Die Empfänger - Michael Leuchtenberger - E-Book

Die Empfänger E-Book

Michael Leuchtenberger

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Beschreibung

Elf Geschichten über Menschen, die dem Unfassbaren begegnen. Der Museumsbesucher, der brav seinem Audioguide folgt - und in eine Falle tappt. Das Mädchen, dessen neues Spielzeug ihr die Zukunft voraussagt. Der neue Mitarbeiter eines Startups, der im Keller der Firma seltsame Botschaften empfängt. Was tust du an ihrer Stelle?

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Das Buch

Die Empfänger ist der zweite Erzählband von Michael Leuchtenberger. Noch stärker als im Vorgänger Derrière La Porte nimmt er darin Momente unter die Lupe, in denen das Alltägliche auf das Unfassbare trifft. Daraus entstehen oft gruselige, manchmal aber auch nachdenkliche oder kuriose Geschichten.

Der Autor

Michael Leuchtenberger fühlt sich in rätselhaften Kurzgeschichten und Romanen zu Hause. Er liebt es unheimlich, probiert aber gerne verschiedene Genres aus. Seinen Debütroman, den geisterhaften Thriller Caspars Schatten, veröffentlichte er 2018. 2019 gewann Michael Leuchtenberger mit der Kurzgeschichte Lampionfest den Schreibwettbewerb Zeitgeist 2020 von Litopian e.V. Im gleichen Jahr veröffentlichte er mit Derrière La Porte – elf sonderbare Kurzgeschichten seinen ersten Erzählband. 2021 erschien mit Pfad ins Dunkel sein zweiter Roman.

Geboren wurde Michael Leuchtenberger 1979 in Bremen. Er studierte Germanistik und Anglistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft in Oldenburg und Kingston-on-Thames und war anschließend einige Jahre als Redakteur in Hamburg tätig.

Das Buch enthält Trigger-Hinweise.

Inhaltsverzeichnis

Am Ypsilon links

Wo ist Lex?

Cosima

Der Denunziant

Die Stunde ist um

Exponat 55a

Kohlmanns Spielwaren

Wildwasser

Unausweichlich

Die Kapsel

Die Klagesteine

Danksagung

Am Ypsilon links

Du weißt ja, am Ypsilon immer nur rechts!«, sagte Tante Sabine und bückte sich wieder zu ihrem Kräuterbeet.

Seit Lukas zu Besuch war, hatte sie das jeden Tag mindestens einmal gesagt, als wäre er noch ein Kleinkind oder schon so vergesslich wie Oma Ingrid.

Es war noch heißer als am Tag zuvor. Er würde – natürlich – an der Weggabelung nach rechts gehen, wie immer, und dann bei seinem neuen Freund Marvin klingeln. Der hatte schließlich das Freibad vorgeschlagen.

Lukas lief am Straßenrand im Schatten der Bäume. Von hinten rollte ein Trecker heran.

In der Tasche seiner Shorts vibrierte es. Er holte das Handy hervor. Sprachnachricht von Marvin.

»Du, tut mir echt leid«, verstand Lukas gerade so, während der Trecker vorbeiratterte, »wir kriegen heute Besuch. Hatte ich vergessen. Mama will, dass ich hierbleibe. Wir machen das mit dem Freibad morgen, okay?« Nach einer Pause folgte noch ein genervtes »Bis dann.«

Lukas blieb stehen und verdrehte die Augen.

Und jetzt?

Nicht mehr weit entfernt lag das Ypsilon. Der Weg rechts war öde, führte zwischen Ackern zum nächsten Dorf. Was sollte er da allein?

Er lief auf die Stelle zu, an der sich die Wege gabelten. Zwischen beiden stand ein großer Baum, in dessen Schatten eine Holzbank, von der aus man weit die Straße hinuntersah.

Die Abzweigung links führte in den Wald, in dem Lukas noch nie gewesen war. Er wusste noch nicht mal, wie groß er war.

Bevor die Langeweile ihn wütend machte, wollte er wenigstens ein kleines Stück der unbekannten Straße folgen. Warum sollte man sie nicht betreten dürfen? Wenigstens bis zum Waldrand!

Der war allerdings sehr schnell erreicht. Im Schatten der Bäume ging die schmale, geteerte Straße in einen Feldweg über. Daneben warnte ein schiefes Holzschild:

PRIVATWEG

DURCHFAHRT VERBOTEN!

Na also! Die Durchfahrt war verboten. Aber er fuhr ja nicht. Er ging spazieren.

In einem leichten Bogen führte der Weg in den Wald. Nichts war zu hören außer dem Knirschen des sandigen Bodens unter Lukas’ Turnschuhen.

Hinter einer weiteren Kurve wichen die Bäume zurück. Ein Stück vom Weg entfernt stand ein Haus. Seine Wände waren von Efeu überwuchert, das Dach moosig. Der Holzzaun vor den mannshohen Brombeerbüschen im Garten hatte an mehreren Stellen nachgegeben.

Auf einer Bank neben dem Eingang saß ein Mädchen. Sie ließ ihre Füße baumeln und beobachtete Lukas, während der sich langsam näherte.

»Hallo«, sagte sie, ohne zu lächeln, aber auch nicht feindselig.

»Hallo.«

»Wer bist du?«

»Lukas, und du?«

»Lisa.« Jetzt lächelte sie. »Lukas und Lisa, das sind zwei L!«

»Stimmt«, antwortete Lukas. »Ich bin vorher noch nie am Ypsilon links abgebogen.«

Er wusste selbst nicht so richtig, warum er das sagte.

Lisa lachte. »Welches Ypsilon denn?«

»Na die Kreuzung da hinten. Sieht ja aus wie der Buchstabe.«

»Ach so.«

Einen Moment lang sahen sie sich nur an. Lukas überlegte, ob er wieder gehen sollte. Aber er hatte keine Lust, den ganzen Tag allein herumzulaufen.

»Ich war da noch nie«, sagte Lisa.

»Hm? Was meinst du?«

»Bei deinem Ypsilon. Aus dem Wald raus, meine ich.«

Lukas lachte, aber es blieb ihm ein wenig im Hals stecken. »Glaub ich dir nicht. Das ist doch gleich da vorne!«

»Nein! Ich kann da gar nicht hin. Also nicht alleine jedenfalls.«

»Ach so, lassen deine Eltern dich nicht? Aber zusammen wart ihr doch bestimmt schon oft da.«

Lisa sah zu Boden und schüttelte den Kopf.

Lukas kam sich immer noch veräppelt vor und wollte verschwinden. Da hob Lisa den Kopf und sah ihn ernst an. Ihr Gesicht kam ihm plötzlich älter vor, wie das einer erwachsenen Frau.

»Gehst du mit mir spazieren?«, fragte sie. Ohne Lukas’ Antwort abzuwarten, sprang sie von ihrer Bank, nahm seine Hand und zog ihn mit sich.

Sie nahmen einen Pfad, der hinter dem Haus zwischen die Kiefern führte. Ein Specht hämmerte hoch über ihnen. Lisa lief voran, hielt aber Lukas’ Hand weiter fest.

Er dachte daran, dass er gar nicht hier sein durfte. Es schien ihm stundenlang her, dass er an der Weggabelung gestanden hatte und zum Wald abgebogen war. Wer hätte gedacht, dass er hier vielleicht eine neue Freundin finden würde?

»Wie alt bist du?«, fragte er.

»Sag ich nicht!«

Eine Weile liefen sie schweigend hintereinanderher. Der Pfad krümmte sich weiter nach links. Musste er nicht allmählich zurück zum Hauptweg führen?

»Wieso bist du hergekommen?«, fragte Lisa. »Es kommen fast nie Leute zu meinem Haus.«

»Hab’ doch gesagt, ich bin den Weg auch noch nie gegangen. Aber heute war mir langweilig.«

Lisa drehte sich zu ihm um und grinste verschwörerisch.

Er grinste zurück. Eine seltsame neue Freundin hatte er da. Aber es war ein kleines Abenteuer. Genau das hatte er doch gewollt.

»Dann warst du auch noch nie im Freibad?«

»Nein, wie denn?«

»Wir können zusammen hin, morgen, mit meinem Kumpel Marvin.«

Lisa antwortete nicht.

Lukas hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. »Wo willst du denn eigentlich hin?«

»Na einfach woanders hin!«, rief Lisa. »Mit dir!«

Eine Weile waren sie schweigend Hand in Hand gelaufen, als Lisa unvermittelt ins Gebüsch abbog. »Hier! Ich zeig dir was!«

Sie gingen langsamer, bogen dabei einige Zweige zur Seite. Dann standen sie auf einer kleinen Lichtung.

Lisa blickte stumm zu Boden. Der war überall mit Blumen bedeckt, ein Teppich aus saftig-dunkelgrünen Blättern und weißen Blüten. Ihr süßlicher und würziger Duft stieg Lukas in die Nase.

»Schön hier, oder?« Jetzt schaute Lisa in die Baumkronen, in den Himmel. Ihre Hand ließ Lukas fast los, doch ihre Fingerspitzen berührten seine noch immer.

»Ja. Danke, dass du mir das alles zeigst. Ich hätte viel früher herkommen sollen.«

Jetzt lächelte sie, für ein paar Sekunden sahen sie sich in die Augen. Doch dann zog Lisa ihn wieder mit sich, zurück durch die Büsche zum Pfad.

Dort wurde ihr Griff fester und sie lief noch schneller als zuvor.

»Warum rennst du so?«, rief Lukas. »Wo willst du denn jetzt hin?«

»Vielleicht zu deinem komischen Ypsilon!« Sie lachte schrill. »Oder noch weiter! Was kommt denn dahinter?«

»Na, ein Feld, ein paar Häuser, unser Haus auch und …«

»Aha!«

»Jetzt komm schon, das musst du doch wissen! Ich glaub dir einfach nicht, dass du noch nie …«

Lisa fuhr herum, die Stirn in Falten.

»Wie oft soll ich es dir denn sagen? Noch nie! Ich kann nicht raus!«

Lukas zuckte zurück, doch ihre Hand hielt seine so fest, dass es wehtat.

»Ist ja schon gut«, rief er. »Trotzdem kannst du mich jetzt loslassen.«

Doch sie zog ihn weiter.

Mit einem Mal war ihm alles klar. Kein Wunder, dass sie hier allein im Wald war. Sie war durchgedreht!

Plötzlich wollte Lukas gar nicht mehr hier sein. Sein kleines Abenteuer machte ihm keinen Spaß mehr. Er versuchte, sich von Lisa loszureißen, doch ihre Hand war wie ein Schraubstock.

»Du musst mitkommen!«, rief sie. »Jemand muss bei mir sein, sonst geht es nicht! Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen!«

»Was geht nicht? Du erzählst doch Quatsch!«

Zwischen den Bäumen konnte Lukas den Waldrand ausmachen. Im selben Augenblick begann Lisa zu rennen. Lukas wehrte sich, aber kam nicht frei. Sie war kleiner, doch schien sie viel stärker als er.

»Ich komme heraus!«, jauchzte sie.

Der Pfad führte auf den Weg, über den Lukas gekommen war. Er hatte ihn zuvor zwischen den Bäumen nicht entdeckt. Nur ein paar Schritte waren es bis zum Waldrand und dem Verbotsschild. Auf Höhe des Schildes blieb Lisa stehen. Sie sah Lukas mit großen Augen an, atmete schwer vor Aufregung. Alle Wut schien verflogen, aber sie sah auch nicht mehr wie ein Kind aus.

»Okay«, sagte Lukas, bemüht, ruhig zu klingen. »Ich zeige dir das Ypsilon, ja? Danach muss ich aber nach Hause.«

Lisa strahlte ihn an. »Danke!«

»Verrätst du mir dafür, wie alt du bist?«

Sie traten aus dem Schatten der Bäume.

»Viel älter als du.«

Plötzlich war da eine andere Stimme neben Lukas. Tiefer, rauer. Die Hand, die seine festhielt, war jetzt kalt wie Eis.

Als Lukas sich traute, hinzusehen, hielt er den Atem an.

Lisas Gesicht war kreideweiß, die Wangen hohl mit gräulichen Schatten.

Die grauen Lippen öffneten sich. »Keine Angst. Ich werde dir nichts tun.«

Lukas brachte nur ein Flüstern heraus. »Was willst du?«

»Sie besuchen.«

»Wen?«

»Alle, die wissen, dass ich die ganze Zeit dort im Wald war.«

Lisas Blick suchte die Umgebung ab. Dann sah sie Lukas wieder in die Augen und grinste. Es war eindeutig Lisas Grinsen, aber es lag keine Freude mehr darin. »Und du wirst mich zu ihnen führen.«

_____

Diese kleine, gemeine Geschichte wurde beim SpaceNet Award 2022 unter die 30 besten gewählt und im dazugehörigen Printbuch veröffentlicht. Das Thema lautete schlicht »Y«. Weil es so offen war, hatte ich sofort Lust, mitzumachen und eine Gruselgeschichte beizutragen. Für Die Empfänger wurde der Text leicht überarbeitet, diese Fassung hier ist etwas länger.

Wo ist Lex?

Langsam!«, rief Kendra. »Das ist die Einfahrt!« Moritz bremste scharf.

Stadt der verlorenen Seelen stand in weißer Schrift auf dem schwarzen Schild. An der schmalen Landstraße zwischen Wald und Feld wirkte es wie ein Fremdkörper.

Moritz konnte es kaum erwarten. »Echt, Leute«, sagte er und bog auf den Parkplatz ein. »Geiles Geschenk!«

»Das hoffe ich«, rief Titus von der Rückbank. »Das Ticket war teuer genug und für deines mussten wir schließlich auch noch blechen!«

Kendra lachte. »Och, Titus, sowas sagt ein bester Kumpel doch nicht dem Geburtstagskind!«

Moritz parkte den alten Volvo im Schatten.

»Lass mal«, sagte er. »Ich weiß es zu schätzen! Und ihr werdet hoffentlich auch auf eure Kosten kommen.«

Er nahm Kendras Rollstuhl aus dem Kofferraum und half seiner Freundin hinein.

Die ließ ihren Blick über den Parkplatz streifen.

»Nicht gerade viel los hier.«

Moritz und Titus nahmen die Rucksäcke und folgten Kendra zum Eingang.

Ein bärtiger Typ scannte ihre QR-Codes. »Ein Geburtstag mit Stil! Meinen Glückwunsch!«

Er war Herr über einen Container, den jeder passieren musste, der in die Stadt der verlorenen Seelen wollte.

»Ihr habt alles? Warme Kleidung, Schlafsäcke, …?« Sie nickten.

»Gut. Wie ihr auf euren Tickets seht, lautet euer Auftrag: Wo ist Lex?«

»Und wer ist Lex?«, fragte Moritz.

»Lex Morgan ist ein junger Mensch mit einer schwierigen Vergangenheit. Taucht immer wieder wochenlang unter. Seine Familie hat euch engagiert, um Lex in der Stadt der verlorenen Seelen zu finden. Ihr habt bis morgen Mittag 12 Uhr Zeit.«

»Na herrlich«, sagte Kendra. Moritz knuffte sie.

»Von mir bekommt ihr noch einen Assistenten.«

Der Bartträger griff ins Regal und hielt Moritz ein flaches, schwarzes Gerät hin, etwas größer als ein Smartphone.

»Das ist Neil. Er navigiert euch durch die Stadt. Ihr könnt darauf aber auch angerufen werden. Vielleicht werden die Morgans nach dem Stand der Ermittlungen fragen. Neil kann nicht online gehen und keine Nachrichten versenden. Telefonieren nur im Notfall. Das Mobilfunknetz in der Stadt ist sehr schlecht. Aber keine Sorge, ihr geht nicht verloren. Mit Neil findet ihr alles, was ihr braucht: Verpflegung, Schlafplätze … Die Karte ist selbsterklärend. Fragen?«

Sie schüttelten die Köpfe.

»Dann mal los. Viel Spaß!«

Kendra rollte den Kiesweg durch lichten Wald hinab, Moritz und Titus folgten ihr.

»Das soll eine Stadt sein?«, rief sie.

Doch dann lugten zu beiden Seiten halb verfallene Backsteingebäude hervor.

Ein dürrer, alter Mann kam ihnen auf einem Fahrrad entgegen und starrte sie unverhohlen an. Ihre Grüße erwiderte er nicht.

»Die Schauspieler sind schon mal super«, sagte Moritz.

Irgendwo rumpelte es, als würde in der Ferne ein Güterzug rollen.

Titus zeigte zwischen die Bäume. »Guckt mal. Das war wirklich mal eine Stadt!«

Tatsächlich waren nun noch mehr alte Mauern zu sehen, die zu beiden Seiten aufragten.

»Verschaffen wir uns erstmal einen Überblick«, sagte Moritz und schaltete Neil ein.

Düstere Umrisse von Ruinen im Wald erschienen als Startbildschirm.

»Guten Tag. Mein Name ist Neil. Wie ich sehe, haben Sie die Stadt der verlorenen Seelen betreten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf Ihrer Mission, wie aussichtslos und gefährlich sie auch sein mag.«

Das musste ein Schauspieler eingesprochen haben, dachte Moritz. Einer, der Neil gekonnt einen förmlich-arroganten Tonfall verliehen hatte.

»Dann zeig uns doch mal deine Karte«, bat Kendra.