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Chicago in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts: Gangs kontrollieren die gesamte Stadt und liefern sich erbitterte Kämpfe um ihr Territorium. Mittendrin Mike Hodge, Lokalreporter der Chicago Tribune. Wobei Mike vortrefflich darüber streiten könnte, ob die größeren Ganoven nicht doch im Rathaus oder bei der Polizei sitzen. Er weiß viel und hat sich mit allen Mächtigen bereits angelegt. Als seine Geliebte Annie vor seinen Augen ermordet wird, ist ihm klar, dass ihm dadurch eine Lektion erteilt werden soll. Aber von wem? Mike schwört, Annies Tod zu rächen. Und so begibt er sich auf Spurensuche in der Chicagoer Unterwelt … "Die in sich gebrochenen, sich selbst rasant dynamisierenden Dialoge sind einfach großartig. (…) Mamet kann so wie ein James Lee Burke "mit dem Ohr" schreiben: äußert präzis, extrem naturalistisch." Buchkultur
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Seitenzahl: 407
HarperCollins®
Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2018 by David Mamet Originaltitel: »Chicago: a novel« erschienen bei: Custom House, New York
Published by arrangement with Custom House, an imprint of HarperCollins Publishers, US
Covergestaltung: HarperCollins Germany / Deborah Kuschel, Artwork Elsie Lyons Coverabbildung: Los Angeles Times Photographic Archives (Collection 1429). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA, HolyCrazyLazy, Igorsky / Shutterstock, Chicago Daily News negatives collection, Chicago History Museum Lektorat: Tobias Schumacher-Hernández E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677929
www.harpercollins.de
IM GEDENKEN AN J. M.
370. Infanterie 1917–1919
Saint Mihiel, Soissons
Chicago Police Department
1924–1953
… Til upon thine Inland Sea
Stands CHICAGO great and free;
Turning all the world to thee,
Illinois Illinois.
… Dort an deinem Binnenmeer
Liegt CHICAGO frei und hehr;
Die ganze Welt sieht zu dir her,
Illinois, Illinois.
CHARLES H. CHAMBERLIN, 1898
Parlow und Mike saßen schweigend im Unterstand. Vor ihnen befand sich ein mit Sumpfgras und Zweigen versehenes Tarnnetz; außerdem war der Unterstand eineinhalb Meter in den weichen Boden eingegraben und mit Holz ausgelegt. Der Tag war trocken, und der Sichtschutz war es auch.
Die beiden Männer hockten am Rand des Unterstands. Parlow war bei Weitem der bessere Jäger, und Mike hatte sich ihm nur angeschlossen, um ihm Gesellschaft zu leisten und an die frische Luft zu kommen.
Parlow blickte nach Westen, Mike nach Osten. Der Wind wehte von Westen, aber die Chancen waren ausgeglichen: Sie kamen entweder mit dem Wind oder drehten sich in den Wind, um zu landen. Fünfzehn Lockvögel wippten vor ihnen im Sumpfland auf und ab. Nein, sie könnten von überallher kommen, dachte Mike, der es genoss, sich draußen in der Wintersonne aufzuhalten.
»Ja, ich bin eifersüchtig auf den Erfolg anderer«, gab Parlow zu, »aber ich habe noch nie jemanden wegen seiner Leistungen beneidet.«
»Aha«, murmelte Mike.
»Irgendein Mistkerl hat mehr Geld verdient als ich«, sagte Parlow. »Er hat eine Story an Harper’s verkauft und einen Kritiker übers Ohr gehauen – das sind die Leute, die immer auf die Füße fallen, und jeder, der sie danach sieht, hält sie für die Größten. Du weißt doch genau, wen ich meine. Edmond Harper Gaines, Lucille Brandt Williams, all diese Leute mit ihren drei Namen. Lies die Besprechung, schluck die Prosa, was in aller Welt hat sich die Leserschaft nur dabei gedacht?
Nein, es ist nicht unmöglich, dass Kultur ein Acker ist. Mit gutem oder schlechtem Potenzial, aber wahrscheinlich imstande, Früchte hervorzubringen. Was braucht man, um Wachstum zu ermöglichen …?«
»Scheiße«, antwortete Mike.
»Man braucht Dünger«, stimmte Parlow ihm zu, »tierischer oder pflanzlicher Art.«
»Schreib das für die Little Review auf«, schlug Mike vor.
»Ich habe ihnen meinen Artikel über den Prairie-Architekturstil geschickt«, sagte Parlow.
»Und?«
»Sie haben geantwortet, dass sie ihn in Betracht ziehen, und ich war beschämt. Aber scheiß drauf; es kommt doch sowieso alles von den Japanern. Die, die das Land der Kirschblüten gesehen und die sinnlichen Düfte dieses alten Landes eingeatmet haben; für sie ist die unstillbare Sehnsucht danach, dorthin zurückzukehren, ein kleiner Preis dafür, dass sie dessen Zeuge werden durften.«
»Diese Sehnsucht ließe sich möglicherweise stillen, wenn du einfach auf ein gottverdammtes Schiff gehen würdest«, erwiderte Mike.
»Wer hat für so was denn schon Zeit?«, entgegnete Parlow. »Und außerdem werde ich seekrank.«
»Was hat dir in Japan am besten gefallen?«, wollte Mike wissen.
»Zierliche Frauen zu einem vernünftigen Preis«, antwortete Parlow. »Was regiert die Welt? Die Welt ist wie ein Hamsterrad, das sich dreht, während die Antriebskraft dagegenhält. Die Welt dreht sich, und alle laufen in die falsche Richtung.«
»Und natürlich ist die Richtung da drüben falsch«, sagte Mike.
»Wie kannst du nur so etwas Schreckliches sagen?«, fragte Parlow. »Warum sollte ihre Richtung falsch sein?«
»Weil sie sich in der südlichen Hemisphäre befinden«, erwiderte Mike.
»Japan liegt auf demselben Breitengrad wie Cleveland«, erklärte Parlow. »Hast du mein Buch nicht gelesen?
Dieses verdammte Buch war, wo wir gerade beim Neid sind, auf der Vorschlagsliste für einen der renommiertesten Literaturpreise«, fuhr Parlow fort.
»Wie kommt es, dass du ihn nicht bekommen hast? Waren da dunkle Mächte am Werk?«, wollte Mike wissen.
»Ich tippe eher auf die Ungerechtigkeit der Öffentlichkeit, die genug hat vom Feuer, dem Erdbeben, der Wasserhose und der Flutwelle, die sich daran gewöhnt hat und kein Interesse mehr für die banale, aber für den Wiederaufbau notwendige Arbeit hat.«
»Du hättest früher nach Hause kommen sollen«, sagte Mike.
»Mein Gott, du hast recht«, erwiderte Parlow.
Parlow war im Frühjahr 24 nach Hause gekommen. Er hatte sich für sechs Monate aus der Lokalredaktion beurlauben lassen und war nach Japan gegangen. Vier Tage vor Ende seines Urlaubs ereignete sich das Erdbeben, und Parlow war der Mann vor Ort. Sobald die Telefonverbindungen, zumindest kurzfristig, wieder funktionierten, meldete er sich bei der Tribune.
Da er mit mehreren Hundert Journalisten um Zeit am Telefon wetteifern musste, hielt sich Parlow kurz und an die Fakten. Er wusste, dass diese ausgeschmückt und aufgebauscht würden, wenn man den Artikel schrieb. So lief das nun mal im Journalismus; das gehörte zu seinem Job. Aber er wollte nicht nur die Fakten, sondern die Geschichte der Tragödie aufschreiben.
Nach Ende des Erdbebens, als die Zahl der Todesopfer bei über einhunderttausend stand und Parlow das durchgab, fuhren die meisten Reporter wieder nach Hause. Viele schrieben Artikel für Zeitschriften und Bücher. Aber Parlow blieb während der ersten Bemühungen um die Neuorganisation und den Wiederaufbau vor Ort. Erst ein halbes Jahr nach der Katastrophe kam er mit dem Schiff zurück nach Hause. Er ging zu Recht davon aus, dass die Geschichte des Erdbebens allgemein bekannt war, und konnte sie selbst nicht mehr hören. Daher schrieb er über den Wiederaufbau, die Sanierung und die Architektur, die er auch schon vor dem Krieg studiert hatte. Niemand kaufte sein Buch.
»Das ist der Grund dafür, dass es sich nicht verkauft hat«, hatte Mike gesagt. »Du hättest Folgendes schreiben sollen: Ein junger Marineleutnant, nennen wir ihn Yoji, verliebt sich in die arme, aber hübsche Tochter eines traditionellen japanischen Handwerkers. Sagen wir, er ist Töpfer. Aus den Hügeln hinter seiner traditionellen Hütte aus Reispapier, ganz allein auf Japans weiter Flur, stammt der seit Jahrhunderten berühmte Lehm, aus dem und keinem anderen die zeremoniellen Schalen aller japanischen Kaiser gefertigt werden, die …«
Parlow kniff die Augen zusammen, als er sie hörte. Mike hielt nach ihnen Ausschau und konnte sie gerade so erkennen: Es waren vier, die als Staffel von links nach rechts tief und schnell herankamen. Die linke war Parlows Seite. Und Parlow wartete bewundernswerterweise bis zum richtigen Augenblick, fand Mike, der einen Sekundenbruchteil vor »zu spät« war. Er stand auf, zielte auf die vorderste Ente, schoss sie ab und holte auch die zweite vom Himmel. Mike verfehlte die dritte Ente; dann flog die vierte fort und war außer Reichweite, aber Mike schoss trotzdem, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war.
Parlows Vögel hatten die Flügel eingeklappt und waren wie Steine vom Himmel gefallen. Sie lagen etwa vierzig Meter weit weg im Sumpf. Parlow schwang sich bereits aus dem Unterstand. Er reichte Mike die Schrotflinte und watete los. Tja, er hat sie zuerst gehört, dachte Mike. Ich habe den Großteil meines Gehörs an einen Sternmotor verloren, und er ist ein viel, viel besserer Schütze. Er ist ein guter Schütze.
Im Waten sah Parlow unbeholfen aus, und das Wasser reichte ihm bis zur Taille. Er war von mittlerer Größe, eher stämmig, und hatte ein rundes Gesicht und einen zurückweichenden Haaransatz. Dazu trug er eine Drahtgestellbrille, rauchte eine uralte Bulldog-Pfeife und trug im Winter Tweed- und im Sommer cremefarbene Leinenanzüge.
Mike und er waren etwa gleich alt und gleich groß, aber jeder Zeuge hätte Mike als größer beschrieben.
* * *
Bei Sonnenuntergang gingen sie am Fox River zurück zum Fox River Hunting Club. Vor der Tür drehte sich Mike um.
»Ist es nicht großartig?«, meinte er.
»Was?«, fragte Parlow.
Mike wedelte mit einem Zeigefinger in Richtung Horizont und deutete auf die wunderschöne Aussicht, den Sumpf und den ausklingenden Tag.
Der Club war nur eine kleine Hütte, die einem Ferienlager abgekauft und hierhergebracht worden war. Der Platz im Inneren reichte gerade für einen Holzofen und zwei Pritschen. Die Wände waren vollgepflastert mit Haken. Diese bestanden aus Gusseisen, Holzzapfen, Geweihstücken oder Nägeln. Daran hingen Jagdausrüstung, Wathosen, Mäntel, Hüte, Waffentaschen, Jagdtaschen, Hundeleinen und Hühnergalgen. Schnüre mit von Farmern hergestellten Ködern hingen von den Wänden. Zwei wunderschön geschnitzte Säger saßen auf einem Fensterbrett.
Als Parlow und Mike die Hütte betraten, bestückte ein Junge aus der Gegend gerade den Holzofen. Er war ein rothaariger Pole, fünfzehn Jahre alt und schon sehr breitschultrig. Parlow hielt den Hühnergalgen hoch und fragte: »Willst du dich um die acht kümmern?« Der Junge grinste und nahm Parlow die Riemen ab. Die Enten hingen mit den Füßen in den Schlaufen, die sich daran befanden.
»Häng das an die Wand«, sagte Parlow, »und schon hast du ein schickes Gemälde von so einem Holländer, der den Regen leid war und tote Vögel gemalt hat.«
»Die meisten stecken sie mit dem Kopf durch die Schlaufen«, meinte der Junge.
»Ich fand das schon immer abscheulich«, erwiderte Parlow.
Der Junge nahm die Enten und ging durch die Hintertür zum Schuppen, wo er sie rupfen und ausnehmen würde.
»Wie viele willst du haben? Eine? Zwei?«, rief Parlow ihm hinterher. »Behalt zwei, du gieriger Mistkerl, du bist ja noch im Wachstum.«
* * *
Der Junge hatte die Enten zerlegt und die Brüste in Fleischpapier eingeschlagen.
Der Besitzer des Tokio verbeugte sich in der Tür des Restaurants vor Parlow und Mike. Parlow reichte ihm das große, in braunes Papier verpackte Paket und unterhielt sich auf Japanisch mit ihm.
Nachdem der Besitzer das Paket mit ausgestreckten Händen entgegengenommen hatte, verbeugte er sich ob seiner Unwürdigkeit für dieses Geschenk. Parlow und er tauschten einige förmliche Worte aus. »Lass gut sein. Ich will was trinken«, sagte Mike. »Diese Arschlöcher«, fuhr er fort. »Man muss sie einfach lieben, so wie sie dem Zaren in den Arsch getreten haben.«
»Na und?«, meinte Parlow.
»Tja, sie heimsen die Lorbeeren für den Sieg ein.«
Der Besitzer brachte ihnen eine Teekanne und zwei Kaffeetassen. Die Teekanne war gefüllt mit schlechtem Scotch. Parlow goss ihre Tassen voll. Ein Kellner kam aus der Küche gehuscht und hatte ein Tablett in der Hand. Darauf standen zwei kleine Suppenschalen. Er stellte die Schalen vor den beiden Männern ab und verbeugte sich, während er sich vom Tisch entfernte. Als er gerade die Küche betrat, kam eine junge Frau heraus. Sie sprachen kurz miteinander, und Mike bemerkte, dass Parlow bei ihrem Wortwechsel lächelte. Die junge Frau kam an ihrem Tisch vorbei, und sie alle nickten einander höflich zu. Sie ging weiter durch den kleinen Speiseraum zu ihrem Posten an der Kasse, und der junge Kellner sagte noch etwas zu ihr.
Mike deutete nach hinten in Richtung Küche. »Was hat der Junge gesagt?«, wollte er wissen.
»Etwas auf Japanisch«, antwortete Parlow.
Es hatte selbstverständlich etwas mit Parlow und der jungen Frau zu tun. Ihr Name war Yuniko; sie schien zwischen achtzehn und fünfunddreißig zu sein. Seit Parlows Rückkehr aus Japan war sie seine Geliebte.
Parlow nickte dem Mädchen zu, das lächelte und sich eine Hand vor das Gesicht hielt. »Ich denke«, begann er, »dass ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt, der vermutlich kurz nach Abschluss unseres Mahls eintreten wird, für eine Weile von Felicity verabschieden und den Abend mit einer Freundin verbringen werde.«
»Wer ist diese Felicity?«, erkundigte sich Mike.
»Nein, von mir erfährst du nichts über meine Bettgeschichten«, sagte Parlow. »Aber ich weiß, dass dir der biologische Imperativ auch nicht ganz fremd ist.«
»Du liebe Güte«, murmelte Mike.
»Jetzt habe ich dich beleidigt«, stellte Parlow fest. »Du glaubst, deine Liebe wäre rein, während sich meine eher um die irdischen Dinge drehen muss. So ist es doch, oder etwa nicht?«
»Sie ist nicht in der Stadt«, sagte Mike.
»Das irische Mädchen?«, fragte Parlow.
»Ja, das irische Mädchen.«
Parlow schüttelte ob dieser Launen einer unsicheren Welt den Kopf.
»Na, da hast du es«, sagte er. »Armer Kerl. Da fällt mir diese alte Geschichte von dem unsterblich verliebten Bauernburschen ein. Doch er bekommt seine Liebste nicht, da der typische gemeine Vater sie fortbringt. Der junge Bauernbursche fertigt ihr Ebenbild aus Stroh …«
»Warum hat er sie fortgebracht?«, unterbrach Mike ihn.
»Nicht gut genug. Details folgen. Weiter geht’s. Ihr Ebenbild aus Stroh. Gibt sein letztes Geld für feine Kleider aus, die er der Strohpuppe anzieht. Er himmelt sie an. Und das Mädchen? Es leidet. ›Wie kannst du so grausam sein, oh Vater?‹ Der Vater gibt nach. Bringt das Mädchen nach Hause. ›Wenn du ihn unbedingt willst, dann sollst du ihn haben.‹ Sie kehren heim. Der Bauernbursche wurde gerade wegen Götzenverehrung hingerichtet.«
»Ist das wirklich passiert?«, hakte Mike nach.
»Die Geschichte ist zu gut, um nachzuforschen«, erwiderte Parlow. »Außerdem ist das doch poetisch, oder etwa nicht?«
»Sie haben sie mitgenommen«, sagte Mike. »Nach Wisconsin.«
»So ein Pech aber auch«, erwiderte Parlow.
Mikes Mädchen war über das Wochenende verreist; ihre Eltern hatten sie mit nach Milwaukee genommen.
Dabei war sie zu alt, um zu etwas gezwungen zu werden, was jeder wusste, doch sie war trotzdem mitgefahren. Und es war nicht nötig, den wahren Grund dafür laut auszusprechen.
* * *
Mike war einsam.
In der Lokalredaktion war es ruhig. Die Frühausgabe wurde bereits gedruckt, und die meisten Männer waren unten im Sally Port und tranken aus Erleichterung, vor Müdigkeit, aus Gewohnheit oder einfach so. Mike hatte beschlossen, »die große Hidschra zu machen«, wie Parlow es ausgedrückt hatte, und sich ihnen anzuschließen.
Zur Hidschra gehörte, dass er sich vom Schreibtisch entfernte, etwas trank und die Gesellschaft der Reporter suchte, und nun machte er sich daran, die vier Stockwerke nach unten zu gehen, denselben Fusel zu trinken und dieselbe Gesellschaft zu genießen.
Als er seinen Mantel anzog, fiel sein Blick beiläufig auf einen an der Wand hängenden Korrekturabzug. Dort stand:
… fehlen aus der Waffenkammer der Nationalgarde fünfundsiebzig Thompson-Maschinenpistolen Kaliber 45, zweihundertfünfzig Colt 1911 45-Kaliber-Pistolen und zwölftausend Patronen dieses Kalibers. In den Kartons der Maschinenpistolen lagen außerdem: ein Handbuch, zwei Magazine mit zwanzig Schuss, ein Trommelmagazin mit fünfzig Schuss, eine Stofftragetasche, ein Trageriemen und ein einfaches Reinigungsset.
Mike murmelte »Ja, okay …« und ging die Stufen zur Flüsterkneipe hinunter.
Er hatte schon häufiger gedacht, dass die Geschichten, die an der Bar erzählt wurden, viel besser waren als die, die in der Zeitung standen. Wenn er, wie so häufig, seine Meinung sagte, stutzte man ihn jedoch nur zusammen.
»Was glauben Sie, wofür man uns bezahlt?«, hatte Crouch gefragt.
»Mann beißt Hund«, hatte Mike erwidert.
»Blödsinn«, schimpfte Crouch. »›Mann beißt Hund‹ ist viel zu interessant, um eine Nachricht zu sein.«
»Was ist dann eine Nachricht?«, wollte Mike wissen.
»Eine Nachricht ist, was den Leser wichtigtuerisch oder wütend oder ausreichend was auch immer macht, damit er zu Seite zwölf weiterblättert und sich die Anzeige für den Teppichverkauf ansieht.«
»Ich dachte, die Nachrichten sollten interessant sein«, meinte Mike.
»Darum werden unsere Geschichten ja auch durchleuchtet«, erklärte Crouch. »Tritt man der Stadtverwaltung auf die Füße, wird man gefeuert. Tritt man Al Capone auf die Füße, ist man ebenso tot wie Jake Leiter. Tritt man Colonel McCormick auf die Füße, hat man die Sache möglicherweise richtig versaut, denn wenn er glaubt, dass Ihr Name wichtiger ist als seiner, verlieren Sie nicht nur Ihren Job, sondern werden auch nirgendwo sonst mehr eingestellt. Denn, passen Sie mal gut auf: Es gibt bestimmte Mächte in diesem Land. Wir gehören nicht dazu, sondern sind eher eine Ablenkung von der beunruhigenden Kenntnis ihrer Existenz.«
Er hob die Zeitung auf, die zusammengefaltet neben ihm auf der Bank lag. »Sehen Sie das hier?« Er las vor: »›Immer mehr Luxusautos verschwinden an der North Shore. Zu den aktuell als gestohlen gemeldeten Wagen gehören Packards, Duesenbergs …‹«
Er drehte die Zeitung um.
»›Öffentliches Entsetzen über wiederholten Diebstahl aus der Waffenkammer der Nationalgarde …‹«
Dann ließ er die Zeitung fallen.
»Eine Tageszeitung ist ein Witz. Sie existiert nur, um die Werbekunden bei Laune zu halten, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, ihre Dummheit zu befriedigen und den Eigentümern eine kleine Rendite einzubringen, deren etiolierte, nichtsnutzige Söhne dort eine vermeintliche Anstellung haben, während sie ihren Kreisparcours zwischen dem Fort Dearborn Club und ›Unterricht‹ im Everleigh House fortsetzen.«
»Ach, Sie können mich mal«, fauchte Mike, »wie wir es im Großen Krieg gesagt haben.« Um sie herum klopfte man an die Gläser und murmelte zustimmend. Einige standen sogar halb auf und sagten: »Hört ihn an.«
»Sie mich auch«, entgegnete Crouch, »wie wir es im Großen Krieg gesagt haben, bei dem viele von uns, die aufgrund unseres Alters nicht mitkämpfen durften, nicht nur bedauerliche Verluste an jungen Menschen und dem Inhalt unserer Geldbörse hinnehmen mussten, sondern auch den dumpfen Schmerz der Desillusionierung und die konstant jämmerliche Qualität der Berichterstattung.«
»Die klügsten Köpfe haben gekämpft«, gab Mike zu bedenken.
»Und das tun sie immer noch«, sagte Crouch. »Nicht auf irgendeinem gottverlassenen Feld in Frankreich, nein, auch nicht auf den Schlachtfeldern in Flandern, verdeckt von diesen beklagenswerten ›Mohnblumen‹, sondern hier, hier, mein Guter, auf den Straßen unserer schönen Stadt, und sie kämpfen um die Kontrolle über Gebiete, Routen und Methoden, genau die Substanz zu verteilen, die wir in dem, was ich vor diesem Zwischenfall als ›Gemeinschaft‹ ansah, Fusel nennen. Dieser Kampf …«
Mike stand auf.
»Ich möchte ein Geständnis machen«, sagte er. Es wurde still in der Bar. »Ich wurde genau wie das mutige kleine Belgien mit seinen berühmten Nonnen reingelegt.« Einige applaudierten, aber Mike hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Ich wurde vom Journalismus verdorben. Das gebe ich zu. Und nun bitte ich euch, sowohl eure Skepsis als auch, so es denn möglich ist, eure Verachtung zurückzuhalten, denn ich bin in meiner Scham zu einem der allgemeinen Auffassung derart fremden Schluss gekommen …«
»Kommen Sie zum Punkt«, warf Crouch ein.
»Ich habe beschlossen, kein Buch zu schreiben«, sagte Mike.
In der respektvollen Pause bestellten die meisten noch etwas zu trinken und warteten. Mike zündete sich eine Zigarette an, und alle Blicke waren weiterhin auf ihn gerichtet. »Schreib für die Schundpresse«, rief ein Reporter.
»Das werde ich tun«, erwiderte Mike, »aber ich werde nicht über den kleinen Frischwasserhai schreiben, der aus einem der besten Aquarien geholt und in den Pool des Fort Dearborn Clubs gebracht wurde, auch nicht über den reumütigen Captain der Polizei, der eine halbe Stunde vor der unabänderlichen Schmach versucht, sich das Gehirn im Beichtstuhl rauszupusten, dabei jedoch versehentlich einen Messdiener erschießt, allerdings nicht denjenigen, dessen Geschichte den Reumütigen in den Ruin treiben würde.«
Von der Bar drang erbostes Gemurmel herüber.
»Ich werde nicht über den armen, wenngleich ehrlichen jüdischen Schneider schreiben …«
»Eine Zierde unseres Berufes«, witzelte jemand.
»… der, eingenäht in den Mantel, der für die Beerdigung eines Gentlemans umgenäht werden soll, jene zwölf Eintausenddollarscheine fand, und auch nicht über sein Ringen mit seinem Gewissen, das ihn dazu drängte, alles zu behalten, oder über seine Entscheidung, damit zum Pharao (Mr. Brown) zu gehen, ebenso wenig über Mr. Browns Großzügigkeit, dem Mann einen Fünfziger und das Versprechen nie versiegender Kundschaft zu geben.
Ebenso wenig werde ich über den aufgeblähten Plutokraten schreiben, der von jenem Hai gebissen wurde, oder seine Versuche, die Sache unter den Teppich zu kehren, was ich, wie wir alle, als Affront gegen unseren Berufsstand verstehe. Mein Stift und das wie auch immer gestaltete Ausmaß meiner begrenzten Fähigkeiten werden sich keinem dieser Artikel widmen und auch keinen Weg einschlagen, auf dem sie aufsteigen werden, wenn schon nicht in den Status der Kunst, dann zumindest in jenen der Literatur.«
»Warum nicht?«, fragte Hanson.
»Weil er verliebt ist«, erwiderte Parlow. Die Reporter fingen an zu johlen, zu klatschen oder zu jubeln.
»Liebe«, meinte Crouch, »ist ebenso der Tod des Journalismus, wie die Möse das Schmerzmittel ist. Sie ist wie der Tripper für den Unzüchtigen oder die Reue für den Ehebrecher.«
»Wer ist denn die Glückliche?«, erkundigte sich Kelly.
»Ihr heiliger Name wird mir nicht über die Lippen kommen«, antwortete Mike und setzte sich wieder.
Ihr Name lautete Annie Walsh.
Zu Beginn ihrer Romanze hatte Mike recht lange mit ihr geflirtet.
Wie üblich war er die Sache mit Bedacht angegangen, wobei dies von seinem Standpunkt in einer genauen Einschätzung jenes Punkts bestand, an dem seine lodernde Begierde nach ihr das übertraf, was er als angemessenen Respekt für ihre Jugend und Unschuld ansah.
»Es ist, als würde man ein Flugzeug fliegen«, erklärte er Parlow. »Das Flugzeug ist schon vom Design her unausgeglichen. Man kann es nur im Gleichgewicht halten, indem man damit irgendwohin fliegt. Vorher und hinterher befindet es sich in einer Stase, oder wenn es nicht mehr weiterfliegen kann …«
»Sie ist zu jung«, gab Parlow zu bedenken.
»… beispielsweise, wenn der Hunne deinem Leitwerk einen Stich versetzt hat und dir nur noch bleibt, dir einen guten Platz zum Sterben zu suchen.«
»Heb dir das für dein Buch auf«, sagte Parlow.
»Oh, das kommt alles ins Buch«, versicherte Mike ihm. »Auf die eine oder die andere Weise. Denn es ist in mir und muss daher rauskommen.«
»Das war bestimmt ein traumatisches Erlebnis«, meinte Parlow. »Schließlich hat es auch großen Spaß gemacht.«
»Ja, es hat Spaß gemacht«, gab Mike zu. »Das ist das finstere, schäbige Geheimnis, das wir Soldaten mit uns herumtragen wie ein Geschwür im Herzen.«
»Du hast doch gesagt, du willst kein Buch schreiben.«
»Das Herz ist eine unbeständige Geliebte«, sagte Mike.
»Die Kleine ist zu jung«, wiederholte Parlow. »Und noch dazu Irin. Ihr Vater wird dich umbringen, und das ist keine Metapher.«
»Und was ist, wenn ich sie heirate?«, erwiderte Mike.
»Großer Gott.«
»Andere haben schon für weniger geheiratet.«
»Mag sie dich denn überhaupt?«
»Jeder mag mich«, behauptete Mike. »Ich bin ein liebenswürdiger Mann … habe einen Job …«
»Hast du eben gesagt, dass du vielleicht doch einen Roman schreiben wirst?«
»Ich kann doch beides machen.«
»›Niemand kann zwei Herren dienen‹«, zitierte Parlow. »Wer hat das gesagt?«
»Terhune in Mein Hund Lad«, antwortete Mike.
»Worüber redest du überhaupt mit der Kleinen? Sie kann doch reden, oder …«
»Sie muss nicht reden.«
»Weißt du was?«, meinte Parlow. »Du verliebst dich nicht mal wie ein Nigger, nein, du verliebst dich gleich wie ein Hillbilly: Du siehst die Kleine, wirfst sie, ihre beiden Kinder und ihr Banjo in deinen Wagen und fährst einfach los.«
»Ganz genau.«
* * *
Mike hatte Annie Walsh das erste Mal hinter dem Tresen des The Beautiful gesehen, das er aufgrund eines Verdachts aufgesucht hatte. Dieser Verdacht war ihm gekommen, nachdem er sich an eine Mob-Beerdigung erinnert hatte.
Es schien ihm, nachdem er erst einmal darauf gekommen war, eine jener so klaren und einfachen Ideen zu sein, bei der derjenige staunte, warum ihm das nicht schon früher eingefallen war. Warum, fragte sich Mike, wie es ein wahrhaft Inspirierter tat, würde Gott ihn, einen Narren und Sünder, auswählen, um seine Gnade zu empfangen? Aber so war es geschehen.
Dort bei der Beerdigung eines Mannes von der South Side, eines Alfonse Mucci, hatten sich die einander bekriegenden Gruppen eingefunden und wie immer den »Frieden am Wasserloch« einberufen. Ebenso anwesend war Mike, genau wie seine Kollegen, Vertreter der Lokalredaktionen anderer Chicagoer Zeitungen, die alle nach etwas Bemerkenswertem Ausschau hielten, das ihnen auffiel, den gleichermaßen aufmerksamen Konkurrenten jedoch entging.
Mike ließ den Blick über die ruhigen, respektvollen Gesichter von Muccis Kollegen und Auftragsmördern und über die Blumen schweifen. Dort sah er die üblichen Kränze, Kreuze und Gestecke mit den üblichen Trauersprüchen sowie eine kleine Karte, die mit Draht an jedem der Holzständer befestigt war.
Die Trauergäste hatten den Friedhof verlassen, und die Totengräber traten näher, aber Mike verharrte dort. Er ging um das Grab herum und auf die Blumen zu. Dort bückte er sich und sah sich die kleinen weißen Karten an, woraufhin er feststellte, dass es sich bei jeder um eine Anweisung an den Lieferanten handelte: A. Mucci/Lakeside, vierzehn Uhr. Außerdem prangte auf jeder Karte das Logo des Blumenhändlers. Die teureren Gebinde waren größtenteils von zwei Unternehmen geliefert worden: Flessa’s, 2331 Michigan Avenue, somit der Lieferant der South Side, und The Beautiful: Florists of Distinction, 1225 North Clark Street.
Also hatte Mike damit angefangen, die beiden Blumengeschäfte regelmäßig zu besuchen, da er dort möglicherweise Gangstertratsch aufschnappen konnte. Er wurde nicht enttäuscht.
Im Flessa’s war man geschwätziger und nur zu gern bereit, einen Kunden, für den sich Mike ausgab, mit Geschichten über die Großen zu unterhalten, indem man die potenziell trockene Geschäftsabwicklung mit Klatsch und Tratsch aufpeppte, den der Besitzer gehört oder den man ihm anvertraut hatte und der sich um die schillernden Launen des Capone-Mobs drehte. Diese Geschichten, Scherze, Anekdoten oder beiläufigen Kommentare durchforstete Mike nach Fakten, und einige erwiesen sich als derart zutreffend, dass sie ihm bei zwei Gelegenheiten eine höfliche Warnung von Leuten einbrachten, die sich als »Freunde des Bosses« bezeichneten. Der »Boss«, auch als Mr. Brown bekannt, war Al Capone, und besagte Freunde hatten mit Flessa gesprochen, der Mike den Erlass trotz seiner neuerlichen Verschwiegenheit weiterleitete, woraufhin dieser seine Ermittlungen im Flessa’s stark zurückfuhr.
* * *
Mikes Reaktion auf diesen Dämpfer glich der vieler anderer Helden, deren Abenteuerlust gewaltig nachließ. Doch sie bekam an einem trägen Vormittag im Mai neuen Auftrieb. Er hatte sich mit Parlow zum Mittagessen verabredet und traf ihn tippend an. Mike setzte sich neben den Schreibtisch und beobachtete seinen Freund. »The rich the rich the rich make me sad«, hatte Parlow den Text eines Liedes zitiert. »Die Reichen machen mich krank. In diesem größten Land, das Gott je vernünftigerweise gesegnet hat. In dem jeder …«
»›Fahrstuhlführer‹?«, schlug Mike vor.
»Ja, das ist gut«, erwiderte Parlow. »In dem jeder Fahrstuhlführer im Nu zu Reichtum gelangen kann, indem er schlichtweg einen Tipp bekommt; in dem jene, denen der Verstand fehlt, den der Herr sogar Gänsen verliehen hat, mit Pfeilen auf eine Scheibe werfen und Aktien kaufen, deren Potenzial allein durch den Glauben und die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Volkes begrenzt ist.«
»Wen kennst du denn, der auf diese Weise zu Geld gekommen ist?«, wollte Mike wissen.
»Meine Schwester oder ihresgleichen hatte zweifellos eine Freundin im Schönheitssalon, deren Gatte, Freund, Schwarzhändler, Liebhaber oder Zufallsbekanntschaft … Und ich sage dir noch was.«
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Mike.
»Ich bin es so unsagbar leid und kann beim besten Willen keine Enthüllungsberichte mehr sehen. Hier haben wir«, er wedelte mit einer Hand über den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch, »Rezensionsexemplare von was? Enthüllungsberichten: Fleischverarbeitung, Eisenbahnen, Telefon, der Aktienmarkt – Grundgütiger –, Kindererziehung; jeder dahergelaufene Hinz und Kunz mit einer Schreibmaschine lässt sich zu einer Anklage der amerikanischen Lebensart hinreißen.«
»Viele davon sind Frauen«, gab Mike zu bedenken.
»Ich stehe zu meiner eben getätigten Aussage«, erwiderte Parlow. »Und es steckt auch noch Geld darin. ›Ein Enthüllungsbericht‹, rufen die Littacher-Konsumenten aus: ›Ach, wie scharfsinnig, das zu bemerken, und wie tapfer, der ganzen Welt zu berichten, dass wir alle korrupte Schweine sind, die in dem fäkaliengetränkten Lehm des Lebens Wurzeln geschlagen haben.‹«
»Du hast anscheinend wieder etwas auf Französisch gelesen«, warf Mike ihm vor.
»Und wenn schon?«, entgegnete Parlow. »Ist das nicht auch eine Sprache, die dir zweifellos bei deinem Aufenthalt dort zwischen den Altertümern, deren Mauern vom Lauf der Zeit abgeschliffen wurden, ebenso untergekommen ist wie die deutschen Dicken Berthas und der Vertrag von Versailles?«
»Warum bist du derart traurig wegen der Reichen?«, fragte Mike.
»Wegen dem, was alle traurig macht, die sich nicht zu ihnen zählen«, antwortete Parlow. »Dass es ihnen besser geht als uns; und wir trotzen unserer unverdienten Armut stoisch, während sie auf Jachten segeln und weiß Gott welche Sittenlosigkeiten in ihren Bootshäusern begehen.«
»Aber hasst du nicht auch die Armen?«, hakte Mike nach. »Weil sie kein Geld besitzen. Was können sie dann schon für mich tun, außer mich mit ihrem ohnmächtigen Zorn zu behelligen, wenn ich gelegentlich mal ein sauberes Hemd trage? Scheiß auf die Armen. Überdies haben sie, abgesehen von den Kriminellen, ihre Lage falsch verstanden. Denn wie wollen sie ihren Zustand verbessern? Indem sie endlich an die Regierung appellieren.«
»Scheiß auf die Armen«, sagte Parlow.
»Und was ist mit …«, setzte Mike an.
»Ich bin noch nicht fertig«, fiel ihm Parlow ins Wort.
»Und was ist mit Streiks?«
»Ich bin noch nicht fertig«, wiederholte Parlow. »Was ist die Regierung denn schon, als ein nom de guerre für Gauner und Huren, der Gier, die zur Verstümmelung jedes anderen führen würde, der kein Amt innehat? Streiks unterstütze ich als Mittel zum sinnlosen Appell an die ›Autorität‹ und das Verbrechen. Somit vermag das müde Hirn sie unter zwei Köpfen mit gleichermaßen Kopierpotenzial zu vereinen.«
»Gibt es noch einen dritten Kopf?«, fragte Mike.
»Ja«, antwortete Parlow, »und sein Name ist die rechtmäßige Petition zur Beseitigung von Missständen.«
»Und wie soll man sie ansprechen?«, erkundigte sich Mike.
»Nicht als American«, stellte Parlow fest, »und auch nicht als Daily News oder Tribune, sondern als die Clubs der Pinkertons, gehauen aus Bäumen, die nur zu diesem Zweck gepflanzt wurden.«
Parlow nahm das Blatt aus der Schreibmaschine und rief: »Junge!« Er legte eine neue Seite ein und tippte weiter.
»Stellt sie alle an die Wand«, sagte Parlow. Er blickte auf und brüllte: »JUNGE, Herrgott noch mal!«
Mike nahm ihm die beschriebene Seite aus der Hand und wedelte damit über seinem Kopf herum. »Aber der Junge kommt nicht«, sagte er, ließ das Blatt sinken und fing an zu lesen.
»›Seite zwei: Von der Verbesserung der Gemeinde. Die Parks, die Abraham Lincoln für unsere unbefristete Benutzung gewann, sind der Übergangsbereich beliebter Architekten. Sie umfassen Chicagos Schönheit nicht, heben sie jedoch hervor. Betrachten Sie sie aus dem Osten, wenn das Auge und der Geist von der Wildnis des Sees in die dezenten urbs in horto eintritt, einen gut vierzig Kilometer langen Garten; eine Pause, wenn man so mag, zwischen der Natur und dem Kommerz, und auf den …«
Parlow sah sich nach einem Laufjungen um. »Lies den Mist nicht«, meinte er zu Mike.
»Was ist das?«, fragte Mike.
Parlow stand auf. »JUNGE, bei der Gnade Christi, der für uns am Kreuz starb!«, schrie er. »Macht in diesem gottverdammten Haus denn keiner außer mir seinen Job?«
Ein Laufjunge kam in die Lokalredaktion geschlendert.
»Wo hast du … JUNGE, du nutzloses Schwein«, schimpfte Parlow. Sofort kam der Junge angerannt.
»Ja, lauf nur. Lauf, du widerliche Made.«
Mike hielt das Blatt in die Luft, und der Laufjunge nahm es ihm aus der Hand und rannte los.
»Und komm zurück!«, rief ihm Parlow hinterher.
»Was ist das für ein Mist?«, wiederholte Mike seine Frage.
»Das ist ein Artikel über Verschönerung«, erklärte Parlow.
»Warum hast du den geschrieben?«
»Es war ein Gefallen.«
»Für wen?«
»Das verrate ich nicht«, sagte Parlow.
»Wenn doch, was würdest du sagen?«
»Dass ich für eine junge Dame in der Kulturredaktion schreibe«, gab Parlow zu.
»Du Hure«, sagte Mike.
»Ich kriege Geld dafür«, erwiderte Parlow.
»Sie bezahlt dich?«
Parlow legte einen Finger an die Lippen.
»Warum?«
»Offenbar kann sie nicht schreiben«, erläuterte Parlow.
»Jeder kann schreiben.«
»Sie hatte ein behütetes Leben«, sagte Parlow. »Zwar bekam sie dank Vetternwirtschaft diesen Job, doch als der erste Abgabetermin anstand, bekam sie Muffensausen. Ich brauche einen Drink.«
»Dann gehen wir was trinken«, meinte Mike. »Du zahlst.«
Parlow schüttelte den Kopf und schrieb weiter.
»Gut, dann, wenn du fertig bist«, gab Mike nach.
»Nein, ich brauche jetzt einen Drink«, entgegnete Parlow.
Mike zog die Schreibtischschublade auf. Die Flasche lag darin, aber sie war leer. Parlow schüttelte den Kopf.
»Dann geh«, forderte Mike ihn auf. »Na los, ich schreibe das zu Ende.« Parlow stand auf, und Mike setzte sich an die Schreibmaschine. Parlow drückte Mike einen Kuss auf den Scheitel, nahm seinen Mantel vom Garderobenständer und verließ die Lokalredaktion.
Auf der Seite in der Schreibmaschine stand: »… die Liebe der Chicagoer zur hiesigen Blumenwelt …«
* * *
Parlow war nach unten gegangen, um sich zu betrinken. Mike saß vor dem angefangenen Artikel, und sein einziger (aber hinreichender) Hinweis auf den Tonfall und den Inhalt bestand in den Worten: »die Liebe der Chicagoer zur hiesigen Blumenwelt«.
Der vorherige Artikel war bereits zu den Schriftsetzern gebracht worden, daher konnte Mike nur raten, welche Klischees er zu bedienen hatte. Ach, was soll’s, dachte er. »Soll sich die Redaktion doch darüber den Kopf zerbrechen.«
Nach »zur hiesigen Blumenwelt« tippte er »die« und hielt dann inne.
Liebten Chicagoer Blumen?
Frauen liebten Blumen, das wusste er. Männern waren sie eigentlich egal. Chicagoer schienen Blumen auch nicht mehr zu mögen als jede andere Gruppe, vermutlich sogar eher weniger, argumentierte er innerlich, weil sie sehr bodenständige Menschen waren.
Aber irgendjemand musste Blumen lieben, sonst würde es keine Floristen geben. Wie jeder Autor, der sich einer Aufgabe und einem Abgabetermin gegenübersah, verfiel Mike in Tagträume. Wer unterstützt Floristen? fragte er sich. Männer, die einer Frau eine Freude machen wollen, Frauen, die Reichen, und da fielen ihm auch die Gangster wieder ein, und er beschloss, an diesem trägen Tag sein Unterfangen erneut in Angriff zu nehmen.
Parlow entdeckte Mike im Zeitungsarchiv, auch Nachrichtenfriedhof genannt, wo er eine Ausgabe von 1923 las. Auf dem Titel war ein riesiger Blumenkranz abgebildet.
»Die Floristen«, sagte Mike. »North Side.«
»Ja, die Iren haben die Floristen und Zutritt zur North Side mit ihren teuren Apartments, die von den Lieferjungen nur zu gern bedient werden. ›Warten Sie hier, junger Mann, während ich ins Schlafzimmer gehe und etwas für Sie hole Punkt Punkt Punkt.‹ Wo war ich?«
»Bei den Floristen«, half Mike aus.
»Bei der North Side«, korrigierte Parlow ihn, »die ihren Geschäftsbereich auch auf den Verkauf von Fusel, Schnee, Opium und die Kontrolle über die Flüsterkneipen nördlich unseres Rubikons, des Chicago Rivers, ausgeweitet hat.
Die Nation der exilierten Ausonianer hat dafür die Negerenklaven der South und West Sides, Zahlen, Mädchen und die zuvor erwähnten Rauschmittel. Die North Side …«
»Nails Morton«, warf Mike ein.
»Nails«, wiederholte Parlow, »ja, er war dem Namen nach ein Florist. Und er war der hebräische Ombudsmann und Jud Süß für O’Banion und seine lustige Bande von Pflanzenfreunden.«
»Nails«, fuhr Mike fort, »er saß in seiner Jugend wegen Mordes an irgendeinem Kerl, diversen anderen jugendlichen Streichen, darunter ›übertriebene Sparsamkeit ohne die Absicht, die Polizei daran teilhaben zu lassen‹.«
»Der Richter fragt: ›Stateville oder Frankreich?‹ Nails entscheidet sich für Frankreich und kommt als Held wieder. Wird stinkreich, trägt gelbe Glacéhandschuhe. Eines Tages reitet er durch den Lincoln Park und wird abgeworfen. Das Pferd trampelt ihn tot. Man muss es einfach lieben.«
»Das Pferd?«, fragte Mike.
»Das Pferd, das an diesem Abend sein Heu fraß. O’Banions Schergen stürmen rein, ›rat-tat-tat‹.«
Mike starrte die Zeitung weiterhin an.
»Das Pferd«, murmelte er. »Womit haben sie es erschossen?«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Parlow. »Es wurde mit einer Maschinenpistole erschossen. Hast du denn keinen Sinn für Angemessenheit …?«
»Früher, zur Zeit der Römer, hätte man ihm die Kehle aufgeschlitzt«, sagte Mike geistesabwesend.
»Die Zeit schreitet voran. PS: Sie haben die Maschinenpistole auf dem toten Pferd liegen lassen, sie einfach weggeworfen, als wäre sie durch den ›Kontakt mit dem Pferd‹ besudelt worden. Das muss man doch lieben. Weiss, Teitelbaum müssen den Verlust von vierhundert Mäusen sehr bejammert haben.«
»Ginge mir ähnlich.« Mike hielt die Lupe dicht vor die Zeitung.
»Was siehst du dir da an?«, wollte Parlow wissen.
Mike betrachtete die Fotografie. Er hielt die Lupe über die Schrift aus Gänseblümchen in der Mitte des Gebindes. »›Die besten Wünsche von jenen, die dir das Beste wünschen‹«, las er vor.
»Ah ja, die Sprache der Blumen«, kommentierte Parlow. »Die Sprache der Liebe.«
»Ich gehe einem Hinweis nach.«
»So nennt man das heute also?«, spottete Parlow.
»Ja, so nennt man das heute.«
* * *
Mikes wiederholte Ausflüge ins The Beautiful brachten ihm zunehmend weniger produktive Informationen ein, da sein Informant, Annie Walsh, die unfassbar hübsche Tochter des Eigentümers war, der sie aus seinem Arbeitsraum ständig und effektiv im Auge behielt. Zudem verfiel er in Einsilbigkeit, als wolle er so seine väterliche Sorge zum Ausdruck bringen. Obwohl er Mikes Bemühungen einer nützlichen Unterhaltung vereitelte, hinderte er ihn nicht daran, sich schweigend und unwiderruflich in das Mädchen zu verlieben.
»Was soll ich nur tun?«, holte er sich bei Parlow Rat.
»Wenn du einfach tun könntest, was du willst, was würdest du dann machen?«, erwiderte Parlow.
»Ich würde in den Laden gehen, sie auffordern, ihren Mantel zu nehmen, sie ganz weit weg bringen und nie mehr aus meinem Bett lassen.«
Aber er hatte es bisher noch nicht einmal geschafft, mit ihr über etwas anderes als über die Bestellung von Blumen zu reden, die seine Anwesenheit im Laden erklären konnten.
Selbstverständlich hatte der Vater Mike durchschaut, der nicht nur jeden Mann jeden Alters in Verdacht hatte, sondern besonders auf das tatsächliche, wenngleich verschleierte Auftreten von Lust reagierte; und auch die Tochter täuschte er nicht, die sich wie alle Frauen zu allen Zeiten des Vorhandenseins und der Intensität des Interesses von Männern überaus bewusst war. Der Einzige, den Mike mit seiner Charade hereinlegte, war er selbst. Und das bezahlte er nicht nur mit seiner unerwiderten Sehnsucht und seiner Unentschlossenheit, sondern auch durch seine ungeprüfte, jedoch beharrliche Abneigung jeglicher Duplizität, die seine Liebe zu diesem unschuldigen Mädchen betraf. Denn stand er nicht unter doppelt falschem Vorwand vor ihr, indem er durch sein albernes Auftreten als Kunde nicht nur seine Begierde, sondern auch seinen weitaus abscheulicheren Charakter als Spion verbarg? Und konnte man nicht auch argumentieren, dass jede Information, die er dank ihr oder ihrem Geschäft erhielt, letzten Endes eine Bestrafung durch die O’Banion-Organisation nach sich ziehen würde, fragte er sich. Derartige Überlegungen hatte er nicht bei seinen Abenteuern auf der South Side, wo sich ihm diese Frage nicht einmal stellte, ansonsten hätte sich Mike gern als jemand gesehen, der »wie jeder andere seine Chancen nutzte«.
Aber nicht bei dem Mädchen. Er wollte das Mädchen nicht mit in die Sache hineinziehen.
Für sie schrieb er im Kopf keine Gedichte, sondern Geschichten, wie es sich für einen Journalisten gebührte. Diese Vorstöße in die Prosa begannen in seiner Fantasie als einfache und daher würdige Deklarationen, entwickelten sich jedoch rasch zu ihrer stillschweigenden Zustimmung und dazu, dass er sie entkleidete (wobei seine Fantasie dann vom Blumenladen zu seiner Wohnung an der Wisconsin Street wechselte) und sie in die Kunst des Liebesspiels einweihte.
* * *
Mike hatte mit JoJo Lamarr, einem geläuterten oder, wie er es ausdrückte, »vorübergehend nicht flüchtigen« Einbrecher und Mädchen für alles, über seine florale Inspiration gesprochen.
JoJo hatte sich auch schon als Fahrer, Ladendieb und allgemeiner Informationsbeschaffer betätigt. Er fühlte sich keiner bestimmten Gruppe zugehörig, und wenn man ihn fragte, beschrieb er seine Tätigkeit als freier Dienstleister damit, dass er »der Freund der Welt« wäre.
Man traf ihn stets in Hemd und Hose aus eng anliegendem, mit Nieten besetztem Baumwolldrillich an. Für Eingeweihte war dies eine Anspielung auf seine Zeit im Stateville-Gefängnis und seinen dortigen Status von jemandem, der vielleicht nicht der Anführer, aber doch dessen Vertrauter war.
Über dem Drillich trug er einen knielangen Mantel aus leichtem braunen Leder. Das ganze Outfit schien jedem, der die Augen aufsperrte, zu verkünden: »Dort war ich, und da will ich hin. Im Augenblick bin ich hier. Was gibt’s?«
Mike kam verspätet zu der Verabredung mit JoJo und spulte die übliche Ausrede eines Journalisten von zu viel Arbeit herunter, was er in diesem Fall durch die irrelevante Einstreuung von »Ich war beim Floristen« ergänzte.
JoJo tat die doppelte Entschuldigung ab, die er wie alle, die sich am Rand des Gesetzes aufhielten, als vielsagende Bemerkung einstufte.
Doch er ignorierte die unerkundete Verschleierung und fragte: »Sie haben gearbeitet und sind dem Trick nachgegangen?«
»Welchem der vielen Tricks?«, wollte Mike wissen.
»Dem Beerdigungstrick«, antwortete JoJo.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sagten doch, Sie wären beim Floristen gewesen«, meinte JoJo.
»Der Beerdigungstrick«, erwiderte Mike. »Das müssen Sie mir erklären.«
»Der Kerl stirbt«, setzte JoJo an, als wäre er ein Zauberer, der einem Anfänger die einfachsten Illusionen beibringen muss. »Er ist tot, und was tun alle anderen?«
»Sie gehen zur Beerdigung.«
»Allerdings«, bestätigte JoJo. »Und wer kümmert sich um die Geschäfte, während sie weg sind?«
»… äh …«, murmelte Mike.
»Ganz genau«, sagte JoJo. »Das weiß keiner. Es ist unbekannt. Das ist das Schöne am Tod: Er hinterlässt ein Loch in den bestehenden Strukturen. Jeder geht davon aus, dass sich jemand anders ›darum kümmert‹.«
»Und in diesem Fall?«, hakte Mike nach.
»In diesem Fall ist ›darum‹ das Haus. Der Bestatter geht davon aus, dass jemand die Trauerfeier organisiert, wo man wiederum erwartet, dass sich jemand um die Blumen kümmert. Man zieht eine Braut so an, dass es zu der Gegend passt, lässt sie mit einer Auflaufform dort antanzen – wer stellt da schon Fragen? Und sie? Sie räumt den Laden aus. Das ist wie ein Geschenk der Natur.«
»Was ist mit …«, begann Mike.
»Jaja, reiche Leute, Menschen, die Ahnung haben? Die heuern natürlich einen Wachdienst an. Logisch. Die haben eine Liste. Aber vielleicht kann man sie ja bestechen? Oder Tante Mabel kommt mit einem Koffer in der Hand angereist, da sie gerade erst vom Todesfall erfahren kann. Da muss sie doch wenigstens Abschied nehmen. Ist die Bewachung zu gut, kann sie immer noch behaupten, sie würde erst einmal ins Hotel gehen und später wiederkommen oder einfach gehen. Immerhin bekommt man so ein paar Informationen. Manchmal beruhigt sich die Lage. Die Familie kommt drüber weg. Die Ehefrau geht mit dem Gärtner ins Bett, die Kinder sind in der Schule. Vielleicht machen sie vor lauter Trauer erst mal Urlaub. Auch wenn man anfangs wieder gehen musste, hat man unschätzbare Informationen erhalten.«
»Inwiefern?«
»Man hat den Laden schon mal gesehen. Kommen Sie schon, Mike. Wenn man Tante Mabel ist, redet man mit dem Butler, dem Gärtner, dem Kindermädchen und fragt sie nach ihrem Namen.
Später kommt man wieder, die Männer sind zurück, und man behauptet, Forstairs Bruder zu sein und ihm etwas vorbeibringen zu wollen. Da Forstairs der Gärtner ist, wird man reingelassen. So kann man sich eine Minute verschaffen, wer weiß.
Nicht zu vergessen: die Pinkertons. Ist man während der Beerdigung da? Was bewachen sie? Stehen sie an einer Wand? Dann befindet sich da garantiert der Safe. Solche Informationen sind Gold wert und können einem eher die Haut retten als eine Smith & Wesson, die einen letzten Endes bloß in Schwierigkeiten bringt.«
»Sie haben eine«, stellte Mike fest.
»Da irren Sie sich«, widersprach JoJo ihm. »Ich hatte im ganzen Leben noch keine Waffe … Ja, zugegeben, als Kind schon. Bevor ich aufs College ging. Aber danach? Ich ging einem Gewerbe nach. Ich trage nie eine Waffe.
Warum? Wenn man jemanden damit umbringt, erregt man sofort Aufmerksamkeit. Die Leute suchen einen, und zwar nicht nur später, sondern sofort, weil sie den Schuss gehört haben. Das Wichtigste in meinem Gewerbe ist der Plan; da brauche ich keine Waffe. Teil des Plans ist: ›Wenn es schiefgeht, dann geht es eben schief.‹ Ich habe stets noch andere Ressourcen; ich weiß, wie ich wieder rauskomme, habe einen Fluchtplan, Ausreden parat, die mich entweder herausretten, mir Zeit verschaffen, damit ich genau das versuchen kann, oder mit denen ich die Polizei auf eine Art und Weise überzeugen kann, dass sie mir auf dem Weg in den Knast einen ausgeben, anstatt mich für meine Vermessenheit windelweich zu prügeln.
Einige Leute nutzen Waffen, um anderen damit zu drohen. Meines Wissens ist das Einzige, worin sie wirklich gut sind, Menschen zu erschießen.«
»Man kann niemanden damit bedrohen?«, fragte Mike.
»Doch, kann man«, bestätigte JoJo. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Bedrohten Angst oder nicht. Wenn sie sich nicht fürchten, was nutzt es dann? Fürchten sie sich, könnten sie aber trotzdem bewaffnet sein, ohne dass man es weiß. Und wenn sie eine Heidenangst haben, sind sie vielleicht bereit, um ihr Leben zu kämpfen, ziehen die Waffe und erschießen dich. Ja, ja, ja«, meinte er. »So was geht mir durch den Kopf.
Würde ich den Gefängniswärter erschießen, der mich zum elektrischen Stuhl bringt? Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vermutlich schon, aber es kann auch sein, dass ich meinen Mut zusammennehme und in den sauren Apfel beiße. Bin ich generell nicht dazu in der Lage, jemanden zu erschießen? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich bin nicht bescheuert, habe aber auch nicht den Wunsch, jemanden zu verletzen.
Ich helfe anderen gern«, fuhr er fort. »Passen Sie mal auf, weil Sie schließlich nie ›weg waren‹. Sie hatten keine Ausbildung. Oder doch? Das Erste, was man dort lernt, ist: Was ist Ärger? Wir wissen, was das ist. Ärger. Wo findet man ihn?«
»Am unwahrscheinlichsten Ort.«
»Und, Mike? Lassen Sie sich das gesagt sein: Je unschuldiger etwas ist, desto eher wird irgendein Kerl«, er deutete als Beispiel auf sich, »einen Weg finden, um Ihnen eins auszuwischen.
Popcorn. Ich habe auf dem Jahrmarkt Popcorn verkauft – man füllt einen halben Zentimeter Sand unten in die Tüte. Bei Popcorn! Es gibt einfach nichts Grundehrliches mehr.«
* * *
Der wirkliche Fortschritt bei Mikes Ausbildung war durch die Beobachtung des Mädchens beim Tee im Budapest Café eingetreten.
Die Intimität dieses Cafés war eine Verheißung. Zuvor hatte Mike ihre Gesellschaft nur als Reporter, der eine Spur verfolgte, genießen dürfen.
Diese Geschichte passte ihnen beiden, und nach drei Besuchen im The Beautiful war sie größtenteils vergessen.
Mike hatte begriffen, dass er Informationen erhalten konnte, wenn er zu Beerdigungen ging. Er ließ den Abteilungsleiter hingehen und verbrachte seine Vormittage hin und wieder im Gewächshaus des The Beautiful, um dem Mädchen Fragen zu stellen, was hauptsächlich ein Vorwand war. Der Wert und die Bedeutung dieser Fragen war für sie beide als Geturtel erkennbar. Das Mädchen, dessen Erröten trotz des neutralen Themas sie unwiderruflich verraten hätte, wusste seinen angemessenen Schutz einer bedrängten Keuschheit zu schätzen.
Bei ihren Gesprächen im Blumenladen saß Mike auf dem Stuhl und rauchte Zigaretten. Annie trug einen grünen Arbeitskittel, der für ihn das anmutigste Kleidungsstück darstellte, das er je gesehen hatte. Mit ihren weißen Baumwollhandschuhen strich sie sich das Haar aus der Stirn. Im Laufe der Zeit wurden die Handschuhe bei der Arbeit schmutzig. Anfangs hielt sie nach einem sauberen Fleck auf dem Stoff Ausschau, aber je weniger es davon gab, desto mehr Erde landete auf ihrer Stirn. Mike war fasziniert.
Er gab die Geheimnisse, die er von ihr erfuhr, an Parlow weiter.
»Wusstest du«, berichtete er, »dass man Blumen durch heißes Wasser wieder zum Leben erwecken kann?«
Als Reporter interessierte sich Parlow selbstverständlich für jegliche Kniffe.
»Ja«, bestätigte Mike. »Man schneidet die Stiele der Länge nach ein, in der Diagonalen, damit sie mehr Wasser aufnehmen können. Das Wasser muss frisch und kalt sein. Dann gießt man das heiße Wasser aus dem Kessel auf die frischen Schnitte und stellt sie wieder in die Vase, und schon bleiben sie einen oder zwei Tage länger frisch.«
Parlow setzte zum Reden an.
»Und«, fügte Mike hinzu, »man nimmt für die Stiele nie eine Schere.«
»Warum nicht?«, fragte Parlow und kam sich wie ein sehr hilfreicher Freund vor.
»Weil man damit den Stiel zusammendrückt«, erläuterte Mike. »Und so bekommt die Pflanze weniger Wasser. Der Knaller ist jedoch der Blumendraht.«
»Blumendraht«, wiederholte Parlow.
»Ein superdünner Stab, den man in den Stiel schiebt, und zwar bis hinauf zur Blüte, um sie wieder aufzurichten, falls sie herunterhängt. Nimmt man beispielsweise eine Rose, die ihren Zenit schon überschritten hat …«
Parlow nickte mitfühlend. »Man schneidet den Stiel neu ein, gießt kochendes Wasser drüber, streift die verwelkten Blätter ab – lässt die frischen dran, schiebt den Draht rein, die Blüte steht wieder – und man kann sie noch verkaufen.
Warst du schon wieder da?«
»Die Leute kaufen Blumen«, sagte Mike und wartete, bis Parlow nickte, bevor er fortfuhr. »Was machen sie dann damit?«
»Sie bringen sie ihrer Liebsten«, antwortete Parlow.
»Ja …«
»Oder ihrer Mutter.«
»Jaja, oder sie kaufen sie für eine Feierlichkeit. Was passiert, wenn diese vorbei ist?«
»Jemand bringt sie den Armen ins Krankenhaus«, mutmaßte Parlow.
»Hmpf.« Mike schnaubte. »Die Angestellten, die Putzkolonne oder die Pagen verkaufen sie den Blumengeschäften.«
»Das wusste ich ja noch gar nicht«, gestand Parlow.
»Tja«, meinte Mike. »Und man kann Blumen bemalen, man kann sie färben, man kann, sieh her, man kann mit derselben alten Blume …« Er bewegte die Hände, um anzudeuten: nachdem wir das getan haben, was ich eben erwähnte. »Was uns auf jeden Fall an Blumen gefällt, ist, dass sie für Jugend stehen.«
»Jugend und Sex«, warf Parlow ein.
»Nicht mit seiner Mutter«, widersprach Mike ihm.
»Vergiss Hamlet nicht«, entgegnete Parlow, aber Mike fuhr fort. »Jugendlichkeit. Taufrisch.«
»Ach herrje«, murmelte Parlow.
»Dieses Schimmern«, fügte Mike hinzu, »das die Jugend mit sich bringt. Aber mit der Zeit und gegenseitiger Unterstützung kann es von einem kameradschaftlichen Verständnis ersetzt werden, das …«
»Ja, schon gut«, unterbrach Parlow ihn.
»… mit der alten Blume meine ich übrigens die Rose«, erklärte Mike, »und wenn man einen Penny ins Tulpenwasser legt, halten sie länger. Insbesondere die Rose steht jedoch für junge Liebe.«
»Daran habe ich nie gezweifelt.«
»Die Kapillaren im Stiel …«
»Ich dachte immer, der Stiel wäre schon eine Kapillare«, meinte Parlow.
»Ist er nicht«, erwiderte Mike. »Wenn der Stiel altert, fallen sie zusammen, sie trocknen aus, und es gelangt weniger Wasser in die Blüte. Die frische Rose, die ausgestellt wird, bespritzt man natürlich mit Wasser. Was ist schöner als eine glänzende …«
»Jaja.«
»Aber die alte Rose wird aussortiert, verdrahtet, ihrer Blätter entledigt, da das Wasser auf der Blüte nicht perlt.«
»Doch das tut es bei der neuen Rose«, erwiderte Parlow, »da sie übersättigt ist und kein Wasser mehr aufnehmen kann.«