Caspars Schatten - Michael Leuchtenberger - E-Book

Caspars Schatten E-Book

Michael Leuchtenberger

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Beschreibung

David und Miriam werden von ihrem exzentrischen Jugendfreund Caspar zu einer Feier eingeladen. Für die Geschwister beginnt mit dem eigentlich erfreulichen Anlass ein Albtraum. Caspar ist überzeugt, einen Bund mit unsichtbaren Mächten geschlossen zu haben. Zu spät erkennen David und Miriam, wozu ihr alter Freund wirklich fähig ist ...

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Das Buch

Weniger abhängig sein von Technologiewahn und Kapitalismus, zurückkehren zur Natur – viele verspüren in der modernen Welt solche Sehnsüchte. Nur einer der Gründe, warum Caspar, der Widersacher in diesem übersinnlichen Thriller, so charismatisch erscheint. Er ist mit einer seltenen Gabe gesegnet, aber auch machtbesessen und skrupellos. Sein alter Freund David und seine große Liebe Miriam müssen das schmerzhaft erfahren, als sie in Caspars Fänge geraten …

Der Autor

Michael Leuchtenberger begann in einer Phase der beruflichen Neuorientierung 2015 mit der Schriftstellerei. Seinen Debütroman Caspars Schatten veröffentlichte er 2018 als Selfpublisher über Books on Demand. Der geisterhafte Thriller wurde in einer Reihe deutschsprachiger Buchblogs sehr positiv rezensiert.

Mit der Kurzgeschichte Lampionfest gewann er 2019 den Schreibwettbewerb Zeitgeist 2020 von Litopian e.V.

Im gleichen Jahr veröffentlichte er mit Derrière La Porte – elf sonderbare Kurzgeschichten seinen ersten Erzählband.

Geboren wurde Michael Leuchtenberger 1979 in Bremen. Er studierte Germanistik und Anglistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft in Oldenburg und Kingston-on-Thames und war anschließend einige Jahre als Redakteur in Hamburg tätig.

Dieses Buch enthält Trigger-Hinweise auf letzter Seite gegenüber der Deckel-Innenseite.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster Teil: Ein alter Freund

Zweiter Teil: Caspars Maske

Dritter Teil: Die Gefolgschaft

Vierter Teil: Die Unsichtbaren

Epilog

Danksagung

Prolog

Caspar lag auf dem Sofa und blätterte gelangweilt in einem Buch über Baumarten, das er ohnehin längst auswendig kannte. Währenddessen war seine Mutter eine Ewigkeit damit beschäftigt, die Küche in Ordnung zu bringen. Sein Vater werkelte irgendetwas im Garten.

Ruth, Caspars Mutter, wusste, dass es nicht gut war, die Geduld des Kindes allzu lange zu strapazieren. Für diesen spätsommerlich warmen Sonntag hatten sie sich einen Spaziergang in der Umgebung ihres Hauses vorgenommen, das abseits aller umliegenden Dörfer am Waldrand lag. Sie wollten Pilze sammeln und einen Abstecher zum See machen. Caspar hatte sich den ganzen Vormittag danach gesehnt, endlich loszuziehen. Daher hatte Ruth sich mit dem Abwasch beeilt.

Sie ließ das nasse Geschirr zum Trocknen stehen und rief betont fröhlich hinüber ins Wohnzimmer: »Fertig, Caspar!«

Ihr Sohn gab keine Antwort, aber das war sie gewohnt. Sie wusste, dass er sie gehört hatte.

»Du kannst deinem Vater Bescheid sagen, dass es jetzt losgeht!«

Sie hörte, wie Caspar die Tür öffnete, die vom Wohnzimmer in den Garten führte, und hinausrief: »Kommst du bitte? Wir wollen los!«

Ruth schüttelte den Kopf. Ihr achtjähriger Sohn hörte sich an, als wäre er der Vater. In letzter Zeit hatten sie und ihr Mann Friedrich sich häufiger gefragt, ob Caspar sich nicht ein bisschen zu oft im Ton vergriff.

Sie gingen den gewohnten Weg, über die zweispurige, grasbewachsene Zufahrt zum Haus, dann an der kleinen, asphaltierten Straße entlang, die in den Wald führte. Caspar trottete seinen Eltern auf dem schmalen Grasstreifen hinterher, blieb hier und da zurück, um einen toten Käfer zu untersuchen oder einen Vogel zu beobachten, oder rannte voraus.

Die Sonne schien ihnen ins Gesicht und ließ die Blätter der Büsche und Bäume, die die Straße säumten, hellgrün leuchten. Bis auf das Rauschen des Windes und ein paar Vogelstimmen war es vollkommen still. Nur einmal kroch ein Auto heran mit einem alten Mann am Steuer. Er saß nach vorne gebeugt, das Lenkrad fest umklammert, und passierte sie nach einigem Zögern in einem übertrieben großen Bogen.

Als sie an der Weide mit den Kühen vorbeikamen, trabten zwei von ihnen in erstaunlichem Tempo näher.

»Die sind aber neugierig«, sagte Friedrich.

»Die haben Hunger!«, rief Caspar. Er rupfte einige Grasbüschel vom Straßenrand und streckte sie den Kühen durch den Stacheldraht entgegen. Sie fraßen ihm aus der Hand.

»Sie kennen dich schon«, sagte Ruth.

Auf Streifzügen wie diesen ertrug Caspar die Gesellschaft seiner Eltern recht gut. Wenn sie gemeinsam die Natur erkundeten, spürte er, dass sie etwas verband, dass sie eine Familie waren. Die meiste Zeit aber, wenn sie sich in ihrem kleinen, bescheidenen Häuschen aufhielten, wenn grauer Alltag herrschte und sie sich mal wieder stritten, wünschte der Junge, er wäre allein auf der Welt. Dass es niemanden gab, der ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte.

Hinter der Weide führte ein unbefestigter Weg in den Wald hinein. Auf dem sandigen Boden war das Laufen mühseliger, zumal es leicht bergauf ging. Der Sand lief Caspar bei jedem Schritt in seine offenen Sandalen. Er war durchmischt mit Fichtennadeln, die ihm in die Füße stachen.

Die Bäume standen hier dichter, es war schattig und angenehm kühl. Caspar roch den Waldboden und noch etwas anderes.

»Ich rieche die Pilze«, sagte er.

»Ja«, antwortete sein Vater. »Ich wette, wir finden eine Menge.«

»Los, geh doch schon mal suchen«, sagte Ruth zu Caspar, die froh war, dass die Laune ihres Sohnes sich besserte. Sofort stahl dieser sich durch die Büsche am Wegesrand in den Wald.

»Aber erstmal keine Pilze anfassen, hörst du?«, rief ihm Friedrich hinterher. »Sag Bescheid, wenn du welche gefunden hast!«

Caspar war in seinem Element. Im Wald gab es so viel zu entdecken. Jeder Baum, jeder Strauch sah anders aus. Etliche waren krumm und schief oder knorrig. Auch der Boden sah nirgendwo gleich aus. Manchmal gab es nur einen Teppich aus altem Laub zwischen mächtigen Stämmen, manchmal undurchdringliches Buschwerk. Anderswo wuchsen dicht an dicht hohe Grasbüschel, die an den Beinen kitzelten. Aus umgestürzten, halb vermoderten Baumstämmen sprossen seltsame Pilze. Zwischen den Bäumen und Büschen lebten Mäuse, Igel, Eichhörnchen und Füchse, auch wenn man sie alle nur selten zu Gesicht bekam. Dass es viele Fledermäuse gab, bemerkte Caspar bei Spaziergängen am späten Abend, wenn sie über seinen Kopf hinweg huschten. Sogar Schlangen hatte er hier gesehen, meistens an dem kleinen See, der nicht weit von hier im Wald versteckt lag. Die vielen Vögel waren nicht zu überhören, manche erkannte er an ihrem Gesang.

Nicht zu vergessen all das, was am Boden herumkrabbelte: Ameisen und Käfer in allen Größen, Formen und Farben. Würmer, Schnecken und Raupen. Ekel empfand Caspar bei keinem Lebewesen, nicht einmal bei dicken Spinnen. Seine Eltern hatten ihm gezeigt, dass die meisten von ihnen völlig harmlos waren. Ebenso wusste er, von welchen Tieren man lieber die Finger ließ.

In einem Wald mit so viel Leben konnte alles existieren, was die Fantasie sich ausmalte. Und davon hatte Caspar reichlich. Er liebte Märchen und andere Geschichten, hatte aber auch keine Mühe, sich in seine eigenen Fantasiewelten zu flüchten. Auf Streifzügen durch den Wald spürte er mit allen Sinnen, was dort geschah und was anderen Menschen entging.

Bei aller Träumerei vergaß Caspar seine Aufgabe nicht. Hartnäckig hielt er Ausschau nach essbaren Pilzen. Von Spaziergängen kannte er Stellen, wo sich die Suche besonders lohnte. Maronen waren hier im Wald häufig, und Caspar erkannte sie, weil das Polster auf der Unterseite ihres Hutes sich blau färbte, wenn man darauf drückte. Auf dem kleinen Hügel unter den Kiefern wuchsen oft ganze Gruppen von Butterpilzen, deren glitschige Haut man vom Hut abziehen musste. An mehreren Stellen war der Sandweg von Birken gesäumt, unter denen sie oft Birkenpilze fanden. Dass deren Stiele meist genauso schwarzweiß gemustert waren wie die Stämme der Bäume, bei denen sie gediehen, faszinierte Caspar. Woher wusste der Pilz, wie man einen Baum nachahmt?

Schon nach zwei Stunden war Ruths Korb so weit gefüllt, dass es für ein Abendessen reichen würde.

»Komm, Caspar, wir gehen zurück«, rief Friedrich seinem Sohn zu, der einen riesigen Baumstumpf in der Nähe untersuchte.

»Jetzt schon? Auf keinen Fall. Wir waren noch nicht am See.«

Ruth bemerkte den Tonfall in Caspars Stimme und wusste, dass es wieder Streit geben würde.

»Ich bin noch nicht fertig im Garten«, sagte Friedrich. »Und deine Mutter möchte das Abendessen vorbereiten.«

»Das ist mir egal, ich will noch hierbleiben.«

Ruth war plötzlich sehr müde. Der erneute Stimmungswechsel ließ sie resignieren.

Sie fasste einen Entschluss.

»Dannbleibst du eben allein hier«, sagte sie, ohne Groll in der Stimme. »Du bist ja schon groß und kennst den Weg.«

Friedrich sah seine Frau überrascht von der Seite an, sagte aber nichts.

Caspar antwortete, ohne sie anzusehen: »OK.«

»Bleib aber nicht zu lange. Und pass auf, wenn du zum See gehst.« Sie streichelte ihrem Sohn kurz über den Kopf, dann drehte sie sich um und trat den Rückweg an.

Friedrich lächelte Caspar einmal kurz zu, bevor er ihr folgte. Sein Sohn erwiderte das Lächeln, wie zum Zeichen des Friedens.

Als Caspar endlich allein war, dachte er nicht mehr an den See, sondern setzte sich auf den Baumstumpf, der einst einen gewaltigen Riesen getragen haben musste. Er war so breit, dass mindestens vier Personen bequem darauf hätten sitzen können. Weil der Baum keine Krone mehr hatte, lag der Stumpf auf einer kleinen Lichtung in der Sonne. Drumherum standen dicht einige jüngere Eichen. Der Sandweg war, obwohl nur wenige Meter entfernt, durch die vielen Blätter hindurch kaum zu erkennen. Der Boden war von Grasbüscheln und dichtem Moos überzogen, in das man einsank wie in ein dickes Federkissen.

Caspar legte sich auf das trockene, von Flechten bedeckte Holz, spürte dessen Wärme im Rücken. Es fühlte sich herrlich an und machte ihn schläfrig. Weil die Sonne ihn blendete, schloss er die Augen. Er genoss die Ruhe und die Gewissheit, dass niemand ihn beobachtete.

Nachdem er eine Weile gedöst hatte, merkte er, wie etwas seinen Arm streifte. Kein Grashalm im Wind, kein Insekt. Etwas Größeres, das sich kühl anfühlte. Eine Hand?

Er öffnete die Augen. Sein Gesicht lag plötzlich im Schatten. Irgendetwas war neben ihm, über ihm, und verdeckte die Sonne. Aber mit seinem müden Blick erkannte er es nicht. Bevor er sich hochrappeln konnte, fühlte er wieder die kühle Berührung, diesmal an seiner Wange. Sanft, doch eindeutig da.

Dann hörte er eine Stimme, leise, aber deutlich.

»Caspar«, sagte sie.

Der Junge wagte nicht, zu sprechen, und blieb erstarrt liegen.

Dann sagte die Stimme: »Wir freuen uns, wenn du hier bist.«

Teil I

Ein alter Freund

1

David stoppte die Musik auf seinem Smartphone und nahm die großen Kopfhörer ab, unter denen ihm immer zu warm wurde. Die entrückten Songs von Porcupine Tree hatten ihn eingelullt und schläfrig gemacht. Doch das war besser gewesen, als den diversen, lautstarken Unterhaltungen zuzuhören, die um ihn herum geführt wurden. Jetzt brauchte er dringend Kaffee, sonst würde er schlecht gelaunt bei seiner Schwester eintreffen.

Um wach zu werden, dehnte und streckte David sich, soweit das auf dem beengten Sitz im Zug möglich war. Sein linkes Bein war eingeschlafen und kribbelte, als das Blut sich wieder seinen Weg bahnte. David zog die Schultern hoch, sein Nacken war verspannt und knackte auf beiden Seiten.

Draußen zog die norddeutsche Landschaft vorbei. Felder, kleine Wälder und Bauernhöfe, die endlich in Sonne getaucht waren. Es war schon Ende August und der Sommer hatte sich einmal mehr kaum als solcher zu erkennen gegeben.

Die beiden Studentinnen vor ihm hatten für das herrliche Wetter vor dem Fenster keine Augen. Sie diskutierten ungeniert ihre Beziehungsprobleme, als würden sie darauf warten, dass der Rest des Zugabteils sich einmischte.

In einer knappen halben Stunde würde der Zug in Bremen eintreffen. David tippte eine Nachricht an seine Schwester: »Bin unterwegs! Hab die übliche Wartezeit in Bremen, bin gegen halb 2 da! Freu mich auf euch, dein Brüderchen«. Er drückte auf Senden, merkte dann aber, dass es mal wieder kein Netz gab. Das würde sich frühestens einstellen, wenn die ersten Bremer Häuser neben der Strecke auftauchten.

Als David das Handy in die Vordertasche seines Rucksacks steckte, fiel ihm dort die Einladung zu der Feier in die Hand, die seine Schwester Miriam und er am Abend besuchen wollten. Warum hatte er die Karte überhaupt mitgenommen? Befürchtete er, sein alter Schulfreund könnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, ihn eingeladen zu haben?

David war völlig überrascht gewesen, als er den Brief in der Post gefunden hatte. Sie hatten viele Jahre nichts voneinander gehört.

Er holte die schlichte, weiße Karte aus dem Umschlag, auf deren Vorderseite in eleganter Handschrift stand: »Für David«, klappte sie auf und las ein weiteres Mal die wenigen Zeilen, die sich großzügig über beide Innenseiten erstreckten:

David, mein Bester!

Ich habe beschlossen, in diesem Jahr meinen Geburtstag in der Gesellschaft einiger Menschen zu verbringen, die mir sehr wichtig sind. Es soll ein unvergesslicher Abend werden und ich möchte auch mit Dir feiern. Ich hoffe inständig, dass Du es einrichten kannst. Für eine Übernachtungsmöglichkeit vor Ort ist gesorgt.

In vehementer Zuneigung

Dein Caspar

PS: Bitte erkundige Dich, ob meine Einladung auch Miriam erreicht hat. Ich möchte Euch beide unbedingt wiedersehen.

Jetzt erschien David die Vorstellung, die Einladung könnte ein Irrtum gewesen sein, doch absurd. Der Text war, wenngleich kurz, doch persönlich an ihn gerichtet. Die Grußformel »in vehementer Zuneigung« hatten sie früher gerne benutzt, meistens auf den Zettelchen, die heimlich im Unterricht in der Klasse kursierten. Die großen, ausladenden Buchstaben, die David aus der Schulzeit kannte, stammten eindeutig von Caspars Hand. Auf der Rückseite der Karte waren das Wann und Wo zu der Feier angegeben. Miriam und er würden später knapp zwei Stunden mit dem Auto dorthin fahren müssen.

Seine Schwester hatte ebenfalls eine Karte bekommen und war noch überraschter gewesen als er selbst. Keiner von beiden wollte sich Caspars Feier entgehen lassen. Sie hatten alle drei dieselbe Schule besucht und einen gemeinsamen Freundeskreis gehabt. Miriam war etwas älter als Caspar und David und in eine höhere Klasse gegangen, Caspar war eine Zeitlang ihr fester Freund gewesen.

Die Eltern der Geschwister, von Davids Freundschaft mit dem schrägen Vogel schon nicht begeistert, hatten erst recht missbilligt, dass Miriam sich ernsthaft in ihn verliebt hatte. Caspar hatte sich nie angepasst und war oft angeeckt. Anders als der Großteil seiner Mitschüler war er keinerlei Modetrends nachgejagt, hatte immer sein eigenes Ding gemacht. Weder von seinen Eltern und Lehrern noch von Klassenkameraden hatte er sich etwas vorschreiben lassen.

Dafür war Caspar von vielen bewundert worden, David eingeschlossen. Aber echte Freunde hatte er kaum gehabt. Zwar hatte er zu Partys nie Nein gesagt, doch abgesehen davon hatte er sich genau überlegt, mit wem er mehr Zeit verbrachte als nötig.

Dass er, David, damals die große Ausnahme gewesen war, hatte ihn stolz gemacht. Caspar hatte ihn respektiert, da er David für äußerst intelligent hielt. Stundenlang, manchmal ganze Tage, waren sie ziellos umhergeschweift, hatten viel diskutiert, oft aber einfach geschwiegen, ohne dass es jemals unangenehm gewesen wäre. Als das mit Miriam und Caspar ernster geworden war, hatten sie oft zu dritt herumgehangen. Auch wenn die Beziehung zwischen den beiden alles andere als reibungslos verlaufen war, hatte David sich auch dabei meist wohl gefühlt.

Trotzdem war Caspar für David immer ein Rätsel geblieben. Ständig hatte er verrückte, spontane Ideen gehabt. Einfach mal so die zwanzig Kilometer von der Schule zu Fuß gehen. Den uninspirierten Deutschunterricht schwänzen, stattdessen in der Bibliothek die wirklich guten Bücher lesen. Von einer Minute auf die andere einen Rucksack packen, um das ganze Wochenende im Wald zu zelten.

David war von Caspars Ideen meistens überrumpelt worden. Doch die Freundschaft hatte für willkommene Aufregung in seiner sonst eher eintönigen, braven Jugend gesorgt.

Manchmal hatte Caspar sich tagelang zurückgezogen, war kaum ansprechbar gewesen. Irgendwann hatte David sich darüber nicht mehr gewundert und schlicht abgewartet. Denn früher oder später war plötzlich alles wieder vergessen und Caspar hatte sich für die Funkstille entschuldigt. Sicher hatte diese Unberechenbarkeit zu einem gewissen Teil den Reiz der Freundschaft ausgemacht.

David hörte ein dezentes Bimmeln aus seinem Rucksack. Seine Nachricht hatte inzwischen den Weg zu Miriam gefunden.

»Bin ja schon ein bisschen nervös wegen heute Abend«, schrieb sie. »Aber erstmal freue ich mich auf DICH! Vincent übrigens auch.«

Miriams vierjähriger Sohn war ganz vernarrt in seinen Onkel, was auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Sag ihm, ich hab ihm was mitgebracht«, schrieb David zurück. »Bis nachher!«

Die Vorfreude auf seinen Neffen ließ David in sich hineingrinsen. Miriam hatte ihm ein Foto auf sein Handy geschickt: Vincent auf seinem Dreirad in der Hauseinfahrt, lachend und winkend. Der rothaarige Strubbelkopf erinnerte David an Pumuckl, einen der Helden seiner eigenen Kindheit.

Auch seine Freundin Kathi hatte ihm eine Nachricht geschickt. Gern wäre sie mitgekommen, musste aber an diesem Wochenende mit ihren Kollegen auf eine Gesundheitsmesse nach Leipzig.

»Ich hasse Business-Outfits«, schrieb Kathi. »Es ist viel zu warm hier! Würde viel lieber mit euch feiern. Denke an dich.«

»Rockt die Messe und Gruß an deinen Chef«, textete David zurück. »Ich melde mich morgen, wenn ich wieder nüchtern bin, versprochen!«

Die beiden Studentinnen wollten kurz vor Bremen aussteigen, standen auf und rafften ihre zahlreichen Taschen zusammen. Dabei warf eine von ihnen David mehrere verstohlene Blicke zu. Als er sie direkt ansah, vertiefte sie sich hastig in die nächste Unterhaltung mit ihrer Freundin, und die beiden beeilten sich, auszusteigen.

Der Zug fuhr wieder an, und Davids Blick fiel erneut auf die Einladungskarte, die er auf den freien Sitz neben sich gelegt hatte. Seine Gedanken kehrten zu Caspar zurück. Er hatte sich immer gefragt, ob sie jemals wieder den Draht zueinanderfinden würden. Und war sich gleichzeitig nie sicher gewesen, ob er sich das überhaupt wünschte.

2

Miriam stand auf der Terrasse, als ihr Bruder um das Haus herum durch den Garten geschlendert kam. Als David sie sah, lächelte er, hob zum Gruß flüchtig die Hand – es sah mehr so aus, als würde er eine Mücke an seinem Ohr verscheuchen – und sagte schlicht: »Hallo!«. Sie breitete wortlos die Arme aus, um ihn vernünftig zu begrüßen; sein Lächeln wurde zu einem Grinsen und er fiel ihr um den Hals.

Immer wenn Miriam ihren jüngeren Bruder sah, fragte sie sich, ob andere ihn wohl für einen echten Hipster hielten. David war zwar schon 35, ging aber locker für Ende 20 durch. Er war sehr schlank und gutaussehend, mit seinem dunkelblonden Strubbelhaar, den großen, graublauen Augen, und vor allem: dem strahlenden Lächeln dank seiner unverschämt guten Zähne. Besonders dieses Lächeln war es, das ihm eine jugendliche Ausstrahlung verlieh.

Die Aura des jungen Freigeistes schien er mit seiner Kleidungbewusst zu kultivieren. Denn David liebte es bunt. Grellblaue Schuhe zur engen, roten Hose, so wie heute, so etwas war Miriam von ihrem Bruder gewohnt. Das schlichte, dunkle Hemd war im Vergleich dezent und fast brav. Dazu trug er einen schwarzweiß gestreiften Hut, der so weit hinten auf seinem Hinterkopf saß, dass Miriam ihn unwillkürlich zurechtrücken wollte. Statt des Hutes komplettierte David sein Outfit gelegentlich mit einem knalligen Jackett, Hosenträgern, einer Krawatte oder einer eckigen, schwarzrandigen Brille.

Trotz der ungewöhnlichen Art, sich zu kleiden, war David nicht der Typ, der sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Wenn er einen Raum betrat, war er keineswegs automatisch der Mittelpunkt. Er hatte einen vorsichtigen Gang, machte nie ausladende Gesten. Er sprach eher leise und sowieso nicht besonders viel, brüllte nie herum und lachte selten laut. Der große Auftritt war nicht seins, nicht einmal im Haus seiner eigenen Schwester. Sie standen nebeneinander auf der Terrasse und er hatte die Hände tief in die Hosentaschen geschoben, während sie die üblichen Begrüßungsfloskeln austauschten: Jaja, die Hektik am Bahnhof und die vollen Züge am Wochenende.

Während David sprach, fuhr er sich mit der rechten Hand immer wieder über den dichten Stoppelbart. Mit seiner blauen Schuhspitze kratzte er verlegen auf den Steinplatten der Terrasse herum, drehte den Oberkörper hin und her, stellte er den rechten Fuß auf einen der Blumenkübel vor ihm und nahm ihn wieder herunter. Dann den linken. Dabei stieß er den Kübel fast um.

Seine Unruhe erinnerte Miriam an den kleinen David, der soeben etwas ausgefressen hatte und immer erst zu ihr gekommen war, um sie um Rat zu fragen, wie er es den Eltern am geschicktesten beichten konnte. Sah nur sie diesen kleinen Jungen in ihm, da sie ihn selbst gekannt hatte?

Weil David nie sonderlich souverän wirkte, fiel den meisten Menschen erst beim zweiten oder dritten Hinsehen auf, wie attraktiv er war. Auf den ersten Blick bemerkten sie allenfalls einen komischen, stillen Kauz. Wenn sie aber direkt mit ihm sprachen, waren sie nach wenigen Sekunden gefesselt.

Miriam hatte das schon oft erlebt, bei Frauen wie bei Männern, bei Jung und Alt. Sie konnte es kommen sehen, wie sie dann hinterher immer zu ihr sagten: »Du, dein Bruder, das ist aber ein ganz Netter.«

Neben seinen Augen lag das an seiner angenehmen, hellen und trotzdem warmen Stimme, und an seiner Art zu sprechen. Er wählte seine Worte mit Bedacht, stammelte nie herum und brachte so gut wie jeden Satz zu einem sinnvollen Ende. Das bildete einen Kontrast zu seiner Körpersprache, die oft Unsicherheit verriet. Ohne dies hätte aus ihm zweifellos ein brillanter Redner werden können.

Auch die Begrüßungssituation mit seiner eigenen Schwester war ihm unangenehm gewesen, aber so langsam entspannte David sich. Er sah ihr plötzlich direkt in die Augen und sagte: »Echt toll, dich zu sehen! Gut siehst du aus!« Dabei boxte er ihr sanft auf den Oberarm, als wäre sie ein guter Kumpel– was sie durchaus war, sofern man das von einer Schwester sagen konnte. Sie hatten sich immer gut verstanden und in schwierigen Zeiten zusammengehalten. Gleichzeitig waren sie sehr verschieden, mit unterschiedlichen Wünschen und Erwartungen. Das hatte dazu geführt, dass ihre Lebensweisen inzwischen völlig gegensätzlich waren – und, über die regelmäßigen Kurzbesuche hinaus, nicht miteinander vereinbar. Einblicke in die Welt des einen konnte der andere nur genießen, wenn sie sich auf wenige Tage beschränkten, wie auch diesmal.

David schaute zufrieden lächelnd über den blühenden Garten, während Miriam ihm von den neusten Schandtaten seines Neffen berichtete, der gerade mit dem Vater auf dem Spielplatz um die Ecke tobte.

Vincent war vor ein paar Tagen vier geworden. Am Tag danach hatte er gefragt: »Mama, hab ich heute immer noch Geburtstag?«. Als Miriam dies verneinte, hatte er energisch protestiert: »Aber ich will nicht wieder drei sein!«

David lachte laut auf – für seine Verhältnisse – und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Er freute sich immer diebisch über diese kleinen Geschichten und Miriam sah ihrem Bruder an, dass er es kaum erwarten konnte, seinen Neffen zu sehen.

Sie begann, die Terrassenmöbel aufzustellen, damit sie vor der langen Fahrt zu Caspars Fest einen Kaffee in der Nachmittagssonne trinken konnten. David half ihr, wobei er sich in den schicken Klappstühlen aus Holz mehrmals den Finger klemmte. Diesen alltäglichen Kampf mit den Dingen kannte Miriam von ihrem Bruder und kommentierte ihn knapp mit einem reflexartigen, halbherzigen »Pass auf!«. David verdrehte die Augen, grinste aber dann. Der Tag war zu schön und die Vorfreude auf seinen Neffen und die Feier am Abend zu groß, um sich von Kleinigkeiten die Laune verderben zu lassen.

Miriam ging ins Haus, um Kaffee zu kochen. David drehte sich einen der Stühle zur Sonne, setzte sich, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Es war mal wieder einer dieser seltenen, erhabenen Momente, in denen ihm partout nichts einfallen wollte, das ihm Sorgen machte.

3

Wenig später saßen sie nebeneinander auf der Terrasse, jeder hing mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand seinen eigenen Gedanken nach. David sah Miriam von der Seite an und fragte sich, wie seine Schwester jetzt auf ihren Ex-Freund Caspar wirken würde.

Er fand nicht, dass sie sich sonderlich verändert hatte, höchstens zu ihrem Vorteil. Oft, wenn er sie sah, musste David an die Bezeichnung »herbe Schönheit« denken, obwohl er fand, dass das albern klang. Die eher schmalen Lippen und das ausgeprägte Kinn ließen ihr Gesicht leicht streng wirken. Sie war ebenso groß und schlank wie ihr Bruder, hatte die gleiche, dunkelblonde Haarfarbe, ihr strahlendes Lächeln glich seinem. Das Haar fiel ihr in leichten Wellen bis auf die Schultern und sah oft ein wenig wild aus. Das passte zu ihrer rauen Stimme, die manchmal klang, als wäre sie Kettenraucherin, dabei hatte Miriam seit ihrem 20. Lebensjahr keine Zigarette mehr angerührt. Ihre Haut war glatt und auffallend blass, die graugrünen Augen heller als die ihres Bruders. Davids Vorliebe für extravagante Kleidung teilte sie nicht, sondern bevorzugte erdige Töne. Jetzt trug sie einen knielangen, braunen Rock und eine cremefarbene Bluse. Wie meist, wenn sie sich im Sommer in Haus und Garten aufhielt, war sie barfuß. Dass sie fast zwei Jahre älter war als ihr Bruder und längst auf die 40 zuging, sah man ihr keinesfalls an.

Doch, David war sicher, dass Caspar angetan sein würde, wenn er sie sah.

Sie hörten, wie die vordere Haustür aufgeschlossen wurde, dann verkündete eine Kinderstimme laut: »Wir sind da-haaa!«

Eine tiefe Männerstimme antwortete: »Erstmal Schuhe ausziehen, Vinnie.«

»Wir sind auf der Terrasse!«, rief Miriam.

Kurz darauf kam Vincent durch das Wohnzimmer gestürmt und sprang seinem Onkel in die Arme, der ihn an der Terrassentür erwartete.

»Hey, wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte David, während er seinen Neffen hochhob. »Mein Gott, bist du schwer geworden!«

»Auf dem Spielplatz!«, schrie Vincent, etwas zu laut direkt neben Davids Ohr.

Vincents Vater Ethan trat auf die Terrasse und streckte seine Hand aus. »Hi, David!«

Da er seinen Neffen auf dem rechten Arm hielt, hatte David nur die linke Hand frei, drückte damit etwas ungelenk Ethans rechte, und erwiderte: »Hey, schön dich zu sehen!«

Miriams Mann war mindestens einen Kopf größer als David und sah aus wie ein Wikinger. Er hatte breite Schultern, die gleichen roten Haare wie sein Sohn, und dazu einen ebenso roten Vollbart. Auch wenn seine Stimme voll und tief tönte, war er ein sanfter Riese.

Mit einem leichten Akzent fragte er David: »Wie geht’s dir? Kann ick dir ein Bier aus der Küche mitbringen?« Dass Ethan Engländer war, hörte man nur wegen der fehlenden »r«, dem »ch«, das zu einem »ck« wurde, oder wenn er ein »der«, »die« oder »das« falsch benutzte. Er stammte aus der Nähe von London, lebte aber seit vielen Jahren in Deutschland.

»Gerne«, antwortete David. »Miriam hat schon gesagt, dass sie nachher selbst fahren will.«

»Das heißt aber nicht, dass du schon betrunken bei der Feier ankommen solltest«, sagte Miriam.

»Ein bisschen Vorglühen wird mir guttun.«

Ethan lachte und verschwand in die Küche.

»Wo fahrt ihr hin?«, mischte sich Vincent ein.

»Ein Freund von uns feiert Geburtstag«, erklärte David, während er seinen Neffen herunterließ. »Er heißt Caspar. Wir waren mit ihm in der Schule.«

»Wann?«, fragte Vincent.

»Oh, das ist lange her«, sagte Miriam.

»Ganz lange«, sagte David. »So lange, dass wir gar nicht mehr wissen, wie Caspar aussieht.«

»Ist vielleicht auch besser so«, fügte Miriam leise hinzu.

»Kann ich mitkommen?«, fragte Vincent.

»Nein, das wäre langweilig für dich«, antwortete Miriam. »Du bleibst mit Papa hier. Ihr könnt noch ein bisschen im Garten spielen.«

Das schien den Jungen zufriedenzustellen.

Dann fragte er: »Kriegt Caspar auch Geschenke?«

»Na klar«, sagte Miriam. »Ich hab dir doch die Fotos von früher gezeigt, von Onkel David und mir und den anderen komischen Leuten. Weißt du noch?«

Vincent nickte eifrig.

»Die Fotos hab ich in ein Album geklebt, und das schenken wir heute Caspar.«

Dazu sagte Vincent nichts. Vielleicht fand er die alten Bilder von seiner Mutter, seinem Onkel und den anderen Leuten etwas befremdlich, und konnte sich nicht vorstellen, warum man solche Fotos jemandem zum Geburtstag schenken sollte.

»Danke, dass du dich darum gekümmert hast«, sagte David.

»Kein Problem, hat Spaß gemacht«, sagte Miriam, während sie das Album vom Wohnzimmertisch holte. »Auch wenn ein paar von den Fotos wirklich zum Gruseln sind, vor allem die von eurer Abschlussfeier. Hier, guck selbst, bevor ich es einpacke!«

Sie drückte das Album David in die Hand, der sofort darin zu blättern begann. Er hatte die Fotos seit mindestens zehn Jahren nicht gesehen und verstand schnell, was seine Schwester gemeint hatte. Zu ihrer Abiturzeit hatte nicht nur Caspar, sondern auch er lange Haare gehabt und bevorzugt schwarz getragen. Sie hatten maßlos getrunken und geraucht und sich ungeheuer cool gefühlt.

Auf der Abi-Fete und beim Zelten waren Schnappschüsse entstanden, von denen David hoffte, dass sie seinem kleinen Neffen vorenthalten worden waren. Er selbst, vornübergebeugt und scheinbar kotzend in einem Maisfeld. Daneben Caspar, der ihm auf den Rücken klopfte und sich totlachte. Ein Foto von Miriam, im Bikini im Gras liegend, mit einer riesigen Sonnenbrille und genüsslich an einer dicken Zigarre ziehend. Neben ihr ihre Freundin Antje, die ungeheuer gelangweilt aussah. David erinnerte sich, dass es zwischen den beiden später einen bösen Streit gegeben hatte.

Auf einem anderen Foto waren sie alle zusammen, im Kreis tanzend, wahrscheinlich zu Nirvana oder TheOffspring. Fast jeder war mit irgendeiner Flasche ausgestattet. Caspar und er, beide dünn, blass und picklig, hatten Schnapsgläser an Bändern befestigt und sie sich um den Hals gehängt. Dahinter folgten Fotos vom Abi-Ball. Miriam strahlend zwischen Caspar und David, alle drei in ungewohnt schicker Abendgarderobe. Eine erste, leise Ahnung von Erwachsensein.

Das Foto auf der letzten Albumseite zeigte Caspar allein am See, mit dem Rücken zum Fotografen. Die Hände in den Hosentaschen, den Blick auf die untergehende Sonne gerichtet. Plötzlich der einsame Wolf. So hatte er sich gerne inszeniert. Es wunderte David nicht, dass seine Schwester dieses Bild als Abschluss ausgewählt hatte.

War es eine schöne Zeit gewesen?

Aufregend, wild und neu. Anders als alles, was vorher und hinterher gekommen war.

Schön? Vielleicht. Im Rückblick.

4

Nachdem sie sich eine Weile über die Fotos amüsiert hatten, spielte David mit seinem Neffen und seinem Schwager im Garten Fußball, wobei Vincent stolz die rote Schirmmütze trug, die sein Onkel ihm mitgebracht hatte. Miriam war damit beschäftigt, das Album für Caspar in feierliches Papier zu wickeln, sich umzuziehen und zu packen.

Um kurz nach fünf warfen sie Miriams Rollkoffer und Davids Rucksack in den Kofferraum von Miriams kleinem, weißen Renault.

»An dem hängst du immer noch, was?«, fragte David und klopfte auf das Autodach. Miriams Liebe zu ihrem Auto war älter als die zu ihrem Mann. Sie hatte es gekauft, als sie die Uni abgeschlossen und ihren ersten Job angetreten hatte. Ihre Eltern hatten die Hälfte beigesteuert.

»Allerdings! Mein kleines Stück Unabhängigkeit, das gebe ich niemals freiwillig her!«

Miriam gab zum Abschied erst Ethan, dann Vincent einen Kuss. David merkte, dass sie aufgeregt war. Sie trug nun ein kräftig blaues Sommerkleid und weiße Sandalen. Eine leichte Jacke für später warf sie auf den Rücksitz.

David stieg ins Auto und rief den beiden Zurückbleibenden ein schlichtes »Bis morgen!« zu.

»Macht mir keinen Blödsinn!«, ergänzte Miriam, und setzte sich hinter das Steuer. Als sie die Türen geschlossen hatten und Miriam rückwärts aus der Einfahrt fuhr, nahm Ethan seinen Sohn auf den Arm, beide winkten ihnen zu.

Miriam hatte David einen Straßenatlas gegeben – »nur für alle Fälle«. Er hielt ihn auf den Knien und blätterte verloren darin.

»Wir können auch das Navi in meinem Handy benutzen«, hatte er vorgeschlagen, aber sie hatte abgewunken und gesagt: »Ich weiß, wo es langgeht. Und diese Dinger funktionieren nie, schon gar nicht da draußen in der Pampa.«

David hatte sich nicht die Mühe gemacht, darüber mit seiner Schwester zu diskutieren.

Jetzt, beim Betrachten der Straßenkarten, fiel ihm etwas ein.

»Eins habe ich dir ja noch gar nicht erzählt«, sagte er.

»Wow! Was denn?«

»Du weißt doch, dass ich schon immer mal nach Südamerika wollte.«

Während seine Schwester den Blinker setzte, um einen Traktor zu überholen, antwortete sie in sachlichem Ton: »Ja. Darüber haben wir gesprochen. Letztes Weihnachten glaube ich.«

»Kann sein. Jedenfalls ist es vielleicht schon bald soweit!«

»Ach, echt? Für mich klang das damals eher nach einem Hirngespinst.«

Miriam scherte aus und beschleunigte.

David war irritiert, weil seine Schwester ihren nüchternen Tonfall beibehielt, anstatt sich von seiner Vorfreude anstecken zu lassen.

»Es war ja auch ein Hirngespinst«, sagte er, als Miriam wieder auf die rechte Spur gewechselt hatte und sie den Traktor hinter sich ließen. »Aber neulich habe ich meinem Kumpel Jan bei ein paar Bier davon erzählt. Und der war so begeistert von der Idee, dass wir gleich angefangen haben, Pläne zu machen.«

»Was für Pläne?«

»Für eine Rundreise. Argentinien, Chile, Peru, … So richtig was entdecken eben.«

David strahlte Miriam vom Beifahrersitz aus an, aber sie runzelte die Stirn.

»Oh. Das wird dann aber mehr als eine Urlaubsreise? Wie lange wollt ihr denn unterwegs sein?«

Er wurde kleinlaut. »So genau wissen wir das noch nicht. Aber wir fanden, drei Monate müssten es schon sein. Vielleicht auch länger.«

David arbeitete seit einigen Jahren als selbstständiger Grafiker und hatte sich schon des Öfteren Auszeiten gegönnt oder von unterwegs gearbeitet.

Miriam hob erstaunt die Augenbrauen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Obwohl sie nichts sagte, fühlte David sich in die Defensive gedrängt. Daher erklärte er: »Jan arbeitet ja auch selbstständig. Außerdem hat seine Freundin ihn gerade verlassen.«

»Ach«, war Miriams einzige Antwort.

Erst jetzt fiel David auf, dass es naiv gewesen war, eine enthusiastische Reaktion von seiner Schwester zu erwarten.

Nach einer etwas unbehaglichen Pause, in der er überlegte, das Thema zu wechseln, fragte Miriam:»Was sagt denn Kathi dazu? Oder hat sie dich etwa auch sitzen gelassen?«

Sie lächelte, um ihrer Frage die Spitze zu nehmen. David war trotzdem provoziert, ließ es sich aber nicht anmerken.

»Quatsch. Sie findet die Idee gut. Klar ist sie ein bisschen neidisch und würde am liebsten mitkommen.«

»Verständlich.«

Wieder eine Pause, in der sie eine hohe Kanalbrücke überquerten. David schaute aus dem Beifahrerfenster und sah einen langen Binnenfrachter, der unter ihnen das schmale, schnurgerade Gewässer durchpflügte. Er merkte, dass Miriam angestrengt überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte. Wenn ihr etwas nicht passte, musste es heraus.

»Wäre es denn nicht viel schöner, wenn ihr so eine Reise gemeinsam machen könntet?«, fragte sie.

»Schon«, sagte David und zuckte die Achseln. »Aber sie muss nun mal arbeiten und kann nicht so lange weg.«

»Dann fahrt ihr eben nur für drei Wochen. In drei Wochen kann man auch viel erleben. So machen es normale Leute, die einen normalen Job haben.«

So langsam wurde es schwer für David, seine Gereiztheit zu verbergen. Eine solche Grundsatzdiskussion über ein eigentlich erfreuliches Thema hatte er nicht kommen sehen.

»Das ist bei mir eben anders. Und warum sollte ich es nicht ausnutzen?«

»Weil es egoistisch ist. Gegenüber Kathi meine ich.«

»Ich glaube kaum, dass Kathi das so sieht. Es ist nicht egoistisch, wenn ich mir einen lang gehegten Traum erfülle, von dem auch sie schon lange weiß.«

Kurzes Schweigen, während sich Miriam erneut ihre Argumente zurechtlegte. Dann erklärte sie: »Ich sehe das so: Wenn man zusammen ist, und das seid ihr schließlich, möchte man doch Abenteuer gemeinsam erleben. Schöne Dinge teilen.«

»Schon …«

»Damit das klappt, muss man Kompromisse eingehen. Zum Beispiel nur drei Wochen verreisen statt drei Monate. Aber du warst ja schon immer der Typ, der sein eigenes Ding macht.«

David schwieg.

Miriam fügte hinzu: »Und ich weiß nicht, ob Kathi sich das immer so gefallen lassen wird. Sie hat ihren eigenen Kopf.«