Cinderella ist tot - Kalynn Bayron - E-Book
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Cinderella ist tot E-Book

Kalynn Bayron

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Beschreibung

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Sophia lebt in Cinderellas Königreich, zweihundert Jahre nach jener Ballnacht, in der Cinderella ihren Traumprinzen fand. Doch Cinderellas Geschichte dient inzwischen nur noch dazu, die Frauen zu unterdrücken und sie möglichst schnell bei einem großen Festakt im Schloss unter die Haube zu bringen. Wer sich diesem Ritual verweigert, wird getötet, und wer am Ende der Ballnacht noch keinen Mann hat, wird ausgestoßen und verfolgt. Doch Sophia will keinen Mann. Sie flüchtet in den verwunschenen Wald – und trifft dort Constance, die ihr zeigt, dass sie die Kraft hat, ihr Schicksal und ihre Welt für immer zu verändern …

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Seitenzahl: 441

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Das Buch

Zweihundert Jahre nach jener Ballnacht, in der Cinderella ihren Traumprinzen gefunden hat, ist das Märchen vorbei: Ihre Geschichte wird dazu benutzt, junge Frauen dazu zu zwingen, sich den Männern unterzuordnen. Jedes Jahr findet der große Ball statt, zu dem alle noch unverheirateten Mädchen drei Mal eingeladen werden. Wer beim dritten Mal noch nicht von einem Mann erwählt wurde, wird ausgestoßen. Es ist Sophias dritter Ball und damit ihre letzte Chance. Doch sie würde viel lieber ihre beste Freundin Erin heiraten, anstatt wie bei einer Viehauktion verhökert zu werden. In ihrer Verzweiflung beschließt sie, in den verwunschenen Wald zu fliehen. Dort steht Cinderellas Mausoleum – und dort trifft Sophia auf Constance, Cinderellas Erbin. Gemeinsam wollen sie die Wahrheit über Cinderella herausfinden – und das System damit zu Fall bringen …

Die Autorin

Kalynn Bayron ist ausgebildete Sängerin, und wenn sie nicht gerade schreibt, hört sie sich die Songs von Ella Fitzgerald an, geht ins Theater, schaut gruselige Filme und verbringt Zeit mit ihren Kindern. Sie lebt derzeit mit ihrer Familie in San Antonio, Texas.

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Antonia Zauner

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

CINDERELLA IS DEAD

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 06/2022

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2020 by Kalynn Bayron

Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Illustration by Fernanda Suarez, design by Jet Purdie

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-28762-7V001

Für Amya, Nylah, Elijah und Lyla

»Das Herz des Prinzen stand in Flammen, und weil Cinderella ihre Pflicht der Krone gegenüber gehorsam und gewissenhaft erfüllt hatte, wurde sie die Auserwählte, die Favoritin.«

Cinderella

Durch den Palast autorisierter Text

1

Cinderella ist seit zweihundert Jahren tot.

Ich bin seit beinahe drei Jahren in Erin verliebt.

Und mich trennen noch etwa zwei Minuten von meinem sicheren Tod.

Wenn die Palastwachen mich finden, und das werden sie, dann sterbe ich in den Wäldern an der Ostgrenze von Lille. Aber das kümmert mich nicht. Meine Gedanken gelten allein Erin, die sich mir gegenüber an einen Baum presst. Noch sehen die Palastwachen sie nicht, aber sie sind in ihre Richtung unterwegs. Ein paar Meter von ihrem Versteck entfernt bleiben sie stehen. In den Schatten der Wälder werden Erins Augen groß. Ich begegne ihrem Blick über die breite Schneise der Straße zwischen uns hinweg.

Beweg dich nicht, Erin. Mach keinen Mucks.

»Letzte Nacht bin ich im Turm eingeschlafen«, sagt einer von ihnen. »Jemand hat mich aufgeweckt, aber trotzdem: Ich hatte Glück. Hätte der König davon erfahren, hätte mich das den Kopf gekostet.«

»Gehst du zum Ball?«, fragt ein Mann.

»Nein«, sagt ein anderer. »Für mich gibt es leider nur Arbeit und kein Vergnügen.«

»Ein Jammer. Ich habe gehört, die Mädchen dieses Jahr sollen die Schönsten seit einer Generation sein.«

»Also hat deine Frau demnächst einen tragischen Unfall? Wäre doch eine Schande, wenn sich die oberste Stufe eurer Kellertreppe plötzlich lösen würde.«

Sie lachen tief und voll, zischend und spuckend, und es klingt, als könnten sie sich gar nicht mehr halten. Ihre Stimmen entfernen sich von uns, bis ich sie nicht mehr hören kann. Ich richte mich auf und renne zu Erin, die immer noch hinter dem Baum kauert.

»Sie sind weg«, sage ich. Ich nehme ihre Hand und versuche sie zu beruhigen.

Sie späht um den Baum herum, das Gesicht angespannt vor Zorn, und reißt sich von mir los. »Von all den unmöglichen Dingen, zu denen du mich je überredet hast, ist heute hier herzukommen wohl das Schlimmste. Beinahe hätten die Wachen uns entdeckt.«

»Aber das haben sie nicht«, erinnere ich sie.

»Du hast gesagt, ich soll dich hier treffen«, sagt sie, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. »Warum? Was ist so wichtig?«

Ich habe mir sorgfältig zurechtgelegt, was ich ihr sagen möchte, bin es wieder und wieder im Kopf durchgegangen, aber als ich vor ihr stehe, weiß ich nicht, was ich tun soll. Sie ist wütend auf mich. Das wollte ich nicht. »Du bist mir wichtiger als alles auf der Welt. Ich will, dass du glücklich bist. Ich will, dass wir glücklich sind.«

Während ich stammle, sieht sie mich schweigend an, die Hände an ihren Seiten zu Fäusten geballt.

»Die meiste Zeit ist alles hoffnungslos, aber wenn ich mit dir zusammen bin …«

»Stopp«, sagt sie, das Gesicht wutverzerrt. »Deshalb hast du mich herkommen lassen? Um mir dasselbe zu sagen, was du mir seit einer Ewigkeit sagst?«

»Es ist nicht dasselbe. Es ist nicht mehr lang bis zum Ball. Möglicherweise ist dies unsere letzte Gelegenheit zu verschwinden.«

Erins Brauen schießen überrascht in die Höhe. »Verschwinden?« Sie kommt näher und starrt mir direkt in die Augen. »Es gibt kein Verschwinden, Sophia. Nicht für dich, nicht für mich, für niemanden. Wir gehen zum Ball, weil es das Gesetz so vorschreibt. Er ist unsere einzige Hoffnung auf so etwas wie ein Leben.«

»Getrennt voneinander«, sage ich. Und der Gedanke schmerzt in meiner Brust.

Erin richtet sich auf, blickt jedoch zu Boden. »Es gibt keine Alternative.«

Ich schüttle den Kopf. »Das meinst du nicht ernst. Wenn wir fliehen, wenn wir versuchen …«

Gelächter in der Ferne unterbricht mein Flehen. Die Wachen kommen zurück. Erin duckt sich hinter den Baum, und ich tauche ins Unterholz.

»Wer im Palast arbeiten will, muss wissen, wie man Ja sagt und den Mund hält«, sagt eine der Wachen und bleibt direkt vor meinem Versteck stehen. »Wenn du es nicht über dich bringst, die Dinge zu tun, die er bisweilen verlangt, dann bleibst du besser hier draußen bei uns.«

»Vermutlich hast du recht«, sagt ein anderer Mann.

Durch die Zweige sehe ich den Baum, hinter dem Erin sich verbirgt. Der Saum ihres Kleides hat sich an einem schartigen Stück Borke verfangen und lugt hervor. Die Wache blickt in ihre Richtung.

»Was ist das?«, fragt er. Er macht einen Schritt in ihre Richtung, die Hand auf dem Heft seiner Waffe.

Ich trete gegen das Gebüsch. Das ganze Ding erbebt und eine Kaskade rostroten Laubs regnet auf mich herunter.

»Was war das?«, fragt einer der Männer.

Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf mich. Ich kneife die Augen zu. Ich bin tot.

Ich denke an Erin. Ich hoffe, sie flieht. Ich hoffe, sie schafft es zurück. Das ist alles meine Schuld. Ich wollte sie nur noch einmal sehen, ein letztes Mal versuchen, sie davon zu überzeugen, dass wir Lille ein für alle Mal verlassen sollten. Jetzt sehe ich sie nie wieder.

Ich werfe einen Blick zum Waldrand hinüber. Ich könnte hinrennen und die Aufmerksamkeit der Wachen von ihr ablenken. Möglicherweise kann ich sie im Wald abschütteln, aber selbst wenn nicht, kann wenigstens Erin entkommen. Mein Körper spannt sich an, und ich ziehe den Rock zwischen meinen Beinen hindurch, stecke ihn in meinen Bund und gleite aus den Schuhen.

»Irgendwas ist da drin«, sagt der Wachmann, der jetzt nur noch eine Armlänge von mir entfernt ist.

Die Wachen kommen näher, so nahe, dass ich sie atmen höre. Ich spähe an ihnen vorbei. Zwischen den Bäumen blitzt etwas himmelblau auf. Erin hat die Flucht ergriffen. Ein Klirren zerschneidet die Luft, Metall auf Metall – ein Schwert, das aus der Scheide gezogen wird. Über das Rauschen von Blut in meinen Ohren und das Hämmern meines eigenen Herzens höre ich ein Horn drei schmetternde Töne ausstoßen.

»Es gab einen Fluchtversuch«, sagt eine raue Stimme.

Ich erstarre. Wenn ich so tief im Wald erwischt werde, statuieren die Wachen an mir ein Exempel. Ich sehe mich selbst, wie ich in Ketten durch die Stadt geführt, vielleicht sogar in einen Käfig im Zentrum von Lille gesteckt werde, wo man häufig Menschen öffentlich demütigt, als Buße für ihr Abweichen vom vorgegebenen Pfad.

Die Stimmen und Schritte der Männer entfernen sich wieder von mir.

Ich bin nicht die Entflohene, von der sie sprechen. Meine Flucht hat noch gar nicht begonnen. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Ich hoffe, dass sie Erin nicht schnell genug folgen können.

Die Stimmen der Wachen entfernen sich, und als sie weit genug weg sind, klemme ich mir die Schuhe unter den Arm und renne in die schützenden Schatten des Waldes. Ich kauere mich hinter einen Baum und spähe um den Stamm herum, während sich in der Ferne weitere Wachen sammeln. Sie haben eine ältere Frau bei sich, der bereits die Hände gefesselt wurden. Erleichtert stoße ich ein Seufzen aus, und augenblicklich verspüre ich brennende Gewissensbisse. Das Schicksal dieser Frau befindet sich nun in den Händen der Männer des Königs.

Ich drehe mich um und mache mich aus dem Staub. Meine Beine arbeiten, und meine Lunge brennt, und ich glaube das Schnappen und Knurren von Hunden zu hören, aber ich wage nicht, mich umzudrehen. Ich stolpere und schlage mir das Knie an einem Stein auf. Ein heftiger Schmerz durchfährt mich, aber ich rapple mich auf und renne immer weiter, bis der Wald lichter wird.

Als ich auf dem Weg bin, der direkt ins Herz der Stadt führt, bleibe ich kurz stehen, um zu Atem zu kommen. Erin ist nirgendwo zu sehen. Sie ist in Sicherheit.

Aber das hier ist Lille.

Niemand ist hier je in Sicherheit.

2

Auf dem Heimweg kann ich an nichts anderes als an Erin denken. Der Wald ist tief und gefährlich und, noch wichtiger, verboten. Ich weiß, dass sie sich nicht weiter verstecken wird. Sie wird nach Hause gehen, aber ich muss mich vergewissern, dass sie in Sicherheit ist.

Der Glockenturm auf dem Stadtplatz verkündet mit seinem Läuten die Uhrzeit. Fünf dröhnende Schläge. Eigentlich sollte ich mich mit meiner Mutter bei der Schneiderin zur Anprobe treffen, und sie hat mich extra angewiesen, gebadet, mit gewaschenem Haar und sauberem Gesicht zu kommen. Ich sehe an mir hinunter. Mein Kleid ist mit Dreck und Blut beschmiert, und meine nackten Füße sind schlammverkrustet. Ich bin den Männern des Königs entkommen, aber wenn meine Mutter mich so sieht, bringt sie mich vermutlich eigenhändig um. Wachen patrouillieren in den Straßen. Es sind viel mehr als sonst, jetzt, so kurz vor dem Ball. Ich gehe mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. Sie interessieren sich nicht besonders für mich. Sie sind in höchster Alarmbereitschaft wegen etwas, das die Menschen in Lille den Vorfall nennen.

Es passierte vor zwei Wochen in Chione, einer Stadt im Norden. Es gab Gerüchte, dass eine Explosion den Koloss, ein sechs Meter hohes Abbild des Erlösers von Mersailles, dem Prinzen, beschädigt habe und dass man die Verantwortlichen im Schutz der Nacht auf einem Boot nach Lille gebracht hat, damit der König persönlich sie verhören konnte. Was auch immer passiert ist, die Einzelheiten, die er aus ihnen herauspressen konnte, haben ihn völlig in Panik versetzt. In der ersten Woche nach dem Vorfall ließ er die Auslieferung von Post stoppen, unsere Sperrstunde wurde um zwei Stunden vorverlegt und Flugschriften verteilt, die uns versicherten, dass es sich bei dem Vorfall um nichts als den Versuch einer bösartigen Bande Plünderer handelte, die berühmte Statue zu beschädigen. Außerdem hieß es, dass die Täter hingerichtet wurden.

Als ich nach Hause komme, ist das Haus leer und still. Mein Vater ist noch in der Arbeit, und meine Mutter wartet bei der Schneiderin auf mich. Einen Moment stehe ich in der Mitte des Raums und blicke hinauf zu den Bilderrahmen, die über der Tür hängen.

In einem davon befindet sich ein Porträt König Stephans, hager und ergraut; es zeigt ihn so, wie er kurz vor seinem Tod vor einigen Jahren war. In einem weiteren ist König Manford zu sehen, der aktuelle König von Mersailles, der keine Zeit verloren hat, sein eigenes königliches Porträt herauszugeben und zu verlangen, dass es in jedem Haus und an jedem öffentlichen Ort der Stadt aufgehängt werden solle. Unser neuer König ist jung, nur ein paar Jahre älter als ich, aber sein Hang zur Grausamkeit und seine Gier nach absoluter Kontrolle können es problemlos mit denen seines Vorgängers aufnehmen, wie das dritte Bild über der Tür eindrucksvoll beweist. Darauf geschrieben stehen die Dekrete Lilles.

1.Jeder Haushalt hat über mindestens ein makelloses Exemplar einer Ausgabe von Cinderella zu verfügen.

2.Der Besuch des jährlichen Balls ist verpflichtend. Es ist erlaubt, ihm bis zu drei Mal beizuwohnen, danach haben die Besucherinnen ihre Rechte verwirkt und gelten als aufgegeben.

3.Jeder, der sich auf eine ungesetzliche, unerlaubte Verbindung einlässt, hat seine Rechte verwirkt und gilt als aufgegeben.

4.Die Mitglieder jedes Haushalts in Mersailles sind verpflichtet, ein volljähriges männliches Mitglied des Hauses zu ihrem Oberhaupt zu ernennen und seinen Namen im Palast registrieren zu lassen. Jede Aktivität der Mitglieder eines Haushalts muss von ihrem Oberhaupt abgesegnet werden.

5.Zu ihrem Schutz müssen Frauen und Kinder sich abends ab dem achten Schlag der Uhr an ihrem festen Wohnsitz aufhalten.

6.Eine Kopie der geltenden Gesetze und Erlasse sowie ein genehmigtes Porträt seiner Majestät müssen in jedem Haushalt zu jeder Zeit offen ausgestellt sein.

Das sind die strengen und unverrückbaren Regeln, die unser König erlassen hat, und ich kenne sie auswendig.

Ich gehe in mein Zimmer und entfache ein Feuer in dem kleinen Kamin in der Ecke. Kurz überlege ich, ob ich bleiben soll, bis meine Mutter kommt, um nach mir zu sehen, aber ich befürchte, sie sorgt sich schon jetzt, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte. Ich bin nicht, wo ich sein sollte. Ich verbinde mir das Knie mit einem sauberen Stoffstreifen und reinige mir das Gesicht in der Waschschüssel.

Meine Ausgabe der Geschichte von Cinderella, ein wunderschön illustrierter Band, den meine Großmutter mir geschenkt hat, liegt auf einem kleinen Holzpodest in der Ecke. Meine Mutter hat sie auf der Seite aufgeschlagen, auf der Cinderella sich auf den Ball vorbereitet und ihre Patin, die gute Fee, sie mit allem versorgt, was sie sich nur wünschen kann. Das traumhaft schöne Kleid, die Pferde, die Kutsche und die berühmten Glasschuhe. Alle, die den Ball besuchen, werden diesen Teil der Geschichte noch einmal lesen, um sich daran zu erinnern, was von ihnen erwartet wird.

Als ich noch klein war, habe ich die Geschichte immer und immer wieder gelesen und darauf gehofft, dass eine gute Fee auch mir alles bringen würde, was ich brauche, wenn ich einmal an der Reihe bin, den Ball zu besuchen. Aber als ich älter wurde, hörte ich immer weniger Gerüchte über Menschen, die von einer guten Fee besucht wurden, und ich vermutete zunehmend, dass die Geschichte nicht mehr als das war: eine Geschichte. Einmal habe ich das meiner Mutter gegenüber erwähnt, und sie war völlig außer sich und sagte mir, dass ich jetzt, da ich solche Zweifel geäußert hätte, ganz sicher nicht besucht werden würde. Ich habe nie wieder davon gesprochen. Ich habe seit Jahren keinen Blick mehr in das Buch geworfen, habe es nicht laut gelesen, wie meine Eltern es wollten.

Aber ich kenne immer noch jede Zeile auswendig.

Auf dem Kaminsims lehnt ein elfenbeinfarbener Umschlag, mein Name steht in wogender schwarzer Schrift darauf. Ich hole ihn herunter und ziehe den gefalteten Umschlag heraus. Das Papier ist dick und in tiefstem Onyx gefärbt. Ich lese den Brief darin, wie ich es schon eine Million Mal getan habe, seit er am Morgen meines sechzehnten Geburtstags ankam.

Sophia Grimmins

König Manford bittet um die Ehre Eurer Anwesenheit auf dem jährlichen Ball.

*   *   *

In diesem Jahr begehen wir den zweihundertsten Jahrestag des ersten Balls, auf dem unsere geliebte Cinderella durch den Prinzen erwählt wurde. Euch erwartet ein prunkvolles Fest, aufgewertet durch Eure Anwesenheit.

*   *   *

Der Ball beginnt um genau acht Uhr am dritten Tag des Oktobers.

*   *   *

Die Auswahlzeremonie beginnt um Schlag Mitternacht.

*   *   *

Bitte kommt pünktlich.

Wir sehen Eurer Ankunft erwartungsvoll entgegen.

Hochachtungsvoll,Seine Königliche Hoheit König Manford

Auf den ersten Blick ist die Einladung wunderschön. Ich kenne Mädchen, die von dem Tag, an dem sie ihre Einladung erhalten, träumen und an kaum etwas anderes denken können. Doch ich drehe das Papier um und lese den Teil der Einladung, den so viele dieser erwartungsvollen jungen Frauen übersehen. Entlang des äußeren Randes zieht sich ein Muster, das mich an Efeu erinnert, der sich ein Gitter hinaufrankt, nur dass es Worte sind, die in weißer Schrift eine schreckliche Warnung verkünden.

Ihr seid verpflichtet, den jährlichen Ball zu besuchen. Sollte dieser Anordnung nicht nachgekommen werden, ist die Folge Gefängnis und die Beschlagnahmung aller Besitztümer Eurer nahen Familie.

Es ist der erste Oktober. In zwei Tagen entscheidet sich mein Schicksal. So schrecklich die Konsequenzen auch sein mögen, wenn ich nicht auserwählt werde – was mir droht, wenn ich es werde, ist möglicherweise schlimmer. Ich verdränge diese Gedanken und schiebe den Brief zurück in den Umschlag.

Ich verlasse das Haus und mache mich auf den Weg zur Schneiderin, wobei ich mich für den langen Weg entscheide, weil ich hoffe, zufällig Erin zu begegnen. Ich sorge mich zu Tode um sie, aber ich weiß, dass meine Mutter sich auch um mich sorgt.

Die Läden an der Market Street sind hell erleuchtet, und es wimmelt von Leuten, die noch allerletzte Vorbereitungen für den Ball treffen. Vor dem Laden des Perückenmachers hat sich eine Schlange gebildet. Ich spähe durch das Schaufenster. Dieses Jahr hat er sich wirklich selbst übertroffen. In seinen Regalen drängen sich kunstvoll frisierte Perücken. Sie erinnern mich an Hochzeitstorten, Schichten über Schichten kunstvollen Haars in allen Schattierungen, und die ganz oben im Regal sind verziert mit Dingen wie Vogelnestern mit Nachbildungen von Eiern darin.

Ein junges Mädchen sitzt im Stuhl des Perückenmachers, und er setzt ihr gerade ein Gebilde mit vier Schichten auf den Kopf. Es ist über und über mit frischen rosafarbenen Pfingstrosen verziert, und ganz oben sitzt ein kleines Modell von Aschenputtels verzauberter Kutsche. Sie schwankt gefährlich, während die Mutter des Mädchens freudig strahlt.

Ich eile weiter, bahne mir einen Weg durch die Menschenmassen und ducke mich dann in eine Seitengasse. In die Läden hier haben meine Familie und ich noch nie einen Fuß gesetzt. Sie sind für Leute, die genug Geld haben, um den absurdesten und unnötigsten Tand zu kaufen. Ich bin nicht wirklich in der Stimmung, mir trübe Gedanken über Dinge zu machen, die ich kaufen oder nicht kaufen kann, aber das hier ist der schnellste Weg zum Stadtplatz, wo ich einen Abstecher machen und nach Erin sehen kann, ehe ich mich mit meiner Mutter treffe.

Im von Kerzen erleuchteten Schaufenster eines Ladens ruhen Cinderellas Glasschuhe auf einem roten Samtkissen. Auf dem kleinen Kärtchen daneben steht: Durch den Palast genehmigte Nachbildung. Ich weiß, wenn mein Vater das Geld hätte, würde er sie augenblicklich für mich kaufen, in der Hoffnung, dass ich damit aus der Masse heraussteche. Aber wenn sie nicht gerade von der guten Fee persönlich verzaubert sind, sehe ich nicht, welchen Sinn sie haben sollten. Schuhe aus Glas sind eine Einladung für Unfälle.

Etwas weiter die Gasse hinunter entdecke ich eine weitere Schlange vor einem kleinen Laden mit geschlossenen Fensterläden. Auf dem Schild über der Tür steht: Helens Wunderwaren. Ein weiteres Schild listet die Namen von Tinkturen und Tränken, die Helen brauen kann: Finde einen Verehrer, Vertreibe einen Feind, Ewige Liebe. Großmutter hat mir gesagt, dass Helen nur eine Möchtegern-Gute-Fee ist und ihre Tränke vermutlich nichts als verwässerter Gerstenwein sind. Aber das hindert die Leute nicht daran, ihr Vertrauen zu schenken.

Als ich vorbeikomme, eilen gerade eine Frau und ihre Tochter – die etwa in meinem Alter zu sein scheint – aus dem Laden. Die Frau hält ein Glasfläschchen in Herzform in der Hand. Sie entfernt den Korken und drängt es dem Mädchen an die Lippen. Es trinkt die Phiole in einem langen Schluck aus und legt dabei den Kopf zurück und blickt hinauf zum Abendhimmel. Um dieses armen Mädchens willen hoffe ich, dass die Dinge, die meine Großmutter gesagt hat, nicht wahr sind.

3

Schnell biege ich um die Ecke und eile Richtung Stadtplatz. Die Feierlichkeiten zum zweihundertjährigen Jubiläum dauern bereits eine Woche an und werden mit dem jährlichen Ball ihren Höhepunkt erreichen. Bis dahin setzt sich das Fest jeden Abend fort. Vor der Sperrstunde drängen die Menschen auf den Platz, um Musik zu machen und zu trinken, so auch heute Abend. Ich schiebe mich durch die Menge, versuche, den Platz direkt zu überqueren, während Händler ihre Waren im Schatten des Glockenturms anpreisen, ein glänzendes weißes Gebäude mit vier Etagen und einer goldenen Kuppel ganz oben. Es gibt Schmuck und Kleider aus Chione im Norden und Satinhandschuhe, Schminke und Parfüm aus Kilspire im Süden.

Während ich mich im Zickzack zwischen den Buden hindurchschiebe und die Menge nach Erins Gesicht absuche, entdecke ich eine junge Frau, die auf einem erhöhten Podest steht. Sie liest Passagen aus Cinderella vor. Die vom Palast herausgegebene Ausgabe liegt auf einem Buchständer vor ihr.

»›Die hässlichen Stiefschwestern waren schon immer eifersüchtig auf Aschenputtel gewesen, aber als sie sahen, wie schön sie an diesem Abend war, erkannten sie, dass sie sich niemals mit ihrer Schönheit würden messen können, und rasend vor Wut rissen sie ihr Kleid in Fetzen.‹«

Aus der versammelten Schar der Zuhörer steigen Jubel und Buhrufe auf. Ich gehe weiter. Immer noch keine Spur von Erin, und ich werde von einer allumfassenden Panik ergriffen. Ich sage mir, dass sie bestimmt zu Hause ist, aber ich muss hin, um mich zu vergewissern.

Nahe der Mitte des Platzes befindet sich eine Bude, die deutlich mehr Besucher anzieht als die anderen, und eine Menschenmenge behindert mein Durchkommen. Während ich versuche, sie zu umgehen, sehe ich, dass ein Spiel der Grund für den Auflauf ist. In der Bude sind Schuhe aufgereiht und kleine Mädchen können eine Silbermünze bezahlen und dürfen sich dann mit verbundenen Augen ein Paar aussuchen und es anprobieren. Wenn sie passen, gewinnt das Mädchen einen kleinen Preis – ein Perlenarmband oder eine Kette und ein kleines Stück Pergament, auf dem steht: »Ich wurde bei der Zweihundertjahresfeier auserwählt.« Ein kleines Mädchen mit einem Kopf voller wippender brauner Locken strahlt, als ihr winziger Fuß in einen violetten Schuh mit hohem Absatz gleitet. Die Stimmung ist heiter, bis ein anderes kleines Mädchen die falsche Größe auswählt und ein Stück Papier mit einer kleinen Abbildung von Cinderellas berüchtigten Schwestern gewinnt, deren Gesichter zu einem hässlichen Grinsen verzerrt sind.

Es sieht seine Mutter an. »Mama, ich will nicht sein wie sie.« Ihre Unterlippe bebt und sie unterdrückt ein Schluchzen. Eine Palastwache lacht dröhnend, während seine Mutter es auf den Arm hebt und wegträgt.

Ich schlüpfe durch eine Öffnung in der Menge und erreiche endlich das Zentrum des Platzes, wo ein Springbrunnen, eine lebensgroße Nachbildung von Cinderellas Kutsche, steht. Sie ist ganz und gar aus Glas und funkelt in der untergehenden Sonne. Wasser steigt darum herum auf und in der Mitte des Beckens liegen Hunderte Münzen. Es ist Tradition, sich etwas zu wünschen, wie Cinderella es vor so vielen Jahren getan hat, indem man eine Münze, vorzugsweise aus Silber, in den Brunnen wirft. Ich erinnere mich, dass ich auch Münzen geworfen habe, als ich noch jünger war, aber ich habe es seit Jahren nicht mehr getan.

»Sophia!«

Liv läuft hüpfend auf mich zu. Sie hat ihr langes braunes Haar zu einem Dutt auf dem Kopf zusammengefasst und ihre rosigen Wangen heben sich wie Äpfel von ihrer goldbraunen Haut ab. Sie mustert mich von oben bis unten.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Ich schaue an meinem Kleid hinunter, das ich nicht gewechselt habe. »Das willst du nicht wissen.«

»Wohin gehst du?«, fragt sie.

»Ich sehe nach …« Ich zögere. Es ist zu gefährlich, in der Öffentlichkeit darüber zu reden, was dort draußen im Wald passiert ist. »Ich gehe zur Anprobe.«

Liv verzieht ungläubig das Gesicht. »Das hättest du schon vor Wochen tun sollen. Der Ball ist in zwei Tagen.«

»Ich weiß«, sage ich. »Ich habe mich davor gedrückt.« Ich entdecke eine Lücke und mache Anstalten zu gehen, aber Liv hakt sich bei mir unter.

Sie schüttelt den Kopf. »Du bist so stur. Deine Mutter muss sich die Haare raufen.« Sie lacht und hält etwas hoch, das in glänzend silbrigen Stoff gehüllt ist. »Du wirst niemals glauben, was ich an einem der Stände gewonnen habe.« Sie packt den Gegenstand aus.

Es ist ein Stock.

Ich sehe Liv an und dann wieder den Stock. Sie strahlt, und ich bin völlig verwirrt.

»Geht es dir gut?« Ich lege ihr die Hand an die Stirn, um zu fühlen, ob sie Fieber hat.

Sie lacht und schlägt spielerisch meine Hand weg. »Mir geht es gut. Aber schau mal: Es ist ein Zauberstab. Eine Nachbildung von genau dem Zauberstab, den die gute Fee benutzt hat.«

Ich sehe den Stock noch einmal an. »Ich glaube, man hat dich übers Ohr gehauen.«

Sie runzelt die Stirn. »Es ist eine echte Nachbildung. Der Mann sagte, sie käme von einem Baum im Weißen Wald.«

»Niemand traut sich in den Weißen Wald.« Erin taucht hinter Liv auf, und mir bleibt fast das Herz stehen. Ich muss mich mit aller Macht beherrschen, um sie nicht an mich zu drücken.

»Mach den Mund zu, bevor du eine Fliege verschluckst«, sagt Liv und sieht sich nervös um.

»Du bist in Sicherheit«, sage ich erleichtert.

Erin nickt. »Und du siehst schrecklich aus.«

Ich wünschte, ich hätte mir zu Hause die Zeit genommen, mich etwas besser zurechtzumachen.

»Natürlich bist du immer noch hübsch«, sagt sie schnell. »Ich denke nicht, dass du das je verhindern könntest.«

Ich sehe sie an. »Vielleicht kann Liv ja ihren Zauberstab benutzen, um mich präsentabel zu machen.«

Liv richtet den Stab auf mich und schüttelt ihn kurz. Sie runzelt die Stirn. »Ich habe immer gehofft, dass ich eines Tages magische Kräfte bekommen würde. Ich schätze, heute ist es noch nicht so weit.«

Ich tätschle ihr den Arm. »Seit Cinderellas Zeiten hat niemand mehr diese Art von Magie gesehen. Ich bezweifle, dass sie noch existiert.«

Sie verstummen beide und tauschen besorgte Blicke.

»Natürlich existiert sie«, flüstert Erin. »Du kennst die Geschichte so gut wie jeder andere. Wenn wir nur strebsam sind, wenn wir unsere Textstellen kennen und unsere Väter ehren, dann werden wir vielleicht mit dem belohnt, was Aschenputtel bekommen hat.«

»Und wenn wir alle diese Dinge tun und nichts passiert – keine gute Fee erscheint, kein Kleid, keine Schuhe, keine Kutsche – was dann? Glauben wir einfach weiter daran?«

»Zweifle nicht an der Geschichte, Sophia.« Liv tritt näher. »Nicht in der Öffentlichkeit. Nirgendwo.«

»Warum?«, frage ich.

»Du weißt, warum«, sagt Erin leise. »Du musst an die Geschichte glauben. Du musst sie als das sehen, was sie ist.«

»Und was ist sie?«, frage ich.

»Die Wahrheit«, erwidert Erin knapp.

Ich will nicht mit ihr streiten.

»Sie hat recht«, sagt Liv. »Die Kürbisse im königlichen Garten wachsen genau dort, wo einmal die Überreste ihrer Kutsche lagen. Und ich habe gehört, dass man, als die Grabstätte noch für die Öffentlichkeit zugänglich war, ihre Schuhe darin sehen konnte.«

»Ein weiteres Gerücht«, sage ich. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter und ihre Freundinnen sich leise über die Grabstätte unterhielten. Seit Generationen hat niemand sie mehr gesehen. Nur noch mehr Lügengeschichten, die junge Mädchen fügsam machen sollen. Liv und Erin sehen beide aus, als hätten sie langsam genug von mir.

»Nun, ich hoffe weiterhin auf den Segen einer guten Fee«, sagt Liv.

Livs Plan erscheint mir riskant. Meine Mutter hofft auch darauf, aber sie hat trotzdem ein Kleid bestellt, für den Fall, dass in der Nacht des Balls keine magiebegabte alte Frau in meinem Garten auftaucht. Jede, die nicht in einem Kleid kommt, das Aschenputtel selbst würdig wäre, riskiert ihre Sicherheit, und ich glaube nicht, dass es den König kümmert, ob es nun von einer Fee, aus einem Laden oder sonst woher kommt. Wichtig ist nur, dass wir aussehen, als hätte eine gute Fee uns mit ihrer Magie gesegnet.

»Haben deine Eltern einen Plan für den Fall, dass es nicht klappt?«, frage ich. Ich will nicht, dass Liv in Gefahr gerät, weil sie zu lange gewartet haben, ihr das zu besorgen, was sie braucht. Liv wird dieses Jahr zum zweiten Mal bei dem Ball sein. Ein dritter Besuch ist erlaubt, aber Liv wäre am Boden zerstört und ihre Familie ruiniert.

»Willst du wirklich so dringend verhaftet werden?«, fragt Erin. »Wenn du weiter so redest, sperren sie dich ein.«

»Nun gut«, sagt Liv, tritt zwischen uns und schüttelt den Kopf. »Hier.« Sie greift in ihren Beutel und holt eine Handvoll Münzen heraus. »Es ist kein Silber, aber die müssen ausreichen. Los, wünschen wir uns etwas wie früher.« Sie nimmt mich am Arm und führt mich zum Brunnen.

Erin tritt neben mich, ihre Schulter streift meine. Ich glaube, sie seufzen zu hören, und sie schüttelt leicht den Kopf. Hinter uns spielt die Musik weiter, und Menschen lachen und plaudern. Palastwachen sind überall auf dem Platz, ihre blauen Uniformen sind sorgfältig gebügelt, und ihre Schwerter funkeln im Licht der Lampen. Liv reicht mir und Erin je eine Münze.

»Wünscht euch was«, sagt Liv. Sie schließt die Augen und wirft ihre Münze.

Ich sehe Erin an. »Ich wünsche mir, dass du Lille mit mir verlässt. Jetzt sofort. Lass Mersailles und all das hier hinter dir und lauf mit mir weg.« Ich werfe die Münze ins Wasser.

Liv schnappt nach Luft. Erins Augen öffnen sich flatternd, sie hat die Stirn gerunzelt, und ihre Mundwinkel zeigen nach unten. »Und ich wünsche mir, dass du die Dinge einfach akzeptierst, wie sie sind.« Sie wirft ihre Münze in den Brunnen. »Ich wünschte, ich könnte einfach beschließen, dass nichts sonst wichtig ist, aber ich bin nicht wie du, Sophia.«

»Ich verlange gar nicht, dass du bist wie ich«, sage ich.

Ein Schleier legt sich über Erins Augen und ihre Unterlippe bebt. »Doch, das tust du. Nicht jeder kann so mutig sein.«

Meine Brust fühlt sich an, als würde sie gleich in sich zusammenfallen. Ich trete einen Schritt zurück, und Erin eilt davon, verschwindet in der Menge. Ich fühle mich nicht mutig. Ich bin wütend und besorgt und zweifle daran, dass sich je etwas ändern wird. Ich will ihr hinterherlaufen, aber Liv packt mich am Arm und zieht mich zurück.

»Gib es auf, Sophia«, sagt Liv. »Es ist unmöglich.«

Sie führt mich weg vom Brunnen, und ich verdränge das Bedürfnis zu weinen, laut zu schreien. Wir umgehen einen großen Kreis geschwärzten Grases. Liv blickt darauf hinab.

»Was ist das?«, frage ich.

»Irgendetwas ist hier vor ein paar Nächten passiert. Gerüchte besagen, dass jemand eine Explosion ausgelöst und versucht hat, den Brunnen zu zerstören. Wie man sieht, ohne Erfolg.« Liv wendet sich mir zu und die Sorge steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Begreifst du es denn nicht? Widerstand ist nicht möglich. Wir können uns nicht gegen das Buch oder den König wenden.«

Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht akzeptieren, dass das alles ist, was ich zu erwarten habe.

Liv sieht sich um und beugt sich dann dicht zu mir. »Eine Gruppe Kinder hat im Wald in der Nähe des Grauen Sees eine Leiche gefunden.«

»Schon wieder eine?«, frage ich. »Wie viele sind das jetzt?«

»Sechs, seit die Blätter begonnen haben, die Farbe zu wechseln. Ein Mädchen, genau wie die anderen.«

Ich versuche aufzuaddieren, wie viele junge Frauen in Lille tot aufgefunden wurden, seit ich alt genug bin, um solche Dinge zu verstehen. Die Zahl der Toten geht in die Dutzende, die Zahl der Verschwundenen ist höher, als ich zählen kann.

»Geh zu deiner Anprobe, Sophia«, sagt Liv und drückt meine Hand. »Vielleicht holt jemand auf dem Ball dich ja von alldem hier weg.«

Da ist ein Unterton in ihrer Stimme. Vielleicht will Liv, dass jemand sie wegholt. Ich kann es ihr nicht verübeln, aber mein Wunsch ist das nicht. Ich will nicht von einem Ritter in strahlender Rüstung gerettet werden. Ich möchte die Rüstung tragen, und ich würde gerne diejenige sein, die rettet.

*

Wie benebelt mache ich mich auf den Weg zur Schneiderin und komme ganze zwei Stunden zu spät dort an. Als ich durch das Fenster spähe, entdecke ich meine Mutter, die mit den anderen Frauen im Laden plaudert. Sie lachen und lächeln, aber ich sehe den angespannten Zug um ihren Mund, während sie das Kinn auf ihre zu einem Dach zusammengelegten Finger stützt. Ich hasse es, dass sie sich wegen mir Sorgen gemacht hat. Ich atme tief durch und öffne die Tür.

Meine Mutter richtet sich auf, und ein Ausdruck von Erleichterung gleitet über ihr Gesicht, während sie zischend aufatmet. »Wo warst du?« Sie lässt den Blick über mich schweifen. »Und was hast du gemacht?«

»Ich war …«

Sie hebt die Hand. »Es spielt keine Rolle. Jetzt bist du ja hier.« Sie blickt an mir vorbei auf die Straße hinaus. »Bist du allein gekommen?«

»Nein«, lüge ich. »Liv und Erin haben mich bis zum Ende der Straße begleitet.«

»Oh, gut. Sicher hast du von dem Vorfall am Grauen See gehört.«

Ich nicke. Sie schüttelt den Kopf und zwingt sich dann zu einem schnellen Lächeln, ehe sie die Schneiderin und ihre Helferinnen anweist, sich an die Arbeit zu machen.

Die Teile meines Kleids werden festgenäht, um eine perfekte Passform zu garantieren. Meine Mutter macht einen Aufstand wegen der Farbe der Paspel am Saum des Rocks. Angeblich soll sie roségolden und nicht einfach nur golden sein, deshalb müssen sie sie abtrennen und neu annähen. Ich finde, das ganze Ensemble würde sich sehr gut am Grund eines Abfallkorbs machen, vielleicht mit Lampenöl übergossen und angezündet. Niemand hat mich gefragt, welche Farbe oder welche Passform ich haben möchte.

Meine Mutter wirft die Hände in die Luft und läuft vor mir auf und ab. Sie macht sich unendliche Sorgen wegen jedes winzigen Details, als ob es um mein Leben ginge. Ich bemühe mich, die Stimme in mir zum Schweigen zu bringen, die mir sagt, dass es das möglicherweise tut.

»Es ist atemberaubend, Sophia«, sagt meine Mutter und mustert mich dabei von oben bis unten.

Ich nicke. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es tatsächlich so weit ist. Ich hatte gehofft, um diese Zeit schon weit weg von Lille oder sogar Mersailles zu sein, den König und seine Regeln mit Erin an meiner Seite hinter mir zu lassen. Stattdessen bin ich hier und bereite mich darauf vor, mich diesem schrecklichen Schicksal zu ergeben.

Die Schneiderin hilft mir aus dem Kleid, damit sie es einpacken und wir es mit nach Hause nehmen können. Auf einer Seite ihres Halses entdecke ich einen pflaumenvioletten Fleck; an den Rändern wird er bereits grün.

»Was ist mit Eurem Hals passiert?«, flüstere ich, obwohl ich ahne, woher ihre Verletzung stammt. So viele Frauen in Lille tragen eine ähnliche Last auf den Schultern.

Die Schneiderin sieht mich fragend an und richtet dann hastig ihren Kragen. »Mach dir keine Gedanken deshalb. In einer Woche ist er weg. Als wäre nie etwas passiert.«

»Sophia«, unterbricht uns meine Mutter. »Warum gehst du nicht hinaus und schnappst etwas frische Luft. Aber bleib auf dem Weg, wo ich dich sehen kann.« Ich blicke auf die Schneiderin hinunter, deren Lächeln ihren Schmerz nur ungenügend verbergen kann.

Ich raffe meine Röcke und trete hinaus auf den Fußweg, der zu dem Laden heraufführt. Die Sonne verschwindet langsam, während die Laternenanzünder ihre nächtliche Runde beginnen. Selbst in der einbrechenden Dunkelheit sehe ich die Wachtürme aus den Schatten aufragen. Steinerne Wächter, deren Ausgucke nach innen weisen.

Ein Wandgemälde des Königs verunstaltet die Seite des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es zeigt ihn auf einem Pferd an der Spitze einer Armee von Soldaten, den Arm ausgestreckt, in der Hand ein Schwert. Ich möchte wetten, dass er nie eine Armee angeführt hat, es sei denn, die Quadrate eines Schachbretts zählen.

Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann den Gedanken nicht abschütteln, wie es wohl sein wird, auserwählt zu werden. In zwei Tagen könnte ich einem Mann übergeben werden, über den ich rein gar nichts weiß und der auch nichts über mich weiß. Meine Wünsche und Bedürfnisse werden durch das ersetzt, was er für das Beste hält. Und wenn er es für keine große Sache hält, mir einen Bluterguss am Hals zu verpassen? Und wenn ich nicht auserwählt werde, was dann? Und Erin. Meine geliebte Erin. Was wird aus uns? Ich erzittere und in meinem Hals bildet sich ein Kloß. Meine Mutter tritt auf die Straße und legt einen Schal um meine nackten Schultern.

»Ich will nicht, dass du dich so kurz vor dem Ball noch verkühlst, Sophia.« Sie sieht sich wachsam um und senkt die Stimme. »Ich wünschte, es müsste nicht so sein, aber …«

»Ja, ich weiß. Es ist, wie es ist.« Ich beiße die Zähne zusammen und muss zum tausendsten Mal das Bedürfnis zu schreien unterdrücken. Ich sehe sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde lässt sie die Maske fallen, und ich sehe den Schmerz in ihrer Miene. Im fahlen Licht des Abendhimmels wirkt sie älter. Ihr Blick wandert kurz über mein Gesicht und über mein Kleid, ehe sie wegschaut.

»Wird es plötzlich real für dich?«, sage ich.

Sie presst die Lippen zu einer harten Linie zusammen. »Ja.«

»Ich habe immer gehofft, dieser Tag würde niemals kommen«, sage ich.

»Das habe ich auch«, sagt sie leise. »Aber jetzt sind wir hier und müssen das Beste daraus machen.«

Meine Mutter kehrt in den Laden zurück, doch ich bleibe noch einen Moment, ehe ich mich ihr anschließe, während die Schneiderin und ihre Helferinnen mein Kleid fertig einpacken. Ich blicke hinauf zum Sternenhimmel. Mein Leben wird sich verändern, und das für immer. Nach dem Ball gibt es kein Zurück mehr. Ich verspüre einen Kummer, der so tief geht, dass er beinahe Trauer ähnelt, die mich zu verschlingen droht. Ich ziehe den Schal enger um mich und eile hinein.

4

Mr. Langley, ein Freund meines Vaters, hat einen Sohn, der sich bereiterklärt hat, die Kutsche für uns zu fahren, solange mein Vater in der Arbeit ist. Er wartet an der Straße und hilft uns, das Kleid einzuladen. Er sucht Blickkontakt zu mir und lächelt, als ich in die Kutsche steige. Ich schaue weg. Ich bin nicht in der Stimmung, so zu tun, als wäre ich geschmeichelt.

Meine Mutter steigt hinter mir ein und die Kutsche setzt sich ruckelnd in Bewegung. Trotz der schweren Vorhänge vor den Fenstern findet die kühle Nachtluft einen Weg ins Innere. Ich ziehe mir den Mantel enger um die Schultern und die Kapuze tief ins Gesicht, aber das scheint kein ausreichendes Signal an meine Mutter zu sein, dass ich nicht reden will.

»Er ist ein recht gut aussehender junger Mann, nicht?«, fragt sie.

Ich sehe meine Mutter an, die mir einen vorsichtigen Blick zuwirft. »Wer?«

»Mr. Langleys Sohn. Natürlich müsste er, solltest du ihm gefallen, am Abend des Balls ein offizielles Gesuch einreichen. Ich bin sicher, er wird nicht der einzige Interessent sein.«

Ich schüttle den Kopf. »Denkst du jemals nicht darüber nach, wie du mich mit dem erstbesten halbwegs annehmbaren Mann verheiraten kannst?«

»Halbwegs annehmbar ist möglicherweise das Beste, worauf wir hoffen können.« Sie blickt in ihren Schoß hinunter und presst die Lippen zusammen.

Ich ziehe den Vorhang auf und schaue aus dem Fenster. Mehr um meine Augen daran zu hindern, bis nach hinten in meinen Schädel zu rollen, als um die Aussicht zu genießen. Ich bin nicht auf sie direkt wütend. Sie geht mit der ganzen Sache um, wie es die meisten Menschen in Lille tun. Immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, das Dunkel heller erscheinen zu lassen. Sie ist gut darin, aber ich bin es nicht. Ich kann nicht anders, als den Ball als das zu sehen, was er in Wahrheit ist.

Eine Falle.

Wir fahren durch Lilles sich windende Straßen. In der Ferne ragen die riesigen Türme des Palasts über die abfallende Landschaft auf. Er ist extravagant und protzig, eine Erinnerung an uns andere, dass wir, egal, wie sehr wir uns anstrengen, niemals ganz würdig sein werden, diese Art von Reichtum, von Privileg zu genießen.

Gleich vor dem Palastgelände erstreckt sich das abgeriegelte Ost-Lille, wo die hochrangigsten Mitglieder der Aristokratie leben. Dem König nahe genug, um sich besonders zu fühlen, aber weit genug weg, um nicht auf den Gedanken zu kommen, sie wären ihm ebenbürtig. Die Menschen dort horten ihren Reichtum und investieren ihn in ein besseres Leben für sich selbst, während der Rest der Stadt dem Verfall anheimfällt.

Als unsere Kutsche in den Westteil der Stadt einbiegt, säumen zunehmend identische Häuser die gepflasterten Straßen. Sie lehnen sich aneinander, als würden sie ohne die gegenseitige Stütze einfach in sich zusammenfallen. Die Abendstunden bringen eine besonders seltsame Mischung von Gerüchen mit sich. Der Duft nach frisch gebackenem Brot und gekochtem Fleisch wabert durch die Luft, aber mit ihm kommt auch der ausgeprägte Gestank nach Exkrementen, menschlichen und tierischen gleichermaßen.

In meiner Straße gibt es keine Beleuchtung durch Laternen bis auf diejenigen, die die Menschen in ihre Fenster stellen. Wir halten an und meine Mutter steigt aus. Einen Moment lang bleibe ich auf der Stufe der Kutsche stehen und hoffe, so etwas Abstand von ihr zu bekommen. Sie wird mich nicht ohne einen Vortrag ins Bett gehen lassen. Als sie bei den Stufen zum Haus ankommt, sieht sie sich nach mir um, wobei ein sorgenvoller Ausdruck auf ihrem Gesicht liegt. Mr. Langleys Sohn stellt die Kiste mit dem Kleid auf der Schwelle ab und räuspert sich dann. Ich sehe zu ihm hinüber, und er schenkt mir ein weiteres breites Lächeln. Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, dass er albern aussieht und sich eindeutig zum Narren macht, doch dann ruft meine Mutter nach mir.

»Sophia, komm ins Haus.«

Sie kennt mich zu gut.

Sie stößt die Tür auf, und die Glocken beginnen zu läuten, um allen Frauen und Kindern von Lille den Beginn der Sperrstunde zu verkünden. Ihr Fuß wippt im Takt mit den donnernden Schlägen. Wenn die Uhr zum achten Mal schlägt, sollen wir im Haus sein, hinter verschlossenen Türen. Manchmal stehe ich noch im Hauseingang, wenn der letzte Schlag erklingt, einfach nur, um zu sehen, was passiert. Meine Mutter läuft dann jedes Mal aufgebracht durchs Haus und wünscht sich, ich würde mich hinsetzen und aufhören zu riskieren, eingesperrt zu werden wie eine verdammte Närrin. Als ich noch klein war, hat meine Mutter mich gewarnt, dass die Geister von Aschenputtels Stiefschwestern sich vom Himmel stürzen und mich mitnehmen würden, sollte ich nicht beim letzten Glockenschlag im Haus sein. Jetzt, da ich älter bin, weiß ich jedoch, dass es keine Rachegeister sind, vor denen ich mich fürchten muss. Die größte Gefahr sind der König und seine Männer.

Ich steige aus und mache mich auf den Weg zum Haus, wobei ich dem Blick meiner Mutter ausweiche und mich an ihr vorbeidränge, bevor sie die Tür hinter mir schließt und verriegelt. Ich steuere auf die Treppe zu.

»Setz dich«, sagt sie und zieht einen Stuhl vom Küchentisch zurück. Sie geht auf die andere Seite und nimmt Platz.

Ich will nach oben gehen und in mein Bett fallen, aber zuerst müssen wir diese kleine Unterhaltung führen. Ich setze mich zu ihr an den Tisch und sehe sie an.

Die meisten Menschen halten mich und meine Mutter für Schwestern, weil wir uns so sehr ähneln. Wir haben identisches dunkles, lockiges Haar, nur dass sich durch ihres die ersten grauen Strähnen ziehen. Wir haben den gleichen tiefbraunen Hautton, aber bei ihr haben sich Linien in die Mundwinkel gegraben. Die Leute nennen sie Lachfältchen, aber ich bin mir sicher, ihre kommen vom Kummer.

»Dein Vater hat mich in meinem ersten Jahr auf dem Ball auserwählt, und es hat gut gepasst«, beginnt sie. »Er war der Sohn eines Großgrundbesitzers, und er ist ein akzeptabler Mann, ein guter Mann.«

»Das weiß ich.« Sie erzählt mir das nicht zum ersten Mal, aber jetzt liegt eine Dringlichkeit in ihrer Stimme, als versuchte sie, mich zu überzeugen, dass es einen Hoffnungsschimmer gibt.

»Aber manche haben nicht so viel Glück«, sagt sie todernst. »Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlen muss? Nicht auserwählt zu werden? Welche Folgen das hätte?«

»Natürlich habe ich das.« Diese Möglichkeit macht ihr mehr Angst als alles andere. Mädchen, die bis zu ihrem dritten Ball nicht auserwählt werden, haben ihre Freiheit verwirkt, sie gelten als aufgegeben und landen in Arbeitshäusern oder enden als Bedienstete. Aber in den letzten Jahren sind mehrere Mädchen im Schloss verschwunden, und niemand hat mehr etwas von ihnen gehört.

Meine Mutter streicht mit den Händen über die Falten ihres Kleids und seufzt. »Sag mir eines, Sophia. Wissen Erin und Liv, wie anstrengend du sein kannst? Wie stur?«

»Ja«, sage ich. Es ist eine Halbwahrheit. Erin und Liv sind meine engsten Freundinnen und bei ihnen kann ich weitgehend ich selbst sein. Aber selbst mit ihnen habe ich das Gefühl, mich zurückhalten zu müssen, weil Lille auch bei ihnen Spuren hinterlassen hat. Sie hören, dass ich vom Gehen spreche, vom Widerstand gegen das, was man von uns verlangt, und sofort sagen sie mir, ich solle leiser sprechen. So etwas macht man einfach nicht. Niemand geht. Niemand leistet Widerstand, sofern er keinen Todeswunsch hat.

»Ich hoffe, Liv findet dieses Jahr einen passenden Partner«, sagt meine Mutter, den Blick in die Ferne gerichtet. »Ihre Eltern machen sich große Sorgen, und wenn sie dieses Mal nicht auserwählt wird, bleibt ihr nur noch eine Chance.«

Dass ein Mädchen als alte Jungfer betrachtet wird, wenn sie nicht bis achtzehn verheiratet ist, ist falsch, und dass die Jungen den Ball nicht einmal besuchen müssen, bis sie Lust darauf haben, ist entsetzlich ungerecht. »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie nicht auserwählt wurde.«

Erin und ich haben darüber gesprochen, und keine von uns versteht, warum Liv beim letzten Ball keinen Partner gefunden hat. Sie selbst spricht kaum darüber, aber ich habe die Vermutung, dass jemand Anspruch auf sie erhoben und sich dann im allerletzten Moment für ein anderes Mädchen entschieden hat.

Und jetzt schwingt Liv die Nachbildung eines Zauberstabs und hofft, dass er magische Hilfe heraufbeschwören kann. Nach allem, was sie im letzten Jahr gesehen und durchgemacht haben, hoffen Liv und ihre Eltern immer noch auf den Besuch einer guten Fee. Sie haben sich eingeredet, dass im Jahr zuvor nur deshalb keine erschienen ist, weil sie Cinderellas Beispiel nicht ergeben genug gefolgt sind.

»Mir wird bestimmt kein magisches altes Weib einen Besuch abstatten«, sage ich, während die Frustration in mir hochkocht.

»Vielleicht nicht«, flüstert meine Mutter. »Aber du wirst aussehen, als hätte sie es, und das ist, was den Freiern und dem König am wichtigsten ist.«

»Man sollte meinen, dass ich ihnen am wichtigsten sein sollte, und was ich fühle und denke.« Schon als ich die Worte ausspreche, weiß ich, dass sie gegen alles gehen, was ich als die Wahrheit kenne, und meine Mutter sieht es genauso.

»Warum, im Namen König Manfords, sollten sie je auf diesen Gedanken kommen?«, fragt sie. Sie presst die Hände zusammen, als würde sie beten, aber die Haut über ihren Fingerknöcheln ist straff gespannt. »Du hast – wir haben – nur eine Chance. Du musst jemanden finden. Ein zweites Mal zum Ball gehen zu müssen ist eine Schande.«

Ihre Worte schmerzen wie ein Messerstich. »Ist Liv eine Schande? Wie kannst du das über sie sagen? Es ist nicht ihre Schuld, dass irgendein ekelhafter alter Mann seine Meinung geändert hat.«

Sie schaut weg. »Sie weiß, was auf dem Spiel steht. Närrische Wünsche und Magie werden sie nicht retten können. Sie muss sich anpassen, sich bewusst machen, wo sie steht, und alles tun, was nötig ist, um sich eine Verbindung zu sichern, und du musst das auch.« Sie lehnt sich zu mir. »Ich weiß, du bist anders und dass es schwer für dich wird, aber du hast keine Wahl.«

Anders.

So sieht sie mich, und jedes Mal, wenn sie dieses Wort benutzt, schwingt ein gewisser Hauch Missbilligung mit. Lille hat auch bei ihr Spuren hinterlassen.

»Ich will mit Erin zusammen sein.«

»Ich weiß«, sagt sie und sieht sich um, als könnte uns jemand belauschen. »Aber das wirst du für dich behalten.« Ihr Tonfall ist ausdruckslos, emotionslos. So schützt sie sich vor der Realität dessen, was mich erwartet.

Ich war zwölf, als ich meinen Eltern sagte, dass ich lieber eine Prinzessin als einen Prinzen finden würde. Sie sind in eine Panik verfallen, aus der sie mit einer neuen Entschlossenheit hervorgingen. Sie sagten mir, um zu überleben, müsse ich meine Gefühle verbergen. Darin war ich nie besonders gut und das Gewicht dieser Maskerade wird mit jedem Jahr schwerer. Ich will nichts mehr, als sie von mir zu schleudern.

»Du musst dich nicht jeder Kleinigkeit widersetzen. Es wird dich in Schwierigkeiten bringen, und ich werde dich verlieren«, sagt meine Mutter und umklammert die Tischkante. »Ich kann dich nicht verlieren. Du musst hingehen. Du musst deine Rolle spielen.« Sie lehnt sich zurück, als wäre sie erschöpft, lässt ihre Schultern nach vorne kreisen und atmet langsam aus. »Dein Vater arbeitet gerade in diesem Moment daran, einen weiteren Handel abzuschließen, um das zusätzliche Geld zu verdienen, das wir brauchen, um …« Sie verstummt. Die Stimme versagt ihr. Ihre Augen werden glasig und sie legt eine Hand auf meine. »Ich liebe dich so sehr. Ich würde alles tun, um zu garantieren, dass du das schönste Mädchen im Raum bist, sobald du ihn betrittst.«

»Mein ganzes Leben hat auf das hier hingeführt. Es ist keine Kleinigkeit. Alles, was ich tue, alles, was ich sage, es geht immer um den Ball. Mein Lebensweg wurde schon bei meiner Geburt entschieden. Meine Geschichte ist bereits geschrieben, und ich habe keinerlei Mitspracherecht.«

»Ja. Und?« Sie sieht mich offen an, als würde sie nicht verstehen.

»Willst du nicht, dass ich glücklich bin? Ist das nicht das Wichtigste?« In dem kurzen Moment, bevor sie antwortet, stelle ich mir vor, wie sie es bejaht und mir sagt, dass ich nicht gehen muss. Ich überlege, wie es sich anfühlen würde, sie auf meiner Seite zu wissen.

»Nein.« Meine Mutter lässt meine Hand los. Bittere Enttäuschung erfasst mich. »Wichtig ist, dass dir nichts passiert. Dass wir die Gesetze befolgen. Sie sind glasklar. Gleich hier.« Sie zeigt zur Tür. »Glück ist ein Bonus, Sophia. Du hast kein Recht darauf, und je früher du das akzeptierst, umso einfacher wird dein Leben sein.«

»Und wenn ich kein einfaches Leben will?«

Meine Mutter sieht mich an. Sie öffnet die Lippen, um etwas zu sagen, presst sie wieder zusammen und senkt den Blick auf die Tischplatte. »Sei vorsichtig, was du dir wünschst. Denn möglicherweise bekommst du es auch.«

»Darf ich jetzt gehen?«, frage ich.

Sie nickt, und ich stoße meinen Stuhl zurück und gehe nach oben. Als ich auf der obersten Stufe ankomme, höre ich meine Mutter weinen. Ein Teil von mir will zu ihr gehen, aber ein Teil von mir will es auch nicht. Ich liebe sie, und ich weiß, dass sie mich liebt, aber das reicht nicht. Sie ist nicht bereit, die Regeln zu brechen, selbst wenn es bedeutet, dass ich alles an mir verleugnen muss. Ich gehe in mein Zimmer und schließe die Tür.

5

Am nächsten Morgen erwache ich kurz vor Sonnenaufgang. Mein Vater ist bereits weg, und meine Mutter hat damit begonnen, das Frühstück vorzubereiten. Teig geht in einer mit einem Tuch abgedeckten Schüssel neben dem Holzofen, den sie schürt, ehe sie einen Wasserkessel daraufstellt. Ich komme zu ihr in die Küche und binde mir eine Schürze um. Meine Mutter stellt einen kleinen Teller mit zwei Brötchen und einem geschnittenen Apfel auf den Tisch. Während sie eine Teigkugel auf der bemehlten Arbeitsfläche ausrollt, spricht sie über die Schulter mit mir.

»Die Böden müssen gefegt und geschrubbt werden, wie immer, außerdem ist Waschtag für die Bettwäsche oben. Trag die Teppiche raus und klopf sie ordentlich durch. Dein Vater meinte, er kommt möglicherweise früher nach Hause, also müssen wir uns beeilen. Bereite dich darauf vor, die Geschichte vorzutragen, sobald er nach Hause kommt, weil ich sicher bin, dass er müde sein und sich ausruhen wollen wird.«

»Du willst, dass ich sie laut vortrage?«, frage ich. Ich weiß, dass das von uns erwartet wird. Es ist mehr eine Tradition als eine Regel, aber ich habe es lange nicht mehr gemacht.

»Ja«, sagt meine Mutter knapp. »Möglicherweise bist du ein wenig eingerostet, und für den Ball kannst du sie besser vorwärts und rückwärts, für den Fall, dass einer der Freier dein Wissen testen möchte.«

Ich mache mir nicht einmal die Mühe zu antworten. Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Die Freier werden mich testen? Ich habe das starke Bedürfnis, meiner Mutter zu sagen, dass die Männer, die sich im Schloss versammeln werden, die Geschichte sehr wahrscheinlich nicht einmal ganz gelesen haben, weil sich nichts davon an sie richtet. Sie richtet sich an uns andere. Ich nicke einfach nur. Ich lege mir einen Mantel um und mache mich daran, die Teppiche nach draußen zu hieven.

Werden da wirklich Freier sein, die mich testen wollen? Und will mein Vater die Geschichte wirklich hören, oder will sich meine Mutter nur gegen jede Art versichern, wie jemand mir auf dem Ball ein Bein stellen könnte?

»Als die Frau eines reichen Mannes von einer Krankheit heimgesucht wurde, ahnte sie, dass ihr Ende nahte«, sage ich laut. Sie ist immer noch da, in meinem Kopf. Jedes einzelne Wort.