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Wie Organisationen sich an neuen Werten ausrichten Was wäre, wenn die Existenzberechtigung von Organisationen mit ihrem gesellschaftlichen Mehrwert verbunden wäre? Wenn moralisch-ethische Prinzipien verhinderten, dass Kunden vor allem als Konsumenten betrachtet werden und Mitarbeiterinnen als Effizienzmaschinen? Willkommen im postagilen Zeitalter! Wir stehen am Beginn einer Zeitenwende: Die Zeiten, in denen allein Produktivität und Gewinnmaximierung die wesentlichen Treiber waren, liegen unwiederbringlich hinter uns. Im neuen postagilen Zeitalter beeinflussen die großen Menschheitsfragen und Umwälzungen Entscheidungen. Es gilt, die Weichen für eine lebenswerte Zukunft für alle zu stellen, und jedes Unternehmen wird sich die Frage gefallen lassen müssen, welchen Beitrag es dazu leistet. Um Organisationen von innen heraus fit für die Zukunft zu machen, müssen nicht nur ganze Geschäftsmodelle, sondern insbesondere auch bisherige Annahmen über Führung auf den Prüfstand. Denn längst geht es nicht mehr um einzelne Persönlichkeiten, die führen, sondern um Ideen, die sich mit Menschen verbinden. Ideen, die uns alle voranbringen. Führung wird so zunehmend co-kreativ, sie wird zum Gemeinschaftsprodukt, das auch die Welt der Daten einbezieht. Svenja Hofert zeigt in ihrem neuen Buch, wie Unternehmen diese Herausforderungen annehmen und erfolgreich im Alltag umsetzen. Sie wendet sich an Menschen, die zu einer neuen Form des Wirtschaftens beitragen wollen. Dabei überwindet sie die Grenzen des agilen Denkens und zeigt zugleich ein Leadership-Verständnis, das über die Grenzen des Individuums hinausgeht, und das den Menschen dennoch ins Zentrum rückt. Für alle, die sich als Gestalter einer Zukunft verstehen, die auch für die Nachkommen ihrer Nachkommen noch lebenswert ist.
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Seitenzahl: 270
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Wir übernehmen Verantwortung! Ökologisch und sozial!
Verzicht auf Plastik: kein Einschweißen der Bücher in Folie
Nachhaltige Produktion: Verwendung von Papier aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern, PEFC-zertifiziert
Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland: Herstellung und Druck in Deutschland
SVENJA HOFERT
Co-kreativ führenin postagilen Zeiten
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© 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2022 erschienenen Buchtitel »Business Slowdown. Cokreativ führen in postagilen Zeiten« von Svenja Hofert © 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-088-9
ISBN epub: 978-3-96740-156-1
Lektorat: Susanne von Ahn, Hasloh
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Autorenfoto: © Anri Coza
Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de
Copyright © 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
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Wie Organisationen sich an neuen Werten ausrichten
Es ist komplex, dazu etwas Scrum
Feuer und Kreis: Zwei Transformationsgeschichten
Martin löscht Feuer
Anne formt den Kreis
Outcome über Output
Inventing und Reinventing
Wir brauchen einander
Von der alten in die neue Welt
Der Schlüssel: Kreativität
Überzeugungen loslassen
Kreativität erkennen und freisetzen
Die Brücke: Werte
Das Ende des defizitären Denkens
VUKA und Agilität
Tanzende Sterne gebären
BANU gegen VUKA
Mindset, die Sortiermaschine
Kairos, der Geburtshelfer des Neuen
Die Kreativitätslücke
Werte-Showdown
Chronos gegen Kairos
Agilität gegen Rigidität
Mensch gegen Maschine
Unten gegen Oben
Bleiben gegen Gehen
Büro gegen Homeoffice
Hoffnung gegen Angst
Entwicklung gegen Zerstörung
Gemeinwohl gegen Gewinn
Form gegen Funktion
Team gegen Individuum
Das Neue gegen das Alte
Evolution gegen Revolution
Slowdown: Erkenne die Brücken
Die Brücke zwischen Gegenwart und Zukunft
Das Problem verstehen
Den Spalt überbrücken
Wahrnehmen
Spielraum nutzen
Mit Fragen Zeit und Raum öffnen
Formen verändern
Hypothesen bilden
Experimente starten
Experimente auswerten
Change it: Akzente für Veränderung setzen
Verbindende Energie versprühen
Vergangenheit neu denken
Irritieren
Den Kontext ändern
Etwas rauswerfen: plus, minus, weniger, mehr
Lose Verbindungen schaffen
Trainer und Spieler auswechseln
Das Neue reinlassen
Gedanken dekonstruieren
Sprache nutzen und neu erzählen
Love it: Mehr daraus machen
Lass sie gehn
Puzzle of Motivation
Resonanzraum schaffen
Mit Liebe vorangehen
Grautöne achten
Unterschiede wahrnehmen
Paradoxe feiern
Leave it: Neu anfangen
Zeit für mich zu gehn
Wildschwein und Gewohnheitstier
Kühlschrank checken
Neugier wiederentdecken
Mikrotransformationen
Sich betanken
Anmerkungen
Zum Weiterlesen & Hören
Sachwortverzeichnis
Die Autorin
Der Boden, auf dem wir uns bewegen, ist porös. Jeder Schritt kann überraschende Folgen haben. Auch die Zukunft liegt im Nebel: Statt Wissen leiten uns Intuition und Ideen – und mitunter auch überholte Überzeugungen. Vieles ist ungewohnt und fühlt sich fremd an. Viele ahnen es und ducken sich vor dieser Erkenntnis: Es gibt keine Blaupause für die Zukunft.
Gerade deshalb ist es Zeit, uns neu erfinden. Dazu jedoch müssen wir erst einmal verstehen, was mit uns und der Welt passiert. Wir müssen unsere Position finden, den Nebel lichten und den Spielraum entdecken, den jeder von uns hat. Was wäre, wenn die Existenzberechtigung von Organisationen mit ihrem gesellschaftlichen Mehrwert verbunden wäre? Wenn moralisch-ethische Prinzipien verhinderten, dass Kunden vor allem als Konsumentinnen* betrachtet würden und Mitarbeiterinnen als Effizienzmaschinen?
Willkommen im postagilen Zeitalter! Wir stehen am Beginn einer Zeitenwende: Die Zeiten, in denen allein Produktivität und Gewinnmaximierung die wesentlichen Treiber waren, liegen unwiederbringlich hinter uns. Im neuen, postagilen Zeitalter beeinflussen die großen Menschheitsfragen und Umwälzungen unternehmerische Entscheidungen. Es gilt, die Weichen für eine lebenswerte Zukunft für alle zu stellen, und jede Organisation wird sich die Frage gefallen lassen müssen, welchen Beitrag sie dazu leistet.
Um Organisationen von innen heraus fit für die Zukunft zu machen, müssen nicht nur ganze Geschäftsmodelle, sondern insbesondere auch bisherige Annahmen über Führung und Organisation auf den Prüfstand. Denn längst geht es nicht mehr um einzelne Persönlichkeiten, die führen, sondern um Ideen, die sich mit Menschen verbinden, die diese realisieren. Ideen, die uns alle voranbringen. Führung wird so zunehmend co-kreativ, sie wird zum Gemeinschaftsprodukt, das auch künstliche Intelligenz und nicht nur die Kunden einbezieht.
Dieses Buch ist für Sie, wenn Sie die Weichen stellen wollen für eine gute Zukunft. Ich spreche Sie an, wenn Sie die Herausforderungen annehmen und erfolgreich im Alltag umsetzen wollen. Wenn Sie kleine und große Akzente setzen möchten, indem Sie das, was Sie kennen, kreativ biegen, mutig brechen und menschlich verbinden. Sie sind Brückenbauer und Brückenbauerin, denn Sie suchen Wege, um die Kluft zu überwinden, die uns von einer guten Zukunft trennt.
Ich möchte, dass Sie innehalten und nachdenken. Denn aus dem Getriebensein entsteht keine Kreativität, im Klima der Angst nichts Neues. Ich möchte auch zu einem neuen Verständnis von Führen beitragen: Führen kann jeder, der eine Vorstellung vom »Guten« hat. Es ist keine formale Position und zudem nichts, was im Alleingang möglich ist.
Im Zentrum steht das Vermögen, inmitten von Widersprüchen handlungsfähig zu sein.
Die Agilisierung eines Teils der Arbeitswelt hat bereits einen wichtigen Beitrag geleistet. Doch im agilen Denken fehlt die übergeordnete Orientierung an Werten, die ich ins Zentrum stellen möchte. Mein Leadership-Verständnis geht über die Grenzen des Individuums hinaus und rückt doch den Menschen ins Zentrum. Gleichwohl bin ich entfernt von einer Pony-hof-Ideologie. Im Zentrum steht für mich das Vermögen, inmitten von Widersprüchen, Paradoxien und Mehrdeutigkeiten handlungsfähig zu bleiben. Und zu erkennen: Es gibt viele Wege – Hauptsache, man geht jenen, der eine innere Resonanz erzeugt. Auf den richtigen zu warten, ist immer falsch. Denn der Weg verändert sich, während man ihn begeht.
Es geht mir in diesem Buch nicht um noch mehr agile Methoden oder Design-Thinking-Prozesse. Sie finden auch keine 44 Schritte für Ihren Erfolg oder 100 Tools für die co-kreative Zukunft. Betriebsanleitungen und Blaupausen werden Sie vergeblich suchen. Wenn Sie zu diesen Methodenjüngern und Werkzeugsuchern gehören, verschenken Sie das Buch: Es hat ja immer jemand Geburtstag.
Sie haben bis hierhin interessiert gelesen? Dann könnte es sein, dass Sie einen »Deep Dive« schätzen und hinter die Korallenriffe manch oberflächlicher und scheinbarer Wahrheit zu tauchen bereit sind. Co-Kreation verbindet zwei wesentliche Elemente: das »Zusammen« und die Kreation. Etwas zusammen machen meint nicht nur »zusammen im Team«, sondern geht weit über die Grenzen eines Teams und Unternehmens hinaus. Ich möchte das Wesen von Kreativität freilegen. Es hat nicht (nur) Methode, sondern basiert auf einer grundlegend verbindenden Haltung. Man kann mit Kundinnen zusammen kreieren, mit Gleichgesinnten oder mit Menschen aus anderen Organisationen. Oder auch mit dem inneren Team in einem selbst.
Den Begriff »Führung« verstehe ich breit: Es geht mir nicht um die eine Person, die alles reißt – wie der Löwe die Antilope. Es geht mir um Ideen, die erst langsam reifen müssen und dann etwas in Bewegung setzen. Dafür nutze ich immer wieder die drei Säulen von Kreativität:
Biegen
Brechen
Verbinden
Biegen wir unsere Gegenwart. Brechen wir Muster. Verbinden wir Menschen und Ideen: Schaffen wir eine gemeinsame, wert-volle Zukunft.
Ihre Svenja Hofert
*Ich nutze die männliche und weibliche Form abwechselnd, verzichte aber zugunsten des Leseflusses auf Gendersternchen.
»Es ist komplex«, sagt der aufgeklärte Berater und erläutert, was alles damit zusammenhängt und welche Voraussetzungen es braucht. »Ich wollte doch nur Scrum!«, ächzt der Manager und hält die Hände vor die Augen. Für alle Leser, die es nicht kennen: Scrum ist ein Rahmenwerk und Vorgehensmodell für Projekt- und Prozessmanagement, das vielfach als Grundpfeiler der Agilität gilt. Grundlegende Werte sind Selbstverpflichtung / Commitment, Fokus, Mut, Respekt und Offenheit. Scrum erfordert also auch eine kulturelle Veränderung – und scheitert meistens daran.
Obwohl offensichtlich ist, dass wir in einer alle bisherigen Strukturen auflösenden Zeit leben, erkennen wir nicht, dass das auch für unsere eigene Organisation und unser Leben gelten wird. Für mein Unternehmen und mein Leben genauso wie für Ihres. Obwohl wir sehen, dass neue Strukturen nicht in die alten passen, verschließen wir die Augen davor, dass wir unsere Systeme ganzheitlich neu erfinden müssen. Stattdessen suchen wir nach Wundermethoden, doktern an Mitarbeiterverhalten herum und kleben Pflaster auf Teilbereiche.
Systeme der vergangenen Welt haben sich zu einem Korsett entwickelt, das notwendiger Veränderung die Luft zum Atmen nimmt. Ob in Wirtschaft, Verwaltung, Politik oder Recht: Überall zeigt sich, dass eine Anpassung an die Veränderungen nicht mehr reicht, weil alles mit allem zusammenhängt. Es gilt vielmehr, die Art neu zu erfinden, wie wir zusammenleben, arbeiten, Organisationen führen, uns selbst verstehen und Entscheidungen treffen.
»Et hätt noch emmer jot jejange«, sagt man in meiner Heimatstadt Köln. Was so viel heißt wie: »Warum sich Sorgen machen, wenn man doch ein Kölsch trinken kann?« Die Liegestühle auf der Titanic wollen mit Handtüchern geschmückt werden, auch wenn man diese beim Untergang nicht mehr braucht. Man hat eben keine anderen Ideen, wie man das sinkende Schiff verlassen und zugleich etwas Neues erschaffen könnte. Aber sind es wirklich die Ideen – oder ist es nicht vielmehr die fehlende Zeit? Zeit, die sich keiner nimmt, um kreativ zu werden?
Komplexität lässt sich nicht reduzieren. Wir können uns nur auf sie einstellen.
Es gibt einfach zu viele Baustellen. So werden zahlreiche Wirtschaftsunternehmen, aber auch Behörden von Strukturen in ihrer Entwicklung gebremst, die mehr Probleme schaffen als lösen. Beispielsweise ist es kaum möglich, in den bisherigen Gesellschaftsformen Werte nachhaltig zu sichern. So führt dann jeder nicht etwa nach einem verbindlichen Kodex, sondern so, wie er oder sie es gerade für richtig hält. Zu viele Manager sind zudem überfordert von den veränderten Anforderungen an Führung und eigene kreative Lösungsfindung. Kein Wunder also, dass der Ruf nach der einfachen, der komplexitätsreduzierenden Lösung so laut wird. Doch Komplexität lässt sich nicht reduzieren: Wir können uns nur auf sie einstellen. Dafür müssen wir aber erst einmal bemerken, wo und wie sie sich zeigt.
Viele Organisationen, auch Behörden, brauchen einen kreativen Umbau. Aber von Führungskräften, die durch die alten Strukturen geprägt wurden wie Goldmünzen, kann man diesen kaum erwarten. Sie sagen »Wir sind jetzt agil« – und meinen damit das agile Projektmanagement-Framework Scrum, die Kreativmethode Design-Thinking oder Organisationsmodelle wie »Kreis« oder »Pods«. Oft wird in den Hinterzimmern des Top-Managements an neuen Systemen gebastelt und geschraubt – aber meist ohne parallel dazu an einer Fehler-, Lern- und Führungskultur zu basteln. Kulturwandel ist überall nötig, doch wie einst schon der Managementguru Peter Drucker sagte: »Culture eats strategy for breakfast.«
Ein Mensch denkt und sieht, was er sieht.
Er denkt und sieht nicht, was er nicht denkt und sieht.
Was wir sehen, hören, fühlen und denken, ist geprägt durch bestimmte Mechanismen und vergangene Erfahrungen. Erfahrungen, die wir nicht gemacht haben, sind nirgendwo repräsentiert. Deshalb glauben viele an das »Weiter so« im Kopf. Deshalb dekorieren wir die Handtücher auf den Liegestühlen der Titanic auch dann noch, wenn es gar keinen Sinn mehr macht. Erst wenn wir langsamer werden, reflektieren, uns mit Menschen austauschen, sehen wir, was wir bisher nicht gesehen haben. Dies aber passiert nicht im Fast-Modus, sondern nur »slow«. Schnell nehmen wir nichts wahr, sondern pressen alles in unsere durch die Vergangenheit geprägte Wahrnehmung.
Wir sollten nachdenken und spüren, wo genau die Veränderung auf etwas drückt. Führungskräfte, vor allem der unteren und mittleren Ebenen, waren früher Durchreicher, Koordiniererinnen oder Feuerlöscher. Manche nahmen auch erzieherische Aufgaben in der Motivation erschlaffter Mitarbeiter wahr. Und jetzt sollen sie digitale Trüffelschweine sein und neue Impulse einbringen? Nun sollen sie ohne Kenntnis der Möglichkeiten und Begrenzungen von Zusammenarbeit im Online-Raum Menschen führen? Teams entwickeln, die über das Was, Wie und Wann ihrer Arbeit selbst entscheiden? Rahmenbedingungen für kreative Zusammenarbeit in einer hybriden Welt schaffen? Dieselben Führungskräfte, die neue Ideen bis dahin für das Problem und nicht für die Lösung gehalten haben? Dieselben Führungskräfte, die Meetings top-down durchmoderiert haben? Oder Aufgaben statt Verantwortung verteilt haben? Kein Wunder, dass sich so viele an Handtücher und Liegestühle krallen, denn diese geben Halt.
Während das Management in Methoden die Lösung sucht, freuen sich viele Mitarbeitende, im Homeoffice organisationalen Umerziehungsversuchen entkommen zu sein: Denn Bindung lässt nach, wenn man Abstand hat. Corona hat dafür gesorgt, dass dieser auf breiter Front entstehen konnte.
Dass Anpassung, wie in der Agilität impliziert, nicht mehr reicht, sehen wir auf vielen Ebenen. Inmitten der Corona-Pandemie erleben wir in vielen Ländern Europas und in den USA eine Kündigungs- und Wechselwelle nie gekannten Ausmaßes, die »Great Resignation«. Bis zur Hälfte der Belegschaften ist auf Job-Wanderschaft.
Wer kann schon noch in einem einengenden Korsett Ideen entwickeln? Wo soll im Hamsterrad der Routinen die künftige überraschende Innovation herkommen, die das Geschäft der Zukunft sichert – und nicht nur die Einnahmen der Gegenwart? Wie angenehm ist bei solchen Fragen die einfache Lösung: das »Scrum« für alle Fälle und Probleme.
Organisationen kämpfen um Erhalt, Arbeitnehmer um Menschlichkeit, Homeoffice und New Work. Führungskräfte stehen dazwischen und versuchen, die Nerven zu behalten – oder neue Wege zu gehen. Während die einen mit den Mitteln der Vergangenheit die ständig steigende Komplexität zu bewältigen suchen, zerschlagen die anderen die bisherigen Strukturen.
Martin rotiert, sein Unternehmen floriert. Selbst in der Pandemie hatte es ein sattes Plus gegeben. Zwar ächzen die Mitarbeiter und die Fluktuation steigt, aber der Laden läuft rund. Nur wie?
Früher, berichtet Martin, habe man sich einfach mal in der Küche besprochen und ausgetauscht. Für ein nettes Wort war Zeit, wenn auch nicht viel, denn Martin hat einen Haufen Fachaufgaben. Entscheidungen habe er mal schnell zwischen Tür und Angel getroffen, ohne lang darüber nachzudenken. Martin gibt zu, dass bei seinen Entscheidungen oft sein Bauch den Ausschlag gegeben habe. Für kreatives Nachdenken im Team jedenfalls hat Martin keine Zeit – die Alltagsroutine frisst ihn zu sehr auf. Die Anforderungen verändern sich immer schneller, schon lange versteht er die Zusammenhänge nicht mehr. Anstatt sich Impulse von außen zu holen, rennt er hinterher. Er priorisiert, löscht Feuer, die aber immer unkontrollierter ausbrechen, seitdem es Homeoffice und Hybridarbeit gibt.
Wie die anderen Führungskräfte steckt er im Routine-Hamsterrad, Meetings moderiert er selbst – es seien allerdings eher Info-Beschallungen, gibt er zu. Kreative Ideen, wie man produktiver miteinander umgehen könnte? Keine Zeit. Zusammenarbeit im Team? Findet nicht statt, die Arbeit wird noch mehr als vor Corona von jedem allein erledigt und von ihm als Chef beurteilt und weitergereicht. Martin fühlt, dass diese Art und Weise des Arbeitens nicht mehr passt. Er würde gern über sinnvolle Strukturen nachdenken, hat dazu aber kein Mandat.
Die Lösung der Geschäftsführung für die gestiegene Komplexität nennt sich Pods. Das sind Teams, die wie organische Zellen zusammenarbeiten sollen, also wie Herz und Niere – und sich direkt am Kunden ausrichten. Ein sogenannter Pod-Besitzer, unter anderem Martin, soll dies dann koordinieren. Seine Chefs haben das Modell auf einer virtuellen Führungstagung an einem digitalen Board skizziert. Es bestand aus Dreiecken und Kreisen, ziemlich abstrakt – irgendwie erinnerte es ihn an Mengenlehre, und darin war er schon als Kind nicht gut gewesen. Doch auch die anderen hatten dies offensichtlich nicht verstanden, jedenfalls konnte es ihm auch auf späteres Nachfragen keiner erklären. »Wozu?«, hat er gefragt und nur sehr allgemeine Antworten erhalten – so etwas wie »zeitgemäß, »modern« und »agil«. Agil?
Die Geschäftsführung hat nach den Corona-bedingten Homeoffice-Phasen alle zurück ins Büro zitiert. Jetzt muss er sich mit der Unzufriedenheit seines Teams herumschlagen – wo er doch eigentlich gar keine Zeit hat. Die Arbeit mit einem elektronischen Kanban-Board, die einer seiner Mitarbeiter eingeführt hatte, hat die Firmenspitze »kassiert«. Kollaborationstools – verboten. Datenschutz geht vor Nutzen, so lautet die inoffizielle Devise. Offiziell heißt es: »Nutzen wir doch das, was wir haben.« Irgendwie passt das mit den Pods nicht zusammen, denkt Martin. Aber er schweigt.
Es passt auch sonst vieles nicht zusammen. Martin sagt, Microsoft 365 habe zwar ein geniales Videokonferenzsystem gebracht, aber auch erhöhten Koordinierungsaufwand. Es bräuchte ganz neue Strukturen, die keiner einziehen kann: Es fehlt das Bewusstsein dafür – und Zeit … Vor allem auch für das Menschliche. So hat Martin festgestellt, dass in den Teams-Kanälen teilweise unbewusst und teils auch ganz bewusst Menschen ausgegrenzt wurden: Ein sogenannter Teambesitzer kann unliebsame Personen löschen. Das war ihm vorher nicht klar gewesen – und jetzt hat es zu Ärger geführt, um den er sich nicht kümmern kann.
Er vermisst Entscheidungen. Aber wer soll entscheiden, wenn »oben« viel weniger Ahnung hat als »unten«? Was sollen denn jetzt eigentlich die Kunden-Kommunikationswege sein – und wie können diese adäquat bedient werden? Da sind die vermeintlich kleinen Themen und die großen. Vor allem aber sind es viele Themen, die in unterschiedliche Richtungen deuten. Martin glaubt nicht, dass die Pods das Problem wirklich lösen. Und auch seine Kolleginnen lästern inzwischen über das neueste Management-Buzzword.
Ich habe mit Martin und anderen Führungskräften Interviews geführt. Nach den Interviews spürte ich meinen eigenen Puls: Der Stress war auf mich übergesprungen. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was die Mitarbeitenden dieser Führungskräfte empfanden. Den Wunsch von Martins Team nach Homeoffice konnte ich absolut nachvollziehen: Es arbeitete sich da besser als unter den dauernden Störfeuern im Büro. Zugleich litt der gemeinsame Austausch, und Martin wusste nicht, wie er dafür »online« oder »hybrid« einen Rahmen schaffen konnte. Es beschäftigte ihn aber auch nicht nachhaltig, zu sehr war er in Routinen gefangen.
»Wissen Sie, wie schwierig es ist, Leute für diesen Job zu bekommen?«, fragte Martin mich. Manche blieben nur ein paar Monate, einige zwei Jahre – aber aufreiben wolle sich heute niemand mehr. Denn die Mitarbeitenden haben Freunde und Bekannte, die ganz im Homeoffice arbeiten dürfen und sich sogar ihre Weiterbildung frei wählen können. Sie versprühen den Geist von Yoga und Achtsamkeit, von Ruhe und Entspannung, von Selbstfindung und Berufung. Je mehr man die eigene »Wolke« verlässt, desto deutlicher wird, dass es anderswo schon anders ist – die Zukunft ist da bereits da.
So bekommt auch Martin inzwischen vor allem die »zweite Wahl«: Außen vor hingegen bleiben Bewerber, die wertvolle Erfahrung in neuen Arbeits- und Denkweisen mitbringen könnten. Auch gibt es in seinem Team niemanden, der sich mit kreativen Kollaborationsboards wie Mural, Miro und Conceptboard auskennt und neue Ideen für Hybrid-Zusammenarbeit anregen könnte. Und da bisher auch niemand eine neue und alternative Form der Führung selbst erlebt hat, fordert diese auch keiner ein. Noch nicht.
Martin ahnt nicht, wie viele Mitarbeiter in seinem Team auf dem Absprung sind, weil sie lieber im Homeoffice bleiben wollen und es genügend Firmen gibt, die dies ermöglichen werden. Ihm ist nicht klar, dass einige längst nur Dienst nach Vorschrift machen: Sie liefern – aber mehr auch nicht.
Wirtschaftlich spürt Martins Firma keinen unmittelbaren Veränderungsdruck. Dass die bisherigen Bewältigungsmechanismen nicht mehr zu der gewachsenen Komplexität passen, macht sich dennoch bemerkbar. Aber auch wenn die Geschäftsführung ahnt, dass sich etwas grundlegend ändern muss, ist sie doch nicht zu einer offenen und einbindenden Kommunikation in der Lage, geschweige denn zu Visionen und co-kreativen Vorgehensweisen. Stattdessen werden abstrakte Modelle, deren Sinn keiner versteht, als Lösung favorisiert.
Andere Unternehmen spüren den Existenzdruck unmittelbarer. Alle jedoch verdrängen, dass ein Dampfer wie die Titanic erst langsam und dann immer schneller untergeht – wenn ein Sog entsteht, zieht es eben alle mit. »Liegestühle dekorieren« ist deshalb eine derzeit weit verbreitete Vorgehensweise, die ganze Belegschaften davon abhält, sich die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, was wirklich zu tun wäre. Denn dass der Sog zunimmt, kann man leicht vergessen, wenn man mit anderen Dingen beschäftigt ist.
Da sollte man doch erst mal »Stopp« sagen, durchatmen, sich die Lage anschauen und spüren und analysieren, was los ist. Ich meine, wirklich los ist. Man würde dann beispielsweise bemerken, dass das Selbstbewusstsein mancher Führungskräfte vom festen Kürbis zu einer weichen kleinen Erbse geschrumpft ist. Aber auch, dass in der Wettbewerbssituation einer digitalen Transformation kaum jemand offen darüber spricht. Da konkurriert man eben auch um die eigene Stelle – und mehr noch: um Status und Position.
Es fehlt viel, doch vor allem fehlt Feedback. Feedback ist in vielen Organisationen nur als erzieherische Maßnahme bekannt – es handelt sich also in Wahrheit um Bewertung. Aber wer will sich schon bewerten lassen? Die etablierten Konventionen verhindern das. Werte, die in Wahrheit Normen sind, lassen wirklich andere Sichtweisen nicht zu, sodass Rückmeldungen – Feedbacks eben – die Normen der Gruppe zeigen, nicht aber Offenheit. Also stumpft man lieber ab. Aufgrund der fehlenden Feedbackerfahrung der Vergangenheit wirft der »Mount Stupid« einen erst recht in ein tiefes Tal. Denn wer von der alten Bewertungswelt geprägt ist, ahnt schon, dass jetzt andere Qualitäten gefragt sind. Nur die Reaktion darauf ist typisch »alte Welt«: Man sagt nicht »Super, jetzt kann ich lernen«, sondern wehrt ab oder schämt sich.
Erst wer die eigene Inkompetenz spürt, beginnt an sich zu arbeiten.
Der Mount Stupid ist eine Metapher, die besagt, dass vom Selbstbewusstsein vergangener Erfolge betankte Menschen sich schon mit sehr wenig Know-how auf dem Kompetenzgipfel wähnen und sich dort ausruhen – wirkliches Lernen ist da oben aber nicht mehr möglich. Erst wer die eigene Inkompetenz spürt, beginnt aus dieser Irritation heraus an sich zu arbeiten, sucht ehrliches Feedback und wirkliche Entwicklung. Aber da muss erst mal hinkommen, wer wie Martin aus dem Zeitalter des Business-Theaters stammt. Damals war man schließlich oft gerade dann erfolgreich, wenn man sich eben nicht infrage stellte.
Es hängt viel daran, wie wir mit Bewertungen umgehen und wie sehr wir uns diesen entziehen können. Wie bewerten es etwa Vati und Mutti, wenn Führungsweihen und Statusehren – wie in vielen Unternehmen – nicht mehr für die Ewigkeit halten? Wenn man nur einer von vielen in einer »Zelle«, einem »Squad« oder »Pod« ist? Die neuen, gleichgeordneten Abteilungen, die schneller und flexibler – eben agiler – auf Veränderungen reagieren sollen, haben viele Namen. Die Eltern kennen keinen: Sie bewerten das »Neue« mit dem eigenen gelernten Mechanismus, teilen also ein in »gut« (kenne ich) und »schlecht« (kenne ich nicht), alternativ in »richtig« oder »falsch«, »erstrebenswert« oder »nicht erstrebenswert«. Die alte Identität und alles, was damit verbunden ist, loszulassen, ist deshalb ein mentaler Prozess des Umgangs mit vergangenen Bewertungen. Dieser kann durch einen Organisationsumbau stark beschleunigt werden. Denn dann sind neue Werte plötzlich da – ob man sie will oder nicht.
Anne ist Geschäftsführerin einer mittelständischen Beratungsgesellschaft und versteht sich als Unternehmerin. Zusammen mit ihren zwei Kollegen sieht sie ihren Job darin, die Rahmenbedingungen der rund 1000 Mitarbeitenden so zu gestalten, dass das Unternehmen wie ein loses Netzwerk zusammenarbeiten kann. Vor vier Jahren wurde die Firma dafür komplett neu strukturiert und organisiert. Vorher arbeitete das Unternehmen exklusiv für den Mutterkonzern – jetzt ist das Unternehmen auch am freien Markt tätig.
Innerhalb weniger Monate waren alle Führungskräfte von ihrer bisherigen Rolle entbunden, Linienfunktionen abgeschafft. Alle Mitarbeitenden sollten sich in Kreisen einfinden und sich dort mit einer Grundstruktur selbst organisieren. Ziel war, dass jeder Kreis wie ein Start-up agierte – dies hatte also eigene interne und externe Kunden. Bestimmte Dienstleistungen ließen sich bei einem anderen Kreis erwerben, etwa die Dienstleistung »Recruiting«; der Kreis konnte aber auch am offenen Markt einkaufen, wenn er mit der Dienstleistung unzufrieden war.
In jedem Team gibt es Ökonomen, die den Blick auf die betriebswirtschaftlichen Funktionen gerichtet haben. Der Steuerungskreis, in dem Anne sitzt, arbeitet etwa permanent an einer Art Verfassung, die auch eine gemeinsame Identität verleiht. Derzeit beschäftigt sich Annes Team mit Möglichkeiten, Werte zu sichern: So sollen die Kreise einerseits frei über Aufträge entscheiden, andererseits aber auch die soziale und ökologische Wertschöpfung einbeziehen. Dies sei eine permanente Aufgabe, denn jede Regelung erzeuge auch wieder Starrheit. Im Moment experimentiere man mit der Rolle »Sinnovator«: Diese habe die Aufgabe, bei jedem neuen Auftrag gemeinsam mit dem Ökonomen die »Sinnovation« zu betrachten. Dabei geht es darum zu ermitteln, wie ein neuer Auftrag zu wirtschaftlichem Erfolg und zugleich innovativer Sinnstiftung beitragen könnte.
Dazu muss man wissen, dass in agilen Organisationen eine Rolle nicht gleich der Stelle ist. Eine Rolle übernimmt zeitweise oder dauerhaft Verantwortung für bestimmte Themen, lenkt also den Blick auf Aspekte, die sonst nicht gesehen werden. Das entspricht nicht einer Position oder Funktion im Organigramm, sondern bezieht sich auf die Organisation der Abläufe. Scrum-Master und Product-Owner sind bekanntere agile Rollen: Sie teilen Führungsaufgaben in solche mit menschlichem Bezug (Scrum-Masterin) und solche mit Sachbezug (Product-Owner). Die Blickrichtung in beiden Fällen ist jedoch die sogenannte Kundenzentriertheit.
Kreise führen sich selbst, sind aber anderen Kreisen zugeordnet, die eine Domäne bilden. Jeder ist selbstverantwortlich, kann jedoch eine zentrale Anlaufstelle nutzen, die sich etwa um das Marketing kümmert und Dienstleistungen für alle anbietet. Vor allem der gemeinsame Wissensaustausch wird großgeschrieben, denn dieser sichert dem Netzwerk insgesamt Wettbewerbsvorteile.
»Die Neustrukturierung war eine Revolution«, sagt Anne. Viele kamen nicht damit zurecht und verließen das Unternehmen. Andere suchten Zuflucht bei der Konzernmutter, die diese Möglichkeit bot. Aber für die verbliebenen und neuen Mitarbeiter ergaben sich auch ganz neue Chancen.
Wie diese aussahen, erfahre ich, als mich Anne mit Sarah verbindet, die in einem Kreis von Expertinnen arbeitet. Der Kreis bestimmt über sich selbst, entwickelt alle Prozesse der Zusammenarbeit selbst, stellt Mitarbeiter ein und entlässt sie im rechtlich möglichen Rahmen.
Ist eine Weiterbildung gewünscht? Kein Problem, solange der Kreis dazu »ja« sagt. Die Maßnahme muss auch nicht bei dem für Weiterbildung zuständigen Kreis gebucht werden, weshalb dieser sich Mühe geben muss, sein eigenes Angebot wettbewerbsfähig zu halten. Niedrigere Kosten, so ist es geregelt, dürfen nicht den Ausschlag geben.
Gute Argumentation ist auf allen Ebenen wichtig, die Kreismitglieder müssen sich austauschen und eine gute Begründungskultur entwickeln. Wenn dem Kreis einleuchtet, warum ein Seminar in »kreativem Zeichnen« nützlich für alle sein kann, dann genehmigt er das. Dazu stehen den Kreisen viele Entscheidungstechniken zur Verfügung, beispielsweise der Konsent: Hier geht es darum, dass etwas dann gemacht wird, wenn niemand ein besseres Argument »dagegen« einbringen kann.
Verschiedene Kreise können sich zusammenschließen, um dadurch noch mehr Wert für den Kunden zu schöpfen. Überhaupt steht der Kunde stets im Zentrum: Denn der Kreis existiert nur, weil es Kunden gibt. Er muss also aufpassen, dass diese nicht von anderen besser bedient werden. Gleichzeitig wird der Austausch untereinander gefördert wie auch das gemeinsame Lernen, denn die Kreise sind miteinander verbunden. Ich suche ein Bild für das Beschriebene und denke an ein Dorf mit einer starken Dorfgemeinschaft, die auch für die gemeinsame Weiterentwicklung als »Innovationshub« sorgt.
Selbst über die Gehaltsfrage entscheidet der Kreis. Eine Führung, wie Martin sie kennt, gibt es nicht mehr: Führungsaufgaben verteilen sich auf Rollen, die wechseln können. So kann der eine in der Rolle »Ökonom« für die betriebswirtschaftlichen Themen zuständig sein, der andere als »Netzwerker« für gute Beziehungen zu anderen Kreisen. Neue und veränderte Rollenbeschreibungen lenken den Blick auf das, was gebraucht wird. Die neue »Sinnovatorin« ist in Sarahs Verständnis wie ein eigener Ethikrat im Kreis: Die Herausforderung dabei sei, alles so schlank wie möglich zu halten. Manche Kreismitglieder haben auch mehrere Rollen parallel – bis zu sieben, sagt Sarah. Für einige Aufgaben seien aber alle verantwortlich, etwa für das Neugeschäft: Ideen für Produkte und Dienstleistungsangebote entstehen in co-kreativen Prozessen, bei denen oft nicht nur die Kunden, sondern auch externe Personen aus völlig anderen Branchen eingeladen sind. Selbst verrückte Ideen sind willkommen, da alle wissen, dass die Genialität einer Idee sich nicht daran festmachen lässt, ob bestimmte Prozesse eingehalten werden. Sie zeigt sich vielmehr entweder daran, dass etwas Probleme löst – wenn nicht heute, dann morgen – oder dass sich daran eine neue Entwicklung zeigt. Um künftige Entwicklungen vorauszusehen, arbeitet ein Kreis mit Modellierungen, statistischen Auswertungen und Datenanalysen. Er fragt sich beispielsweise, wie sich die Nachfrage nach Ökostrom in verschiedenen Szenarien verändert, aber auch welche anderen Entwicklungen darauf Einfluss nehmen, etwa wenn Atomstrom als saubere Energie eingestuft wird oder sich eine Anomalie zeigt.
Entscheidungen werden gemeinsam oder durch eine Person getroffen, die mit der Entscheidungsfindung vom Team beauftragt wird. Die Konzernmutter ist nur noch insoweit involviert, als sie als Dienstleister einen Rechtsrahmen stellt. Sarah fühlt sich wohl in dieser Form. Sie darf sogar neue Geschäftsfelder entwickeln. In meinem Bild: Das Dorf ist angebunden an die Großstadt, ohne dass diese den Takt vorgibt.
Die neuen Strukturen hätten dafür gesorgt, dass ein bestimmter Typ Mensch verschwunden sei, betonen sowohl Anne als auch Sarah. »So, wie wir jetzt arbeiten, zieht das Leute an, die gern gestalten und etwas bewegen wollen.« Man habe viele Möglichkeiten, aber die Hängematte, die sei verschwunden. Auch auf Stelleninserate verzichte man inzwischen weitestgehend: Die neuen Kreismitglieder fänden sich in den sozialen Medien und über persönliche Beziehungen. Nur bei den Informatikern müsse man manchmal noch andere Wege gehen.
Nach den Gesprächen mit Anne und Sarah blieb mein Puls normal. Ich will dieses Modell nicht idealisieren, denn es ist keineswegs eine bestimmte Organisationsform, die den Ausschlag gibt. Es ist die Art und Weise der Umsetzung. Sicher spielt hier Prägung eine Rolle: Berater sind eher gewohnt, selbstständig zu arbeiten, weshalb sich viele der neuen Organisationsformen im Beraterumfeld oder in der IT abspielen. Gleichzeitig stehen diese Branchen aber unter einem besonderen Wettbewerbsdruck – was ebenfalls ein begünstigender Faktor ist. Jedoch finden sich solche Initiativen auch in Banken, Versicherungen und produzierenden Unternehmen. Grundsätzlich ist Identifikation mit der eigenen Organisation sicher eher förderlich: Wer kaum Bindung zu einem Unternehmen und seinem Wirken hat, bringt seltener Energien für Veränderung auf.
Und so gibt es für »Kreisorganisationen« und agile Skalierungen auf Organisationsebene zudem viele Negativbeispiele, wenn diese zu bürokratisch ausgerollt werden. Sie funktionieren auch nicht, wenn eine depressive Grundstimmung jede Motivation im Keim erstickt. Da sind wir aber an dem Punkt, den ich in Martins Geschichte angeschnitten habe: Wenn die Lösung kommt, bevor das Problem verstanden ist, entsteht kein Bewusstsein dafür, was die Lösung braucht.
Postagile Lösungen schließen Agilität ein, ohne diese einseitig zu interpretieren.
Deshalb heißt dieses Buch »Business Slowdown«: Dahinter steht die feste Überzeugung, dass ohne ein Runterfahren eine transformative Veränderung von innen unmöglich ist. Aus diesem Grund spreche ich von »postagil«. Postagile Lösungen schließen Agilität mit ein, ohne diese jedoch mechanisch und einseitig zu interpretieren. Sie beinhalten einen reflektiven Umgang mit Komplexität und eine Weiterentwicklung der bisherigen Ansätze. Sie sind im Kern evolutionär: Es geht also darum, sich neuen Strukturen und Entwicklungen durch veränderte Formen anzupassen.
Zwei Beispiele, zwei Geschichten, die einen unterschiedlichen Umgang mit der Transformation beschreiben, in der wir alle stecken: Die einen stecken im Dilemma der Output-Orientierung – die anderen setzen auf Outcome. Die einen favorisieren eine agil genannte, aber statische Top-down-Lösung – die anderen haben Strukturen auf allen Ebenen verändert und sehen Veränderung als dynamischen Prozess.
Mit ihrem Modell der unternehmensübergreifenden Agilität machte die ING-DiBa AG von sich reden, die ein Organisationsmodell des Musikunternehmens Spotify implementierte, das dieses vor etwa einem Jahrzehnt, also kurz nach der Finanzkrise, entwickelt und veröffentlicht hatte. In dem »Spotify-Modell« gibt es Squads, Tribes, Chapter und Gilden. In den Squads arbeiten kleine Teams selbstorganisiert, entscheiden also über das Was, Wie und Wann. Die Tribes sind eine größere Einheit, Chapter bilden einen Bereich. Gilden wiederum sind »Communities of Practice« für den übergreifenden fachlichen Austausch. Das Modell fokussiert also gemeinsames Lernen und Selbstorganisation in Teams. Spotify, so hört man, bereue mittlerweile, das Modell öffentlich verfügbar gemacht zu haben, denn das Unternehmen ist inzwischen an einem ganz anderen Punkt. Damals indes handelte es sich um eine Art Brückentechnologie – was Organisationsformen eigentlich auch sein sollten.
Der Bank hingegen ging es um nicht weniger als um ihr Überleben. Sie war zu starr geworden in einer Zeit, in der sich Kundenbedürfnisse immer schneller änderten, der Wettbewerb nur noch einen Mausklick entfernt war. Gleichzeitig ließ sich der Kunde durch soziale Medien leichter in die Produktentwicklung einbeziehen – und dieses Modell verband all dies. Und ist heute dennoch nicht mehr zeitgemäß, denn inzwischen sind die gesellschaftlichen Umwälzungen so groß, dass sie auch in der Werthaltung der Organisationen berücksichtigt werden müssen. Dies ist vor allem bei produzierenden Unternehmen angekommen, die sich inzwischen mehr mit Themen wie CO2-Ausstoß, Kinderarbeit und Umverteilung beschäftigen. Bei Banken ist dies noch weniger der Fall, doch Strafzinsen sind ein erstes Beispiel für die »Blüten« wirtschaftlicher Umwälzungen im Geldverkehr.
Neben dem Spotify-Modell gibt es weitere Organisationsmodelle, die als »agil« gelten: das Kreis- oder Pfirsichmodell, die Pods oder auch die kommerziell vermarktete Holakratie. Das Unternehmen von Anne hat eine Mischform gewählt. Alle diese Modelle zielen auf die Dezentralisierung. Sie wollen kleine Teams mit Start-up-Charakter schaffen, Bürokratie vermeiden und auf diese Weise Ideen durchlassen. Führung ist in diesen Kontexten dazu da, das Spielfeld abzustecken und den Teams Hindernisse bei der Zusammenarbeit aus dem Weg zu räumen. Das Wesen der Führung ist dann Visionsstiftung, Rahmengestaltung, Weichenstellung sowie Coaching und Moderation zur Selbsthilfe.