Burnout mit 25? - Beate Wilken - E-Book

Burnout mit 25? E-Book

Beate Wilken

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Beschreibung

Junge Erwachsene sind heute hohen gesellschaftlichen Anforderungen ausgesetzt. Sie stehen unter großem Druck, sich stets zu optimieren, in allem ihr Bestes zu geben und sich selbst zu vermarkten, um in unserer beschleunigten Welt mithalten zu können. Gleichzeitig sehen sie sich einer Welt im "Dauerkrisenmodus" gegenüber, in der nichts mehr selbstverständlich scheint und in der ihre Zukunft unsicherer ist als je zuvor. Die Zahl psychischer Störungen von Menschen im Alter zwischen 20 und 30 steigt seit Jahren stark an. Viele fühlen sich von Gesellschaft und Politik übergangen; ihre Anliegen werden nicht gehört. Dieses Buch möchte ihnen "eine Stimme" geben. Zahlreiche Zitate junger Menschen aus persönlichen Gesprächen mit und Befragungen von Betroffenen bilden das Kernstück des Buches. Die Ergebnisse der Befragungen und Recherchen verdeutlichen, wie sehr die Bedingungen unseres aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, seine Normen und Automatismen, aber auch die aktuellen Zukunftsbedrohungen zum Leiden heute junger Menschen beitragen und dass dies keinesfalls als deren individuelles Versagen oder persönliche Schwäche zu werten ist. Aus dem Inhalt: - Optimierungsdruck "nie gut genug sein" - Beschleunigung und durchgetaktete Lebensabläufe - soziale Vergleiche und die Vermarktung des Selbst auf Social Media - die Überforderung durch eine Vielfalt von Optionen und die Suche nach Orientierung - das Aus des Narrativs von immer mehr Wachstum und Konsum - finanzielle Sorgen und Wohnungsnot - eine bedrohte Zukunftsperspektive durch den Klimawandel und weitere globale und gesellschaftliche Krisen - Ohnmachtserleben "sich nicht gehört fühlen von den älteren Generationen"

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Inhalt

Cover

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1 Warum dieses Buch?

2 Optimierungsdruck und Perfektionismus: »Nie gut genug sein«

3 Beschleunigung und durchgetaktete Lebensabläufe schon seit der Kindheit: G8, Bologna-Reform & Co.

4 Social Media: Soziale Vergleiche, FOMO und die Vermarktung des Selbst

5 Die Vielfalt der Optionen: Angst vor falschen Entscheidungen und Suche nach Orientierung

6 Das Aus des Narrativs von immer mehr Wachstum und Konsum: Finanzielle Sorgen, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Arbeitsplatzunsicherheit

7 Die Klimakatastrophe: Zukunftsangst und reduzierte Zukunftsperspektive

8 Real gewordene Dystopien (Coronakrise, Ukraine-Krieg ...): »Was kommt jetzt noch alles?«

9 Ohnmachtserleben und Resignation: »keine Macht haben«, »sich nicht gesehen/gehört fühlen von den älteren Generationen«

10 Was hilft? Was tun? Hoffnung gebende Ideen und gesellschaftliche Visionen

11 Persönliche Schlussbemerkung: Wehrt Euch!

Einige weiterführende Informationen

Tipps zum Weiterlesen

Adressen und Anlaufstellen

Kohlhammer

Die Autorin

Dr. phil. Beate Wilken ist Psychologische Psychotherapeutin sowie Ausbilderin und Supervisorin für Verhaltenstherapie. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der Universität Münster arbeitet sie seit vielen Jahren in eigener Praxis. Sie ist Mutter von drei Kindern. www.dr-beate-wilken.de

Beate Wilken

Burnout mit 25?

Junge Erwachsene zwischen Optimierungsdruck, Dauerkrisen und Zukunftsangst

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043595-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-43596-4epub:ISBN 978-3-17-43597-1

1 Warum dieses Buch?

»Ich ›funktioniere‹ zwar, hab gerade meinen Bachelor gemacht, aber dann kommt sofort die nächste Herausforderung, nie hab ich wirklich Ruhe ... Immer vergleiche ich mich mit anderen und denke, die kriegen ihr Leben besser hin als ich, ich bin einfach nur nicht gut genug dafür das hinzukriegen. Ich reiche irgendwie nicht aus. Ich lächle zwar in meine Smartphonekamera, aber innerlich bin ich ein emotionales Wrack. ... Und ich hab nur noch Angst. Angst, nicht mithalten zu können und mein Leben nicht zu schaffen, Angst auch nicht genug Geld zu verdienen, um mir mal eine gute Wohnung leisten zu können. Und dann die Klimakrise. Ich fühle mich so ohnmächtig, weil so wenig getan wird. Der Krieg, all das was so schiefläuft in unserer Gesellschaft lässt mich erstarren und nimmt mir die Hoffnung für meine Zukunft.« (E., 24 J.)

Es geht mir in diesem Buch um Menschen wie E. – um junge Erwachsene zwischen ca. 20 und 30 Jahren, die sich in unserer Gesellschaft aktuell hohen Anforderungen gegenübergestellt sehen, gleichzeitig aber einer Zukunft entgegengehen, die unsicherer ist als je zuvor. Von der Gesellschaft und von der Politik wurden sie bisher wenig beachtet und in den letzten Jahren bei vielen Entscheidungen (z. B. in der Coronakrise) sogar sträflich übergangen. Ihr Kampf um eine für sie lebenswerte Zukunft fühlt sich für viele von ihnen an wie ein Kampf »gegen Windmühlen«. Im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs werden sie gerne etikettiert als »zu verwöhnt«, »nicht belastbar«, »nicht arbeitswillig«. Ich hoffe, dass den Leser*innen am Ende dieses Buches deutlich geworden sein wird, dass solche pauschalen Urteile mitnichten gerechtfertigt sind.

Die Idee zu diesem Buch entstand zunächst aus meinem Praxisalltag als ambulant tätige Psychologische Psychotherapeutin. Immer häufiger begegneten mir dort in den letzten Jahren (und auch schon vor Beginn der Coronakrise) junge Menschen zwischen ca. 20 und 30 Jahren mit Erschöpfungszuständen – schweren Erschöpfungszuständen, wie ich sie in meiner langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin so zuvor nur bei Menschen ab 50 Jahren aufwärts gesehen hatte (z. B. nach jahrelangen Überlastungszuständen im Beruf oder in der Familie). Oft waren diese Erschöpfungszustände verbunden mit starken Selbstzweifeln und Zukunftsängsten, bei vielen Betroffenen auch mit Depressionen und anderen psychischen oder psychosomatischen Störungen. Dabei handelte es sich bei diesen jungen Patient*innen in der Regel um gut ausgebildete, in relativem Wohlstand aufgewachsene, von ihren Eltern geförderte und politisch informierte, verantwortungsvolle junge Menschen. Die meisten von ihnen waren Studierende oder standen in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit.

Die Statistiken, u. a. auch die jährlichen Berichte der großen Krankenkassen zu ihren Versicherten, bestätigten meinen subjektiven Eindruck: Die Zahl junger Menschen mit psychischen Störungen und psychischen Problemen steigt seit Jahren an, und dies nicht erst seit der Coronakrise, die die Situation noch einmal verschlimmert hat.

So benennt z. B. die Techniker Krankenkasse eine diesbezügliche Studie der Columbia-Universität von 2018: In dieser Studie unter Studienanfängern in acht Ländern, darunter auch Deutschland, gaben 35 % der Studierenden an, dass sie schon einmal von psychischen Störungen wie z. B. Angststörungen oder Depressionen betroffen gewesen seien.1 Im Arztreport der Barmer von 2018 wird berichtet, dass 2016 25,8 % der 18- bis 25-Jährigen von einer psychischen Erkrankung (wie Depressionen und Angststörungen) betroffen gewesen seien. Speziell die Zahl junger Erwachsener mit einer depressiven Erkrankung sei zwischen 2005 und 2016 um 76 % gestiegen.2 Bei einer Befragung des Portals Linkedin von 2018 gaben 67 % der deutschen Arbeitnehmer*innen an, vor ihrem 30. Lebensjahr schon einmal eine schwere Krise gehabt zu haben.3 Laut einer Befragung der Techniker Krankenkasse vom Januar 2023 sind aktuell 37 % (!) der Studierenden stark emotional erschöpft und daher von einem Burnout bedroht. Auch die Verordnung von Psychopharmaka habe in dieser Altersgruppe deutlich zugenommen.4 Und auch eine Online-Umfrage der AXA-Versicherung von 2023 ergab eine Zunahme von psychischen Beschwerden und Erkrankungen bei jungen Erwachsenen.5

Daher drängte sich mir immer mehr die Frage auf: Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Was verbindet diese jungen Leute? Was sind – über individuelle Aspekte hinaus – die Belastungen, die diese jungen Menschen zu tragen haben? Was sind die Themen, die sie beschäftigen? Was sind die Aspekte unserer Gesellschaft und ihrer Lebenswelt, die dazu beitragen, dass viele von ihnen sich schon im Alter von 25 oder 30 Jahren als erschöpft und »ausgebrannt« erleben und nur wenig Freude und Zuversicht für ihr Leben entwickeln können?

Diese Frage ließ mich nicht mehr los. Ich begann nicht nur mit meinen Patient*innen in der Praxis, sondern auch mit weiteren jungen Menschen aus meinem privaten und beruflichen Umfeld über dieses Thema zu sprechen, und ich begann, in der psychologischen und soziologischen Literatur nach möglichen Erklärungen zu suchen. Ich führte Interviews mit einzelnen Betroffenen durch und startete eine Internetumfrage mit Hilfe eines Umfrageportals, in dem die Teilnehmer*innen mir – völlig anonym – Fragen zu den o. g. Aspekten beantworten konnten.6

Das wichtigste Ergebnis dieser Gespräche und Recherchen vorab: Die Ursachen für die geschilderten Erschöpfungszustände bzw. Empfindungen sind keinesfalls allein in den individuellen Begebenheiten der Betroffenen zu suchen. Es wäre schlichtweg falsch, sie als persönliches »Versagen« oder »Schwäche« der Einzelnen abzutun! Auch eine Psychotherapie, die allein auf die Stärkung von Stressbewältigungsstrategien und Resilienz auf individueller Ebene abzielt, greift meines Erachtens hier zu kurz. Vielmehr wurde mir im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Thema zunehmend deutlich, wie sehr die aktuellen Lebensbedingungen in unserer an Wachstum und ständiger Effizienzsteigerung orientierten Gesellschaft und die durch diese Bedingungen geprägten Normen und Automatismen gerade junge Menschen in diesem Alter belasten und bei ihnen zu massiven Erschöpfungsreaktionen und zu einer mangelnden Zuversicht für das eigene Leben beitragen können. In der deutschsprachigen Soziologie werden diese Bedingungen seit Jahren in ihren Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerung diskutiert; Veröffentlichungen zahlreicher renommierter Soziologen wie Alain Ehrenberg (»Das erschöpfte Selbst«), Byung-Chul Han (»Die Müdigkeitsgesellschaft«), Hartmut Rosa (»Beschleunigung und Entfremdung.«) oder Armin Nassehi (»Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft.«) verweisen darauf. Wie sich diese Bedingungen speziell auf das Leben junger Menschen auswirken können, wurde bisher jedoch nur wenig untersucht.

Wichtige Stichpunkte sind in diesem Zusammenhang für mich:

der Zwang zur Optimierung in nahezu allen Lebensbereichen,

eine »beschleunigte« Gesellschaft und durchgetaktete Lebensabläufe,

die Belastung durch soziale Vergleiche (gefördert durch Social Media),

die Vermarktung des Selbst,

Konkurrenz statt Solidarität,

Häufig erforderliche Wohnort- und Arbeitsplatzwechsel,

die Überforderung durch eine Vielfalt von Optionen in Entscheidungssituationen,

der Verlust von Halt und Sicherheit in stabilen Beziehungsstrukturen,

finanzielle Sorgen und

Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

Dazu kommen aktuell weltweite Bedrohungsszenarien, mit denen die vorhergehenden Generationen in dieser Form nicht konfrontiert waren: die zunehmend spürbare Bedrohung sämtlicher zukünftiger Lebensgrundlagen durch den Klimawandel und andere damit verwobene ökologische Krisen, die Bedrohung der Gesundheit durch eine Pandemie, die Bedrohung unserer demokratischen Gesellschaftssysteme durch zunehmenden Rechtsradikalismus und Autoritarismus und aktuelle Kriege, deren Folgen langfristig noch gar nicht absehbar sind.

All diese Themen »erdrücken« und »bedrücken« die heutigen Mittzwanziger*innen (zusätzlich zu möglicherweise vorhandenen sonstigen individuellen Problemen und Schwierigkeiten) und machen für manche die eigene Zukunft zunehmend »unplanbar«.

So sagt z. B. R., 27 J., zum Thema Optimierungsdruck: »Ich war noch nie wirklich glücklich und zufrieden mit mir, noch nie richtig unbeschwert. Immer trage ich das Gefühl in mir, nicht gut genug zu sein, in dieser Gesellschaft nicht mithalten zu können, egal in welchem Lebensbereich.«

Und N., 26 J., schreibt zum Thema Zukunftsperspektive: »Über der Zukunft steht ein großes Fragezeichen. So fällt es mir tatsächlich auch schwer über Dinge wie einen Kinderwunsch nachzudenken. Über der Zukunft liegt ein Schatten. Altersvorsorge? Für mich gerade irrelevant. Ich glaube ehrlicherweise nicht, dass ich geruhsam alt werden werde.«

Eine amerikanische Freundin, der ich von diesem Buch erzählte, beschrieb junge Menschen dieses Alters mit den Worten: »They feel so much pressure – always trying to be better, fitter, prettier ... And they have so little hope for their future.« Auch in dieser Formulierung konnten sich viele meiner Gesprächspartner*innen wiederfinden.

Wen möchte ich mit diesem Buch erreichen?

Ich habe dieses Buch für die betroffenen jungen Menschen geschrieben. Es würde mich freuen, wenn sie hier feststellen könnten, dass sie mit ihrem Fühlen nicht allein sind und dass es dafür Ursachen gibt, die eben nichts mit individuellem Versagen oder persönlicher Schwäche zu tun haben und gegen die sie sich wehren können.

Zum anderen möchte ich mich aber auch explizit an die Eltern und Großeltern, Professor*innen und Arbeitgeber*innen, Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen dieser jungen Menschen sowie alle, die in dieser Gesellschaft politische Verantwortung tragen, richten. Sie können ein besseres Verständnis für die Belastungen und Lebenswelten dieser jungen Menschen entwickeln – vielleicht und hoffentlich mit der Schlussfolgerung, gemeinsam mit ihnen an einer für sie lebenswerten Zukunft zu arbeiten.

Dieses Buch soll keine wissenschaftliche Abhandlung sein, die philosophisch-soziologisch-psychologisch-wissenschaftlichen Kriterien standhält. So stellen z. B. die von mir Befragten keineswegs eine repräsentative Stichprobe dar, aus der sich wissenschaftlich valide Aussagen über alle Menschen ihren Alters ableiten ließen. Es handelt sich eher um einen Erfahrungsbericht aus meiner Praxis und meinem Lebensumfeld in der Auseinandersetzung mit jungen Menschen dieser Generation, denen und deren zunehmenden Leid ich hier »eine Stimme« geben möchte. Gleichzeitig soll es ein Aufruf sein – sowohl an die Betroffenen wie auch an uns als Gesellschaft insgesamt – die »krankmachenden« und »erschöpfenden« Bedingungen, unter denen heute junge Menschen aufwachsen, zu hinterfragen und – bestenfalls – aktiv für eine Veränderung einzutreten.

Auch den Begriff »Burnout« möchte ich im Übrigen hier nicht im streng wissenschaftlich-medizinischen Sinne verstanden wissen. Die gerade neu entwickelte ICD 11 (International Classification of Diseases) benennt spezifische, für die Diagnose eines »Burnout-Syndroms« erforderliche Symptome und grenzt den Begriff sehr eng auf die Folgen von chronischem Stress am Arbeitsplatz ein. In diesem Buch wird »Burnout« hingegen eher alltagssprachlich verwandt und synonym gesetzt mit weiter gefassten Begriffen wie »starker physischer und psychischer Erschöpfung«, »Überlastung«, »Ausgebrannt-Sein«, »am Limit sein«, »Lebens- und Sinnkrise«. Diese Beschwerden werden als Reaktion auf eine bereits länger andauernde Stress- und Belastungssituation in verschiedenen Lebensbereichen gesehen und können im Sinne eines Risikofaktors zur Entstehung von Depressionen, Angststörungen oder auch anderen psychischen Erkrankungen beitragen bzw. damit einhergehen.

Ganz herzlich und ausdrücklich bedanken möchte ich mich bereits an dieser Stelle bei den jungen Menschen, die ich im Rahmen meiner Recherchen mündlich und schriftlich befragt habe, und die ich gebeten habe, ihre Aussagen hier zitieren zu dürfen. Diese zahlreichen Zitate, die einen zentralen Bestandteil des Buches bilden, sollen im Folgenden ihre Lebens- und Weltsicht anschaulich illustrieren. Also nochmals herzlichen Dank an all die (zum großen Teil für mich auch anonymen) Mitstreiter*innen an diesem Projekt!

Endnoten

1Techniker Krankenkasse. Die Quaterlife-Crisis. Das Studium. Zugriff am 14. 04. 2023 unter: www.tk.de/techniker/die-quarterlife-crisis---das-studium-2078096

2Barmer. Arztreport 2018. Zugriff am 25. 06. 2023 unter: www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-erkrankungen/psychisch-kranke-studierende-1056490

3LinkedIn Corporation (2018). Quarter-Life-Crisis – Das unterschätzte Massenphänomen bei Mittzwanzigern. Zugriff am 04. 01. 2023 unter: www.presseportal.de/pm/64022/3878627

4www.zeit.de/gesundheit/2023-06/studierende-burnout-gesundheitsreport-techniker-krankenkasse, 28. 06. 2023, Zugriff am 28. 06. 2023. Laut der Umfrage an rund tausend Studierenden bezeichneten sich im Januar 2023 68 % als durch Stress erschöpft, 55 % klagten über Kopfschmerzen, 55 % auch über Rückenschmerzen, 53 % litten unter Konzentrationsstörungen, 43 % unter Schlafproblemen, 37 % bezeichneten sich als stark emotional erschöpft. Die erhöhte psychische Belastung spiegle sich auch in einer häufigeren Verschreibung von Antidepressiva bei den bei der TK versicherten Studierenden wider.

5AXA Pressemitteilung: AXA Mental Health Report (2023) vom 28. 02. 2023, Zugriff am 01. 03. 2023 unter: www.axa.de/presse/axa-mental-health-report-2023

6Die Gespräche fanden zum größten Teil von Oktober bis Dezember 2022 mit zu diesem Zeitpunkt 20- bis 30-Jährigen statt. Bei den hier zitierten jungen Leuten handelt es sich also um Angehörige der Geburtsjahrgänge 1992 – 2002. Ich nennen sie hier Mittzwanziger*innen oder junge Erwachsene. Von den Generationenbezeichnungen Y und Z habe ich bewusst Abstand genommen, da sie wissenschaftlich umstritten und m. E. nicht aussagekräftig sind. Die Anfangsbuchstaben der Vornamen wurden willkürlich gewählt, um keine Rückschlüsse auf die betroffenen Personen zu ermöglichen.

2 Optimierungsdruck und Perfektionismus: »Nie gut genug sein«

»Ich stehe unter enormen Druck, mein Leben ›hinzukriegen‹. Den richtigen Job zu finden, nebenbei das Studium zu absolvieren, sozial engagiert und eingebunden zu sein. Ich bin nicht zufrieden mit mir, weil ich nicht das Gefühl habe, die ganzen Anforderungen meistern zu können. ... Selbstabwertende Gedanken nehmen mir zusätzlich Energie. ... Es sind so viele Bereiche, in denen ich das Gefühl habe »abliefern« zu müssen ... (Aussehen, Sport, politisches Engagement). Und ich komme nicht hinterher.« (L., 27 J.)

Viele der jungen Erwachsenen, mit denen ich im Laufe meiner Recherchen gesprochen habe oder die mir geschrieben haben, haben das Gefühl, niemals »gut genug« zu sein. Sie hangeln sich von einer Herausforderung zur anderen, schaffen auch vieles, scheinen aber nie wirklich zufrieden mit sich; Zufriedenheit ist bei ihnen immer mit einem »aber« belegt.

Ihre Eltern sorgen sich und fragen: Wie kann es sein, dass mein 20-‍, 25- oder 30-jähriges »Kind« – in Sicherheit und relativem Wohlstand aufgewachsen und gut ausgebildet – nicht zufriedener und unbeschwerter ist? Und wie kann es sein, dass viele nicht nur nicht glücklich sind, sondern sogar ernsthafte psychische Probleme entwickeln?

Ein Aspekt, der derzeit breit diskutiert wird, ist dabei zunächst der Perfektionierungs- und Optimierungsdruck, der in unserer Gesellschaft herrscht.7 Wir leben mittlerweile in einer Welt der Bewertungen und »Rankings«; alle stehen miteinander im Wettbewerb. Nicht nur Firmen und Unternehmen stehen dabei in Konkurrenz zueinander, sondern auch z. B. Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Kommunen, ja ganze Regionen und Staaten – und nicht zuletzt auch wir alle als Individuen. Wir alle konkurrieren z. B. um gute Schulabschlüsse, Studienplätze, berufliche Karrieren, Wohnungen, Konsummöglichkeiten, aber auch um die Anerkennung durch andere und Wertschätzung. Um zu sehen, wo wir bezüglich eines bestimmten Aspekts in unserem Leben »stehen«, müssen wir uns mit anderen vergleichen und uns selbst und »die anderen« diesbezüglich stets »im Auge behalten« und bewerten. Dabei bewerten wir zunehmend nicht nur unsere schulische und berufliche Leistungsfähigkeit, sondern – seit der Entwicklung von Social Media verstärkt – auch nahezu alle anderen Lebensbereiche unseres »privaten« Lebens: unsere Freizeitaktivitäten, unsere sozialen Kontakte, unser Aussehen, unsere Persönlichkeit, unsere Partnerschaft, unseren Kleidungsstil, unsere Urlaubsreisen, unser politisches Engagement, die Musik, die wir hören, die Serien, die wir schauen, das Essen, das wir kochen und vieles andere mehr, in den letzten Jahren sogar zunehmend unsere körperliche und psychische »Fitness« und »Belastbarkeit«.

Dieses Bewerten und im Gegenzug auch »Bewertet-Werden« setzt unter Druck. Viele versuchen, ihr Bestes zu geben, um ihren eigenen Ansprüchen an sich und den (vermuteten und erwarteten) Ansprüchen anderer an sie zu entsprechen. Gerade junge Menschen, die bereits in dieser Optimierungs-‍, Vergleichs- und Bewertungskultur aufgewachsen sind, sind davon besonders betroffen – und zweifeln sehr stark an sich, wenn sie den Eindruck haben, nicht »mithalten« zu können.

Die folgenden Zitate gehen in eine ähnliche Richtung wie das eingangs genannte und sprechen meines Erachtens für sich:

C., 27 J.: »Mich belastet am meisten mein eigener Leistungsanspruch in allen Bereichen. Energie zieht mir besonders der Vergleich mit anderen, egal in welchem Bereich oder auf welche Art ... Immer ›verliere‹ ich, kann es aber auch nicht lassen ... Ich setze mich sehr unter Druck, gute berufliche Leistungen erbringen zu müssen, aber auch in anderen Lebensbereichen (Aussehen, Kleidung, Sport, Lebensstil, politisches Engagement etc.) stets ›gut‹ sein zu müssen. ... Zufrieden bin ich nicht; das war ich vielleicht noch nie.«

J., 28 J.: »Ich hab ... oft das Gefühl, dass ich immer noch nicht genug mache/bin, obwohl ich schon sehr viel tue ... Ich bin perfektionistisch und verzeihe mir relativ wenig ... Ich habe ständig ... das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ich glaube ich werte mich eher selber ab als dass andere mich abwerten ... Aber dann gibt es eben diese Leute, mit denen ich mich vergleiche und da fühle ich mich nicht gut genug und hab das Gefühl, nicht mithalten zu können.«

A., 30 J.: »Ich zweifle oft an meinen Leistungen sowohl auf der Arbeit als auch im Studium und finde, ich bleibe hinter dem zurück, was möglich wäre. Ich bin folglich nie ganz zufrieden mit mir.«

M., 28 J.: »Ich habe das Gefühl, allem nicht gerecht zu werden. Ausbildung, Freunden, politischem Engagement und dann noch mir selber.«

R., 30 J.: »Ich fühle mich erschöpft. Das Studium belastet mich sehr und die ständige Frage, ob es wirklich das ist, was ich in meinem Leben machen möchte. Häufig bin ich für die Erschöpfung selbst verantwortlich, da ich alles immer sehr gut machen möchte und dafür auch an bzw. über meine Grenzen gehe ... Besonders die Optimierung ist ein großes Thema für mich ... Ich habe häufig das Gefühl, erst etwas wert zu sein, wenn ich etwas geschafft oder für jemanden getan habe.«

T, 26 J.: »Ich habe ein großes Problem damit, meinen Selbstwert und meine Liebenswürdigkeit an Leistung zu koppeln. Das Gefühl, abliefern zu wollen/müssen, zieht sich tatsächlich durch alle Lebensbereiche, besonders ausgeprägt bei politischem Engagement und Beruf/Studium. Mir ist es wichtig, Dinge, die ich anfange, auch gut zu erledigen. Meine Ansprüche an mich sind hoch ... Ich habe Angst, nicht gut genug zu sein – eigentlich in jedem Lebensbereich.«

L., 24 J.: »Ich bin zufrieden mit dem, was ich bisher erreicht habe (sehr guter Bachelor-Abschluss). Trotzdem kann ich mich nicht richtig entspannen/auf diesem Gefühl ausruhen, sondern verspüre das Bedürfnis, immer die nächsten Schritte im Voraus planen zu müssen, auf alles möglichst gut vorbereitet zu sein, die Kontrolle zu haben und mir somit keine mögliche Option zu verbauen ... Mich belastet es, meinen eigenen Anforderungen nicht gerecht zu werden. ... Ich setze mich sehr unter Druck, vor allem in Bezug auf Uni, Freundschaften und soziales Engagement. Wenn ich mich gerade nicht so engagiere, habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen.«

H., 27 J.: »Es fällt mir schwer, mich nicht mit anderen zu vergleichen. Wenn meine Noten in der Uni unter den Bereich ›sehr gut‹ fallen, dann ist das für mich schwer zu ertragen. Häufig habe ich das Gefühl, mir durch meine Noten stetig selbst beweisen zu müssen, dass ich in Ordnung bin und klug genug für meinen weiteren Lebensweg bin.«

Nichts ist dagegen einzuwenden, sich »freiwillig« und aus eigenem Antrieb heraus für einen hohen Leistungs- und Optimierungsanspruch zu entscheiden – im politischen, künstlerischen, sozialen, familiären oder auch im beruflichen Bereich. Die Schriftstellerin, die ihre Texte immer wieder überarbeitet, bis sie schließlich eine endgültige, für sie »perfekte« Fassung findet, Sportler*innen, die bei ihrem Training »alles aus sich herausholen« wollen, der Musiker, der immer weiter übt, um sich an seinem Instrument noch mehr zu verbessern, Menschen, die sich aus Spaß am Kochen bemühen, zur Freude ihrer Gäste ihre Kochrezepte zu »perfektionieren« etc. pp. – Alles das ist gut. Es ist wunderbar, dass es Menschen gibt, die sich – einfach, weil sie Freude an einer Tätigkeit haben und sie als sinnhaft erleben – bemühen, sehr gute Leistungen zu erbringen und die dann ihren Erfolg auch genießen können!

Schwierig wird es, wenn der Anspruch, stets möglichst »Optimales« zu leisten, als Druck oder Zwang empfunden wird, als ein gesellschaftliches »must«. Und erst recht schwierig wird es, wenn sich der Optimierungsanspruch nicht nur auf einen Lebensbereich (z. B. den Beruf, ein Hobby, den Sport o. ä. bezieht), sondern auf nahezu sämtliche Aspekte des Lebens und des Selbst. Dann sind Überforderung, ständige Selbstzweifel und Erschöpfung und ggf. auch die Entwicklung psychischer Störungen vorprogrammiert.

Genau das geschieht in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft und belastet sicherlich viele von uns, wird aber vor allem von den jüngeren Menschen, über die ich hier schreibe, als besonders belastend erlebt.

Dass es immer mehr gerade junge Menschen gibt, denen ihr Perfektionismus und Selbstanspruch »zum Fluch« wird, ist ein neues gesellschaftliches Phänomen und bedenkenswert. Sie zweifeln selbst bei guten oder durchschnittlichen Leistungen stark an sich und empfinden sich – wie die o. g. Zitate zeigen – als »nicht gut genug« oder »nicht ausreichend«. Sie können sich nur schwer mit ihren Stärken und Schwächen so annehmen wie sie sind. Für sie wird aus der Präferenz bzw. dem Wunsch, gerne (aus eigenem Antrieb heraus) Leistungen zu erbringen und gut sein zu wollen, der Zwang, stets gut sein zu müssen, sich keine Fehler erlauben zu dürfen. Und gleichzeitig spüren sie, wie unmöglich es ist, dieses Ziel zu erreichen.

Denn das Fatale ist: Menschen, die vollkommen »perfekt« sein wollen und sich stets optimieren möchten, laufen ihr Leben lang einem unerreichbaren Ziel hinterher. Sie kommen niemals am Ziel an, denn »nach oben hin« gibt es ja immer noch weitere Verbesserungsmöglichkeiten. Und sie können deswegen auch Erfolge bei Zwischenzielen nicht wirklich genießen, sich nicht wirklich darüber freuen und dauerhaft zufrieden sein, denn sie haben ja das eigentliche Ziel, das »Optimum«, noch lange nicht erreicht.

So schreibt z. B. die 27-jährige H.: »Ich frage mich häufig: Ist es überhaupt ok, zufrieden zu sein? Ich könnte mich doch an dieser oder jener Stelle noch verbessern.«

Eine solche Person kann sich auch in ihrer Freizeit nicht wirklich entspannen und erholen, denn der nächste Schritt auf dem Weg zum (unerreichbaren) Ziel wartet ja schon. Selbst die »Freizeit« (▸ Kap. 3) ist dann mit einem schlechten Gewissen belegt (»Müsste ich nicht eigentlich jetzt doch eher noch dies oder das erledigen ...?«). Muße und Erholung kommen zu kurz, Stress wird zum Dauerzustand.

Die 26-jährige N. formuliert: »Die Kombi aus ständiger Selbstoptimierung und trotzdem nie erreichbarer Zufriedenheit ist schwierig. Man ist irgendwie gestresst und nie zufrieden.«

Doch gibt es bereits Studien dazu? Haben Optimierungsdruck und Perfektionismus tatsächlich in den letzten Jahren gerade bei jungen Menschen zugenommen?

Das Deutsche Ärzteblatt berichtet 2022 in einem Artikel mit dem Titel »Der Drang zur Optimierung«8 vom zunehmenden Perfektionismus junger Menschen und benennt diesbezügliche Studien. Dabei nehme der Perfektionismus bei jungen Leuten – vor allem Studien aus dem angloamerikanischen Bereich zufolge – nicht nur in Schule, Studium und Beruf, sondern auch in vielen privaten Bereichen zu. Er müsse in psychotherapeutischen Behandlungen insbesondere bei jüngeren Menschen mehr beachtet werden. »Perfectionism« (Perfektionismus) wird dabei im Allgemeinen verstanden als die Formulierung sehr hoher Ansprüche an sich selbst, bei gleichzeitig sehr harscher Selbstkritik bei Nichterreichen dieser Ziele. In der deutschsprachigen Literatur wird eher von »Optimierung« im Sinne einer stetigen Selbstverbesserung gesprochen.

Der Perfektionismus bzw. die Optimierung beziehe sich, so der Artikel, neben Studium und Ausbildung, in denen Höchstleistungen angestrebt würden, auf nahezu alle Bereiche der Lebensführung und des Selbst: z. B. auch auf Hobbies und soziale Aktivitäten, die zunehmend perfektionistisch gestaltet würden, die Freizeit, in der möglichst viel erlebt werden müsse, den Bekannten- und Freundeskreis, der »stimmen« müsse, den gesamten Lebensstil (inklusive Ernährung, Kleidung), der höchsten Ansprüchen genügen müsse. Auch im Bereich Paarbeziehungen gebe es zunehmenden Perfektionismus: Viele jüngere Menschen hätten heute sehr viel höhere Ansprüche an potenzielle Partner als früher, investierten sehr viel Zeit in aufwändige Suchen auf Onlinebörsen, erwarteten dann ein perfektes Zusammenleben. Diese Ansprüche seien so hoch, dass dadurch viele Beziehungen erst gar nicht zustande kämen oder aber frühzeitig scheiterten. Auch im Bereich Aussehen sei der Perfektionierungsdruck nicht zuletzt aufgrund der idealisierten Darstellungen in den Social Media extrem hoch: Es gälte, dem jeweils aktuellen Ideal zu entsprechen; viele trauten sich nicht mehr, natürlich auszusehen und griffen zu Hilfsmitteln, um sich in natura und auf Fotos möglichst perfekt zu präsentieren; Schönheitsoperationen würden immer häufiger. Ein weiterer Bereich, auf den sich der Perfektionismus beziehen kann und der von den von mir Befragten häufig genannt wird, ist auch der Bereich des politischen Engagements und der eines nachhaltigen Lebensstils: Auch hier stellen viele extrem hohe Anforderungen an sich und gestatten sich dabei keine Ausnahmen und Auszeiten, was überfordern kann. Eine extreme Form nimmt das Perfektionsstreben an, wenn es sich auf die gesamte Persönlichkeit, das gesamte »Selbst«, inklusive der eigenen körperlichen und psychischen Fitness (und Gesundheit) bezieht, die optimal gefördert werden sollen, um möglichst leistungsfähig zu sein.9 Dieses Phänomen, nämlich die Optimierung der eigenen körperlichen und mentalen Funktionen zum Zwecke der Förderung der eigenen Leistungsfähigkeit, wird im deutschsprachigen Raum im engeren Sinne unter dem Begriff der »Selbstoptimierung« diskutiert. Beispiele für solche Selbstoptimierungspraktiken sind z. B. bestimmte Formen der Ernährung oder auch der Medikation, Ausdauer- und Krafttrainings, die exzessiv betrieben werden, das Vermessen der eigenen Fitness durch Fitnesstracker, die Teilnahme an Achtsamkeits- und Yogakursen zur Förderung der eigenen Stressbelastbarkeit – um hier nur einige zu nennen.

Auch die kanadischen Psychologen Gordon Flett und Paul Hewitt berichten 202210, dass aktuell sehr viele Jugendliche und junge Erwachsene von Perfektionismus betroffen seien und sogar die Zahlen von Kindern, die bereits den Druck schildern, perfekt sein zu müssen, angestiegen seien. Sie gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung in Zukunft auch noch mehr ausweiten wird. Hewitt bezeichnet in diesem Zusammenhang den Perfektionismus sogar als »Epidemie« unserer Zeit.

Die wohl umfangreichste bisher vorliegende Studie zur Frage, ob Perfektionismus und Optimierungsdruck in den letzten Jahren bei jungen Menschen zugenommen haben, wurde von den beiden renommierten britischen Psychologen Thomas Curran und Andrew Hill durchgeführt. In ihrer 2019 veröffentlichten Untersuchung11 kommen sie zu dem Ergebnis, dass der Perfektionismus bei der heutigen Generation junger Menschen im Vergleich zu früheren Generationen deutlich zugenommen habe. Sie werteten in einer Metaanalyse die Daten von 146 (!) Studien aus, in denen zwischen 1989 und 2016 insgesamt 41.641 (!) amerikanische, kanadische und britische College-Studierende diesbezüglich befragt wurden. Sie stellten fest, dass die Studierenden 2016 deutlich perfektionistischer waren als 1989. Sie hätten höhere Ansprüche an sich und auch an andere und auch den Eindruck, dass andere (die Gesellschaft, ihre Familie, ihr soziales Umfeld) mehr von ihnen verlangten und erwarteten. Insbesondere die zuletzt genannte Dimension, die sie als »gesellschaftlich vorgegebenen Perfektionismus« bezeichnen, sei besonders stark angestiegen; gerade diese Dimension stehe aber auch in einem besonders engen Zusammenhang zur Entwicklung von psychischen Störungen wie Ängsten und Depressionen.

Die Zunahme von Perfektionsstreben und Optimierungsdruck speziell unter jungen Menschen scheint also durchaus belegt zu sein. Welche Erklärungen geben die Autoren für diese Zunahme?

Curran und Hill (2019) benennen in sehr deutlicher Form gesamtgesellschaftliche Ursachen. Vor allem betonen sie das seit den späten 1970er Jahren in den Industrienationen vorherrschende neoliberale Wirtschaftsmodell und seine Menschenbildannahmen als entscheidenden Faktor für diese Entwicklung; es habe zu einem erheblichen kulturellen und sozialen Wandel in den letzten Jahrzehnten geführt. In den Industrienationen sähen sich heute junge Menschen sehr viel härteren sozialen und ökonomischen Bedingungen gegenübergestellt als noch ihre Eltern. Neoliberaler Leistungsdruck, wachsende ökonomische Ungleichheit und Unsicherheit, Wettbewerbsdruck und Globalisierung forderten die Individuen unablässig, schneller und besser als andere zu sein. Konkurrenz (statt Kooperation) werde gefördert; die jungen Leute antworteten darauf, indem sie sich selbst immer mehr zu perfektionieren versuchten. Die gesteigerte Wahrnehmung unrealistisch hoher gesellschaftlicher Erwartungen führe zu ständiger Selbstüberprüfung und Selbstzweifeln und gleichzeitig zur Angst vor Fehlern und der damit verbundenen negativen sozialen Bewertungen.

Meritokratische Werte, wie sie durch neoliberale Politikpraktiken gefördert worden seien, nämlich die Vorstellung, dass jeder erfolgreich sein und einen hohen gesellschaftlichen Status erlangen könne, ja nahezu alles erreichen könne in seinem Leben, wenn er sich nur genügend anstrenge und intelligent genug sei, trügen dazu bei, dass Misserfolge von jungen Menschen zunehmend als Zeichen persönlichen Versagens und der eigenen Wertlosigkeit interpretiert würden. So werde der empfundene Selbstwert an die eigenen Erfolge geknüpft. Den Autoren zufolge hat die neoliberale Meritokratie Bedingungen geschaffen, in denen es darum geht, die eigene Person in einem allumfassenden Wettbewerb zu »vermarkten«.12 Dieser Zustand stelle, so Megan Day in ihrer Kommentierung der Studie, eine »Notwendigkeit des Kämpfens, Performens und Verwirklichens ins Zentrum des modernen Lebens« – viel mehr als in vorherigen Generationen.13 Eine Konsequenz des Anstiegs des Perfektionismus ist nach Curran und Hill die zunehmende Verbreitung schwerwiegender psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen, die in den Gesundheitsreports der WHO für die letzten 10 Jahre regelmäßig dokumentiert werde.14 Zahlreiche Studien belegten inzwischen (insbesondere für den angloamerikanischen Raum) den Zusammenhang zwischen Perfektionismus und psychischen Störungen.15

In der deutschsprachigen Soziologie und auch von kritischen Ökonom*innen16 werden der neoliberale Optimierungsdruck und seine negativen Folgen für unsere Gesellschaft schon seit geraumer Zeit kritisch diskutiert. In dem an stetigem Wachstum orientierten Wirtschaftsmodell der westlichen Welt gehe es darum, immer mehr Produkte immer kostengünstiger und damit auch mit mehr »Gewinn« zu produzieren. Dazu sei es nicht nur notwendig, Maschinen und Arbeitsprozesse zu »optimieren«, sondern auch die Menschen selbst müssten sich immer mehr optimieren. Wird das angestrebte Produktionsziel erreicht, ist das jedoch kein Grund, sich auf diesen Erfolgen »auszuruhen«: Dem Wachstumsmodell inhärent ist, dass dann sofort ein neues, nächsthöheres »Optimum« definiert wird, das es anzustreben gilt. »Nach oben hin« ist also keine Grenze gesetzt. Erschöpfung und Überforderung auf Seiten der Individuen sind vorprogrammiert.

Die heute sehr starke Konkurrenzorientierung in unserer Gesellschaft wird auch hier kritisch als Folge des Vorherrschens neoliberaler Modelle und Politikpraktiken seit den späten 1970er Jahren gesehen. Der Neoliberalismus, basierend auf der Idee der Minimierung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft und der Maximierung der Marktfreiheit, habe dazu geführt, dass kollektive Werte in den Hintergrund gerückt wären, wie sie in Deutschland in der sog. »Sozialen Marktwirtschaft« bis dahin noch angestrebt worden seien. Wohlfahrtstaatliche Begrenzungen der Marktfreiheit ebenso wie soziale Sicherungssysteme seien abgebaut worden, der »freie« Markt vom staatlichen Zugriff »entfesselt« worden. Seit den Achtzigerjahren seien in vielen Ländern der Welt Spitzensteuersätze, Vermögens- und Erbschaftsteuern gesenkt, viele Staatsbetriebe privatisiert, die Finanzmärkte immer stärker dereguliert worden. Die Schere zwischen Arm und Reich sei dadurch auch in den Industrienationen gewachsen, das Versprechen mehr Wachstum und weniger staatliche Regulierung diene dem Wohlstand aller, sei nicht eingelöst worden. Selbst in der Mittelschicht sei mittlerweile die Sorge vor sozialem Abstieg und zunehmender sozialer Unsicherheit groß, während das Vermögen der Reichen und Superreichen weltweit wachse. Statt staatlicher Vorsorge und Absicherung werde auf individuelle Leistung und Konkurrenz fokussiert, die Freiheit des »selbst verantwortlichen« Individuums betont, das sich selbst behaupten müsse und sich nicht auf den Staat verlassen dürfe. Dieses sei damit immer mehr überfordert und gerate dadurch immer mehr unter Leistungs- und Optimierungsdruck.

Den aktuellen Stand insbesondere zum Thema der »Selbstoptimierung«, im engeren Sinne verstanden als Optimierung des gesamten Selbst einschließlich der kompletten Lebensführung und der eigenen mentalen und physischen Funktionen, fasst Anja Röcke in ihrem Buch »Soziologie der Selbstoptimierung« (2021) zusammen. Sie bezeichnet speziell die Selbstoptimierung als »Leitidee der Gegenwart«, die sich seit den 2000er Jahren zunehmend verbreitet habe und besonders für Menschen der urbanen Mittelklasse eine große Rolle spiele. In ihrer Einleitung formuliert sie: »Produktiver arbeiten und mehr leisten! Fitter und schöner werden! Sich besser und glücklicher fühlen! Die Optimierung des Selbst steht im Mittelpunkt gesellschaftlicher Anforderungen und individueller Sinnwelten, zumindest in der westlichen Welt. Es grassiert ein Glauben an individuelle Potentiale, die gehoben werden müssen und keinesfalls verschenkt werden dürfen, denn es gilt, das Bestmögliche aus sich ... zu machen ... Die Lebensführung wird mithilfe von Ratgebern und Coaches in die bestmögliche Work-Life-Balance gebracht, spezifische Präparate zur Leistungssteigerung oder für ein höheres Wohlbefinden eingenommen und der Körper – das Schaufenster schlechthin für eine ge- oder misslungene Selbstoptimierung – wird trainiert oder technisch modifiziert ...«17 Es gilt, ständig psychisch und physisch an sich zu arbeiten, um am freien »Markt« nicht nur seine Arbeitskraft zu »vermarkten«, sondern auch sich selbst als Ganzes mit der je eigenen besonderen Individualität. Die Optimierung und Selbstoptimierung diene damit dem Erhalt der Konkurrenzfähigkeit des Individuums in einer konkurrenzorientierten Gesellschaft.18 Vor allem Erschöpfungssymptome und Überlastung, Burnout-Phänomene und Depressionen werden als Folgen diskutiert.

Wie kann es aber sein, dass junge Menschen – aber auch wir alle – uns diese durch unser Wirtschaftsmodell geprägten Optimierungsvorgaben (also letztlich externe Normen und Standards) so sehr »zu eigen« machen, dass wir oft nicht einmal bewusst wahrnehmen, dass sie unser Handeln leiten? Und dass wir uns deswegen auch so schlecht von ihnen distanzieren können?

Viele der von mir Befragten formulieren den Optimierungsdruck, den sie erleben, als eigenen Anspruch an sich und nicht als Druck von außen oder von ihrem Umfeld. Die 30-jährige R. schreibt z. B. »Häufig bin ich für die Erschöpfung selbst verantwortlich, da ich alles immer sehr gut machen möchte und dafür an bzw. über meine Grenzen hinausgehe. Ich habe dazu den Eindruck, dass dieser Perfektionismus irgendwie aus mir selbst herrührt, da es in meinem Umfeld eigentlich keine Menschen gibt, die mich aktiv zu etwas drängen oder mir Druck machen.« Ebenso wie F., 27 J., schreibt: »Objektiv betrachtet erfahre ich keinen Druck von außen, mache mir diesen vor allem selber.« Und S., 29 J., sagt, sie habe Schwierigkeiten zu unterscheiden, »welche der Ansprüche, Vorstellungen und Erwartungen meine eigenen sind und welche von außen an mich herangetragen werden.« Wie kann das sein?

Einen möglichen Erklärungsansatz bieten dafür u. a. kognitive Therapietheorien19. Unsere Emotionen und Verhaltensweisen werden demnach entscheidend dadurch beeinflusst, wie wir die Ereignisse in unserem Leben interpretieren und bewerten. Diese Interpretationen und Bewertungen erfolgen dabei auf der Grundlage bestimmter situationsübergreifender Bewertungsschemata oder -muster, die wir im Laufe unserer Biographie erworben haben (z. B. im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen wie Familie, Schule, Freundeskreis, durch die Medien, in letzter Zeit auch stark durch Social Media). Diese Normen und Bewertungsschemata sind uns meist nicht bewusst. Leistungsnormen können z. B. von den Eltern explizit vermittelt worden sein, bspw. durch direkte verbale Botschaften (»Du bist kein liebes Kind, wenn Du das oder das nicht leistest.«) oder Belohnungen/Bestrafungen für angepasstes/unangepasstes Verhalten (z. B. Strafen bei schlechten Schulnoten, Belohnungen bei guten Noten). Solche Normen und Schemata können jedoch dem Kind auch implizit vermittelt werden, ohne dass dies bewusst von den Eltern intendiert ist und bewusst von den Kindern wahrgenommen wird, z. B. durch Modellverhalten der Eltern (das was Vater und Mutter tun, empfinden Kinder in der Regel als richtig), durch beiläufige Bemerkungen der Eltern zu bestimmten Themen (z. B. Hervorheben von Leistungen der Nachbarskinder, Äußerung großer Wertschätzung für Leistung und Erfolg bei sich oder anderen), durch ihre spontanen Reaktionen auf die Leistungen des Kindes (Freude und Stolz bei guten Leistungen, ein enttäuschter Gesichtsausdruck bei schlechten Leistungen) etc. Von der Gesellschaft vermittelte Leistungsnormen, implizit oder explizit von den Eltern oder anderen gesellschaftlichen Akteuren (wie Kindergarten, Schule, Sportverein, peer group) vermittelt, werden dann von den Kindern internalisiert bzw. verinnerlicht. D. h. sie sind uns im Erwachsenenalter nicht mehr bewusst als von außen an uns herangetragene Maßstäbe, sondern werden von uns wie selbstverständlich als eigene Werte erlebt.20 Genau das geschieht mit dem hier beschriebenen gesellschaftlichen Optimierungsdruck: Aus von gesellschaftlichen Institutionen vermittelten Normen wie »Du bist nur etwas wert, wenn Du stets Optimales leistest«, mit denen wir von außen indoktriniert werden, werden Selbstindoktrinationen, d. h. wir indoktrinieren uns selbst mit diesen Normen und Maßstäben und erleben sie irgendwann als unsere eigenen: »Ich bin nur etwas wert, wenn ich stets Optimales leiste«. Sie fühlen sich dann »wahr« und »richtig« an. Eine Distanzierung gelingt uns dann nicht mehr; wir werden selbst zu unserem stärksten »inneren Antreiber«.

Auch in der Soziologie wird in diesem Zusammenhang von »verinnerlichten Normen« gesprochen, die irgendwann als eigene Bedürfnisse und Werte empfunden werden. Aufbauend auf dem Subjektivierungsbegriff von Foucault und seinen Schriften zur Ökonomisierung des Sozialen wird Selbstoptimierung als »internalisierte Strategie gesehen, die maßgeblich gesellschaftlich induziert ist«21. Befeuert wird sie durch die Ökonomie und die Medien. Die durch unsere von neoliberalen Vorstellungen geleitete Ökonomie geprägten gesellschaftlichen Werte werden sozusagen in unsere Bedürfnisstruktur »eingeschrieben« und dann als eigene Bedürfnisse erlebt. Das Individuum reagiert auf den gesellschaftlichen Optimierungsappell, indem es sich selbst entsprechend konstruiert und seine Leistungen und seinen Lebensstil optimiert. Jeder nur vorstellbare Lebensbereich wird dem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen. Wir reden als »Homo oeconomicus« z. B. ganz selbstverständlich – oft ohne uns dessen bewusst zu sein – davon, in unsere Kinder zu »investieren«, wir fragen uns, was uns ein bestimmtes Hobby »bringen« könnte und von welcher Bekanntschaft wir »profitieren« könnten, wir sprechen von »Heiratsmarkt« und »Online-Partnerbörsen