Cherubinischer Staub - Christian Lehnert - E-Book

Cherubinischer Staub E-Book

Christian Lehnert

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Beschreibung

Christian Lehnerts siebentes Gedichtbuch versucht erneut ein Äußerstes: Ausgehend von zweizeiligen Verknappungen bis an den Rand des Schweigens, über Sonett, Ode und Terzine bis hin zu vielgestaltig ausgreifenden Poemen sendet diese Dichtung experimentelle Sonden ins Unbekannte.

Mehrfach begibt sich der Dichter in ein »Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen«. Darin öffnen sich ihm Welt und Signatur von Schnee und Frost, Moos und Laub. Zu Sprache werden ihm Federgeistchen, Feuerkäfer, Fliegen und Falken. Ebenso versteht er sich später auf die Rede der Fichten und Buchen. Schließlich geht es um menschliches Schicksal, um mythische wie historisch-reale Stoffe. Hier verbindet er Polaritäten wie den Baal von Palmyra und die Todeserfahrung des Obersten Lehnert im Zweiten Weltkrieg.
Lehnerts Dichtung speist sich aus der deutschen Mystik. Von Jacob Böhme und Angelus Silesius übernimmt er die doppelbödig-eindringliche, Spiritualität und Physis verbindende Rede. In Lehnerts Gedichten ereignet sich, im vielberufenen Zeitalter des Digitalen, eine Wiederauferstehung analogen Denkens – und hier haben die Gedichte auch ihren widerständigen Ort in der Gegenwart: als Behauptungen von »Sinn« in den Erscheinungen, als Näherungen an eine letztlich unsagbare Mitte.

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Seitenzahl: 45

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Christian Lehnert

Cherubinischer Staub

Gedichte

Suhrkamp

Inhalt

Erster Teil Stille ohne Maß

Zweiter Teil Von der Unruhe

Dritter Teil Baumgespräche

Erster Teil

Stille ohne Maß

»Allhie stehet nun geschrieben:

›Gott sprach / es lasse die Erde auffgehen Graß und Kraut /

und fruchtbare Bäume.‹

Hie mercke.

DAs Wort SPRACH / ist ein ewiges Wort.«

»Wo du nur hinsiehest da ist Gott.«

(Jakob Böhme, Morgen-Röte im Aufgangk)

Aus einem Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen

Oktober 2015, Breitenau, Osterzgebirge

Ein Rauhreif, abends haucht das Kind auf schwarzes Glas.

So wird der Schwan genannt: die Stille ohne Maß.

Vierundzwanzigster Oktober 2015, Breitenau

Die letzte Ästelung, das Haar, das Wurzel-Wort.

So heißt der Holderstrauch: mein eingehauchter Ort.

Ende Oktober 2015, Oehlsengrund, Osterzgebirge

Im Spätherbst, Flammenhang, die Sonne wärmt nicht mehr.

So heißt das Eichenlaub: Die Lider werden schwer.

Januar 2016, Achterwasser, Usedom

Er löst sich lautlos auf, ins Wasser sinkt der Schnee.

So wird der Schlaf genannt: die unerforschte See.

Januar 2016, Usedom

Gezeiten schwingen fort, im Eis hörst du das Pochen.

So wird der Frost genannt: die Angst der Nagelrochen.

Dreizehnter Februar 2016, Breitenau

Ein Summen, tief im Holz, das in die Silben fährt.

So wird die Glut genannt: der Stoff, der Namen nährt.

Vierzehnter Februar 2016, Breitenau

Das klare Wasser friert vom Rand her in die Quelle.

So heißt der Mittagsfrost: Wir harren auf der Schwelle.

Ostern 2016, Hennersbach, Osterzgebirge

Die Stare sammeln sich im dürren Laub der Schlehen.

So heißt der Pfad am Berg: Aus Staub wirst du erstehen.

Fünfzehnter Mai 2016, am Oberlauf der Seidewitz, Osterzgebirge

Die Kiesel flüstern nachts die Wolkennamen nach.

So heißt der Stein im Fluß: Die Stunden liegen brach.

Ende Mai 2016, Pfarrwald in Breitenau

Im Unterholz, im Farn verwuchern mir die Sinne.

So heißt der Fichtenkeim: das staunende Beginnen.

Mitte Mai 2016, am Feldrand in Breitenau

Du schaust den Schwalben nach, den Schatten, die verrauschen.

So heißt der erste Vers: Geräusch des eignen Lauschens.

Ende Mai 2016, Moorgründe am Sattelberg, Osterzgebirge

Mit vollen Blättern glänzt der Sonnentau den Fliegen.

So heißt die Süßigkeit: Ein Echo will mich wiegen.

Achtzehnter Juni 2016, vor den Walzenornamenten, Breitenau

Die Ranken an der Wand, das Muster gleicht sich immer.

So heißt die Zukunft tags: das unbegrenzte Zimmer.

Achtzehnter Juni 2016, im Ostwind über die Höhen

Ein Sturm umkreist das Haus, Geräusch von überall.

So heißt die Zukunft nachts: der Hang im freien Fall.

Neunzehnter Juni 2016, Schlottwitzer Bruch im Müglitztal

Sekundenschlaf, ein Riß durchzieht den Fels, verwittert.

So heißt der Amethyst: Der Bodensatz erzittert.

Ende Juni 2016, Dünen auf dem Darß

Gewellter Grund, ein Sturm verschleift das flache Land.

So heißt mein fester Gang: die feinen Zirren Sand.

Dritter Juli 2016, am Dachfenster, Breitenau

Des Morgens Glück, Milan, kreist mit dem Wind nach oben.

So heißt der frühe Tag: Wir werden eingewoben.

Fünfter Juli 2016, Bergwiese bei Gottgetreu, Osterzgebirge

Ein Flackern, doch nichts brennt, in Sumpf und Wiesenfeuchten.

So heißt der schwarze Storch: ein inwendiges Leuchten.

Achter Juli 2016, Peenemündung

Der Wasserläufer zuckt auf einem Spiegel hin.

So heißt das Meer am Tag: der umgekehrte Sinn.

Zehnter Juli 2016, Dahmer Kanal

Im Torf die Quelle kennt in Klarheit kein Verlangen.

So heißt das Augenschwarz: das leuchtende Empfangen.

Anfang September 2016, im Laternenlicht, Breitenau

Im Husch vorbei – ein Ruf? Ein Sirren oder Wimmern?

So heißt die Fledermaus: verspätetes Erinnern.

September 2016, Nebel über den Hochwiesen am Sattelberg

Nichts ordnet mehr die Sicht, den spiegelhellen Glimmer.

So heißt der Fels im Moor: ein federleichter Schimmer.

Oktober 2016, Gottleubatal, Osterzgebirge

Verloren, wie das Laub, sind Namen, die wir hatten.

So heißt das Buchenrot: des Sommers lange Schatten.

Ende Oktober 2016, am Sattelberg

Das Moos wächst unbeirrt, als wüßte es, wohin.

So heißt das tote Holz: im Sumpf der Richtungssinn.

November 2016, Lärchenschlag, Breitenau

Gewirr und später Wuchs, der Waldrand ist vermessen.

So heißt das Flechtengrau: das samtene Vergessen.

Erster Advent 2016, Autobahn vor Breitenau

Ein Rauhgefieder treibt, es weiß den Weg nicht mehr.

So heißt der Nebelgang: Gezeiten ohne Meer.

Neunundzwanzigster November 2016, Breitenau

Ein unentwegter Wind bewegt die Spinnenweben.

So heißt der erste Schnee: Was immer war, soll schweben.

Zweiter Advent 2016, Breitenau

Die Wörter bleiben still, sie wollen nirgendshin.

So heißt die Müdigkeit: der schweigende Beginn.

Elfter Dezember 2016, Leipzig

Die Krähen wiegen sich im Schnee und schreien irr.

So heißt das letzte Blatt: der Satz im Lautgewirr.

Tierhaft

Allein in das Gesträuch, nun ohne Richtungssinn,

geduckt, so hab ich Zeit, weil ich ein Echo bin.

Sturm

Ein dichter Schnee, in mir die Atemnot, so klingt

der GOtt, ein feiner Zweig, der zittert, summt und schwingt.

Böhmischer Wind über der Autobahn, Breitenau

Hydraulisch, Gleitschub, schrill – die Nacht ist frostgetrocknet

und bebt, ein Zeitenriß, aus Sternen wehen Flocken.

Traum

»Anderwelt« – ein Wort, weist den Weg hinüber,

fordert: fort, nur fort, schenkt dir ein Gefieder.

Und es wird ein Reis hervorgehen

Brüchiges Laub, die Adern, Zeichnungen zeigen sich klarer

nach der Sternennacht, Reif auf dem Wurzelarm.

Neuschnee

Die Wehe, windgenährt, weich an das Haus gedrückt –

nach jedem Gang ist’s still, ein Anfang kehrt zurück.

Aufgetauter Tümpel

Dies Auge, es entfiel dem GOtt in seinem Schweben.

Es sieht nun auf, ER schaut das ungeschaffne Leben.

Die Nacht ist vorgedrungen

Ich höre ein Geräusch, ein Sirren im Gestein,

als sei der Tag schon wach und darf doch noch nicht sein.

Puls

Der GOtt wird nicht gedacht, im Atem wird ER wahr.