Christentum für alle - Joachim Otto Mahrer - E-Book

Christentum für alle E-Book

Joachim Otto Mahrer

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Beschreibung

Viele Kirchen abseits der Touristenströme bleiben heute leer. Joachim Otto Mahrer analysiert die Gründe dafür und entwirft ein Gegenkonzept, das das religiöse Christentum stärkt und dem säkularen handfeste Rahmenbedingungen bietet. Das Christentum wird aus dem engen Bekenntniskorsett der Kirchen gelöst und allen Menschen zugänglich gemacht, auch den nichtreligiösen. Ein offener, aber nicht freier Zugang kann zu einem Revival des Christentums führen. Neben Werten und Verhaltensmaßstäben sind es auch wirtschaftliche Überlegungen, die angestellt und nachvollziehbar dargestellt werden. Mahrer macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der derzeitigen Kirchensituation und zeigt auf, wie präsent das säkulare Christentum tatsächlich bereits ist.

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Seitenzahl: 106

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

I Einleitung

1 Christ sein oder nicht, das ist hier die Frage

2 Einmal Christ, immer Christ

3 Mit 70 nach der Wahrheit suchen

II Christentum für alle

1 Konfessionelles Christentum

2 Säkulares Christentum

2.1 Bedingungen

2.1.1 Legitimität

2.1.2 Öffentliche Anerkennung

2.1.3 Redlichkeit

2.1.4 Moral

2.1.5 Freiwilligenarbeit

2.1.6 Organisation

2.2 Erwerb der Mitgliedschaft

2.3 Vorteile

3 Die Zeit drängt

III Neue Kirchenstruktur

1 Heutige Struktur

2 Vorgaben

2.1 Vision

2.2 Grundaufgaben

2.3 Trennung vom Staat

2.4 Neue Struktur

3 Planrechnung

3.1 Einnahmen

3.2 Ausgaben

4 Realitätscheck

Literatur

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-21-0

ISBN e-book: 978-3-903271-22-7

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

I Einleitung

1 Christ sein oder nicht, das ist hier die Frage1

1 In Anlehnung an Shakespeare, William: Hamlet, Akt III, Szene 1: „Hamlet. To be, or not to be: that is the question.“, in: Shakespeare’s Hamlet, Edited by Sidney Lamb, Forster City 2000, 103

Die Frage nach dem Christsein ist nicht neu. Die wohl berühmteste Antwort darauf finden wir bei Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in der Tragödie „Faust“. Margarete, genannt Gretchen, will es von Doktor Heinrich Faust genau wissen: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust weicht der Frage aus. Für Gretchen ist damit klar: „Denn du hast kein Christentum.“2

2 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Teil 1: Eine Tragödie/Nach der Originalhandschrift von Johann Holtz, Zollikon b. Zürich 1929 (Graphische Kunstanstalt P. Bender), Exemplar der Schweizerischen Nationalbiblilothek Bern, keine Seitenzahlen

Hat Gretchen recht? Wer nicht religiös ist, hat kein Christentum, ist kein Christ, obwohl er möglicherweise ein herzlich guter Mensch ist? Gretchen würde auch mich als Nichtchristen bezeichnen. Ich bin nicht religiös und gehöre keiner Kirche an. Aber wen interessiert schon Gretchens Meinung? Mich kümmerte sie jedenfalls nicht, bis meine Mutter im Sterbebett lag und in letzter Minute eine überraschende Kehrtwende machte. Und plötzlich ließ mich die Frage nach dem Christsein nicht mehr los. Die christlichen Kirchen sind sich mit Gretchen einig und beantworten die Frage nach dem Christsein schnell und selbstbewusst: Christ ist, wer sich zu Jesus Christus bekennt. Der Begriff „Christentum“ ist ein Bekenntnisbegriff. Die Begründung der Kirchen: Christentum kommt von Jesus Christus und von nirgendwo sonst. Jesus Christus und Christentum bilden eine Einheit, die untrennbar ist. Der bekannte Theologe Hans Küng (geb. 1928) bringt es auf den Punkt: „Das unterscheidend Christliche ist der Christus Jesus selbst.“3

3 Küng, Hans: 20 Thesen zum Christsein, München 1975, 5

So weit so gut! Die kirchliche Doktrin ist einleuchtend und verständlich, aber sie schafft Probleme, welche das gesamte Christentum in seiner Existenz bedrohen.

Das erste Problem: Nichtreligiöse Kirchenmitglieder sind keine Christen

Die Zahl ist gewaltig: Die Hälfte aller Mitglieder der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-reformierten Landeskirche in der Schweiz glaubt heute gar nicht mehr an einen Gott. Jedes zweite Kirchenmitglied, und ich wiederhole, jedes zweite Kirchenmitglied ist der kirchlichen Doktrin folgend kein echter Christ mehr. Jetzt aber einmal Hand aufs Herz! Welchem Kirchenmitglied käme es je in den Sinn, sein eigenes Christsein in Frage zu stellen? Vermutlich keinem einzigen. Auch nichtreligiöse Kirchenmitglieder bezahlen Kirchensteuern in der festen Gewissheit, echte Christen zu sein. Die Gewissheit ist aber, wie wir sehen, eine falsche. Und was machen die Kirchen? Nicht das, was sie tun sollten. Sie müssten den nichtreligiösen Mitgliedern die Augen öffnen und die Wahrheit sagen. Tatsache ist: Die Kirchen haben Angst, noch mehr Mitglieder zu verlieren, schweigen das Problem lieber tot und halten die Steuerhand weiter offen.

Das zweite Problem: Konfessionslose können keine Christen mehr sein

Viele Kirchenmitglieder stehen zu ihrer Nichtreligiosität und verlassen die Kirche. Sie wollen aber auch als Konfessionslose weiterhin Christinnen und Christen sein. Ihr Verständnis von Christsein ist ein ganz anderes als dasjenige der Kirchen: Nicht Jesus Christus ist das unterscheidend Christliche, sondern die vorbildliche Lebensführung in der säkularen Gesellschaft nach einem christlichen Menschenbild mit Werten wie Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Begriff „Christentum“ ist in den Augen der Konfessionslosen nicht mehr nur ein Bekenntnisbegriff, sondern auch ein Kulturbegriff. Die Konfessionslosen stellen sich auf den Standpunkt, dass die Einheit von Christentum und Jesus Christus im 20. Jahrhundert auseinandergebrochen ist. Aber so sicher sind sich die Konfessionslosen halt auch nicht. Die Frage der Legitimität sitzt ihnen tief im Nacken, ein ganzes Bündel voller Widersprüche:

» Christliche Kirchen, die ihre eigene Doktrin nicht ernst nehmen,» Mitglieder einer Kirche, die sich ungeniert als Christen bezeichnen, obwohl sie nicht religiös sind und» Konfessionslose, die Christen sein wollen, aber nicht wissen, ob sie das überhaupt sein dürfen.

Die Kirchen haben kein Interesse daran, die Widersprüche aufzudecken und einen Brandbeschleuniger in Gang zu setzen. Sie schließen zwar die Konfessionslosen vom Christentum aus, nicht aber ihre eigenen Mitglieder. Sie nehmen damit in Kauf, dass der Begriff „Christentum“ immer schwammiger und löchriger wird. Wer weiß heute noch, was Christentum genau bedeutet? Ein Bekenntnisbegriff steht in Feindschaft mit einem Kulturbegriff. Ich mache mich nach dem Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Bern im Herbst 2017 selbst auf den Weg, eine Antwort zu finden. Schnell wird mir einmal klar, dass es nur zwei Lösungswege geben kann, die konsequente Durchsetzung der kirchlichen Doktrin oder einen offenen Zugang zum Christentum für alle Menschen, auch für die nichtreligiösen.

Der erste Lösungsweg: Die kirchliche Doktrin wird konsequent umgesetzt

Die kirchliche Doktrin macht den strikten Ausschluss der nichtreligiösen Mitglieder vom Christentum notwendig, auch der Kirchenmitglieder, mit fatalen Folgen. Die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften ist nicht mehr aufzuhalten. Immer weniger Leute sind religiös. Mit jedem Menschen, der aufhört zu glauben, verliert das Christentum eine Christin oder einen Christen. Der zunehmende Verlust an Christen führt zwangsläufig zu einem Aussterben des Christentums. Das Christentum darf aber nicht aussterben, vor allem nicht als eine kulturell fest verankerte Lebensform. Die strikte Umsetzung der kirchlichen Doktrin ist der Weg in die Sackgasse.

Der zweite Lösungsweg: Das Christentum wird allen Menschen geöffnet, auch den nichtreligiösen

Ich kann das Thema „Christentum“ drehen und wenden, wie ich will: Die Öffnung des Christentums für alle Menschen, auch für die nichtreligiösen, ist der einzig gangbare Weg, um den Niedergang des Christentums zu stoppen und zugleich die Bedürfnisse aller an ihm interessierten Menschen zu erfüllen. Ich postuliere deshalb einen offenen Zugang zum Christentum. Jedermann soll Christin oder Christ werden können. Das hört sich vorerst einmal sehr schön an, aber ein offenes Christentum zu fordern, ist das eine, das Postulat praktisch umzusetzen, das andere, und das wird nicht einfach sein. Schnell türmen sich ein paar gewaltige Felsbrocken auf, zum Beispiel folgende Fragen:

» Wie kann das Christentum neu gestaltet werden, damit religiöse und nichtreligiöse Menschen diesem beitreten können? Braucht es eine Aufteilung in einen konfessionellen und einen säkularen Teil?» Sind die christlichen Kirchen mit einer Aufnahme der nichtreligiösen Menschen in das Christentum überhaupt einverstanden? Haben die Kirchen einen Trumpf in der Hand, um die Aufnahme zu verhindern?» Ist der offene Zugang zum Christentum auch ein freier? Ist das Christsein in Zukunft ein Freipass für eine selbstbestimmte und moralisch fragwürdige Lebensführung oder die verbindliche und verantwortungsvolle Teilnahme an der christlichen Gemeinschaft mit roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen?

Falls es uns gelingt, Antworten auf diese Fragen zu finden, steht der Gestaltung eines neuen und attraktiven Christentums nichts mehr im Wege. Dabei wird es zu einem großartigen Revival des Christentums kommen. Mit dem Einzug der nichtreligiösen Menschen finden endlich die liberalen Vorstellungen von Aufklärung und Französischer Revolution ihren festen Platz im Christentum. Und in der Schweiz sind plötzlich 90 % der Bevölkerung authentische Christinnen und Christen.4

4 Siehe Kapitel II/2.1.2

Auch die Kirchen erleben eine Renaissance.Die nichtreligiösen Mitglieder verlassen zwar die Kirchen, weil sie jetzt Christ sein können, ohne Kirchensteuern bezahlen zu müssen, sie reißen allerdings mit ihrem Weggang ein tiefes Loch in die kirchlichen Kassen. Das ist für die Kirchen aber keine Katastrophe, im Gegenteil: Mit dem Weggang der nichtreligiösen Mitglieder können sie sich endlich von allen Widersprüchen und überflüssigen Strukturen befreien und sich ganz auf die Bedürfnisse der religiösen Menschen konzentrieren. Meine Vision ist eine schlanke Kirche, welche ausschließlich der Verkündigung des Evangeliums dient. Der Isenheimer Altar in Colmar mit seinen großartigen Gemälden aus dem 16. Jahrhundert ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie man die Botschaft von Jesus Christus ohne komplizierte theologische Konstrukte einfach und verständlich vermitteln kann. Mit dem Isenheimer Altar im Auge werde ich aufzeigen, wie eine neue, auch betriebswirtschaftlich gesicherte Kirchenstruktur gelingen kann.

Der Fokus meiner Arbeit liegt auf dem Christentum in der Schweiz und den beiden großen christlichen Kirchen, der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-reformierten Landeskirche. Ich bin Schweizer, hier lebe ich, hier kenne ich die gesellschaftlichen Verhältnisse.

2 Einmal Christ, immer Christ

Meine Mutter liegt mit 94 Jahren im Sterben, aber sie kann offensichtlich nicht loslassen. Die Krankenpflegerin meint, sie habe noch „offene Rechnungen“ aus dem Leben. Dann der erlösende Anruf. Die Mutter sei jetzt friedlich gestorben, allerdings erst, nachdem sie den Pfarrer gerufen und die Krankensalbung von ihm erhalten habe. Der Schock in der Familie sitzt tief. Die Mutter verlässt in jungen Jahren die römisch-katholische Kirche, Kirchen und Pfaffen sind ihr ein Gräuel. Und nun das! Die Familie kann es nicht fassen, ist ratlos und überfordert. Was mögen die Motive gewesen sein? Hat etwa die Hoffnung auf ein ewiges Leben über die Vernunft gesiegt? Wir werden es nie erfahren. Ich will trotzdem versuchen, eine Antwort zu finden. Zwei Motive sind möglich: Ein religiöses oder Schuldgefühle.

Das erste Motiv: Die Mutter tritt formell aus der Kirche aus, ist aber immer noch religiös. Sie war eine pragmatische, rational denkende und handelnde Person. Wissen und Vernunft lagen ihr näher als religiöse Offenbarungen. Ich habe sie nie beten sehen, auch dann nicht, als ihre Eltern gestorben sind. Ich behaupte, dass die Mutter nicht religiös war. Das religiöse Motiv trifft aus meiner Sicht nicht zu.

Das zweite Motiv: Die Mutter ruft den Pfarrer, weil sie als Christin sterben wollte. Die Mutter wächst in engen, bürgerlichen Verhältnissen auf. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, der Zweite steht vor der Tür. Die Grenzen werden geschlossen. Es wird still in der Schweiz. Die kirchlichen Autoritäten greifen immer noch rigoros in das Leben der Menschen ein. Wer die Kirche verlässt, wird gesellschaftlich ausgegrenzt. Er verliert den Status „Christ“ und wird zum Feind Gottes und damit auch der Menschen. Hier das Gute, dort das Böse. Die kirchliche Strategie ist ein voller Erfolg. Die Leute wollen nicht ausgegrenzt werden und gehören deshalb einer Kirche an.

Das zweite Motiv scheint mir zuzutreffen. Die Mutter hat unter Schuldgefühlen gelitten, weil sie keine Christin mehr sein konnte. Sie wollte die Schuldgefühle zum Lebensende hin loswerden und als Christin sterben, nicht als Atheistin, Anti-Christin, Nihilistin oder gesellschaftliche Außenseiterin. Sie wollte sich mit der Kirche versöhnen und in Frieden sterben. Es ist das Geschäft der Kirchen mit den Schuldgefühlen, es ist heute aber schwierig geworden. Die Person „Jesus Christus“ wird den modernen Menschen, vor allem den jungen, immer fremder und exotischer. Immer mehr Leute verlieren die Religiosität und verlassen die Kirchen. Die Leute wollen aber weiterhin Christinnen und Christen sein. Christsein ist kein Kleid, das man beliebig an- und ausziehen kann. Christsein bedeutet Heimat, Sicherheit, eine gute Lebensform und Identität. Einmal Christ, immer Christ.

3 Mit 70 nach der Wahrheit suchen

Weshalb schreibe ich dieses Buch über das Christentum? Der überraschende Entscheid der Mutter kurz vor dem Tod, die Dienste der Kirche wieder in Anspruch zu nehmen, ist sicher einer der Beweggründe. Zudem missfällt mir, dass sich nichtreligiöse Kirchenmitglieder Christen nennen können, Konfessionslose hingegen nicht. Das Alter spielt auch eine Rolle. Mit 70 Jahren kommen plötzlich Fragen zur Religion auf. Ich bin nicht religiös. Fragen über ein Leben nach dem Tod interessieren mich nicht, andere schon, zum Beispiel solche: