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Die Bekenntnisse eines Gentlemans Gibt es ein abschreckenderes Beispiel für junge Bildungsreisende als Sir Henry Montague? Nach Montys Cavaliersreise wird der englische Adel seine Sprösslinge bestimmt nie wieder auf den Kontinent schicken. Irgendwie ist er immer in eine Tändelei verwickelt. Oder betrunken. Oder zur falschen Zeit am falschen Ort. Nackt! Kein gutes Vorbild für seine Reisegefährten, weder für seine kleine Schwester Felicity, noch für seinen Jugendfreund Percy. Doch Monty will keinen Augenblick vergeuden, denn bald heißt es zurück zum gestrengen Herrn Vater und die Standespflichten wahrnehmen. Montys Unbesonnenheit aber bringt sie alle in unvorhergesehene Schwierigkeit und bald sind Wegelagerer und Piraten sein geringstes Problem. Nicht zuletzt seine unausgesprochene und unerfüllte Liebe zu Percy. Noch nie war das 18. Jahrhundert so geistreich, verwegen und charmant.
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Für Briana und BethL’amour peut soulever des montagnes.
Er schlenderte um Europa,Und las alle Laster auf christlichem Boden auf;[…]Sahe sich so gut in Bordellen, als Pallästen um;Spielte mit Ruhm Liebeshändel, und hurte mit Geist;Probirte alle hors-d’œuvres, definirte alle liqueurs,Trank mit Kenntnis, und aß mit großmüthiger Verwegenheit.ALEXANDER POPE, DUNKIADE
Wer sich mit Ernst hier umsieht und Augen hat zu sehen, muß solid werden, er muß einen Begriff von Solidarität fassen, der ihm nie so lebendig ward.GOETHE, ITALIENISCHE REISE
Am Tag des Aufbruchs zu unserer Cavaliersreise auf den Kontinent erwache ich neben Percy in meinem Bett. Im ersten Augenblick bin ich unsicher, ob wir beieinander oder miteinander geschlafen haben.
Percy trägt noch die Kleider vom gestrigen Abend, wiewohl weder im selben Zustand noch in derselben Anordnung wie zuvor, und die Laken mögen etwas zerwühlt sein, doch nichts deutet auf ein nächtliches Scharmützel hin. Daher scheint es, obgleich ich selbst nur einen Schuh und meine Weste trage – zudem mit der Knopfleiste hinten –, als hätten wir den Anstand gewahrt.
Das erleichtert mich in gewisser Weise, denn ich möchte nüchtern sein, wenn wir zum ersten Mal zusammen sind. Falls es dieses erste Mal je geben sollte. Was zurzeit immer weniger wahrscheinlich wird.
Percy wälzt sich grunzend auf die andere Seite, verfehlt mit einem Arm knapp meine Nase und schiebt seinen Kopf in meine Achselhöhle. Ohne aufzuwachen, zieht er fast die ganze Zudecke zu sich herüber. Sein Haar riecht nach Zigarrenrauch, und er hat einen faulen Atem, was ich ihm gewiss nicht verübeln darf. Dem Geschmack nach zu urteilen, der sich in meiner Kehle verbreitet – eine Mischung aus gepanschtem Gin und fremdartigem Parfüm –, dünste ich noch schlimmer.
Anderswo im Zimmer wird mit einem Ratsch ein Vorhang beiseitegezogen, und helles Tageslicht fällt mich an. Ich reiße die Hände vor das Gesicht. Percy erwacht mit einem heiseren Krächzen. Er versucht sich abzuwenden, stößt aber auf ein Hindernis, rollt trotzdem weiter und kommt auf meinem Bauch zu liegen. Meine Harnblase reagiert mit scharfen Protesten. Wir müssen außerordentlich viel getrunken haben, wenn es mich jetzt derart belastet. Dabei bin ich so stolz auf meine Gabe, mich besinnungslos zu betrinken und dennoch am nächsten Tag eine passable Figur abzugeben, vorausgesetzt, der Tag beginnt gegen frühen Abend.
Da wird mir klar, warum ich einerseits in solch kläglichem Zustand und andererseits noch betrunken bin: Es ist nicht meine übliche Zeit aufzustehen. Es ist früh am Vormittag, denn heute ist der Tag, an dem Percy und ich verreisen.
»Guten Morgen, Gentlemen«, sagt Sinclairs Stimme. Ich kann seinen Umriss vor dem Fenster ausmachen – er ist es, der das vermaledeite Licht hereingelassen hat. »Mylord«, fährt er fort und nickt mit dem Kopf zu mir herüber, »Eure Mutter hat mir aufgetragen, Euch zu wecken. Die Kutsche soll binnen einer Stunde fahren, und im Esszimmer warten Mr Powell und seine Gattin.«
Aus Percys Brust, unweit meines Nabels, dringt bei der Erwähnung seines Onkels und seiner Tante ein vage zustimmendes Geräusch, das keiner menschlichen Sprache zuzuordnen ist.
»Außerdem, Mylord, ist Euer Vater gestern Abend aus London zurückgekehrt«, sagt Sinclair zu mir. »Er wünscht Euch vor der Abfahrt zu sprechen.«
Weder Percy noch ich rühren uns von der Stelle. Nur der Schuh an meinem einen Fuß fällt mit einem hohlen Plonk auf den orientalischen Teppich vor dem Bett. »Vielleicht lasse ich die Herren besser erst einmal zu Sinnen kommen?«, schlägt Sinclair vor.
»Ja«, sagen wir wie aus einem Mund.
Sinclair geht, ich höre die Tür hinter ihm ins Schloss fallen. Vor dem Haus ist das Knirschen von Kutschrädern zu vernehmen, und die Knechte spannen unter viel Geschrei die Pferde an. Percy entfährt ein grausiges Stöhnen und ich muss unwillkürlich lachen.
»Was lachst du?« Er schlägt nach mir und trifft das Kissen.
»Du klingst wie ein Bär.«
»Und du riechst wie ein Schankhausboden.« Er lässt sich vom Bett hinuntergleiten, verfängt sich dabei im Laken und hängt schließlich kopfüber zu Boden, die Wange in den Teppich gedrückt. Sein Fuß bohrt sich mir in den Bauch, und zwar so tief unten, dass mir das Lachen prompt vergeht. »Nicht so stürmisch, mein Lieber!«
Der Drang, mich zu erleichtern, wird übermächtig, und ich greife, um mich aufzurichten, nach dem Bettvorhang. Etliche Ösen reißen. Wenn ich mich jetzt herabbeugen wollte, um den Nachttopf hervorzuholen, wäre eine jäh sich entleerende Blase die mildeste aller Konsequenzen, also reiße ich die Flügeltür zum Garten auf und pisse in die Hecke.
Als ich mich umdrehe, liegt Percy noch immer am Boden, die Füße im festen Griff der Laken. Sein Haar hat sich im Schlaf aus dem straff umwundenen Zopf gelöst und umgibt wie eine stürmische schwarze Wolke seinen Kopf. Ich schenke mir aus der Karaffe auf der Anrichte einen Sherry ein und leere ihn in zwei Schlucken. Gegen den Geschmack jenes Untiers, das mir nächtens in den Schlund gekrochen und darin verendet sein muss, kann das Getränk wenig ausrichten, doch wird ein leichter Rausch mir bestehen helfen, wenn meine Eltern mich verabschieden wollen. Und wenn ich etliche Tage mit Felicity im Wagen zubringen muss. Herrgott, gib mir Stärke.
»Wie sind wir gestern nach Hause gekommen?«, fragt Percy.
»Wo sind wir gestern gewesen? Nach der dritten Partie Piquet wird alles ein wenig nebulös.«
»Die Partie hast du gewonnen.«
»Ich bin mir nicht vollkommen sicher, ob ich die Partie gespielt habe. Wenn wir ehrlich sind, hatte ich ein paar Gläser getrunken.«
»Wenn wir ganz ehrlich sind, nicht nur ein paar.«
»So besoffen war ich nun auch nicht, oder?«
»Monty, du hast bei der Heimkehr versucht, deine Strümpfe vor den Schuhen auszuziehen.«
Ich schöpfe Wasser aus dem Bassin, das Sinclair gebracht hat, schütte es mir ins Gesicht und versetze mir ein paar Ohrfeigen, um mich leidlich in Form zu bringen. Hinter mir rollt Percy endlich ganz vom Bett herunter.
Ich winde mich aus meiner Weste und lasse sie zu Boden fallen. Percy schaut zu mir hoch und zeigt auf meinen Bauch. »Was hast du denn da Merkwürdiges?«
»Wo?« Ich sehe an mir herunter. Unterhalb meines Nabels klebt ein wenig rotes Rouge. »Na, sieh einer an.«
»Wie willst du erklären, wie das da hingekommen ist?«, fragt Percy grinsend. Ich spucke mir auf die Hand und versuche es abzuwischen.
»Ein Gentleman genießt und schweigt.«
»War es denn ein Gentleman?«
»Ehrlich, Percy, wenn ich’s noch wüsste, würde ich es dir sagen.« Ich nehme noch einen Schluck Sherry, dieses Mal direkt aus der Karaffe. Als ich sie zurückstelle, verfehle ich um ein Haar die Anrichte und setze sie kräftiger auf als gedacht. »Es ist fürwahr eine Last.«
»Was meinst du?«
»So ansehnlich zu sein. Die Leute können partout die Finger nicht von mir lassen.«
Percy lacht. »Armer Monty. Was für ein Kreuz.«
»Kreuz? Welches Kreuz?«
»Dass sich jeder auf der Stelle in dich verliebt.«
»Wer kann es ihnen verdenken? Ich würde mich auch auf der Stelle in mich verlieben.« Mein schönstes Schurkenlächeln drückt kleine Grübchen in meine Wangen.
»So hübsch und so bescheiden.« Percy rekelt sich auf dem Teppich, streckt die Arme lang aus und legt den Kopf in den Nacken, soweit es seine Schieflage erlaubt. Er spielt sich so selten in den Vordergrund, aber morgens ist er eine ganze verdammte Oper. »Bist du bereit für den großen Tag?«
»Vermutlich. Ich hatte mit den Vorbereitungen nicht viel zu tun, darum hat sich mein Vater gekümmert. Wenn nicht alles bereit wäre, würde er uns nicht fahren lassen.«
»Hat Felicity sich mit der Aussicht auf ihre Schule ausgesöhnt?«
»Ich habe nicht den Funken einer Ahnung, was in ihrem Dickkopf vor sich geht. Und mir ist schleierhaft, weshalb wir sie mitschleifen müssen.«
»Nur bis Marseille.«
»Nach zwei ganzen verdammten Monaten in Paris.«
»So lange wirst du deine Schwester wohl noch ertragen.«
Über unseren Köpfen fängt, von der Zimmerdecke kaum gedämpft, das Neugeborene zu schreien an. Prompt eilt die Amme zu ihm, sie klappert wie auf Pferdehufen über die Bodendielen.
Percy und ich heben die Augen zur Decke.
»Der Kobold ist erwacht«, murmele ich. Trotzdem es gedämpft wird, verschlimmert sein Geschrei das Hämmern in meinem Schädel.
»Du brichst ja geradezu in Jubel aus.«
Ich bin meinem kleinen Bruder in den vergangenen drei Monaten noch nicht oft begegnet, gerade genug, um mich darüber zu verwundern, dass er zum Ersten so runzelig aussieht wie eine in der Sommersonne vergessene Tomate und dass zum Zweiten jemand so Winziges mit so großer Treffsicherheit mein ganzes vermaledeites Leben ruinieren kann.
Ich schlürfe einen Tropfen Sherry von meinem Daumen ab. »Was für eine verdammte Landplage.«
»So eine Plage kann er doch wohl nicht sein, bei der Größe.« Percy hält die Hände kindsweit auseinander.
»Taucht wie aus dem Nichts einfach hier auf …«
»Aus dem Nichts solltest du besser nicht behaupten.«
»… schreit von morgens bis abends, bringt uns um den Schlaf und nimmt Platz weg.«
»Skandalös.«
»Du bist nicht gerade sehr mitfühlend.«
»Du lieferst mir auch wenig Gründe, es zu sein.«
Ich werfe mit einem Kopfkissen nach ihm, und weil er noch so träge ist, trifft es ihn mit voller Wucht am Kopf. Halbherzig erwidert er den Angriff, und ich lasse mich lachend bäuchlings auf die Bettstatt fallen. Ich rutsche an den Rand der Matratze und schaue von oben auf Percy herab.
Der hebt die Brauen. »So ernst auf einmal? Schmiedest du Pläne, den Kobold an fahrendes Volk zu verkaufen, damit sie ihn als einen der Ihren mit sich nehmen? Mit Felicity ist es dir misslungen, aber vielleicht hast du dieses Mal Glück.«
In Wahrheit sinne ich darüber nach, dass dieser zaushaarige, träge Morgen-Percy mir der liebste Percy ist. Und dass ich, wenn uns nur dieser eine gemeinsame Ausflug auf den Kontinent bleibt, ihn mit so vielen ähnlichen Augenblicken wie nur möglich anzufüllen gedenke. Das ganze Jahr, so sinniere ich, will ich ohne jeden Gedanken an die Jahre darauf zubringen, will mich nach Kräften besaufen, mich mit holden Mädchen vergnügen, welche fremde Sprachen sprechen, und morgens, wenn ich neben Percy erwache, das köstliche Herzklopfen erleben, das mich stets in seiner Gegenwart befällt.
Ich strecke eine Hand aus, um mit dem Ringfinger seine Lippen zu berühren. Am liebsten würde ich ihm zudem noch zublinzeln. Ich weiß, dass ich damit Gefahr liefe, zu weit zu gehen. Doch für derlei Subtilitäten dünkt mich das Leben zu kurz. Den Vorwitzigen lacht das Glück.
Und überhaupt – wenn Percy noch immer nicht weiß, was ich für ihn empfinde, so ist das schwerlich meine Schuld.
»Ich schmiede Pläne für unsere Cavaliersreise«, sage ich, »denn ich will keinen Augenblick davon vergeuden.«
Im Esszimmer ist das Frühstück angerichtet, und das Personal hat sich bereits zurückgezogen. Durch die Draperien an den offenen Flügeltüren strömt mildes Morgenlicht und entlockt den Goldintarsien im Beschlagwerk einen satten, warmen Glanz.
Mutter sieht aus, als sei sie schon seit Stunden auf den Beinen. Sie trägt eine blaue Robe und hat ihr prachtvolles schwarzes Haar zu einem adretten Chignon gebunden. Mein eigenes ordne ich notdürftig mit den Fingern zu jenem charmant zerzausten Gesamteindruck, den ich üblicherweise anstrebe: wie frisch den Pfühlen entstiegen und doch ansehnlich. Mutter gegenüber sitzen Percys Onkel und Tante, schweigsam und mit reglosen Mienen. Es stehen genug Speisen für ein Regiment zwischen ihnen auf dem Tisch, aber Mutter begnügt sich mit einem gekochten Ei in einem Delfter Becher – seit der Kobold sie deformiert hat, kämpft sie tapfer um ihre frühere zarte Gestalt –, und Percys Pflegeeltern haben außer dem Kaffee nichts angerührt. Auch Percy und ich werden das Festmahl nicht spürbar dezimieren können: Meinem Magen mag ich derzeit nicht viel zumuten, und Percy isst seit mehr als einem Jahr kein Fleisch, als hätte er die Fastenzeit nie beendet. Es diene seiner Gesundheit, sagt er und ist doch weit häufiger unpässlich als ich. Wenn er keine überzeugenderen Gründe vorbringen kann, sage ich ihm immer, halte ich diese Selbstgeißelung für absurd.
Als wir eintreten, streckt Percys Tante ihrem Mündel die Hand entgegen. Sie und er ähneln in vielem seinem Vater – ihre feinen Züge und die schmale Nase gleichen denen auf seinen Porträts. Doch Percy hat dazu üppige schwarze Locken, die sich unter keine Perücke, in keinen Zopf und auch sonst in keine Mode fügen. Percy lebt schon von klein auf bei seinem Onkel und seiner Tante, seit der Zeit, da sein Vater von dem Gut der Familie auf Barbados zurückkehrte, im Gepäck eine französische Violine sowie einen Säugling mit sandelholzfarbener Haut, und kurz darauf an einem tropischen Fieber verschied. Ein Glück für Percy, dass die Powells sich seiner annahmen. Und ein Glück für mich, denn sonst wären wir einander nie begegnet. Selbst der Tod könnte nicht schlimmer sein als das.
Meine Mutter schaut zu uns auf und streicht sich über die Fältchen in den Augenwinkeln, als wolle sie ein Tischtuch glätten. »Und da sind ja auch unsere Gentlemen.«
»Guten Morgen, Mutter.«
Percy deutet eine Verneigung vor meiner Mutter an, als sei er nichts als ein normaler Gast. Lächerlich, wo ich ihn doch besser kenne, als wenn wir Geschwister wären. Und ihn zudem weit höher schätze.
Meine leibliche Schwester dagegen würdigt uns keines Blickes. Sie hat einen ihrer galanten Romane an ein kristallenes Marmeladenglas gelehnt, und eine Serviergabel hält die Seiten offen. »Das schlägt aufs Hirn, Felicity«, sage ich und lasse mich auf den Stuhl neben ihrem fallen.
»Nicht so sehr wie Gin«, antwortet sie.
Mein Vater ist noch nicht da, Gott sei’s gedankt.
»Felicity«, flüstert meine Mutter ihr eindringlich zu. »Ob du wohl bei Tisch die Brille absetzen könntest?«
»Ich brauche sie zum Lesen«, sagt Felicity und schaut noch immer nicht von ihrem Schundroman auf.
»Wir haben Gäste. Da ist es unhöflich zu lesen.«
Felicity leckt ihre Fingerspitze an, um die Seiten umzublättern. Mutter schaut stirnrunzelnd vor sich auf den Tisch. Ich nehme mir eine Scheibe Röstbrot und lehne mich zurück, um mich an ihrem Schlagabtausch zu ergötzen. Es ist immer schön, wenn Mutter Felicity piesackt und nicht mich.
Mutter streift Percys Familie mit einem raschen Blick – seine Tante untersucht gerade ein zigarrengroßes Brandloch in seinem Ärmel – und sagt leise zu mir: »Eins der Dienstmädchen hat ein Paar Hosen im Cembalo gefunden. Wenn ich nicht irre, waren es die, in denen du gestern Abend ausgegangen bist.«
»Das ist … rätselhaft«, sage ich und meine es ganz ehrlich: Ich dachte, ich hätte sie lange vor unserer Heimkehr verloren. Plötzlich steht mir wieder vor Augen, wie ich kurz vor Tagesanbruch hinter Percy durch den Salon gestolpert bin und meine Kleider rechts und links von mir verteilte. »Lag dort nicht zufällig auch ein Schuh?«
»Soll ich sie dir einpacken lassen?«
»Ich habe sicher genügend andere.«
»Du hättest dir anschauen sollen, was vorausgesandt wurde.«
»Wozu? Wenn etwas fehlt, kann ich danach schicken, und in Paris kleiden wir uns ohnedies neu ein.«
»Es macht mir Sorgen, deine guten Sachen in irgendeine fremde Pariser Unterkunft mit fremdem Personal zu senden.«
»Die Unterkunft hat Vater arrangiert. Beschwere dich bei ihm, wenn sie dir nicht zusagt.«
»Es sagt mir nur nicht zu, euch zwei Jungen ein Jahr lang allein in der Fremde zu wissen.«
»Das hätte dir wohl früher einfallen sollen als am Tag der Abreise.«
Mutter schürzt die Lippen und beschäftigt sich wieder mit dem gekochten Ei.
Als hätte ich ihn heraufbeschworen, erscheint plötzlich mein Vater in der Tür des Esszimmers. Mein Pulsschlag beschleunigt sich, und ich beiße rasch in das Röstbrot, als könne ich mich dahinter vor ihm verbergen. Sein goldbraunes Haar trägt er sorgsam zu einem Zopf zurückgekämmt, wie auch ich es zumindest versuchen könnte, würde mein Haarschopf nicht des Öfteren von begierigen Händen durchwühlt.
Mir ist gleich klar, dass er meinetwegen hier ist, doch erst einmal wendet er sich Mutter zu, um sie auf den Scheitel zu küssen, und schilt gleich darauf meine Schwester. »Nimm diese vermaledeite Brille ab, Felicity.«
»Ich brauche sie zum Lesen«, sagt sie.
»Bei Tisch wird nicht gelesen.«
»Vater …«
»Nimm sie ab, oder ich breche sie mittendurch. Henry, auf ein Wort.«
Bei dem Klang meines Taufnamens aus seinem Mund zucke ich doch wahrhaftig zusammen. Vater hat diesen Namen mit mir gemein, und wann immer er ihn ausspricht, ist ihm anzusehen, wie sehr ihn meine Taufe reut. Fast habe ich damit gerechnet, dass meine Eltern auch den Kobold Henry nennen würden, damit jemand den Namen trage, der sich seiner vielleicht noch als würdig erweist.
»Magst du nicht mit uns Frühstück halten?«, fragt Mutter. Sie nimmt eine seiner Hände, die er ihr auf die Schultern gelegt hat, und versucht ihn sanft auf einen Stuhl zu dirigieren, aber er entzieht sich ihr.
»Ich muss mit Henry sprechen.« Percys Onkel und Tante grüßt er mit einem angedeuteten Nicken – ihr Status rechtfertigt keine ausführlichere Begrüßung.
»Die Jungen reisen doch heute ab«, setzt Mutter nach.
»Das weiß ich. Warum sonst sollte ich mit Henry sprechen wollen?« Er richtet seinen finsteren Blick auf mich. »Und zwar jetzt, wenn es recht ist.«
Ich werfe meine Serviette auf den Tisch und folge ihm. Percy lächelt mir, als ich vorübergehe, mitleidig zu. Die kleine Ansammlung von Sommersprossen rechts und links seiner Nase gerät dabei in Bewegung. Ich versetze ihm einen freundlichen Stüber auf den Hinterkopf.
Vater geht mir voraus in sein Wohnzimmer. Die Fenster stehen offen, und die Spitzenvorhänge malen Schattenmuster in den Raum. Aus dem Garten weht der schwere Duft welker Frühlingsblumen. Vater setzt sich an den Tisch und ordnet einige darauf befindliche Papiere, bis ich mich frage, ob er arbeiten und mich wie einen Schwachsinnigen hier sitzen und zuschauen lassen will. Verstohlen strecke ich die Hand nach der Karaffe auf der Anrichte aus, doch als er »Henry« sagt, schrecke ich zurück.
»Ja, Herr Vater.«
»Du kennst wohl noch Herrn Lockwood?«
Erst jetzt fällt mir auf, dass ein gelehrt aussehender Mann am Kamin steht, ein Stutzer mit rotem Haar, roten Wangen und dem schütteren Ansatz eines Barts am Kinn. Ich war so sehr mit meinem Vater beschäftigt, dass ich den anderen gar nicht wahrgenommen habe.
Herr Lockwood verneigt sich knapp, wobei ihm gleichwohl fast die Brille von der Nase gleitet. »Ich bin sicher, Mylord, dass wir einander auf der Reise weit besser kennenlernen werden.«
Ich verspüre den Drang, mich auf seine Schnallenschuhe zu übergeben, reiße mich aber am Riemen. Einen Hofmeister habe ich nie gewollt, schon deshalb, weil mich nichts von alle dem, was so ein Begleiter seine Schützlinge lehren soll, im Mindesten interessiert. Zudem kann ich mich bestens selbst unterhalten, vor allem, wenn Percy bei mir ist.
Vater legt die Papiere auf seinem Schreibtisch in eine Ledermappe und reicht sie an Lockwood weiter. »Die Reisedokumente. Passierscheine, Kreditbürgschaften, Gesundheitszeugnisse, Empfehlungsschreiben an meine Bekanntschaften in Frankreich.«
Lockwood verstaut die Mappe in seinem Mantel, und Vater dreht sich zu mir um, einen Ellenbogen auf seinen Schreibtisch gestützt. Ich schiebe nervös die Hände unter meine Beine.
»Sitz gerade!«, herrscht er mich an. »Du bist so schon kümmerlich genug.«
Es fällt mir erschreckend schwer, ihm aufrecht in die Augen zu schauen. Als er die Stirn runzelt, wäre ich beinahe wieder in mich zusammengesackt.
»Was denkst du, worüber ich mit dir sprechen will?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht, Herr.«
»Nun, dann rate.« Ich senke den Blick, obgleich ich weiß, dass ich damit einen Fehler begehe. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«
Ich schaue auf und hefte meinen Blick auf einen Punkt oberhalb seiner Augen. »Wolltet Ihr über meine Cavaliersreise sprechen?«
Er hebt die Augen kaum merklich gen Himmel, gerade genug, dass ich mich fühle wie der letzte Einfaltspinsel. Zorn wallt in mir auf – wozu stellt er mir eine solche Frage, wenn er mich dann doch nur für die Antwort verspottet? –, doch ich schweige wohlweislich. Eine Strafpredigt braut sich über mir zusammen.
»Ich will sichergehen, dass du dir über die Bedeutung dieser Reise im Klaren bist. Es erscheint mir nach wie vor töricht, dir noch mehr Nachsicht entgegenzubringen, als wir es seit deinem Hinauswurf aus dem Eton-College ohnehin schon tun. Dennoch gewähre ich dir wider besseres Wissen noch genau dieses eine Jahr Zeit, deinen Lebenswandel zu ändern. Hast du das verstanden?«
»Ja, Herr Vater.«
»Herr Lockwood und ich haben darüber beraten, welche Maßnahmen zu treffen seien.«
»Maßnahmen?«, wiederhole ich und blicke zwischen den beiden Männern hin und her. Bis eben habe ich in dem Glauben gelebt, dieses Jahr sei dazu da, mich nach Belieben zu amüsieren, mit einem Hofmeister, der sich um Unterkunft, Verpflegung und dergleichen Unannehmlichkeiten kümmert und Percy und mich ansonsten gewähren lässt.
Herr Lockwood räuspert sich umständlich, tritt in den Lichtschein am Fenster und zieht sich sogleich schmerzlich blinzelnd wieder einen Schritt zurück. »Als Euer Hofmeister bin ich von Euren verehrten Eltern dazu angestellt, über Euer Wohl zu wachen, und diese Aufgabe gedenke ich sehr ernst zu nehmen. Euer Vater hat mich über Eure Lage in Kenntnis gesetzt, und daher wird es unter meiner Aufsicht kein Glücksspiel geben, nur wenig Tabak und keine Zigarren.«
Das klingt allmählich unerfreulich.
»Ferner keine Besuche in Lasterhöhlen«, fährt er fort, »noch überhaupt in zweifelhaften Etablissements. Keine Techtelmechtel, keine unziemlichen Annäherungen an das andere Geschlecht. Keine Unzucht. Keine Trägheit, vor allem kein übermäßig langer Schlaf.«
Jetzt klingt es, als wollte er den Katalog der sieben Todsünden herunterbeten, von der mir gleichgültigsten bis zur schönsten.
»Und schließlich«, sagt er, wie um den letzten Sargnagel einzuschlagen, »nur moderate Mengen geistiger Getränke.«
Dagegen will ich lauthals protestieren, doch dann fixiert mich mein Vater mit strengem Blick. »Ich vertraue in diesen Fragen gänzlich Herrn Lockwoods Urteilsvermögen«, sagt er. »Betrachte seine Anweisungen als meine.«
Genau das, was ich unterwegs brauche: ein Stellvertreter meines Vaters.
»Wenn wir beiden einander wiedersehen«, ergänzt dieser, »erwarte ich von dir strenge Selbstdisziplin, Charakterstärke und …« Er schielt kurz zu Lockwood hinüber und fragt sich offenbar, wie er das Folgende angemessen formulieren soll. »… zumindest ein gewisses Maß an Diskretion. Dieses ständige Heischen nach Aufmerksamkeit muss ein Ende haben, und du wirst mir bei der Verwaltung des Anwesens und der Wahrnehmung unserer Standespflichten zur Seite stehen.«
Lieber würde ich meine Augen mit dem Zuckerlöffel ausschaben und mich damit füttern lassen, doch es scheint mir nicht ratsam, das zu sagen.
»Euer Vater hat mit mir über die Reiseroute beraten«, sagt Lockwood, zieht ein Notierbuch aus der Tasche und starrt angestrengt darauf herab. »Den Sommer verbringen wir in Paris.«
»Dort leben Geschäftsgenossen von mir, denen du deine Aufwartung machen sollst«, unterbricht ihn mein Vater. »Bekanntschaften, die dir von Nutzen sein werden, wenn du erst unserem Anwesen vorstehst. Und du wirst unseren Freund, den Botschafter Lord Robert Worthington, und seine Gattin zum Ball auf Schloss Versailles begleiten. Mach mir ja keine Schande.«
»Wann hätte ich Euch jemals Schande gemacht?«, antworte ich leise.
Kaum habe ich es gesagt, kann ich förmlich hören, wie wir beide in unseren inneren Bibliotheken nach all den Gelegenheiten blättern, bei denen sich Vater meiner schämen musste. Es ist eine lange Liste. Keiner von uns beiden zitiert sie laut. Nicht solange Herr Lockwood im Raum ist.
Lockwood durchbricht ungelenk das eisige Schweigen, indem er einfach so tut, als fände es nicht statt. »Von Paris geht es weiter nach Marseille, wo Eure Schwester, Fräulein Montague, die Schule besuchen wird. Bis dorthin sind unsere Unterkünfte bereits arrangiert. Den Winter verbringen wir in Italien – ich habe Venedig, Florenz und Rom vorgeschlagen, und Euer Vater war damit einverstanden. Dann reisen wir nach Genf oder nach Berlin, je nach Wetterlage und nach den Straßenverhältnissen in den Alpen. Auf der Rückreise, im Frühsommer, holen wir Eure Schwester wieder ab, und ich begleite Euch beide nach Hause. Herr Newton wird sich derweil auf den Weg zu seiner Schule in Holland machen.«
Es wird allmählich heiß im Zimmer, und ich fühle den Trotz in mir aufsteigen. Vielleicht habe ich sogar das Recht, trotzig zu sein, wenn mein Vater mich so wenig herzlich verabschiedet und wenn ich ertragen muss, dass Percy nach Ablauf des Jahres in Holland studieren soll und ich zum ersten Mal in meinem Leben von ihm getrennt sein werde.
Doch dann bedenkt mich mein Vater mit einem eisharten Blick, und ich lasse den Kopf hängen. »Na schön.«
»Wie bitte?«
»Ja, Herr Vater.«
Vater faltet die Hände auf dem Schreibtisch und starrt mich an. Einen Augenblick verharren wir schweigend. Auf dem Hof schilt ein Lakai einen der Pferdeknechte. Eine Stute wiehert.
»Herr Lockwood«, sagt mein Vater. »Ich würde gern mit meinem Sohn unter vier Augen sprechen.«
Sogleich verkrampfen sich mir alle Muskeln in düsterer Vorahnung.
Lockwood macht auf dem Weg zur Tür noch einmal halt und klopft mir auf die Schulter, dass ich zusammenfahre. Ich hatte einen viel heftigeren Schlag erwartet, allerdings aus der anderen Richtung. »Das wird ein erbauliches Jahr, Mylord«, sagt er. »Euch erwarten lyrische Rezitationen, Symphoniekonzerte und die exquisitesten kulturellen Kleinode, die der Kontinent zu bieten hat. Ein kulturelles Erlebnis, das Euch für den Rest Eures Lebens prägen wird.«
Bei Gott, mit diesem Lockwood hat mir das Schicksal gleich schwallweise aufs Hemd gespien.
Als Lockwood die Tür hinter sich schließt, beugt Vater sich zu mir vor, und ich weiche unwillkürlich zurück, aber er greift nur nach der Karaffe auf der Anrichte und stellt sie außer Reichweite. Ich muss mich wirklich zusammennehmen.
»Das ist deine letzte Gelegenheit, Henry«, sagt er, und sein französischer Akzent wird dabei spürbar, wie immer, wenn er in Rage gerät. Das leichte Näseln ist schon immer ein Alarmzeichen gewesen. »Sobald du zurück bist, verwalten wir das Anwesen gemeinsam. Und in London wirst du die Pflichten eines Lords kennenlernen. Wenn du dafür nach dem Jahr nicht reif bist, brauchst du erst gar nicht zurückzukehren. Dann gibt es für dich in unserer Familie keinen Platz mehr, und ebenso wenig in unseren Finanzen. Dann bist du enterbt.«
Da ist sie, pünktlich wie immer: die Drohung, mich zu enterben. Und nach all den Jahren, in denen dieses Damoklesschwert schon knapp über meinem Scheitel baumelt – reiß dich am Riemen, hör auf zu trinken, lass dich nie mehr mit einem Jungen erwischen, sonst … –, wird uns beiden mit einem Mal klar, dass es diesmal Vaters voller Ernst ist. Denn noch vor wenigen Monaten war ich der Einzige, der als Stammhalter in Frage kam.
Im Obergeschoss beginnt der Kobold zu greinen.
»Hast du verstanden, Henry?«, bohrt Vater, und ich zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen.
»Ja, Herr. Ich habe verstanden.«
Er seufzt. In seinem Gesicht zeigt sich die schmallippige Enttäuschung eines Mannes, der gerade ein schlecht getroffenes Porträt seiner selbst enthüllt. »Ich kann nur wünschen, dass du einmal ebenso einen Blutegel zum Sohn haben wirst. Alsdann, deine Kutsche wartet.«
Ich springe auf, um dem stickigen Zimmer schnellstmöglich zu entfliehen, doch kurz vor der Tür hält er mich zurück. »Eins noch«, sagt er. Ich drehe mich zögernd um, und er winkt mich noch einmal nah zu sich heran. So nah bei ihm spüre ich immer den Drang, mich wegzuducken. Vater schaut verstohlen zur Tür, durch die Lockwood schon längst verschwunden ist, und zischt mir zu: »Wenn mir nur eine Silbe davon zu Ohren kommt, dass du dich wieder mit Jungen einlässt, sei es auf Reisen oder nach deiner Rückkehr, enterbe ich dich. Unwiderruflich. Ohne weitere Unterredung.«
So weit seine väterlichen Abschiedsworte.
Im Freien scheint die Sonne noch immer wie mir zum Hohn. Es ist heiß und stickig, in der Ferne braut sich ein Unwetter zusammen. Kies knirscht unter den Hufen der angeschirrten, ungeduldigen Gäule.
Percy steht mit dem Rücken zu mir am Wagenschlag, was ich mir zur Gelegenheit nehme, ungeniert seinen Hintern zu betrachten. Nicht dass es ein besonders beachtenswerter Hintern wäre, aber er gehört zu Percy, und darum schenke ich ihm nur allzu gern Beachtung. Percy spricht mit einem der Träger, der das nicht vorausgesandte Gepäck in der Kutsche verstaut. »Das nehme ich besser selbst«, sagt er und streckt die Arme nach einem kleinen Koffer aus.
»Es ist Platz genug dafür, Herr.«
»Das weiß ich. Ich behalte es dennoch lieber bei mir.«
Der Träger fügt sich und gibt Percy den Geigenkasten, die einzige Hinterlassenschaft seines Vaters, die er prompt an die Brust drückt wie einen verloren geglaubten Freund.
»Sind deine Verwandten bereits gefahren?«, rufe ich und geselle mich zu meinem Freund.
»Es war ein nüchterner Abschied. Was wollte dein Vater von dir?«
»Ach, das Übliche. Dass ich nicht zu viele Herzen brechen soll.« Ich reibe mir die Schläfen. Ein übler Kopfschmerz beginnt sich mir im Schädel festzusetzen. »Herrgott, ist das hell. Wann fahren wir endlich?«
»Da kommen deine Mutter und Felicity.« Percy weist auf die Eingangstreppe, wo sich die beiden Frauen wie Scherenschnitte gegen die blendend helle Hauswand abzeichnen. »Du solltest dich wohl verabschieden.«
»Erst einen Kuss, das bringt Glück!«
Ich beuge mich zu ihm hin, aber Percy schiebt lachend den Geigenkasten zwischen uns. »Vergiss es, Monty!«
Ich gebe zu: Das schmerzt.
Felicity kneift in der Sonne die Augen zusammen und sieht dabei so missmutig und reizlos wie immer aus. Sie hat ihre Brille unter ihrer Reisekluft verborgen – Mutter mag es entgangen sein, aber ich sehe deutlich den Abdruck der Kette. Kaum fünfzehn ist sie und schon ganz die alte Jungfer.
»Ich bitte dich«, sagt Mutter zu ihr, aber Felicity starrt in die Sonne, als wolle sie lieber erblinden, als Ratschläge anzunehmen. »Lass mich keine Klagen von der Schule hören.«
Dass meine Schwester ein Mädchenpensionat besuchen wird, steht schon seit Monaten fest, doch Felicity macht noch immer ein Aufheben darum, als hätte sie nicht seit Jahr und Tag alles darangesetzt, sich noch schlimmer aufzuführen als ihr Bruder. Widersprüchlich, wie sie nun einmal ist, hat sie jahrelang darauf beharrt, eine Ausbildung haben zu wollen, und jetzt, da sie eine bekommt, weigert sie sich wie ein sturer Esel.
Mutter breitet die Arme aus. »Komm, lass dich küssen, Felicity.«
»Danke, ich verzichte«, antwortet ihre Tochter und geht die Treppen hinunter auf die Kutsche zu. Meine Mutter seufzt und lässt sie gehen. Dann wendet sie sich mir zu. »Vergiss nicht zu schreiben.«
»Natürlich nicht.«
»Und trink nicht zu viel.«
»Wie viel wäre denn genau zu viel?«
»Henry.« Meine Mutter seufzt noch einmal wie eben, als Felicity ihr den Rücken kehrte. Einen ihrer Was-sollen-wir-nur-mit-dir-machen-Seufzer, die ich nur zu genau kenne.
»Natürlich nicht, Mutter«, sage ich.
»Benimm dich, so gut es geht«, sagt sie. »Und quäle nicht deine Schwester.«
»Du verwechselst etwas, Mutter. Sie quält doch mich.«
»Sei ein Gentleman, Henry. Versuche es zumindest.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und tätschelt mir den Arm, wie man etwa einen Schoßhund tätschelt. Ihre Röcke rauschen, als sie die Treppe wieder erklimmt. Ich wende mich ab, beschirme die Augen gegen die Sonne und gehe zu meiner Kutsche.
Kaum bin ich eingestiegen, schließt ein Lakai den Wagenschlag. Percy hat den Geigenkasten auf seinen Knien platziert und spielt an den Schnallen herum. Felicity drückt sich in eine Ecke, als wollte sie so weit wie möglich von uns abrücken, und liest schon wieder.
Ich setze mich neben Percy und ziehe meine Tabakspfeife hervor.
Felicity verdreht die Augen, wie um das Innere ihres Schädels zu erkunden. »Also bitte, Bruder, wir haben noch nicht einmal die Grafschaft verlassen. Musst du jetzt schon rauchen?«
»Wie erquickend, mit dir zu reisen, Felicity.« Ich halte die Pfeife mit den Zähnen und suche nach meinem Feuerzeug. »Wie lange müssen wir dich doch gleich ertragen, bis wir dich in den Graben werfen dürfen?«
»Damit in der Kutsche mehr Platz für deinen Männer-Harem ist?«
Ich entgegne nichts mehr, und sie versenkt sich hochzufrieden wieder in ihr Buch.
Noch einmal öffnet sich der Wagenschlag und Herr Lockwood steigt zur Tür herein, stößt sich dabei die Stirn und lässt sich neben Felicity sinken. Sie drängt sich noch dichter an die andere Wagenwand.
»Wohlan denn, die Herren. Und die Dame.« Er poliert seine Augengläser und schenkt uns sein schönstes Lächeln. Es erinnert an das Grinsen eines peinlich berührten Haifischs. »Ich denke, wir sind so weit.«
Der Kutscher schnalzt mit der Zunge, und die Kutsche setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Percy schwankt und greift nach meinem Knie.
Und schon sind wir unterwegs.
Die große, tragische Liebesgeschichte zwischen Percy und mir ist genau genommen weder groß noch überhaupt eine richtige Liebesgeschichte, und tragisch ist nur ihre Einseitigkeit. Sie ist auch kein gewaltiges Epos, das bereits in meiner Kindheit begonnen hätte. Nur eine dieser ganz alltäglichen Geschichten, in denen zwei Menschen einander ihr Leben lang viel bedeuten, und dann wacht einer der beiden eines Morgens auf, und aus der Freundschaft ist ganz unverhofft das heftige Verlangen geworden, dem anderen die Zunge in den Hals zu schieben.
Wie ein langes, langsames Gleiten, gefolgt von einem plötzlichen Aufprall.
Aber ewig ist sie, diese Geschichte, auch ohne tragische Liebe. Percy gehört zu meinem Leben, seit ich denken kann. Mit ihm bin ich ausgeritten, habe gejagt, in der Sonne gedöst und die Gegend unsicher gemacht, kaum dass wir uns auf den Beinen halten konnten. All unsere ersten Male haben wir gemeinsam durchlebt – den ersten losen Zahn, den ersten Knochenbruch, den ersten Tag an einer Schule, auch die ersten Techtelmechtel mit den Mädchen (um die ich immer mehr Aufhebens gemacht habe als Percy). Und schließlich jenen Ostergottesdienst im Pfarrhaus unserer Gemeinde, bei dem wir beide zum ersten Mal betrunken waren, weil wir uns heimlich davor am Messwein gütlich taten. Wir waren gerade nüchtern genug, uns nichts anmerken lassen zu wollen, und doch so betrunken, dass es nicht zu übersehen war.
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