California Girl - Tamar Halpern - E-Book

California Girl E-Book

Tamar Halpern

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Beschreibung

Kalifornien in den 80er-Jahren. Das bedeutet Freiheit, Sex und Rebellion. Mittendrin ein vierzehnjähriges Mädchen, das zwischen ihrer Hippie-Künstlerin-Mutter in L. A. und dem Professoren-Vater in Berkeley hin- und herpendelt. Schmerzhaft wird sie sich der Lügen und Exzesse der Erwachsenen bewusst und antwortet darauf, wie es nur ein Teenager kann. Auf der Suche danach, wo sie hingehört und wer sie werden wird, probiert sie Outfits, Identitäten und Drogen und rast mit uns durch ein Leben zwischen erster Liebe und absoluter Verunsicherung.

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Tamar Halpern

California Girl

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz

Diogenes

Im San Fernando Valley sind die Hausnummern fünfstellig. Die Straßen sind gerade und breit und kreuzen sich in rechten Winkeln. Die Bürgersteige sind vollkommen flach und die Randsteine abgerundet, damit Fahrräder und Rollschuhe gut darauf fahren können. Alles ist durchgeplant und aufgeräumt, was dazu führt, dass Teenager verrücktspielen.

 

Übrigens ist fast jeder, von dem ich hier erzähle, tot oder im Knast gelandet.

1981

Ich bin vierzehn und Mitglied eines geheimen Rudels bissiger Wölfe. Nachts steige ich aus dem Fenster und gleite wie ein Schatten an den Häusern der Siedlung vorbei, deren quadratische Vorgärten und rechteckige Einfahrten identisch sind. Jedes achte hat einen Fachwerkgiebel wie ein Lebkuchenhaus. Hinter der Tankstelle am Freeway treffe ich die Zwillinge, und wir rauchen Gras. Benebelt und in unsere eigene Sprache vertieft, deponieren wir die Bong im Gebüsch und legen uns an die Mauer über der Schnellstraße. Dann lassen wir uns von der Schwerkraft den steilen, mit Fetthenne gepolsterten Hang hinunterrollen und landen auf der jungfräulichen Asphaltdecke, wo die weißen Linien im Mondschein leuchten wie Milch. Wir rennen und schreien uns die Lunge aus dem Hals, und die hohen Betonwände werfen unser Gelächter zurück. Wenn ein Auto auf uns zurast, tanzen wir, schlagen Räder und recken die Arme hoch, high like birds in the sky.

Wie Aale mit Scheinwerfern brettern sie auf uns zu, dann drehen sie scharf ab, von flackernden Pfeilen und reflektierenden Kegeln auf die Ausfahrt zum Balboa Boulevard geleitet. Das Freeway-endet-hier-Schild blinkt wie ein Puls zwischen uns und den Autos, markiert unser Revier auf dem unbenutzten Betonstreifen am Ende der State Route 118. Es ist 1981, und hier ist Schluss. Der Asphalt unter unseren Füßen ist noch warm, als wir die platten Teerwürste aus den Fugen pulen und in die Dunkelheit schleudern.

Auf dem letzten Stück der 118 sind nur Filmteams erlaubt. Letzte Woche war Erik Estrada hier, todschick in seiner beigen Polyesteruniform, mit schneeweißen Zähnen, falscher Kanone, blitzblankem Motorrad. Aber heute Nacht gehört die Piste, die zum Landen zu kurz ist, uns. Wir zündeln und sprayen unsern unsterblichen Bund an die Betonpfeiler, die verhindern, dass die Brücke auf uns herunterkracht.

Ein triefendes oranges Herz rahmt das kürzeste Liebesgedicht der Welt.

 

B n N

+

T

B und N sind Zwillinge, sie streiten sich mit Jungs und miteinander, und ich bin T, ihre Auserwählte. Von eineiigen Zwillingen geliebt zu werden verdoppelt die Geschwindigkeit der Welt. Es ist, als stehe rechts und links von dir derselbe Mensch, rede stereo im gleichen Rhythmus, mit der gleichen Wortwahl und Frequenz, nur die Reihenfolge ist anders. Beide sagen krass, Hammer, leck mich, Wichser, fick dich ins Knie. Sie kämpfen um meine Aufmerksamkeit. Sie schlagen sich, wenn sie zu kurz kommen. Ich bemühe mich, keine der anderen vorzuziehen. Ich versuche der gerechteste Mensch zu sein, der ich je war, Königin Salomo von San Fernando Valley. Sie lieben mich heiß und bringen mir ihre Geheimsprache bei. In einer Minute gehen sie wie wilde Tiere aufeinander los, in der nächsten brechen sie in ihr eineiiges Gelächter aus. Sie übersteigen die Vorstellungskraft, ein Nonstop-Zirkus mit Feuerspuckern und wasserspritzenden Clownblumen.

Sie sind durch Geburt und Chromosomen und DNA vereint und haben mich aufgenommen, als wäre ich seit ihrer ersten Zellteilung dabei gewesen. Sie sind absolut loyal, selbst wenn sie sich mit bloßen Händen erwürgen wollen. Sie haben Insiderwitze und hüten Geheimnisse. Wenn wir wollten, könnten wir unter dem Freeway oben ohne rumrennen (wir wollen nicht, weil unsere Brüste winzig sind), aber wenn wir es täten, würden wir es geheim halten. Denn das ist unsere Welt. Nichts ist irgendwo dokumentiert. Vielleicht tauchen eines Tages ein paar zerknickte, verschwommene Fotos auf, unter Papieren und Schachteln und Gerümpel in einem Lagerraum am Anfang der Mohave-Wüste, der Schlüssel ist weg, aber die Miete bezahlt, gerade so. Doch bis dahin habt ihr nur mein Wort.

Und wenn so ein Arschkriecher wie Mike G mit der dicken Brille, durch die seine Wimpern beneidenswert lang sind, gesehen hätte oder behauptet, dass er uns gesehen hätte, wie wir am Ende der Schnellstraße oben ohne herumgerannt sind, und wenn er es in der ganzen Schule erzählt, weil er so was gerne macht, dann würden wir alles abstreiten. Es stünde drei gegen einen, aber an der Bushaltestelle sollte er sich lieber in Acht nehmen, weil N ihm dermaßen in den Hintern treten würde, wenn sie ihn allein erwischt, egal, ob er größer ist. Und wenn er dann mit blutender Lippe im Staub liegt und N auf ihm sitzt und weiterprügelt, während B zusieht, bereit mitzumachen, falls nötig, würde er durch die Tränen, die an seinen beneidenswert langen Wimpern hängen, zu ihnen aufschauen und fragen: »Warum?« Aber N würde nur die Schultern zucken, ihn liegen lassen und sich im Weggehen das Blut von den aufgeschürf‌ten Knöcheln saugen. Ihm oder sonst wem die Wahrheit zu sagen würde alles kaputt machen.

Wir werden perfekte Lügnerinnen bei allen anderen und absolute Wahrheitssagerinnen unter uns. B und N wissen längst, wie es geht, und sie bringen mir alles bei. Sie hüten meine Geheimnisse, und ich hüte ihre. Es liegt an der Elektrizität zwischen uns, daran, wie unsere karierten Vans über die Asphaltdecke jagen, immer höher in die Luft, in die Dunkelheit. Ich weiß von dem Mee-Pee-Pie und dem einen Stiefvater. Sie wissen, was mit mir los ist, und das weiß sonst keiner. Wir sind Lügnerinnen in einem Netz aus Lügen, und wenn ich erzählen soll, wie es war, muss ich auch lügen, sonst wäre es nicht wahr.

Jede Menge Lügen hier

Unsere Sackgasse ist voll davon. Gegenüber wohnt Ron, der beim Film ist. Er ist Kameramann, aber nicht für die üblichen Filme. Er dreht Pornos. Den Nachbarn erzählt er, er dreht Spielfilme, weshalb sie ständig fragen, welche Stars er diesmal vor der Kamera hatte, und dann sagt er, ach, keine A-Promis, ihr würdet sie nicht kennen.

Daneben wohnt Craig, der Junge, in den ich mich verlieben werde. Sein Vater hat gelogen. Und zwar so: Früher hat die ganze Familie in Chicago gelebt – Craig, seine Schwester, sein Bruder und ihre Eltern. Eines Morgens kam Craig zum Frühstück runter und sah, wie sein Vater mit einem Koffer in der Hand auf Zehenspitzen aus der Haustür schlich.

»Dad«, sagte er. »Wo gehst du hin?«

»Nach Kalifornien«, antwortete sein Vater. »Ich hole euch bald nach.«

Ein Jahr später wohnten Craig und sein Bruder bei seinem Vater und dessen neuer Frau in unserer Sackgasse, mit einem cremefarbenen Cadillac und einem riesigen Wohnmobil in der Einfahrt, während seine Schwester und seine Mutter noch in Chicago sind und den Männern der Familie nachtrauern. Als Craigs Bruder ums Leben kam, sagte Craigs Dad den einzig wahren Satz, den er je gesagt hat. Er hat zu Craig gesagt: »Ich wünschte, es hätte dich getroffen.«

Zwei Häuser weiter wohnt eine Baptistenfamilie. Mach bloß kein Babysitting dort, denn kaum schaut die Baptistenmutter weg, will der Baptistenvater dir die Hand unter dein jüdisches T-Shirt schieben, um deine kleinen jüdischen Brüste zu begrapschen. Danach gehst du nie wieder hin, und dir wird jedes Mal schlecht, wenn du den Haarspray-Helm in dem puderblauen Chevrolet Impala die Sackgasse herunterrollen siehst, in dessen Heckscheibe dich die Sonne blendet.

Drei Häuser weiter, am Ende der Sackgasse, wohnt Michaela. Michaela hat einen Schnurrbart und einen schwarzen Zahn. Ihr Körper quillt in erstaunlichen Wulsten aus ihren Kleidern. Sie schielt und sieht aus wie die Doppelgängerin von Meat Loaf. Sie ist um die zwanzig, aber sie hat immer noch keinen Führerschein, was auch egal ist, weil ihre Eltern kein Auto haben, das fährt. Dafür haben sie Hunderte von Vogelkäfigen im ganzen Haus, und alles stinkt nach Vogelkacke. Ihre Lüge kommt noch. Sie wird mich ins Mark treffen. Wenn ich mich in den Jungen von gegenüber verliebe, wird Michaela mich beiseite nehmen und mir sagen, dass Craig in Wirklichkeit sie liebt, was aber nicht stimmt, weil Craig mich liebt. Sie wird mich mit ihren schielenden Augen ansehen und mir erzählen, sie hätte Craig entjungfert, bevor ich in die Wish Avenue zog, und er hätte ihr gesagt, dass er sie liebt. Craig wird schwören, dass es nicht wahr ist, was heißt, dass einer von beiden lügt. Man wird sehen.

Am Ende der Sackgasse zwischen Michaela und den Baptisten wohnt Sheri Baby. Sheri Baby ist siebzehn, hat spindeldürre Beine und langes, glattes, blondes Haar. Sie bewegt sich auf ihren schmalen, schlingernden Hüften wie eine Viper. Ihre Jeans ist so eng, dass sie an Schritt, Po und Knie weiß ist wie eine zweite Haut. Sheri Baby ist verrückt nach der Band Rush und findet Männer mit Falsettstimme sexy. (Auf welchem Planeten Falsett sexy ist? Auf keinem Planeten.)

Wenn Sheri Baby die sechsjährige Tochter des Kameramanns auf dem Bürgersteig spielen sieht, geht sie mit schlingernden und schwingenden Hüften auf sie zu und singt mit ihrem von Rush abgeschauten Falsett: »Ab die Post ins Hosenlaaaand!«

Wie auf Knopfdruck fängt Rons Tochter zu heulen an und rennt schluchzend ins Haus, unfähig, ihrer besorgten Mutter zu erklären, was passiert ist. Dann, und du kannst deine Swatch danach stellen, stürmt die Mutter auf die Straße und brüllt: »Hör auf zu sagen, dass sie ins Hosenland muss!« Doch Sheri Baby hat sich inzwischen im Gebüsch versteckt und lacht sich schief, dass ihre strichförmigen Augenbrauen hüpfen, und die Fransen an ihrer handgenähten Ledertasche flattern vergnügt. Oder sie ist schon an der Ecke Balboa und Rinaldi und hält den Daumen raus, unterwegs irgendwohin, wo es cool ist, während Mom mich zwingt, das Laub zu rechen, den Rasen zu mähen und das Auto zu waschen, falls ich am Wochenende rauswill.

Wenn ich also gerade bei uns in der Einfahrt stehe, brüllt Rons Frau mich an. Dass ich es nicht war und dass ich keine Ahnung habe, was das Hosenland ist, ist ihr völlig egal. Sie hat ein traumatisiertes Kind, um das sie sich kümmern muss, also geht sie wieder rein und erzählt ihrem Kind Lügen, um es zu trösten. Sheri Baby schlängelt sich davon, die Hand vor dem Mund, die Augenbrauen wie schwarze McDonald’s-Bögen. Ich lächle ihr zu, als wäre ich in ihren Hosenland-Streich eingeweiht, weil sie mir vermutlich sonst eine reinhauen würde. Also lüge ich auch, mit einem Lächeln.

Drei Häuser von Michaela entfernt, was nicht weit genug ist, wohnen wir. Die Lügen der Nachbarn sind nichts im Vergleich zu der Lüge, die mir meine Mutter heute Abend erzählen wird. Mom und das Glas Chablis aus dem Fünf‌literkarton haben beschlossen, dass ich alt genug bin. Was ich bezweif‌le. Die neue Art von Lüge ist vielleicht noch schlimmer als die anderen, weil du danach alles, was du zu wissen glaubtest, nach außen stülpen und mit Spiegeln, Raumspray und Nachtsichtgeräten auf den Kopf stellen musst.

Mom beginnt die Lüge, indem sie von der Zeit erzählt, als meine Eltern verheiratet waren. Darüber redet sie fast nie, außer um zu erklären, dass sie mich bekamen, um ihre Ehe zu retten, und sich scheiden ließen, als ich drei war. Im Gegensatz zu meinem Vater (der mir alles erzählt – abwarten) ist sie eine sparsame Geschichtenerzählerin. Aber heute Abend will sie reden. Ich schätze, sie ist einsam, weil ihr Freund verreist ist, und dank meines wattierten BHs sehe ich neuerdings fast alt genug für eine Unterhaltung aus. Als Kind wusste ich immer, wann sie gerade keinen Mann hatte. Dann schickte sie mich ins Bett, legte die ganze Nacht Nina-Simone-Platten auf und klimperte am Klavier mit. Meine kleine Nachtmusik. Aber heute Abend hatte sie ein anderes Spätprogramm für mich: die Swinger-Story. Hier die Kurzfassung.

Mom hat diese Freunde vom College, Ike und Judy. Ich kenne sie mein ganzes Leben. Judy sagt, an dem Tag, als Mom mit mir aus dem Krankenhaus kam, hätte sie mich ihr an die Brust gelegt. Mom mochte das Konzept des Stillens nicht, und ich schätze, ich musste nehmen, was ich kriegen konnte. Ike und Judy haben drei wilde Söhne, die mir eine Menge Schmerzen zufügten (mich vom Baumhaus schubsten, mir ein Brett auf den Kopf fallen ließen, mir einen Stock zwischen die Speichen steckten, sodass ich vom Rad fiel etc.). Deswegen freute es mich riesig, als Ike und Judy eine Tochter adoptierten. Erst recht, weil sie kein Baby mehr war. Sie war schon acht, und man konnte richtig mit ihr spielen. Irgendwann beschlossen Ike und Judy, eine offene Ehe zu führen, was hieß, wie mir meine Mutter erklärte, dass sie ins Bett gehen konnten, mit wem sie wollten, solange beide einverstanden waren. Offensichtlich waren häufig beide einverstanden. Sie erzählten meinen Eltern: »Es macht Spaß«, und: »Ihr solltet es mal ausprobieren.« Also probierten es meine Eltern aus. Mit Ike und Judy.

Okay. Das ist eine Überraschung. Aber es erklärt auch manches. Als ich klein war, haben Moms Freunde nie nach meinem Vater gefragt. Nach acht Jahren Ehe kehrten Moms und Dads Freunde in ihre jeweilige Ecke zurück, als hätten Mom und Dad sich nie geliebt. Nur ein paarmal, als ich klein war, berührten sich ihre Welten wieder, wenn Judy fragte: »Wie geht’s deinem Dad?« Und dann hörte sie zu, wenn ich von ihm erzählte wie von dem Bewohner eines anderen (aus meiner Sicht parallelen) Universums. Am Ende lächelte Judy und sagte: »Richte ihm bitte liebe Grüße von mir aus.« Bei meinem nächsten Besuch überbrachte ich die Botschaft gewissenhaft, und sie löste bei meinem Vater einen Regenbogen an Emotionen aus, von Überraschung (Was, von Judy?) zu Freude (Wie nett von ihr. Die meisten Freunde deiner Mutter haben ja nie … Aber Judy war immer schon anders. Süß irgendwie … Sehr süß, um genau zu sein …) zu gebauchpinselter Männlichkeit (Und sie hat ja auch immer mit mir geflirtet).

Jetzt weiß ich, warum. Weil Dad und Judy sich laut meiner Mutter prächtig amüsierten, im Schlafzimmer kicherten und am Esstisch heimliche Blicke tauschten. Natürlich hatte meine Mutter auch etwas mit Ike, was, wie sie berichtet, »nur okay« war. Sie war im College schon mal mit ihm zusammen gewesen und stand einfach nicht besonders auf ihn. Sie hatte das Gefühl, sie hätte den Kürzeren gezogen.

Meine Mutter holt Luft. Über uns scharren die Palmen an den Stromleitungen. Eigentlich habe ich den Schock schnell verdaut, weil in der Schule alle, die ich kenne, es mit irgendwem machen oder kurz davor sind oder es gerade hinter sich haben – lange, bevor mir klar wurde, dass es überhaupt schon jemand macht. Neuerdings ist Sex überall, späht um die Ecke oder schleicht sich von hinten an, wenn ich am wenigsten damit rechne. Mehr als das Swinger-Ding schockiert mich, dass meine Mutter mit mir rumhängen will.

Normalerweise ist abends »ihre Zeit«, in der sie Wein trinken, zeichnen und auf ihren alten Heilsarmee-Lautsprechern Reggae-Platten hören will. Mein Leben lang hat sie mich bei Sonnenuntergang mit dem Satz ins Bett geschickt: »Zisch ab und träum süß.« Aber heute hat sie den Arm auf die Lehne des Korbstuhls drapiert, der sich langsam auf‌löst, die Beine hochgelegt, Füße nackt, Zigarette zwischen den Fingern baumelnd, als würde Zeit keine Rolle spielen. Als hätte sich ihr Vollzeitjob, der schuld ist, dass sie nur abends und am Wochenende für Kunst und Reggae Zeit hat, im Äther aufgelöst.

Ich sollte dazu sagen, dass sie so was Ähnliches letztes Jahr schon einmal gemacht hat, bevor ihr derzeitiger Freund in unser Leben trat. Auch da saß sie abends nach der Arbeit auf der Terrasse und entspannte sich, während die träge summende Pumpe unseres kleinen, unbeheizten Pools die Nacht milder wirken ließ, als sie war. Mom rief, und ich kam, mit schlaksigen Gliedern und glänzender Zahnspange. Ich schätze, sie hielt mich schon damals für älter, als ich war, denn sie erzählte mir von ihrem Liebeskummer wegen eines Mannes, von dem ich nie gehört hatte.

Es konnte nicht funktionieren, sagte sie. Er war schwarz, und es wäre für seine Karriere zu riskant gewesen, sich öffentlich mit einer Weißen zu zeigen, also hatte sie die Beziehung beendet, weil sie nicht auf Dauer geheim gehalten werden wollte. Zum ersten Mal dämmerte mir, dass meine Mutter noch ein anderes Leben hatte. Mir wurde klar, dass meine Wochenenden bei Dad ihr die Gelegenheit gaben zu tun, was sie wollte. Und zusammen zu sein, mit wem sie wollte. Was seltsam war, denn wenn ich aus dem Haus ging und zurückkam, war sie immer da. Und dann stellt sich raus, dass sie in der Zwischenzeit ganze Beziehungen führte.

Ich schätze, der Mann mit der Karriere, zu der eine weiße Frau nicht passte, war eine Ausnahme, denn sonst habe ich alle Männer in ihrem Leben kennengelernt. Da war Alvah (er zog bei uns ein und flehte sie an, ihn zu heiraten), Michael (den sie heiratete und damit zu Ehemann Nummer zwei bzw. Stiefvater Nummer eins machte, bis er sie betrog und sie ihn rauswarf) und Sam (er glaubte nicht an die Ehe, also verließ sie ihn). Auf diese Männer kamen elf Jahre ihres Lebens, und dazwischen war nicht viel Platz.

Und trotzdem hatte es offenbar noch einen gegeben. Der schon wieder weg war. Ich erinnere mich, dass ich ein paar Fragen hatte.

F: In was für einem Beruf ist es ein Problem, dass er eine weiße Freundin hat?

A: Politik.

F: Hattest du eine Tüte über dem Kopf, wenn du vom Wagen zu seiner Haustür gegangen bist?

A: Wir waren nie bei ihm. Das war Teil des Problems. Er hat mich nicht in sein Leben gelassen.

F: War es schwer, Restaurants zu finden, wo euch keiner kennt?

A: Wir waren nie in Restaurants.

Erst dachte ich, sie redete mit mir, weil sie einsam war. Es war ihr erstes Jahr als Single, und in diesem Jahr hatte sie ihren Master gemacht, sich für Jobs beworben, war von Nordkalifornien nach Südkalifornien gezogen und hatte einen Weg gefunden, weiter nebenher Kunst zu machen. Ich dachte, wir hatten so viel gemeinsam erlebt, dass sie mich vielleicht fast wie eine Freundin betrachtete.

Aber die Geschichte ihres heimlichen Liebhabers war nur die Einleitung zu einem Aufklärungsgespräch, genauer gesagt, es ging um Verhütung, oder noch genauer, sie wollte mit mir zum Arzt, um mir ein Diaphragma anpassen zu lassen. Ich weiß nicht mehr, wie sie die Verbindung zwischen ihrem heimlichen Liebhaber und meinem zukünftigen Diaphragma knüpf‌te. Meine Mutter kam übergangslos von Keramik zum Schweißen zur Fotografie zu Männern, Themenwechsel, die in dem Moment plausibel schienen, aber nicht in der Rückschau. Ich erinnere mich, dass ich einen Lachanfall bekam und fast in unseren kleinen algentrüben Pool fiel, der den Großteil des Gartens einnimmt, als ich rief: Ich bin noch Jungfrau!

Deswegen versuche ich heute Abend zu durchschauen, ob Ike und Judy auch irgendwas mit Verhütung zu tun haben. Weil Mom weiß und ich weiß, dass ich mit einem Typen zusammen bin, der ganze vier Jahre älter ist als ich. Ich warte, aber sie erwähnt weder die Pille (schlecht, findet sie) noch die Spirale (noch schlechter – ihre Freundin Ruth ist davon steril geworden und adoptiert seitdem ständig Hunde und Katzen, und diesen Papagei, der Silberbesteck klaut), Kondome (wir leben nicht mehr in den Fünfzigern) oder Diaphragmen (die einzige Methode, die die Mühe wert ist). Stattdessen setzt sie die Swinger-Story fort.

Nach dem Experiment mit Ike und Judy finden meine Eltern neue Kandidaten in Form von Dads bestem Freund Rixie und seiner französischen Frau Françoise, die Ärztin ist. Auch das schockt mich nicht, weil wir, als ich drei war und Mom Dad verlassen hatte, mit Rixie und seinen beiden Söhnen zusammenzogen. Ein Jahr lang waren wir eine Familie, bis meine Mutter feststellte, dass sie keine Lust mehr hatte, mit Rixie zusammen zu sein. Ich habe ein paar Erinnerungen an die Zeit, vor allem an Rixies Sohn, der ein Jahr älter war und immer wollte, dass ich die Hose runterzog und mich auf sein Gesicht setzte. Einmal taten wir es vor den Nachbarskindern, die zu kreischen anfingen und mit dem Finger auf uns zeigten, und das war das letzte Mal. Selbst mit vier verstand ich, dass wir etwas Verbotenes taten.

Daran merkst du übrigens, dass du erwachsen wirst. Du erinnerst dich an Sachen, die du längst vergessen hattest, und siehst sie mit Abstand. Aber zurück zu meiner Story.

Einer der Vorteile, wenn man Ärztin ist, sagt Mom, ist der Zugang zu Betäubungsmitteln. Françoise schnüffelte Äther, was hieß (ich habe nachgefragt), dass sie ein Tuch in ein Schälchen mit Äther tauchte, es sich an die Nase hielt und vom Inhalieren high wurde. (Morgen in der Schule ist diese Info Gold wert. Wie über Sex reden plötzlich alle über Drogen; und alle tun wir so, als wüssten wir Bescheid.) Mein Vater, der sich an den Wochenenden seines Harvard-Studiums mit Meskalin zugedröhnt und als Postdoc in Princeton mit Pillen vollgepumpt hat, war zu allen Äther-Schandtaten bereit. Und so schnüffelte und schlief er mit Françoise.

Mom und Rixie schliefen auch miteinander, allerdings verliebten sie sich. Rixie war der erste Mann, der ihr zuhörte und sich ihre Kunst ansah, sagt sie, was mein Vater nie tat, obwohl sie ihre Werke in Augenhöhe an die Wand hängte. Dabei kann man die Kunst meiner Mutter eigentlich gar nicht übersehen. Jedenfalls spürte mein Vater, dass zwischen Mom und Rixie mehr war. Und auch wenn er sich mit Françoise amüsierte, fühlte er sich bedroht, und deshalb berief er sich auf »Die Regel«.

Dass Swinger Regeln haben, widerspricht allem, was ich mir darunter vorstellte, denn es ging doch gerade darum, die Regeln über Bord zu werfen. Aber es gibt sie. Und die wichtigste Regel war (ich habe nachgefragt), wenn einer stopp sagt, muss der andere aufhören.

»Stopp«, sagte mein Vater.

»Nein«, sagte meine Mutter.

Ein paar Monate nachdem meine Mutter meinen Vater und Rixie Françoise verlassen hatte, fand man Françoise tot mit dem Gesicht in einer Ätherschale.

»Überdosis«, sagt Mom. »Das war echt traurig.« Sie drückt die Zigarette in einem Aschenbecher aus, den ich in der Schule getöpfert habe, und schickt mich ins Bett.

Später am Abend steige ich aus dem Fenster. Das tue ich jede Nacht. Morgens stehe ich vollkommen neben mir, komme zu spät, vergesse alles und binde mir nicht mal die Schuhe zu. Aber nachts sprudelt in mir das Leben. Vor allem in Nächten wie dieser, wenn die Santa-Ana-Winde trocken und warm und tief über das Land fegen und Pinienduft mitbringen, der sich in meinem Haar verfängt.

Ich erinnere mich an das Haus, in dem wir mit Rixie und seinen Söhnen wohnten. Und wie Rixie die Jungs mit dem Gürtel bestraf‌te. Und an das eine Mal, als er es bei mir tat. An die Fliehkraft bei dem U-Turn, den mein Vater machte, als ich den Gürtel erwähnte, wie er vor dem Haus auf die Bremse trat und »Du bleibst hier« rief, als er die Tür zuschlug, sich aufplusterte und wütend zur Haustür stürmte, um seinem ehemals besten Freund zu sagen, dass er ihn umbringen würde, falls er je wieder die Hand gegen seine Tochter erhebe.

Ich schwebe durch die stille, aufgeräumte Nachbarschaft, während in meinem Kopf ein Tornado tobt, und in den Straßenlaternen schimmert die Leere der Welt. Gelbe Lichtflecken sprenkeln die Häuser, wenn die Bäume zittern und tanzen. Ich erfinde Lügen, die ich dir erzählen kann. Übe sie im Kopf. Spreche sie mit trockenen Lippen vor. Sterne am Himmel.

Pappbechermatsche

Es gibt diesen Moment, wenn du jemanden zum ersten Mal siehst und weißt, ihr werdet zusammengehören. Es ist eine Fähigkeit, die du entwickelst, wenn du viel umziehst. Als Neue musst du überleben. Du suchst dir das Rudel aus und gräbst dich geradewegs ins Zentrum. Aber es dauert eine Weile, bis du die Fähigkeit perfektioniert hast.

Jedes Jahr zogen wir um. Jedes Jahr freundete ich mich mit Außenseiterinnen an – mit Bonnie, die gerade vom Boot aus Taiwan gekommen war, oder mit Adrienne, dem einzigen schwarzen Kind in einem Meer von weißen Kindern. Wir freundeten uns an, weil wir die Neuen waren, die Außenseiterinnen, die, die noch nicht akzeptiert waren. Unsere Not klebte uns zusammen wie Haare an einen Luftballon.

Wir zogen um, ließen Bonnie zurück, beim nächsten Umzug verlor ich Adrienne, landete in der vierten Klasse in einer neuen Stadt. Die Klasse war eine enge Gemeinschaft. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis beschlossen wurde, dass ich immer schon da war und im Muster ihres Gewebes aufging. Und so blieb es. Bis zur Siebten hatte ich mich ans Dazugehören gewöhnt. Ich kannte meinen Platz in der Mädchenhierarchie, kannte jeden Buckel auf dem Fahrradweg, wusste, welche Lehrer mich mochten und welche mich gar nicht wahrnahmen.

Und die Jungs. Ich mochte so viele, und manche mochten mich zurück. Der erste Kuss mit Ken bei der Teenie-Disco zu Lionel Richies Once, Twice, Three Times a Lady. Ohne Zunge. Der Kuss mit JD im Poolhaus auf einer Party. Mit Zunge und Gerüchten, die sich wie ein fleischfressender Virus verbreiteten. JD erzählte allen, ich hätte angefangen und er hätte mich nach zehn Sekunden weggestoßen und »Hure!« gerufen. Da wusste ich noch nicht, dass Hure das neue Lieblingswort war, das die Jungs den Mädchen bald nachwerfen würden wie Handgranaten. Ich stand trotzdem auf Jungs. Obwohl ich schon mal was mit einem Mädchen gehabt hatte und es auch gut fand.

Ihren Namen kann ich hier nicht nennen, weil sie inzwischen eine Hauptrolle in einer erfolgreichen Fernsehserie spielt, mit Studiobeleuchtung und eingespielten Lachern. Wir hatten uns in Berkeley im Sommerlager kennengelernt, als ich elf war, und als ich dreizehn war, zog sie nach L.A. Als sie noch in der Bay Area wohnte, übernachteten wir ständig beieinander, und sie hat mir einiges gezeigt. Neben ihrem Bett lag immer ein Stapel Drehbücher, Serien, in denen sie Nebenrollen spielte, bevor sie ihren Durchbruch hatte. Herzbube mit zwei Damen, Die Straßen von San Francisco, solche Sachen. Sie hasste es, wenn ich die Drehbücher las, und heulte dramatisch: »Du beachtest mich gar nicht!« Aber ich konnte nicht anders. Die Drehbücher faszinierten mich. Fernsehen erklärt, auseinandergezogen wie ein Karamellbonbon. Bei ihr zu Hause hingen überall gerahmte Reklamefotos von ihr als Baby, als Kleinkind, als Grundschulkind und junger Teenager. Printkampagnen, erklärte sie, für Schuhe und Tomatensoße. Sie war zwei Jahre älter als ich und besessen von allem, was mit Schauspielerei zu tun hatte. Als Grease herauskam und ich verrückt danach war, sagte sie, das Broadway-Stück sei viel besser als der Film. Als Dad mit uns in The Fantasticks ging, sagte sie, statt sich zu bedanken, das Musical habe in New York viel bessere Schauspieler gehabt. Mein Vater fand sie unerträglich.

Gegen Ende der siebten Klasse, als meine Mutter verkündete, dass wir nach L.A. gingen, damit sie ihren Master machen konnte, war ich wenig begeistert, meine berühmte Freundin wiederzusehen, weil Los Angeles ein größerer Kulturschock für mich war als Malaysia. Wenn du in Nordkalifornien aufwächst, hörst du immer nur, wie künstlich da unten alles ist: die Brüste, das Haarspray, die teuren Autos, die innere Leere und die ewige Sonnenbräune. In Berkeley fahren die Leute alte Kombis mit politischen Aufklebern, und die Luft ist so frisch, dass man sie trinken will, selbst wenn sie manchmal nach Patschuli riecht. In der Bay Area ist alles sauber. Alles ist echt. Eukalyptusduft, der die Atome in deinem Gehirn bitzeln lässt.

Eines Sommertags fuhren wir in einem gemieteten Möbelwagen auf der Route 101 nach Süden, Mom, ich und unser Hund. Die Temperatur stieg und stieg, und wir legten in Pismo Beach eine Pause ein, bis dahin der südlichste Punkt unserer Welt. Über einem Lagerfeuer wärmten wir unser Mittagessen auf und rösteten sogar Marshmallows, was ein Schock war, denn meine Mutter war ein eiserner Gegner von Junkfood. Sogar Halloween war ein Problem, als ich klein war; statt Süßigkeiten »von Fremden« anzunehmen, musste ich für Unicef sammeln. Als wir in L.A. ankamen, herrschte eine Hitzewelle. Ich war krank vor Heimweh und eine miserable Briefeschreiberin. Weil wir uns die Ferngespräche nicht leisten konnten, die nötig gewesen wären, um mit meinen Freundinnen in Kontakt zu bleiben, war ich isoliert, vergessen in einem fremden Land, in dem ich noch mal ganz neu anfangen musste. Der einzige Trost war die Tatsache, dass Michael Jackson in Tarzana wohnte, wodurch wir in unserem kleinen gemieteten Häuschen in Sherman Oaks quasi Nachbarn waren. Es war vollkommen möglich, dass ich ihm auf der Straße begegnete. Es war 1979, und Of‌f The Wall lief überall.

Na gut. Es gab noch ein paar andere coole Dinge in L.A. Meine Mutter nahm mich mit in die Fernsehshow Newhart, auch wenn Newhart nicht halb so lustig war wie die Bob Newhart Show. Bei meinen Lieblingsserien Taxi und der Mary Tyler Moore Show stand im Vorspann immer »Aufgenommen im Studio vor Live-Publikum«, und als ich nun selbst im Studio saß, fühlte ich mich, als wären wir auf der anderen Seite des Fernsehbildschirms. In den letzten Wochen, bevor die Schule anfing, ging ich mit meiner Mom ein paarmal in einen Club namens The Improv. Dort war ich immer das einzige Kind, aber der Mindestumsatz von zwei Getränken galt auch für mich, also nippte ich Shirley Temples, während richtig witzige Typen (und einmal eine Frau) auf die kleine Bühne traten und das Publikum aufzogen. Als der Komiker Andy Kaufman einen Wutanfall bekam, sich weigerte, seine Show zu beginnen, und stattdessen von hinten in den Raum rief, dass das Licht Mist wäre und er wie ein Hund behandelt würde, wussten wir nicht, ob es zu seinem Act gehörte oder ob er wirklich sauer war. Einerseits war es seltsam still im Saal, als er herumkrakeelte, andererseits lachte sich der Typ am Nachbartisch schlapp, und ich war total verwirrt. Jedenfalls mimte Andy Kaufman nicht Latka den Mechaniker. Nach der Show holten wir uns draußen Autogramme (Mr. Weird Al, würden Sie bitte auf meiner Cocktailkarte unterschreiben?) und liefen quer über die Straße zum Moustache Café. Meine Mutter bestellte Schokoladensouf‌f‌lé mit zwei Löffeln und nannte es eine »kulturelle Mission, um zu sehen, wie die andere Hälfte lebt«. Ich schätze, ihr Studienkredit warf mehr ab als ihr Vollzeitjob, denn vorher in der Bay hatten wir nie solche Sachen gemacht. Vielleicht hatte sie auch ein schlechtes Gewissen, dass sie mich umgetopft hatte. Oder sie wollte Abenteuer mit mir erleben. Zum ersten Mal meine Mutter für mich allein zu haben – ohne Vollzeitjob, ohne Lebensgefährten oder Ehemann – war an sich schon ein Abenteuer. Wenn wir nachts durch L.A. fuhren und die riesigen Werbetafeln von Angelyne sahen, malten wir uns aus, was passieren würde, wenn wir die Telefonnummer wählten, und wer zum Teufel Angelyne war und warum sie sich dort räkelte. Meine Mutter wollte aus allem etwas Besonderes machen.

Dann fing die Schule an, und ich trieb ziellos durch die Flure der Millikan Junior High, während eine neue Sprache in meine Ohren sickerte und versuchte, sich den Weg zu meinen Lippen zu bahnen. Wörter wie »irre« und »Hammer« und »obercool«, »Sex Wax« und »abschnallen«, und die Mutter aller Ausdrücke – »voll ätzend« –, den ich, als ich ihn draufhatte, extrem nützlich fand. Ich streif‌te meine alte Haut ab, die aus Levi’s und Flanellhemden bestand, und ersetzte sie durch Surfer-Klamotten, Skater-Schuhe und Designerjeans mit auf den Hintern gestickten Markennamen. Mein Haar bekam nach außen geföhnte Stufen. Ich brauchte ein Jahr, bis alles stimmte. Aber ich schaffte es genau rechtzeitig für den letzten Umzug.

Zur neunten Klasse landeten wir tief im San Fernando Valley. Erster Schultag an der Robert Frost High School, zweite Stunde, Englisch II. Da waren sie. B und N. Eineiig. Kleine, glänzende, schwarze Augen. Langes, dunkles, perfekt gestuftes Haar. Ständig in Bewegung, Lächeln, das schnell spöttisch wird, Witze und Beschimpfungen in einem stereophonen Wasserfall pfeilschneller Wendungen. Sie gaben immer Vollgas. Trotz ihrer kleinen Größe füllten sie jeden Raum. Ich wusste, dass sie mir gehörten und ich ihnen.

Auch die Lehrerin spürte ihre Energie, die die Klasse unterspülte und die Ordnung und unsere Aufmerksamkeit störte. Mitten im Unterricht hielt sie inne und sagte, wir sollten alle die Augen schließen. Dann machte sie das Licht aus. Der kollektive Puls verlangsamte sich ein bisschen.

»Du bist auf einer Straße«, sagte sie.

»Was für eine Straße?«, fragte jemand.

»Denk dir eine aus. Du gehst zu Fuß. Sieh dich um. Was siehst du?«