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Aus dem Inhalt: Gleich zu Beginn sind die beiden Pole des Lebens genannt: die Ausbildung des eigenen Charakters und die Liebe zur Menschheit, also Individuum und Gemeinschaft. Bei der Charakterbildung zeigt sich sofort die Konfuzianische Grundanschauung. Nicht um ein Austreiben der Natur, ein Unterdrücken des Gegebenen handelt es sich – das ist nicht nötig, denn die innersten Anlagen des Menschen sind von Natur gut –, sondern nur um eine Entfaltung und Steigerung dieser Anlagen, ein Herausarbeiten des latent von Anfang an vorhandenen Gehalts. Auch hier also positive Arbeit. Und sofort tritt der Selbstbildung zur Seite die Beziehung zur Gemeinschaft: die Liebe zur Menschheit. Das dritte, "höchste Tüchtigkeit als Ziel", gibt nicht ein neues Arbeitsgebiet an, sondern bezeichnet den höchsten Intensitätsgrad persönlicher Konkretisierung in den genannten Idealfor-derungen. Es heißt dann weiter: "Wenn man sein Ziel kennt, so gibt das Festigkeit. Festigkeit allein führt zur Ruhe. Die Ruhe allein führt zum innern Frieden. Der innere Friede allein ermöglicht ernstes und besonnenes Nachdenken. Ernstes und besonnenes Nachdenken allein führt zum Gelingen. Jedes Ding hat Stamm und Verzweigungen. Jede Handlung Ende und Anfang. Dadurch, daß man erkennt, was zuerst und was nachher zu kommen hat, nähert man sich dem Weg. Nur durch Beobachtung der Wirklichkeit erreicht man gegenständliche Erkenntnis. Nur durch gegenständliche Erkenntnis werden die Gedanken wahr. Nur durch wahre Gedanken erlangt man die rechte Gemütsverfassung. Nur durch die rechte Gemütsverfassung erlangt man die Veredlung der Persönlichkeit. Nur durch Veredlung der Persönlichkeit erlangt man die Regelung des Hauses. Nur durch Regelung des Hauses erlangt man die Ordnung des Landes. Nur durch Ordnung der Länder erlangt man den Frieden auf Erden. [...]" Hier ist zunächst ein sehr wichtiger Gesichtspunkt ausgesprochen für eine erfolgreiche Arbeit auf geistigem Gebiet. Während die Menge der Menschen einfach durch die Macht der Gewohnheit geleitet wird und durch die instinktiv anerkannten Forderungen der Sitte Ordnung für ihr Leben gewinnt, müssen die Führerpersönlichkeiten eine durchaus bewußte Stellung bekommen. Denn nur aus einer solchen tiefen Bewußtheit heraus wächst die Kraft der Überzeugung, die notwendig ist, um andere beeinflussen zu können. Eine solche Überzeugung erlangt man aber nur durch ein tiefes, gegenständliches Denken. Um nun ein solches Denken zu ermöglichen, muß erst der innere Friede erlangt sein. Dieser Friede erwächst aus der Stille, die frei ist vom Lärm einander bekämpfender und widerstreitender Gedanken. Sie hat ihrerseits zur Vorbedingung, daß man durch einen vollkommen festen Entschluß sich entschieden hat für den zu befolgenden Weg. Solange die Wahl nicht endgültig ist, solange ein inneres Schwanken zwischen verschiedenen Möglichkeiten noch herrscht, wird man noch in Unruhe hin und her gerissen, und es wohnen zwei Seelen in der Brust des Menschen, die ihn nicht zur Stille kommen lassen. Um einen solch festen Entschluß fassen zu können, ist es notwendig, daß man weiß, was man eigentlich will, daß man sein Ziel kennt. [...] Erstveröffentlichung: 1922 Autor: Richard Wilhelm 1. E-Book-Auflage 2018 Umfang: ca. 110 Buchseiten, 4 Kapitel
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Seitenzahl: 144
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„Chinesische Lebensweisheit“ von Richard Wilhelm
Erstveröffentlichung: 1922
Cover, Überarbeitung: F. Schwab Verlag
Neuauflage: F. Schwab Verlag – www.fsverlag.de sagt Danke!
Copyright © 2018 by F. Schwab Verlag
Die Besinnung über das Leben, die über die Stammes- und Volkstradition in Religion und Sitte hinaus sich vorurteilslos mit den Tatsachen des Lebens beschäftigt, pflegt immer in Zeiten zu entstehen, da aus irgendwelchen Gründen neue Gedanken in den Gesichtskreis der Menschen eintreten, da das, was bisher als selbstverständlich hingenommen wurde, durch schwere gesellschaftliche und nationale Erschütterungen ins Wanken kommt. So entstand in Israel der Prophetismus in dem Moment, als der kleine Nationalstaat Israel hineingerissen wurde in den Wirbel der Weltmachtkämpfe um die Vorherrschaft im westlichen Asien. So entstand die griechische Philosophie in Kleinasien in dem Zeitpunkt, da von Asien her neue Mächte und neue Gedanken immer stärker an die Ufer des griechischen Geistes brandeten. Und ganz ähnliche Erschütterungen waren es, die zur Entstehung der chinesischen Lebensweisheit geführt haben. Gewiß spielen die inneren Anlagen der Menschen dabei eine Rolle. So ist es kein Wunder, daß der israelitische Prophetismus eine religiöse Erscheinung wurde, während der vorzugsweise auf Anschauung gerichtete griechische Geist mit den Anfängen der Philosophie zugleich der Wissenschaft von der Natur sich zugewandt hat und der chinesische Geist die Lebensweisheit als ein Feld zu bearbeiten begann.
Von einer eigentlichen Philosophie in China kann man reden seit Lautse und Kungfutse. Von Kungfutse können wir Geburts- und Todesjahr genau angeben. Er lebte von 551-479 vor unserer Zeitrechnung. Lautse mag etwa zwanzig Jahre älter gewesen sein. Die Verhältnisse nun, die in China dazu führten, daß diese Männer daran gingen, über das Leben nachzudenken und Ergebnisse der Lebensweisheit zu suchen, waren sehr schwerer Art. Kungfutse hat ein Werk verfaßt, das er Frühling und Herbst nannte, in dem vom Aufgang und Niedergang von Staaten die Rede war. Die Zeit, die dieses Werk umfaßt, reicht ungefähr dreihundert Jahre weit in die Vergangenheit zurück. Außerdem haben wir in der Liedersammlung des Kungfutse Material, das mindestens ebenso alt, zum Teil noch älter ist. Aus diesen Quellen und verschiedenen andern eröffnet sich uns ein Einblick in die Verhältnisse jener Zeiten, der wahrhaft erschütternd ist. Diese dreihundert Jahre sind im wesentlichen in China eine dreihundertjährige Kriegszeit gewesen. Einerseits beunruhigten von Norden her die hunnisch-mongolischen Stämme das Reich, auf der andern Seite erhoben sich im Süden die beiden Fremdstaaten Tschu und Wu – am Yangtse und südlich davon – zu immer größerer Macht. Im Zentralgebiet, dem eigentlichen China, verging in jenen drei Jahrhunderten kein Jahr ohne Kampf. Das alte China war ursprünglich aus einer sehr großen Anzahl von Lehnstaaten unter einer zentralen Königsgewalt zusammengesetzt gewesen. Aber während die Zentralgewalt immer mehr zu einem bloßen Schattendasein herabsank, vergrößerten sich immer mehr die mächtigeren Lehnsstaaten auf Kosten ihrer schwächeren Nachbarn, so daß die Zahl der selbständigen Staaten immer mehr zusammenschrumpfte und auf der andern Seite die mächtigeren Landesfürsten immer mehr die volle Souveränität an sich rissen. Statt des Königs übernahmen der Reihe nach fünf solche Landesfürsten die Hegemonie im Reich, während der König ein willenloses Spielzeug in der Hand des jeweils mächtigsten unter ihnen war. Wieviel in jenen Jahrhunderten Staaten vernichtet, Herrscherhäuser ausgerottet, Menschen getötet wurden, wieviel Blut geflossen und Eigentum zerstört worden ist, weiß niemand zu sagen. Unsägliches Leid lag auf der Bevölkerung, die natürlich immer letzten Endes die Zeche zu bezahlen hatte. Eine Umschichtung der Gesellschaftsklassen ging damit Hand in Hand. Vornehme wurden gestürzt, Niedrige kamen empor. Die festgeordneten Rangstufen des Altertums verloren ihre Bedeutung. An Stelle der alten Rangstufen trat ein neuer tiefgreifender Unterschied. Die Gegensätze von Arm und Reich machten sich immer schärfer fühlbar. Ansätze zum Kapitalismus mit regelrechter Ausnutzung der sozial schwächeren Kreise zeigen sich ganz deutlich. Die Regierung der einzelnen Staaten war mit wenigen Ausnahmen willkürlich und tyrannisch.
Selbstverständlich wurden durch solche Zustände auch innerliche Reaktionen hervorgerufen. Die alte Natur- und Ahnenreligion mit ihren festen Formen war ein Rahmen gewesen, innerhalb dessen sich in ruhigen Zeiten gar wohl das Leben eines Bauernvolkes unter patriarchalischen Einrichtungen bewegen konnte. Allein die Not der Zeit brachte neue Fragen und Aufgaben mit sich, auf die man sich in neuer Weise einstellen mußte. So finden sich denn auch im Liederbuch gar manche Ansätze einer inneren Durcharbeitung der Fragen, die so drohend und unausweichlich am Himmel standen. Natürlich sind die Stimmungen verschieden nicht nur nach den Verhältnissen, sondern auch nach der Gemütsart der verschiedenen Volksschichten, denen die Dichter angehörten. Wir finden eine Richtung, die sich einfach der Klage hingibt. Man liebt das Vaterland, man möchte das Beste, aber die Not der Zeit ist zu übermächtig. Teuerung und Hungersnot kommen nach dazu. Ach, daß doch Gott vom Himmel dreinsehen wollte! Aber wo ist er? Hört er überhaupt auf Menschenflehen, da droben der weite, mitleidlose, blaue Himmel? So kommen mit der Klage Zweifel hervor: keine Lästerungen, keine radikale Gottesleugnung, aber die Anschauung, daß eben auch der Himmel seine Schwächen und Fehler hat – ein anderes Mal hilft er ja wieder, und in der Regel zeigt er sich gut und mild –, so daß es eben überhaupt nichts Vollkommenes gibt. Eine andere Richtung ging über diese sanfte Trauer hinaus. Sie wandte sich dem prinzipiellen Pessimismus zu. Es ist alles hoffnungslos schlecht, was ist. Viel besser nie geboren als solches Elend durchmachen müssen. Hier finden wir auch die Vorbilder der stolztrotzigen Einsiedler, die entschlossen der Welt den Rücken kehren und untertauchen in den Fluten der Anonymität. Man findet sie als Bauern, als Sklaven, als Knechte, in Wäldern, am Meeresstrand. Sie sind sarkastisch. Sie wissen, es hilft alles nichts, darum geben sie sich keine vergebliche Mühe. Manche unter ihnen kannten auch wohl eine geheimnisvolle Innenwelt, in die man Eingang findet durch mystische Schau, indem man Verzicht leistet auf alles äußere Handeln und Machen. Kungfutse hat unter solchen „verborgenen Heiligen“ gar viel zu leiden gehabt, die mit unbarmherziger Kritik sein Bestreben geißelten. Lautse stand ihnen nahe.
Eine weitere Richtung war die Gesinnung frommer Ergebung ins Schicksal. Wenn es schlecht ging, so war das Fügung des Himmels, des Übermächtigen, gegen den kein Menschentrotz half. Was will der kleine, machtlose Mensch in solchem Falle machen? Nichts bleibt ihm übrig als sich zu fügen und ruhig zu sein, ob etwa der Sturmwind wieder vorüberginge und auf Regen bald wieder Sonnenschein folgen möchte.
Andere wieder wandten sich mehr einer unmittelbar praktischen Lebensweisheit zu. Sie hatten weltverachtende Grundsätze und sahen, daß man nichts machen könne, um die Welt zu verbessern. Warum also sollte man an solche fruchtlosen Gedanken seine besten Kräfte setzen? Noch hatte man ja die Genußfähigkeit. Noch hatte man den Wein, den Sorgenlöser, und noch konnte man singen und so seinem Herzen Luft machen. Wozu also den grauen Ernst? Iß und trink und sei guter Dinge. Ganz wie es im Prediger Salomonis heißt: „So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat ... Alles was dir von Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Wort, Kunst, Vernunft noch Weisheit.“
Es gab aber endlich auch Leute, die gegenüber den finstern Zeitverhältnissen und einer verrotteten Gesellschaft nicht gewillt waren, gesenkten Hauptes sich in all das Unrecht freiwillig zu fügen, sondern ihrer Unzufriedenheit im Liede Luft machten. Und manchmal auch kam es vor, daß, wenn solche Stimmungen sich erst in der Tiefe angehäuft, gelegentlich ein Ausbruch kam, der oft ganz unerwartet einem Tyrannen und Volksbedrücker das Leben kostete.
Aus dieser Not der Zeit heraus ist nun die chinesische Lebensweisheit geboren worden. Am königlichen Hofe lebte ein Mann. Er ist bekannt unter dem Namen Lautse („alter Meister“). Man wußte wenig von ihm, er war beschäftigt an der königlichen Bibliothek. Und unter der Beschäftigung mit den vielen Bambustafeln, auf denen die Reste der Literatur des Altertums verzeichnet waren, ist ihm die große Erleuchtung gekommen. Er fand nicht seine Befriedigung im Lesen und Lernen, im Nachdenken, was andere zuvor gedacht. Er hatte aber auch keine Lust zu wirken und sich einen Namen zu machen. Wohl überschaute er mit souveränem Blick die Reiche der Welt. Er sah, woran es ihnen fehlte, und sah auch wohl die Mittel, wie zu helfen wäre. Aber er wußte auch, daß seine Ratschläge unzeitgemäß waren und daß nicht damit zu rechnen war, daß so bald ein Fürst sich finden werde, der seinen Paradoxien Gehör schenken würde. So verzeichnete er denn seine Gedanken – oft in Form von Knittelversen, wie sie im Altertum zur Unterstützung des Gedächtnisses üblich waren – auf, ganz zwanglose Aphorismen, wie sie das Erlebnis brachte. Auch hier war er nicht auf Stil und Feinheit des Ausdrucks bedacht. Höchstens, daß es ihm Spaß machte, alles möglichst scharf und prägnant auszudrücken und alle vorsichtigen Wenn und Aber beiseite zu lassen. Auf Wirkung verzichtete er. Eigentlich ist es fast eine Inkonsequenz von ihm gewesen, daß er diese Selbstgespräche überhaupt aufgezeichnet hat. Die Sage empfand das auch und berichtet von einem Anlaß für diese Aufzeichnungen. Als er nämlich die Welt verließ und durch den Hangu-Paß nach Westen auf Nimmerwiedersehen verschwand, da habe ihn der Torwächter gebeten, ihm seine Weisheitssprüche aufzuschreiben. So habe er ihm als Gastgeschenk das Büchlein dagelassen, das heute unter dem Namen Taoteking bekannt ist. Das geheimnisvolle Verschwinden des Alten ist aber nur Sage. Noch Dschuangdsї wußte von dem Ende des Lautse zu erzählen, und in dieser Geschichte wird auch ein rührender Zug erwähnt. Als er nämlich gestorben war, da hätten alle Anwesenden, alt und jung, untröstlich geweint. Daraus wird ihm ein Vorwurf gemacht. Er müsse Worte gesprochen haben, die er nicht hätte sprechen sollen, und Dinge getan haben, die er nicht hätte tun dürfen. Sonst hätte er nicht diese menschliche Anhänglichkeit und Trauer über seinen Tod bewirken können. So sehen wir hinter dem radikalen Eifer gegen die Mißstände der Zeit ein gütiges, menschlich fühlendes Herz.
Seine politische Lebensweisheit war radikal genug, und manches davon behält seine Gültigkeit, auch nachdem die Zeiten, für die es geschrieben, längst vorüber sind. Man vergleiche Sätze wie den: „Das Volk hungert; das kommt daher, daß seine Oberen zu viel Steuern fressen: darum hungert es. Das Volk ist schwer zu lenken; das kommt daher, daß seine Oberen immer etwas machen wollen: darum ist es schwer zu lenken. Das Volk nimmt den Tod zu leicht; das kommt daher, daß man des Lebens Fülle zu reichlich sucht: darum nimmt es den Tod zu leicht.“
„Je mehr man die Religion pflegt, desto ärmer wird das Volk. Je mehr das Volk Mittel zum Gewinn hat, desto unklarer wird der Staat. Je mehr die Menschen Künste üben, desto mehr entstehen fremdartige Dinge. Je mehr Gesetze und Verordnungen sich breit machen, desto mehr gibt es Diebe und Räuber.“
„Des Himmels Sinn ist es, zu nehmen von dem, was zu viel hat, und damit zu helfen dem, was zu wenig hat. Der Menschen Sinn ist nicht also: sie nehmen von denen, die zu wenig haben, um zu bereichern die, so zu viel haben.“
„Wo Heere weilen, wachsen Dornen.
Auf große Feldzüge folgen Hungerjahre.“
„Tut die Heiligkeit ab und verwerft die Weisheit:
Das ist dem Volk hundertfacher Gewinn.
Tut die Menschenliebe ab und verwerft die Pflicht:
Dann kehrt das Volk zurück zu Ehrfurcht und Gefühl.
Tut die Technik ab und verwerft den Gewinn:
Dann gibt es keine Diebe und Räuber mehr.“
Ein sehr guter Ratschlag für die Staatsregierung ist auch folgender:
„Ein großes Reich muß man lenken, wie man kleine Fischlein brät.“
Hierzu bemerkt ein chinesischer Kommentar sehr treffend: Wenn man kleine Fischlein brät, so nimmt man sie nicht aus, schuppt sie nicht ab und wagt sie nicht zu schütteln, damit sie nicht in Stücke gehen.
So gibt er den Regierenden den guten Rat, möglichst wenig zu regieren, dann werde sich schon alles von selber machen:
„Wenn wir nichts machen,
So wandelt sich von selbst das Volk.
Wenn wir die Stille lieben,
So wird das Volk von selber recht.
Wenn wir nichts unternehmen,
So wird das Volk von selber reich.
Wenn wir keine Begierden haben,
So wird das Volk von selber einfältig.
Wessen Regierung demütig und sanft ist,
Dessen Volk ist harmlos und einfach.
Wessen Regierung stramm und genau ist,
Dessen Volk ist hinterlistig und versagt.“
Bezeichnend ist auch die Wertschätzung der Herrscher und ihre Stufenfolge:
„Herrscht ein ganz Großer,
So weiß man unten kaum, daß er da ist.
Die nächste Stufe
Wird geliebt und gelobt.
Die nächste Stufe
Wird gefürchtet:
Die nächste Stufe
Wird verlacht.“
Aber diese Regierungsgrundsätze allein würden die Bedeutung des Lautse noch nicht erklären. Er ging tiefer und grub nach dem Sinn des Lebens. Man spricht gewöhnlich von zwei Grundideen, die in seinem Werkchen behandelt werden: Tao und Te. Die beiden Worte sind nicht leicht zu übersetzen, und es scheint zudem ein gewisser Ehrgeiz unter den Übersetzern zu bestehen, ja nicht den Spuren eines Vorgängers zu folgen, was um so nötiger ist, da die überwiegende Mehrzahl dieser Übersetzungen nicht aus dem Chinesischen stammt, sondern nur Umdichtungen englischer oder – deutscher Übersetzungen sind. Tao heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung: Weg, Lauf. Daraus ergibt sich, auf das kosmische Geschehen übertragen, die Bedeutung der gesetzmäßigen Richtung des Geschehens. Diese Richtung des Geschehens wird aufgefaßt als eine sinnvolle. So kommt die Bedeutung der des griechischen λóγοϛnahe. Außerdem kann das Wort verbale Bedeutung haben und bedeutet dann „führen“, „leiten“, „reden“. Im Anschluß an die Bibelübersetzungsszene in Faust habe ich daher die Übersetzung „Sinn“ vorgeschlagen, da die Bedeutung des Wortes „Sinn“ auch die Richtung enthält (man spricht z. B. von „rechtssinniger“ oder „linkssinniger“ Bewegung). Um anzudeuten, daß diese Übersetzung wie alle anderen eine Notauskunft ist, habe ich das Wort „SINN“ mit großen Buchstaben geschrieben. Die Eigenschaft, Notauskunft zu sein, teilt das deutsche Wort übrigens mit seinem chinesischen Urbild, von dem Lautse selbst sagt, daß eine adäquate Bezeichnung der von ihm erschauten Tatsache nicht möglich sei und daß er es nur „zur Not“ mit „Tao“ wiedergebe.
Das andere Wort Te spielt in Lautses Buch eine weit geringere Rolle. Die chinesische Definition lautet: „Was die Wesen bekommen müssen, um entstehen zu können, heißt ,Te‘.“ Ich habe das Wort daher mit „Leben“ übersetzt, was sich auch dadurch rechtfertigt, daß es überall in den Zusammenhang paßt. Die traditionelle Übersetzung mit dem an sich wundervollen Wort „Tugend“, das aber durch die lateinischen Stilübungen der Knabenschule gänzlich zu Tode gehetzt ist – es kann nur vom Dichter jeweils an seinem Platz zum Leben erweckt werden –, verbietet sich schon darum, weil das chinesische Wort Te moralisch gänzlich indifferent ist. Es kann ebensowohl minderwertiges, ja schlechtes Te geben, wie gutes.
In Lautses Gedanken ist das „Leben“ einfach der im Einzelwesen sich auswirkende SINN. Je weniger das Leben sich selber sucht, desto höher ist es, und desto reiner ist die Offenbarung des SINNES in ihm. „Das höchste Leben sucht nicht sein Leben, darum hat es Leben.“
Was ist nun aber der „SINN“?
Die alte chinesische Volksanschauung war von der Überzeugung ausgegangen, daß Himmel und Erde, das Unsichtbare und das Sichtbare, bewußte Wesen seien: der Vater und die Mutter alles Bestehenden. Dabei hatte der Himmel als Herr noch eine besonders bevorzugte Stellung. Der Himmel gebietet z. B. im Buch der Lieder dem König Wen etwas. Er spricht zu ihm:
„Der Himmel schaut herab auf die Menschen hier unten.“
Er ist gnädig oder zornig.
„Ehret den Zorn des Himmels!
Wagt nicht zu spotten und lachen!
Ehret die Gnade des Himmels!
Wagt nicht zu rennen und laufen!“
Er schickt Freude und Leid den Menschen zu.
„Der Himmel schickt Trauer und Wirren,
Hungersnot und dürre Zeit.“
Hier setzt nun Lautse mit seiner Kritik ein. Das Naturgeschehen ist für ihn nichts Bewußt-Absichtliches. Es vollzieht sich spontan, ohne Rücksicht auf Menschenwohl und Menschenwürde. Unfühlend ist die Natur.
„Nicht Liebe nach Menschenart kennt Himmel und Erde.
Ihnen sind alle Wesen nur Heuhunde.“
Bei Dschuangdsї haben wir eine Erklärung der seltsamen zweiten Zeile. Bei Opfern nämlich wurden Figuren aus Heu geformt und aufgestellt. Solange sie beim Opfer ihre Dienste taten, wurden sie geschmückt und geehrt, war ihre Arbeit getan, so konnten sie gehen, sie wurden weggeworfen und lagen auf der Straße umher und wurden von den Vorübergehenden zertreten. So ist für Lautse in der Natur der Einzelne nichts, alle Bedeutung gewinnt er nur durch die Rolle, die er in ihr zu spielen hat. Ist seine Zeit gekommen, so pulsiert der große Lebensstrom in ihm. Herrlich blüht er auf, verklärt von den Kräften der Welt. Ist seine Zeit vorbei, verschwindet er und wird unbeachtet vernichtet von den auflösenden Kräften des Todes.
Wenn aber so für Lautse jeder Anthropomorphismus in der Natur rettungslos dahinfällt, so ist er darum nun doch nicht hoffnungslos atheistisch. Durch Innenschau hat er etwas entdeckt, etwas Unsagbares, Unräumliches, ein Nichts. Und auf diesem Nichts beruht die ganze massive Wirklichkeit. Dieses „Nichts“ ist noch jenseits von Himmel und Erde. Es ist ewig und schlechthin wirkend. Weil es nichts Einzelnes ist, ist es unbehindert von allem Einzelnen. Über, dieses „Nichts“ sagt Lautse folgendes:
„Es gibt etwas, das ist unterschiedslos vollendet,
Es geht der Entstehung von Himmel und Erde voran.
Wie still! Wie leer!
Selbständig und unverändert,
Im Kreise wandelnd ungehindert.
Man kann es für die Mutter der Welt halten.
Ich weiß nicht seinen Namen.
Ich bezeichne es als SINN,
Notdürftig nenn ich es: das Große.“