel musste ja auch das Abi machen. Ich machte also Folgendes: Morgens um 6 Uhr musste ich aufstehen. Um 7 Uhr musste ich mit der Bahn nach Berlin rüberfahren. Um 8 Uhr ging der Unterricht in der Dorotheenschule los. Dann schlief ich meistens. Ich war vollkommen abgehakt. Man war dort ganz erstaunt: Der Kerl kann doch was. Und plötzlich taugt er nichts mehr. Dann um 2 Uhr war Schulschluss. Danach ging ich rüber zu ›Aschinger‹ und aß Mittag für fünf Gramm Fettmarken, mit Muschelfleisch oder dergleichen – oder besonders gut waren die Fischklopse. Die waren wie gebratener Bierfilz in Lebertran – dann musste man hinterher ein Glas Molkebier trinken, um keine Magenkrämpfe zu kriegen. Um 3 Uhr war ich in der Flemmingstraße. Dort musste ich drei Stunden Unterricht geben. Für die drei Stunden bekam ich regelmäßig täglich meine 15 Mark. Da habe ich damals in der Praxis kennengelernt, was ich meinen armen alten Lehrern auf dem Victoria-Gymnasium angetan hatte. Ich hatte da nämlich einen verrohten Volkshaufen sitzen: sechs, sieben Bengels, 15 bis 16 Jahre alt. Ich war damals 18. Denen sollte ich armer Mensch nun den Gebrauch der Logarithmentafeln eintrichtern. Es hat mir wenig Freude gemacht, dieses harte Stück Arbeit. Die zweite Stunde war auch nicht leicht. Man muss bedenken, ich war ein sehr schüchterner Junge. Wenn ich mit einem jungen Mädchen zusammen war, habe ich furchtbar leicht einen roten Kopf gekriegt. Das hat sich nachher gut verwachsen.

In dieser zweiten Stunde nun hatte ich junge Damen aus dem Lyzeum alle 17, 18 Jahre alt. Die sollten bei mir analytische Geometrie lernen. Sechs, sieben Mädchen, eine niedlicher als die andere. Die hatten natürlich sofort heraus, dass ich so schüchtern bin. Sie wollten gar nicht analytische Geometrie lernen, sondern haben sich dafür interessiert, wie mein Haarschnitt ist, ob ich rasiert bin, ob mein Anzug gut sitzt, wie meine Krawatte sitzt, ob ich abends Zeit habe, oder ob ich nicht wenigstens sonntags Zeit hätte, ob ich schon ’ne Freundin habe. Anpfeifen konnte ich die Gören auch nicht. Eine Achtzehnjährige ist ja heiratsfähig. Andererseits war ich dem Lehrer gegenüber verantwortlich, dass die Mädels was lernten. Dann habe ich Folgendes gemacht: Ich bin immer mit derjenigen ausgegangen, die am besten war. Auf einmal haben die gelernt. (Ich habe später mit meinen pädagogischen Fähigkeiten mächtig angegeben, besonders vor einer befreundeten Lehrerin. Die sagte mir bloß: ›Das was Sie da gemacht haben, ist überhaupt keine Pädagogik. Sie haben lediglich gewisse erotische Erregungsmomente zu pädagogischen Zwecken missbraucht.‹)

In der letzten Stunde hatte ich Leute aus der Oberprima. Die sollten bei mir sphärische Trigonometrie lernen. Die sollte ich zum Abi einfuchsen. Das hat viel Spaß gemacht. Ich war in der öffentlichen Schule der schlechteste Schüler. (Zur Abendschule war ich noch nicht zugelassen, weil ich zu jung war. Und hier musste ich Leute in der höheren Mathematik zum Abi einfuchsen.)

Dann war es 6 Uhr abends, und ich musste Hals über Kopf dort los – auch sonnabends – und zum Bahnhof Börse fahren. Da fing dann die Abendschule an, also die eigentliche Tätigkeit, die für mich wichtig und produktiv war, als Vorbereitung aufs Abi. Ich habe dort meine Collegs gehört. Dann fuhr ich nach Hause. Um 10 Uhr abends ging meine S-Bahn. In Potsdam musste ich auf den Anschluss nach Wildpark raus warten. Um 12 Uhr kam der. Dann war ich meist so um 1 Uhr nachts im Hause, aß todmüde zu Abend. Um 2 Uhr lag ich im Bett, und um 6 Uhr musste ich wieder raus.«

Das war auf die Dauer eine unhaltbare Situation. Auf einer Schule vormittags durchhalten, abends zwei Klassen höher konzentriert mitarbeiten und zwischendurch Unterricht solchen Schülern geben, die von einer Schule kamen, auf der er einer der Schlechtesten gewesen war! Übrigens hatte er seinen Schülern von der Victoria-Schule gelegentlich Grüße an den Mathelehrer dort aufgetragen, bei dem er die Note »mangelhaft« erhalten hatte, und an seinen ehemaligen Chemielehrer, der sich noch deutlich an seinen »Gasangriff« erinnerte.

Seine Leistungen in der öffentlichen Schule wurden schlechter und schlechter. Die Nachhilfestunden konnte er aber nicht aufgeben, denn er brauchte das Geld dringend. Dafür bezahlte er seinen eigenen Nachhilfeunterricht, den er am Sonntag nahm, und Bücher, aus denen er sich vorbereiten konnte. Seine Eltern wussten nicht, dass Burkhard noch in die Abendschule ging und Unterricht nahm, um im Abi möglichst gut abzuschneiden. Er setzte sich sonntags in die Bahn und fuhr nach Berlin.

Dieses Leben hielt er nicht lange durch. Im März 1943 klappte er völlig zusammen. Er hatte einen ganzen Tag lang schlafen müssen. Auch seine Leistungen in der Abendschule ließen etwas nach. Direktor Gabbe merkte das und fragte ihn: »Was ist denn eigentlich mit Ihnen los? Sie sehen schlecht aus. Erzählen Sie mir, woran das liegt.« Burkhard kam damit raus, dass er in Wahrheit auf zwei Schulen gehe und nachmittags noch Unterricht geben müsse. »Das ist Unsinn«, meinte Gabbe, »Sie müssen sich jetzt entscheiden, einen Weg können sie nur einschlagen. Die Gesundheit geht vor! Entweder, Sie geben das Dorotheen-Gymnasium auf, oder umgekehrt. Das Abi erfordert den ganzen Menschen.«

Burkhard hatte in der Abendschule einen Freund, der sieben oder acht Jahre älter als er war. Zum Wehrdienst war er wegen eines schweren Herzfehlers nicht eingezogen worden. Er war besonders gut im Fach Deutsch, und Burkhard beherrschte die naturwissenschaftlichen Fächer. So halfen sie sich gegenseitig aus. Als Burkhard ihm von seinen Nebentätigkeiten erzählte, wurde er böse: »Bist du wahnsinnig geworden? In ein paar Monaten stehst du vor dem Abi. Da kannst du doch nicht am Morgen in diesen Kindergarten gehen. Fahr ruhig herüber. Du kommst aber vormittags zu mir, schläfst dich erst mal aus, und dann arbeiten wir zusammen. Den Nachmittagsunterricht kannst du ruhig beibehalten, da lernst du reden. Kerl, das wäre doch gelacht, wenn wir das Abi nicht schafften.«

Burkhard folgte seinem Rat. Aus dem Gymnasium blieb er einfach unentschuldigt fort. Bei seinem Freund holte er vormittags zwei Stunden Schlaf nach. Dann wurde gearbeitet. Er meinte später, dass er mit dem Freund zusammen in den wenigen Stunden mehr gelernt hätte als in einer Woche auf der öffentlichen Schule. Auf der öffentlichen Schule fehlte er unentschuldigt. Das war ein Staatsverbrechen!

Vier Wochen lang ging es gut. Dann kam zu Ostern der blaue Brief: »Da Ihr Sohn schon vier Wochen unentschuldigt fehlt …« Das bedeutete für Burkhard häusliche Katastrophen. Mutter Heim wusste, ihr Sohn fuhr jeden Morgen ordnungsgemäß nach Berlin. Sie musste notwendigerweise glauben, er sei auf die schiefe Bahn geraten. Burkhard musste ihr reinen Wein einschenken und ihr auseinandersetzen, dass die doppelten Schulbesuche für ihn ein Hundeleben darstellten, das er nicht mehr länger körperlich durchhalten konnte. Er wolle jedoch auf alle Fälle sein vollgültiges Abitur machen. Mutter Heim warnte Burkhard, nur nichts dem Vater davon zu erzählen. Sie schildert ihre Zwickmühle so: »Ich habe erst einen entsetzlichen Schreck bekommen. Dann habe ich mir die Sache überlegt und dachte, vielleicht hat der Junge doch recht. Ich sah ja, dass er arbeitete. Dann habe ich ihm Entschuldigungszettel ausgestellt. Ich habe mit ihm unter einer Decke gesteckt. Dann kam auch dieser junge Herr Petersdorf, mit dem er zusammen arbeitete, recht häufig zu uns nach Potsdam raus. Ich sah, wie ernsthaft gearbeitet wurde und was die Jungens schafften.«

Mutter Heim versuchte also, Ausreden für die Schule zu finden. Von da an entspannte sich die Lage. Burkhard musste nicht mehr so früh aufstehen und wegfahren. Doch Mitte April kam der zweite blaue Brief. Das war Burkhard Heims zweiter »Rausschmiss« aus einer Schule. Das Abgangszeugnis wurde gleich mitgeschickt. 90 Prozent aller Noten waren »mangelhaft«. Burkhard berichtet: »Nachdem ich also von der öffentlichen Schule – wohlbemerkt aus der Untersekunda – herausgeflogen bin, stand ich 15 Tage später vorm Schulrat und habe mein Abi vor einer staatlichen Kommission gemacht: Mathe: ›gut‹, Physik: ›gut‹, Chemie: ›sehr gut‹. Und das war damals bedeutend: vor einer Kommission! Der Mathelehrer war erstaunt und sagte zu mir: ›Bitte, was ich bis jetzt gehört habe, ist ganz ordentlich. Aber, sagen Sie, integrieren können Sie doch auch. Entwickeln Sie mir doch mal aus der Kreisgleichung die Volumenformel für eine Kugel.‹ Ich habe ihm dann das Integral entwickelt, aber auf eine Tour, wie man’s nur auf der Uni macht: Kubisches Integral plus Raumelement, und das in Polarkoordinaten transformiert,