Chamisso - Thomas Mann - E-Book

Chamisso E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Unnachahmlich subjektiv und in bester Erzähllaune nähert sich Thomas Mann seinem Gegenstand. Die Beschreibung der eigenen früh empfundenen Anziehungskraft von Sprache und Dichtung leitet über zur Darstellung des singulären Weges, den der französischsprachige Chamisso zurücklegen musste, bevor er sich in Deutschland als Schriftsteller etablieren konnte. Im Mittelpunkt steht Chamissos Peter Schlemihl, ein Werk, das Thomas Mann faszinierte, weil er dort ein Problem gestaltet sah, dass ihn in allen Stadien des eigenen Schaffens bewegte: Die Situation des gesellschaftlichen Außenseiters, des Künstlers. Der Text, der als Vorwort zu einer ›Peter Schlemihl‹-Ausgabe im S. Fischer Verlag konzipiert war, erschien 1911.

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Seitenzahl: 41

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Thomas Mann

Chamisso

Essay/s

Fischer e-books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

{305}Chamisso

Unter unseren Schulbüchern war eines, das sich, obgleich von außen so nüchtern und drohend sachlich wie nur irgendein Leitfaden und Grundriß, durch eine schöne Menschenfreundlichkeit und Zugänglichkeit des Inhalts vor allen andern hervortat. Es war – wie sonderbar! – ein unterhaltendes Buch; und ohne jedwede verdrießliche Einschaltung war es von vorn bis hinten mit anmutigen und unmittelbar fesselnden Dingen gefüllt. Wir lasen darin ganz ohne Nötigung und nur zu unserem Vergnügen, wir nahmen, was es zu bieten hatte, neugierig vorweg, bevor die gemeinsame Betrachtung im Klassenzimmer darauf fiel, die Unterrichtsstunden, in denen es auf den Pulten lag, waren ohne Gefahr und fast eine Lustbarkeit, die Übungen, die man ihm abgewann, dünkten uns leicht und ergötzlich, die Fragen, zu denen es Anlaß bot, beantworteten wir hurtig und mit bewegter Stimme, und wer unter den Kameraden sich hier teilnahmslos und ungeschickt zeigte, – nicht wahr? der mochte auf welchem Spezialgebiet sonst immer sich als tüchtig bewähren, so schien es uns doch, als könne er zuletzt nur ein roher Geselle sein.

Dies Buch, das eine zartere und gütigere Hand, als die sonst waltende, den vorgeschriebenen Lehrmitteln hinzugefügt haben mußte, hieß einfach das Deutsche Lesebuch. Es war uns gegeben einzig und allein zu dem Zweck, damit wir die Sprache, unsere Muttersprache, anschauten – oder vielmehr, damit wir sie belauschten, wie sie sich lächelnd selber anschaut im Gedicht. Bunt durcheinander vereinigte das Buch eine Menge guter Geschichten in rhythmisch gebundenem und edel ungebundenem Vortrag, und wenn es uns wieder zu Händen käme, – was gilt es? wir wüßten unsere Lieblingsstücke von damals noch heute ohne viel Blättern aufzuschlagen.

{306}Da stand die schnurrige Ballade von Einem, dem’s zu Herzen ging, daß ihm der Zopf so hinten hing, – er wollt’ es anders haben. Die schelmisch-gravitätische Anekdote vom »Szekler Landtag« stand da, – und es ist uns, als habe ihr leichter und unantastbarer Bau aus Terzinen mit dem alles so glücklich vollendeten Einzelverse am Schluß uns einen ersten Begriff von Meisterschaft und Vollkommenheit vermittelt. Das schöne Loblied auf eine alte Waschfrau fand sich nicht weit davon – und was für ein Zauber war es nur, der uns jedesmal wieder ans Herz griff beim Einsatz der Schlußstrophe: »Und ich, an meinem Abend, wollte …«? Zitternde Sonnenkringel, so schien es uns, spielten auf einer gewissen Seite, bemüht, eine verjährte Untat an den Tag zu bringen. Gedehnte Verse erzählten von Abdallah mit den achtzig Kamelen. Der Derwisch trat zu ihm (um so gespenstischer in unseren Augen, als wir nicht ganz genau wußten, was das war: ein Derwisch), und Abdallah ward überreich und zum blinden Bettler an einem Tage, durch Schuld seiner Habsucht. Da war des weiteren die schreckhafte, von Grund aus wunderliche Geschichte vom »rechten Barbier«. Das kindische Riesenfräulein fegte da mit den Händen Bauer und Pflug in ihr gespreitetes Tüchlein. Die braven Weiber von Winsperg trugen ihre Eheherren huckepack zum Tore hinaus. Und kapitelweise, in prompt einander schlagenden Reimen, erstreckte sich das magische Traumgedicht vom Vetter Anselmo und seinem Undank.

Unter all diesen Stücken stand, als der ihres Urhebers, ein fremdlautender Name vermerkt: Chamisso. Und wir fanden ihn wieder auf dem reichen Deckel eines Buches, das wir dem Glasschrank zu Hause im Rauchzimmer entnahmen. Darin gab es freilich noch Dinge, wie das freundliche Schulbuch sie keineswegs aufzuweisen hatte, – dermaßen entsetzliche zum Teil wie die Sage von der versunkenen Burg, unser Leib- und {307}