City of Dust and Shadows - Lara Große - E-Book

City of Dust and Shadows E-Book

Lara Große

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Beschreibung

Das Debüt von Lara Große: City of Dust and Shadows In einer geheimnisvoll-düsteren Schattenwelt treffen rauschende Feste und höfische Intrigen einer adeligen Elite auf magischen Staub und zwielichtige Drogenkartelle. Was, wenn Albträume Realität werden könnten? In den Schatten von Paris herrscht Krieg. Seit Jahrhunderten halten die Saints monströse Albtraum-Kreaturen davon ab, in die reale Welt einzudringen. Doch während die mächtigen Adelsfamilien damit beschäftigt sind, sich untereinander zu bekämpfen, macht sich eine ganz andere Gefahr breit: Eine neue Droge lockt mehr und mehr Menschen in die Abgründe der Schattenräume... Als die achtzehnjährige Tess ihre Schwester in Paris besuchen will, ist diese verschwunden. Eine kryptische Nachricht und eine seltsame Münze sind ihre einzige Spur. So landet Tess mitten in einer zwielichtigen Bar, die einen magischen Schattenraum offenbart, sobald Tess die Schwelle übertritt. Tess stolpert damit nicht nur in eine versteckte Welt voller Magie und Intrigen, sie landet auch geradewegs in den Armen des attraktiven Saint Lucien Adrian de Laurent. Nur mit seiner Hilfe kann Tess an den Hof der Saints gelangen, der in den Schatten von Versailles liegt, und herausfinden, was mit ihrer Schwester geschehen ist. Doch schnell wird klar, dass Tess auf der Suche nach ihrer Schwester nicht nur ihr Leben verlieren könnte, sondern auch ihr Herz... #StrangerstoLovers #UndergroundElite #PageTurner #MonsterinParis #StrongHeroine #ShadowhunterxRoyaleIntrigen #FoundFamily

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Seitenzahl: 624

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Lara Große

Cityof Dust and Shadows

Inhalt

Kapitel 1 Happy birthday to me

Kapitel 2 Fünf Prozent

Kapitel 3 Das ist ein Anx, kein Alien

Kapitel 4 Scheiss auf den vernünftigen Plan

Kapitel 5 Tourist Girl

Kapitel 6 Madame du Sang

Kapitel 7 Ich werde ganz sicher nirgendwo einbrechen

Kapitel 8 Willkommen auf Wayne Manor

Kapitel 9 Eine Chemiestudentin auf Abwegen

Kapitel 10 Kein Sieg ist auf ewig

Kapitel 11 Schieben und ziehen

Kapitel 12 Wer gegen Monster kämpft

Kapitel 13 Sie sind da, da, erkennt ihr es nicht?

Kapitel 14 Das ist völlig absurd

Kapitel 15 Essenz der Heiligen

Kapitel 16 Keine Partie, die ich verlieren werde

Kapitel 17 Die Welt ist einfacher, wenn du nur das tust, was du willst

Kapitel 18 Das, Mademoiselle, ist Versailles

Kapitel 19 Dinge in Ordnung bringen

Kapitel 20 Wie eine Abrissbirne

Kapitel 21 Klavier spielende Banker sind selten

Kapitel 22 Die guten Ideen sind uns leider ausgegangen

Kapitel 23 Ein Interview mit dem Teufel in Seide

Kapitel 24 Geschichten enden nicht heroisch

Kapitel 25 Ich habe da ein ganz mieses Gefühl

Kapitel 26 Es endet immer damit, dass man am Boden aufprallt

Kapitel 27 Zur Hölle mit Noli timere

Kapitel 28 Von wegen auf Nimmerwiedersehen

Kapitel 29 Vielleicht steckt ja tatsächlich eine rebellische Seite in dir

Kapitel 30 Das ist ein Ausbruch und kein Familientreffen

Kapitel 31 Die guten Ideen sind uns schon wieder ausgegangen

Kapitel 32 Morior invictus

Kapitel 33 Der Trick ist zu wissen, wann es vorbei ist

Kapitel 34 Lass mich dir einen Rat geben, Tourist Girl

Epilog Zwei Monate später

Danksagung

Ausführliche Informationen über unsere

Autorinnen und Autoren und ihre Bücher

www.leaf-verlag.de

1. Auflage 2024

Originalausgabe:

Copyright © 2024 by LEAF Verlag, Bücherbüchse OHG,

Siebenbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland

Copyright © 2024 by Lara Große

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Textredaktion: Yvonne Lübben, Janina Roesberg

Covergestaltung: Alexander Kopainski, www.kopainski.com und Kateryna Vitkovska @vitkovskaya_art

Innengestaltung: LEAF Verlag unter Verwendung von Illustrationen von

Kateryna Vitkovska @vitkovskaya_art und Francis Eden

Gesetzt aus der Adobe Caslon

Satz: LEAF Verlag

ISBN 978-3-911244-18-3

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte,

deshalb befindet sich am Ende des Buches

eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Den achtzehnten Geburtstag in Paris zu verbringen, klang so lange romantisch, bis man samt Gepäck eingezwängt in der Métro stand und sich kaum bewegen konnte. Zum Glück kündigten nun ein Pling und eine nuschelnde Stimme auf Französisch die nächste Haltestelle an. Obwohl ich hier rausmusste, zog ich zum gefühlt hundertsten Mal heute mein Handy hervor, was mir gerade so gelang, ohne jemandem meinen Ellbogen in die Seite zu rammen. Ich öffnete den Chat mit Claire. Keine neue Nachricht. Mist.

Bei dem Anblick des einzelnen grauen Hakens hinter meiner letzten Nachricht verkrampfte sich meine Hand um die Haltestange – was nicht unpraktisch war, da die Métro nun bremste. Mit dem Fuß hinderte ich meinen roten Rollkoffer daran, gegen die Frau neben mir zu stoßen, während ich auf dem Handy nach oben scrollte. Der Chat verlief seit Tagen einseitig, und ich brauchte einen Moment, bis ich das letzte Lebenszeichen von meiner Schwester fand.

Ich hatte ihr versichert, dass ich auf jeden Fall da sein würde. Immerhin planten wir diesen Besuch seit Monaten. Aber sie hatte nicht mehr geantwortet.

Das Öffnen der Türen riss mich zurück in die Gegenwart. Ich hatte mein Ziel erreicht. Seufzend schob ich das Handy in die Tasche von Claires Lederjacke. Na gut, seit drei Jahren gehörte sie im Grunde genommen mir. Sie war das Einzige, was Maman damals nicht weggeworfen hatte, und das auch nur, weil ich behauptet hatte, sie gehöre mir.

Rasch griff ich meinen Koffer und drängte mich nach draußen. Kurz musste ich mich in dem unterirdischen Gang orientieren, dann fand ich die Treppe nach oben und erklomm die Stufen. Doch sobald ich neben einer Straßenlaterne mit dem roten Métro-Schild ankam, stockte ich erneut. Irritiert blinzelte ich in die grelle Junisonne.

Also, diese Straße würde es wohl niemals in einen Paris-Reiseführer schaffen.

Schöne Fassaden aus Sandstein, schmiedeeiserne Balkone und Mansardendächer suchte man hier vergeblich. Stattdessen erschienen mir die Gebäude selbst bei strahlendem Sonnenschein trostlos. Links von mir bröckelte Putz von der Wand, rechts parkte ein Lastwagen, der mit Graffiti vollgesprüht war. Auch auf den Häusern prangten bunte Schmierereien.

Für einen Moment fragte ich mich, ob ich falsch ausgestiegen war. Dabei wusste ich, dass ich richtig war – bereits zu Hause hatte ich mir die Métro-Linien zu Claires Wohnung herausgesucht. Nur zur Sicherheit. Eigentlich hatte sie versprochen, mich am Bahnhof abzuholen. Doch so sehr ich mir am Gare de Lyon auch den Hals verrenkt hatte, nirgends hatte ich den hellen Haarschopf meiner Schwester entdeckt. Dass ich mir den Weg vorher eingeprägt hatte, zeigte vermutlich ganz gut, wie viel Vertrauen ich in Claires pünktliches Erscheinen am Bahnhof gesetzt hatte. Maman hatte mich ja gewarnt. Verdammt, warum musste sie immer recht behalten?

Ich zwang mich, das schlechte Gefühl zu ignorieren, das sich in meiner Brust ausbreitete. Innerlich seufzend umschloss ich den Griff meines Rollkoffers etwas fester und stürzte mich dann in das Gewirr der Gassen.

Es konnte mir doch völlig egal sein, dass die grünen Mülltonnen neben mir überquollen und stanken. Oder dass die Wohnblöcke nicht so aussahen, wie ich mir Paris vorgestellt hatte. Natürlich wohnte Claire nicht gerade im Nobelviertel. Immerhin hielt sie sich mit ihrer Gitarre und verschiedensten Aushilfsjobs über Wasser, seit sie hierhergekommen war.

Das wird schon, sagte ich mir, musste allerdings angesichts der vielen verwinkelten Gassen mein Handy wieder hervorholen und die Adresse dort eintippen.

Währenddessen ging eine Nachricht ein, und mein Herz machte einen hoffnungsvollen Satz, aber es war nur Léa, die fürsorglich wie immer wissen wollte, ob ich gut angekommen war. Sofort schrieb auch Hayley und fragte, ob ich in der Stadt der Liebe schon meinen Seelenverwandten gefunden hätte. Nach dreieinhalb Sekunden, ja klar. Kurz musste ich schmunzeln, doch die Nachrichten meiner Freundinnen lenkten mich nicht lange ab. Die nächste Richtungsanweisung erinnerte mich daran, dass ich erst mal Claires Wohnung finden musste.

Glücklicherweise war das von Erfolg gekrönt, und bald erreichte ich ein unscheinbares Wohnhaus, das eingequetscht zwischen zwei beinahe identischen – und auch sichtlich heruntergekommenen – Gebäuden stand. Aufgeregt trat ich von einem Fuß auf den anderen, während ich klingelte. Gleich würde ich Claire wiedersehen, endlich. Ich würde sie so fest umarmen, dass sie keine Luft bekam. Dann würde ich ihr Feuer unterm Hintern machen, weil sie mir nicht geantwortet und mich am Bahnhof vergessen hatte.

Ungeduldig klingelte ich ein zweites Mal, bis die Tür schließlich sirrte. Ich drückte sie auf und rannte beinahe hinauf in den dritten Stock – so gut man mit Koffer und Rucksack eben rennen konnte. Ein erwartungsvolles Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.

»Cl…« Mehr brachte ich nicht über die Lippen, sobald sich die Wohnungstür öffnete. Denn nicht Claire erwartete mich dort, sondern ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig. Die Jogginghose und das Shirt wirkten mindestens zwei Nummern zu groß für seinen hageren Körper, dessen weiße Haut viel zu blass wirkte. Seine Haare fielen in Strähnen auf seine Schultern, als wären sie seit mindestens einhundert Jahren nicht gewaschen worden.

Sofort war meine Euphorie verflogen und der Druck in meiner Brust zurück, der mich schon verfolgte, seit ich am Morgen in Montpellier in den Zug gestiegen war. Ein Schwall von Rauch schlug mir aus der Wohnung entgegen, und der damit einhergehende süßliche Geruch stach in meiner Nase.

»Claire? Da bist du ja … oh.« Der junge Mann kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen. »Du bist gar nicht Claire, oder?« Er sagte es, als meinte er die Frage ernst.

Ich blinzelte verdutzt. Ja, Claire und ich sahen uns ähnlich. Wir hatten beide blonde Haare, braune Augen und Sommersprossen. Für Zwillinge hatte uns jedoch noch niemand gehalten, geschweige denn uns verwechselt. Einen Moment lang erwog ich, ob ich an der falschen Adresse war. Aber die Nummer an der Haustür war eindeutig richtig gewesen, und der Typ kannte meine Schwester. Oder jemanden, der Claire hieß und aussah wie ich.

»Nein«, sagte ich schließlich, da er mich abwartend anstarrte. »Ich bin Tess.«

Sein Gesicht zeigte keine Reaktion.

»Thérèse Dumont. Claires Schwester.«

»Aha.« Er nickte wie in Zeitlupe und trat zurück.

Für einen Moment kämpfte ich gegen den Drang an, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen. Dann gab ich mir einen Ruck und folgte ihm in die Wohnung – und landete direkt mitsamt Koffer im Wohnzimmer. Ein Sofa, bezogen mit dunkelgrünem Samt, ein Sitzsack, aus dem die Füllung an mehreren Stellen herausquoll, und auf dem Boden verteilte Kissen nahmen den Raum beinahe vollständig ein. Mal abgesehen von der kleinen Küche, die sich in eine Ecke des Zimmers zwängte. In der Spüle stapelte sich dreckiges Geschirr. Bei dem Anblick verzog ich das Gesicht. Ich hasste Unordnung. Ich hasste sie fast so sehr, wie unvorbereitet zu sein, und auf diese Situation war ich ganz gewiss nicht vorbereitet gewesen.

Unsicher stellte ich meinen roten Trolley neben der Tür ab und steckte das Handy in die Jackentasche. Die rauchgeschwängerte Luft ließ mich husten. Ein Mädchen mit pink gefärbten Haaren und sanft brauner, olivstichiger Haut sowie ein kleiner schwarzer Kerl mit Hornbrille blickten auf. Schnell ließ die Pinkhaarige eine Pfeife aus Plastik in der Tasche ihres Kapuzenpullis verschwinden.

Claire hatte Mitbewohner erwähnt, aber ich hätte ihr ein bisschen mehr Geschmack bei deren Auswahl zugetraut.

»Warte mal.« Der hagere Typ von der Tür schlurfte in seiner zu großen Jogginghose zum Sofa, machte jedoch auf halbem Weg Halt und drehte sich wieder zu mir um. »Du bist nicht von der Polizei, oder?«

Ich starrte ihn an. Wie bitte? »Ähm … nein.«

Anscheinend zufrieden mit meiner Antwort nickte er erneut, ging weiter und ließ sich aufs Sofa fallen. »Das ist Claires Schwester«, erklärte er den anderen. »Ähm …«

»Tess«, sagte ich, während ich verloren in der Mitte des Raums stand. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so fehl am Platz gefühlt. »Wo ist Claire?« Ich beäugte die Türen, die zu den anderen Zimmern führen mussten.

Der hagere Typ winkte ab. »Sie taucht schon irgendwann auf. Tut sie immer. Hab ein bisschen Vertrauen.«

Wie bitte?, wiederholte ich in Gedanken. Laut fragte ich: »Immer?«

»Aber diesmal ist sie recht lange weg«, warf das Mädchen ein. Sie hatte auf dem Sofa herumgelungert, doch nun richtete sie sich auf und rutschte nach vorne an die Kante.

»Kann sein.« Der hagere Typ zuckte mit den Schultern. »Hoffe, sie schlägt bald hier auf. Das verdammte Miststück schuldet mir noch Geld.«

Genervt zupfte ich an meinen Haaren. Wie fast immer trug ich diese über den Kopf zu zwei Zöpfen geflochten, und das linke Ende musste nun unter meiner Nervosität leiden. Eine schlechte Angewohnheit, die ich mir eigentlich mühsam abgewöhnt hatte. »Wie lange ist sie schon weg?«, fragte ich. Mein Tonfall geriet etwas zu scharf, aber niemanden schien es zu stören.

Das Mädchen runzelte die Stirn und zählte dann an den Fingern ab. »Ein oder zwei.«

»Stunden oder Tage?«

Sie lachte. »Wochen.« Damit holte sie statt der Pfeife ein zusammengedrehtes Papier aus ihrer Tasche hervor, zündete es an und nahm einen Zug. Sofort roch es nach Gras.

Wie bitte? Ich hatte das Gefühl, mein Gehirn hätte sich wie eine kaputte Schallplatte an diesen beiden Worten festgehangen. Wochen? Claire war seit mindestens einer Woche nicht mehr hier gewesen?

Überrumpelt setzte ich den Rucksack ab, ließ mich auf eine freie Ecke des versifften Sofas sinken und hoffte, dass ich nicht durchs Passivrauchen high wurde. Zum Glück bekam Maman das nicht mit. Wenn sie das wüsste, würde sie mich nämlich umbringen. Zu dem Pochen meines Herzens gesellte sich nun ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen. Es fühlte sich an, als stünde ich in großer Höhe an einem Abgrund. Als säße ich in einem Freefall-Tower, ohne zu wissen, ob ich rechtzeitig stoppen oder auf dem Boden zerschmettern würde.

Ich lehnte den Kopf zurück und starrte hoch zu der fleckigen Decke. Nein, so hatte ich mir meinen Geburtstag nun wirklich nicht vorgestellt. »Happy birthday to me«, murmelte ich leise.

Eigentlich hatte ich gehofft, jetzt mit Claire in ihrem Lieblingscafé feiern und mit einem Kaffee anstoßen zu können. Beinahe konnte ich Mamans Antwort darauf hören: Ich hab dir doch gesagt, dass es schiefgehen wird. Was hast du denn erwartet?

Ja, Maman hatte mich davor gewarnt, hierherzukommen. Zuerst hatte sie es mir sogar verboten, denn sie und Claire waren im Streit auseinandergegangen. Aus Trotz hatte ich den Zug für den Tag meines achtzehnten Geburtstags gebucht – wenn ich volljährig war, konnte sie mir nicht verbieten, nach Paris zu fahren. Später hatte sie dann eingelenkt und gesagt, ich müsse es selbst wissen. Was im Endeffekt nur hieß, dass sie mir ein schlechtes Gewissen bescheren wollte. Damit ich vernünftig handelte. Eine erwachsene Entscheidung traf, wie ich es immer tat. Aber diesmal war ich standhaft geblieben und in den verdammten Zug gestiegen.

Paris.

Wie lange träumte ich schon davon, herzukommen? Wie oft hatten Claire und ich uns bis spät in die Nacht Nachrichten geschickt und uns währenddessen ausgemalt, was wir hier alles tun würden?

Und was hatte es mir gebracht? Ich war hier, Claire dagegen trieb sich sonst wo herum.

»Habt ihr zufällig Kaffee?«, fragte ich hoffnungsvoll in die Runde. Mit Kaffee war alles nur halb so schlimm, das war eine Tatsache.

»Nee, sorry«, sagte der Kerl von der Tür. »Aber wir haben noch Pizza von gestern, wie wäre es damit?« Schon stand er auf, schlurfte in die Küchenecke und holte einen Pizzakarton aus dem Kühlschrank.

Ich wusste zwar nicht, was Kaffee und Pizza gemeinsam hatten, doch mein Magen rumorte bei der Aussicht auf Essen, also nickte ich. »Ja, gerne.«

»Warm?«

Eigentlich war ich kein Fan von kalter Pizza, aber da die Mikrowelle aussah, als würde sie ein eigenes Ökosystem beherbergen, machte ich eine Ausnahme. »Nein, ist schon okay. Danke.«

»Haben wir auch etwas Süßes, Marcel?«, fragte das Mädchen. »Ich hätte voll Bock auf Kuchen.«

»Back dir doch einen«, brummte der Tür-Typ – Marcel – und warf den Pizzakarton auf den Couchtisch.

Mir fiel jetzt erst die Zeitung auf, die dort ausgebreitet lag und offensichtlich als eine Art Tischdecke diente. Sie war erst zwei Tage alt, und die Überschrift kündete von einer neuen Variante Crack, die in der Pariser Drogenszene aufgetaucht war und sich nun in der Stadt ausbreitete. Was für eine Ironie.

»Kein Grund, pampig zu sein«, erwiderte das Mädchen. »Ich hab doch nur gefragt.«

Ich blinzelte und löste den Blick von der Zeitung. »Ich habe einen Muffin«, bot ich ihr an, und das Strahlen in ihrem Gesicht reichte mir als Antwort.

Ich beugte mich zu meinem Rucksack hinab und öffnete den Reißverschluss. Meine Zuglektüre Grundlagen der Anatomie lag obenauf – zwar würde das Medizinstudium an der Uni in Montpellier erst in drei Monaten im Herbst beginnen, doch ich wollte vorbereitet sein. Ich schob das Buch beiseite, darunter kam der eingetütete Muffin zum Vorschein.

Sein Anblick sorgte für einen Stich in meiner Brust. Maman hatte ihn heute Morgen auf den Küchentisch gestellt, nachdem sie vom Nachtdienst zurückgekommen war. Wahrscheinlich stammte er aus dem Automaten auf der Polizeiwache. Mit Sicherheit konnte ich das jedoch nicht sagen, denn vor meiner Abreise hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich hatte meine tägliche Joggingrunde extra ausgedehnt, damit sie bereits schlief, wenn ich heimkehrte. Den Streit, der unweigerlich gefolgt wäre, hatte ich mir lieber erspart. Sie hätte nur versucht, mir die Reise wieder auszureden.

Trotzdem hatte neben dem Muffin ein Zettel gelegen, auf den sie in ihrer Krakelschrift »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« geschrieben hatte. Und natürlich war eine Dose Pfefferspray dabei gewesen. Meine Mundwinkel zuckten. Maman hatte mir zahllose Vorträge über die Kriminalitätsrate in Paris gehalten und mich eindringlich vor Taschendieben, Trickbetrügern und betrunkenen Arschlöchern gewarnt. Zwar fühlte ich mich auch ohne Pfefferspray in der Lage, mich zu verteidigen, aber ich hatte es ihr zuliebe eingesteckt.

Ich vertrieb diese Gedanken, holte den Muffin hervor und reichte ihn dem Mädchen. Sofort machte sie sich darüber her, während ich mir ein Stück der Pizza Margherita nahm und nachdenklich darauf herumkaute.

Also gut, es war an der Zeit, meinem Problem ins Auge zu sehen. Claire war nicht hier. Und jetzt blieben mir zwei Möglichkeiten.

Erstens, ich nahm den nächsten Zug zurück nach Montpellier. Am besten noch heute, denn ich war nicht heiß darauf, die Nacht in diesem Appartement zu verbringen. Ich würde mich bei Maman entschuldigen und ihr sagen, dass sie wie immer recht gehabt hatte und dass ich nie nach Paris hätte fahren sollen. Und dann würde ich vergessen, dass ich jemals hier gewesen war. Das wäre einfach.

Nur konnte ich das nicht tun.

Solange ich nicht wusste, wo Claire war und ob es ihr gut ging, konnte ich nicht nach Hause fahren. Ich würde meine Schwester nicht im Stich lassen. In all den Stunden, die ich spät abends mit Hayley und Léa in der Sporthalle verbracht hatte, war mir ein Grundsatz in Fleisch und Blut übergegangen: die Zähne zusammenbeißen und weitermachen. Sei stark, das hatte auch Maman an jenem Abend vor acht Jahren gesagt, als wir gemeinsam die Tür angestarrt hatten. Nein, ich würde meine Schwester nicht im Stich lassen.

Also blieb mir bloß Möglichkeit Nummer zwei: Ich musste Claire suchen. Aber dafür brauchte ich mehr Infos.

Aufmerksam musterte ich meine Gastgeber über den Rand der Pizza hinweg. Leider hatte ich nur drei ziemlich bekiffte Quellen, die vermutlich so zuverlässig waren wie Mamans altes Auto im Winter. Wenn ich ehrlich zu mir war, passte Claire hier ziemlich gut rein. Immerhin war der Geruch nach Marihuana an ihrer Kleidung ein ständiger Streitpunkt zwischen ihr und Maman gewesen.

»Also«, sagte ich vorsichtig zwischen zwei Bissen und beendete damit eine Diskussion darüber, welcher Pizzabelag der beste war. »Wo könnte Claire denn sein? Ich bin extra hergefahren, um sie zu sehen.«

»Sag ich doch«, murmelte Marcel. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, genau zwischen zwei Kissen. »Sie ist nicht da.«

Ach was, dachte ich und verdrehte innerlich die Augen. »Aber wo ist sie?«

»Woher soll ich das wissen, Kleine? Bin ich ihr Babysitter? Jeder hier kann kommen und gehen, wie er möchte. Bisher ist sie immer wieder aufgetaucht.« Er wedelte mit der Hand durch die Luft und verteilte dabei Rauch vor meiner Nase.

Unwillkürlich atmete ich flacher und rückte auf dem Sofa ein Stück nach links. »Also ist sie öfter mal weg?«

Marcel gab eine Art Grunzen von sich, das alles bedeuten konnte. Aber ich schätzte, es sollte eine Zustimmung sein.

Auf einmal hatte ich keinen Hunger mehr. Was, wenn Claire ihr Handy gar nicht verlegt oder nur vergessen hatte, es aufzuladen? Was, wenn …

Himmel, du solltest mal ruhig bleiben, statt sinnlose Vermutungen anzustellen, schimpfte ich mit mir selbst.

Ich beugte mich vor und fixierte erst das pinkhaarige Mädchen auf dem Sofa neben mir und dann den Hornbrillen-Kerl, der es sich auf dem Sitzsack bequem gemacht hatte. »Und ihr habt gar keine Ahnung, wohin sie sonst so geht? Sie muss doch etwas erzählt haben. Ist sie bei Freunden? Oder …«

»Oh!« Hornbrille fuhr hoch und fiel dabei beinahe vom Sitzsack. »Sie hat jemanden kennengelernt. Hat immer so selig gegrinst, wenn sie drüber gesprochen hat.«

Das Mädchen nickte eifrig. »Das stimmt. Siehst du, alles gut. Sie ist bestimmt dort.«

Alles gut, von wegen! »Und wo ist dort? Wie heißt er?«

»Weiß nicht, hat sie nicht gesagt.« Das Mädchen kicherte. »Aber sie hat ein Liebeslied geschrieben. Über Haar aus Mondlicht oder so.«

Großartig, ich suchte also einen hellblonden Fremden in Paris. Das war hilfreich, extrem hilfreich. Frustriert legte ich den Rest der Pizza zur Seite und rieb mir mit den Händen übers Gesicht. Ich fühlte mich, als wollte ich mit Dreijährigen ein Gespräch über Quantenphysik führen. Okay, Tess, denk nach. Im Kopf ging ich meine letzten Konversationen mit Claire durch. Sie hatte erwähnt, dass sie einen neuen Job in einer Bar gefunden hatte, wo man sie nach ihrer Schicht auf der Bühne spielen ließ. Zumindest dort musste sie regelmäßig auftauchen, oder nicht?

»Die Bar, in der sie arbeitet. Wisst ihr, wo die ist?«

Ich hatte keine großen Hoffnungen gehabt, doch das einhellige Kopfschütteln enttäuschte mich trotzdem.

»Sie meinte nur, dass sie mich bald bezahlen kann«, sagte Marcel.

»Warte, warte!« Hornbrille stürzte erneut fast auf den Boden. »Waren wir nicht einmal mit? Es gab dieses richtig geile Zeug, wisst ihr nicht mehr?«

Ich wollte lieber nicht wissen, was er mit Zeug meinte.

Die anderen beiden legten angestrengt die Stirn in Falten. »Echt?«, fragte das Mädchen.

»Erinnere mich nicht«, fügte Marcel hinzu.

»Doch, doch«, beteuerte Hornbrille. »Ich schwör es, wir waren da.«

Ich unterdrückte ein Seufzen. »Und wo ist da?« Ich ahnte die Antwort, noch bevor sie kam.

»Kein Plan, sorry. Ich sag ja, das Zeug war richtig gut. Diese Nacht ist quasi aus meinem Hirn gelöscht.«

»Schau doch mal in ihrem Zimmer nach«, warf das Mädchen ein und deutete auf eine der Türen. »Vielleicht ist da ja irgendwas, das dir hilft.«

»Oh.« Ich blickte zur Tür. Verdammt, darauf hätte ich auch selbst kommen können. »Meinst du denn, das fände sie okay?«

Das Mädchen blies mir Rauch entgegen. »Klar, wieso denn nicht?«

Ich nickte, stand auf und murmelte ein Dankeschön. Zögerlich lief ich zu der Tür, drückte die Klinke herunter und trat ein. O ja, das Zimmer sah ganz nach Claire aus – als wäre eine Bombe darin explodiert. Kaum ein Zentimeter des Bodens war nicht mit Klamotten oder herumfliegenden Notenblättern bedeckt. In der Ecke stand ein leerer Gitarrenkoffer, und das Bett wirkte, als hätte sie gerade noch darin gelegen. Das Laken hatte sich von einer Ecke gelöst, die Decke hing halb herunter, und das Kissen musste Claire ganz herausgeworfen haben. Kreatives Chaos nannte sie das.

Ein paar Sekunden stand ich da und fragte mich, was ich hier überhaupt wollte. Es kam mir nicht richtig vor, ihre Sachen zu durchwühlen. Und überhaupt, was hoffte ich, dabei zu finden? Eine blinkende Reklametafel mit ihrem Aufenthaltsort?

»Los jetzt, Tess«, murmelte ich und steuerte als Erstes das Nachttischschränkchen an. Die aufgezogenen Schubladen offenbarten ein Ladekabel, Kleingeld, gerissene Gitarrensaiten und eine Packung Aspirin. Enttäuscht widmete ich mich den Notenblättern. Claire schrieb immer Dinge auf die Rückseiten, die sie nicht vergessen wollte, nur um dann die Blätter zu verlegen und es trotzdem zu vergessen. Aber ich entdeckte bloß zwei Einkaufslisten und Ideen für Songtexte.

Seufzend machte ich sogar das Bett, schüttelte das Laken und die Decke aus, doch dort stieß ich bloß auf die Gitarre, die mir beinahe auf die Füße knallte. Nach einer Schrecksekunde legte ich sie behutsam zurück in ihren Koffer. Darin befand sich ansonsten nur weiteres Kleingeld. In der Kommode an der Wand nur Unterwäsche und Socken.

Mein Hoffnungsschimmer schlug in Frustration um. Ich zupfte wieder an meinem linken Zopf. Verdammt. Aus Verzweiflung hob ich die Klamotten vom Boden auf – vielleicht lag irgendetwas darunter? Ein Kleidungsstück nach dem anderen landete auf dem Bett. Ich befreite selbst den Stuhl von seiner Last. Und erst als auch hier kaum mehr etwas zum Durchsuchen übrig war, bemerkte ich, dass das letzte auf den Wäschestapel geworfene T-Shirt gar keines war – sondern eine Schürze!

Mein Herz machte einen Satz.

Ich stürzte zum Bett und riss das schwarze Stoffstück hoch. Auf der Schürze prangte ein silbern eingesticktes Logo. Le Miracle stand dort. Das musste der Club sein! Da hast du deine Reklametafel, dachte ich und grinste.

Ich wollte schon zurück ins Wohnzimmer eilen, hielt aber inne, weil etwas die Tasche der Schürze ausbeulte. Vielleicht ein Mitarbeiterausweis? Es sähe Claire ähnlich, den zu vergessen. Ich griff hinein und zog ein kleines Kuvert hervor. Darauf stand in eleganter Handschrift:

Verwirrt runzelte ich die Stirn und schüttelte den Inhalt auf meine Handfläche. Es war eine Münze, etwa so groß wie ein Eineurostück. Doch sie bestand aus einem schwarzen Metall, das bei jeder Bewegung schimmerte, als wäre Silberstaub darin eingeschmolzen. Wie ein Nachthimmel voller funkelnder Sterne. Staunend nahm ich das Metall zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete es von Nahem. Ein Adlerkopf war in die Oberfläche geprägt und darum herum stand etwas. Ich wandte mich zum Fenster, um besseres Licht zu haben.

»Semper ad meliora«, entzifferte ich. Klang nach Latein, oder? Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und ließ mir die Worte übersetzen. »Immer zum Besseren.« Hm, das half noch nicht wirklich. Auch die Suche nach dem Spruch in Kombination mit »Münze« oder »Adler« brachte keine Ergebnisse. Also tippte ich stattdessen den Namen des Clubs ein. Ein Le Miracle Café tauchte auf, aber das Logo bestand aus einem roten, geschwungenen M und hatte eine ganz andere Schriftart als das silberne Le Miracle auf der Schürze. Außerdem suchte ich einen Club oder eine Bar, kein Café. Ansonsten ergab meine kurze Recherche nichts. Sehr seltsam.

Ich steckte das Kuvert zurück in die Schürze und lief mit dieser und der Münze ins Wohnzimmer zurück.

»Hast du etwas gefunden?«, fragte Hornbrille.

»Ich denke schon.« Ich trat zu ihm und hielt ihm das Logo hin. »Kennst du das Le Miracle?«

»Hm, ich … ich glaube, ja.« Er zog angestrengt die Augenbrauen zusammen. Dann riss er sich plötzlich die Brille herunter und rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. »Nein, sorry, ich weiß nicht mehr.«

»Bist du sicher?« Ich streckte ihm die Münze entgegen. »Die war in der Tasche. Bedeutet die vielleicht irgendwas?«

Hornbrille nahm mir die Münze ab und betrachtete sie. Von einer Sekunde auf die andere hellte sich seine Miene auf, seine Augen weiteten sich, und er schlug sich mit der freien Hand gegen die Stirn. »Natürlich, das Le Miracle! Das war … warte, wo war das gleich? Marcel, sag schnell!«

Marcel zuckte mit den Schultern. »Was faselst du da, Mann? Wir waren nie in einem Le Miracle.«

»Doch, doch!«

Meine Muskeln fühlten sich an, als stünden sie unter Strom. Ich rückte ein Stückchen näher. »Bitte, denk nach. Wo war der Club?«

»Ich …« Hornbrille umklammerte die Münze fester. »Das war … irgendwo bei der Rue de Lappe. Ja, genau. In einer Seitengasse da. Genau.«

»Ha!«, stieß ich triumphierend hervor. Damit konnte ich arbeiten. Ich bedankte mich überschwänglich, und Hornbrille winkte verlegen ab. Dann gab er mir die Münze zurück, nicht ohne kurz zu zögern.

Ich blickte auf die Uhr. Mittlerweile war es beinahe Abend, aber vielleicht war das gar nicht so schlecht. Es erhöhte die Chance, dass Claire zum Arbeiten im Club war. Ohne weiter Zeit zu verlieren, machte ich erst ein Foto von dem Logo des Le Miracle, dann steckte ich mir Portemonnaie, Handy und die Münze in die Jackentaschen – Rucksack und Koffer sowie die Schürze samt Kuvert ließ ich in Claires Zimmer. Auf zur Rue de Lappe. Wo auch immer die war. Mein Handy und ein Métro-Ticket würden mich schon ans Ziel bringen.

Na warte, Claire, ich bin unterwegs, dachte ich, während ich die Tür hinter mir zuwarf und die Treppe hinunterpolterte. Und wenn ich dich finde, bekommst du was zu hören!

Einen kurzen Fußmarsch und wenige Minuten mit der Métro später bog ich um die Ecke und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Mein Herz sank. Das war wohl ein schlechter Scherz, oder? Vor meinen Augen reihten sich links und rechts unzählige Bars, Kneipen und Restaurants aneinander, als wollten sie gemeinsam den längsten Bartresen Frankreichs bilden. Hayley hätte an diesem Ort den Spaß ihres Lebens – sie war diejenige, die Léa und mich immer in die angesagtesten Clubs schleuste. Nur wie zur Hölle sollte ich in diesem Gewimmel ein einzelnes Geschäft finden?

Gar nicht, wenn du nicht anfängst, zu suchen, wies ich mich selbst zurecht und machte einen Schritt in die Rue de Lappe hinein. Die Straße aus dunklem Kopfsteinpflaster war gerade breit genug für ein Auto. Wadenhohe Poller trennten sie links und rechts von den schmalen Fußgängerwegen. Aber momentan hätte sich gewiss eh kein Auto hier entlanggewagt.

Obwohl es noch früh am Abend war, drängten sich unzählige Menschen aneinander, schoben sich von A nach B, standen zusammen und rauchten oder saßen in den Lokalen und schlürften ihre Drinks.

Entschlossen warf ich mich in das Getümmel. Das Stimmengewirr surrte in meinen Ohren, durchbrochen von Fetzen aus Musik, die aus den Läden drangen. Gewissenhaft blieb ich vor jedem Geschäft stehen, um nach dem Namen zu suchen.

»Entschuldigung, Monsieur«, sprach ich irgendwann einen Kellner an, der gerade einen der Tische draußen abwischte.

»Hast du reserviert?«

»Nein, ich suche das Le Miracle. Es müsste eine Bar oder ein Club sein. Kennen Sie es?« Ich hielt ihm das Logo hin.

Er blickte auf mein Handy und schüttelte dann den Kopf. »Das sagt mir nichts.«

»Okay, trotzdem danke.« Kurz lächelte ich gezwungen, bevor ich die Straße weiter entlangmarschierte. Ich überprüfte jeden Laden, schaute in jede Seitengasse und hielt das Logo allen möglichen Passanten und Kellnern unter die Nase, aber niemand kannte das Le Miracle.

Schließlich erreichte ich das Ende der Straße – ohne auch nur eine Spur dieses geheimnisvollen Clubs gefunden zu haben. Mittlerweile war es dunkel geworden. Laternen und Leuchtstoffröhren glühten wie Irrlichter in der Dämmerung, lange Schatten wanderten über den Boden. Die Rue de Lappe war, falls das überhaupt möglich war, noch voller geworden. Erschöpft und ziemlich entmutigt ließ ich mich auf eine Bank sinken.

Hornbrille musste sich geirrt haben, das war die einzige Erklärung. Hier gab es eine Million Bars. Er hatte es gewiss einfach verwechselt.

Nur leider hieß das: Ich war wieder bei null angekommen.

Sorge knotete sich in meiner Brust zusammen, zerrte an mir. Ich beugte mich vor und stützte den Kopf in die Hände. Wo war meine Schwester? Sie verschwand tagelang, ging nicht an ihr Handy und arbeitete angeblich in einem Club, der nicht existierte. Und das Schlimmste war: Wäre ich nicht mehr oder weniger zufällig hergekommen, hätte ich es nicht einmal bemerkt. Ich wäre einfach davon ausgegangen, dass alles in bester Ordnung war und sie aus einer Laune heraus nicht antwortete.

»Hey, Süße.«

Ich fuhr zusammen und sah hoch. Ein Kerl stand vor meiner Bank. Hinter ihm drückten sich seine drei Kumpels herum und warfen sich feixende Blicke zu.

»Wie geht’s?« Er setzte sich neben mich und grinste anzüglich. »Bist du ganz allein unterwegs?«

Ich verdrehte die Augen, musste jedoch sofort an das Pfefferspray in meinem Rucksack denken. Der Rucksack, der noch in Claires Appartement lag. Großartig. Ich war keinen Tag in Paris, und schon passierte das, was Maman prophezeit hatte? War sie eine verdammte Wahrsagerin?

Ich musterte den Kerl von oben bis unten und setzte dann mein bestes abschätziges Lächeln auf. »Das war die schlechteste Anmache, die ich jemals gehört habe.« Okay, nein, eigentlich nicht. Ich hatte schon unzählige schlechte Anmachsprüche gehört. Aber egal. »Ich meine, ›Hey, Süße, wie geht’s?‹ ist nun wirklich keine kreative Meisterleistung. Hättest du dir nicht wenigstens irgendetwas mit ein bisschen mehr Überzeugungskraft ausdenken können?«

Der Typ machte ein verdutztes Gesicht. Wenn er gehofft hatte, ich würde nett lächeln und irgendetwas Höfliches antworten, hatte er sich geschnitten, denn das würde ich garantiert nicht.

Aufmerksam beobachtete ich ihn und registrierte, wie seine Überraschung in Wut umschlug, als seine Kumpels im Hintergrund lachten. Ein nerviger Spruch war kein Verbrechen, doch wir befanden uns am Ende der Straße auf einer abgelegenen Bank im Dunkeln. Sollte er aufdringlicher werden, wusste ich mich zu verteidigen. Eine von Mamans Kolleginnen, Francine, unterrichtete abends bei uns im Sportverein Krav Maga, und ich ging hin, seit damals …

Mein Magen verkrampfte sich, und ich schob die Erinnerung beiseite. Maman hatte Claire und mich vor acht Jahren zusammen hingeschickt, aber meine Schwester hatte schnell das Handtuch geworfen. Ich verstand bis heute nicht, wieso. Ich liebte es, den Kopf dabei komplett abzuschalten – eine Stunde Freiheit ohne Gedanken, To-dos oder Sorgen. Mein Körper und seine Bewegungen war in diesen Momenten alles, was zählte, und darauf konnte ich mich zu einhundert Prozent verlassen. Jeder Erfolg und jedes Scheitern lagen ganz allein bei mir. Mittlerweile ging ich fünfmal die Woche zum Training, gemeinsam mit Léa und Hayley.

Und ich würde nicht zögern, die erlernten Techniken auch bei diesem Kerl anzuwenden. Der entschied sich jedoch klugerweise für den Rückzug. »Blöde Schlampe«, murmelte er, sprang auf und stapfte davon. Die anderen folgten ihm dichtauf. Erleichtert atmete ich auf, und die Spannung in meinen Gliedern löste sich.

Semper ad meliora, ja klar. Gerade hatte ich eher das Gefühl, dass alles immer schlimmer wurde. Nachdem die Typen um die nächste Ecke verschwunden waren, holte ich die seltsame Münze aus meiner Jackentasche und betrachtete sie erneut. Was hatte sie mit dem Ganzen zu tun? Warum war sie in der Schürze gewesen? Und warum hatte Hornbrille sich bei ihrem Anblick an das Le Miracle erinnert?

Seufzend richtete ich mich auf. Okay, schön. Ich würde die Straße noch mal ablaufen und dabei auf den Spruch und den Adlerkopf achten. Eigentlich hätte mir das zwar auffallen müssen, aber sicher war sicher. Wenn ich nichts fand, würde ich in Claires Wohnung zurückkehren und mir morgen früh überlegen, was ich als Nächstes tun sollte.

Mit der Münze in der Hand schob ich mich zum zweiten Mal durch die Menschenmenge. Meine Schläfen pochten vor Müdigkeit, und ich musste mich zwingen, mir jedes Lokal ein weiteres Mal aufmerksam anzusehen. Ich war noch nicht weit gekommen, als das leuchtende Schild eines Restaurants vor meinen Augen verschwamm. Angestrengt blinzelte ich, und ein seltsames Gefühl des Unwohlseins überkam mich. Mein Nacken kribbelte, und meine Schultermuskeln verspannten sich. Aus den Augenwinkeln meinte ich, in der Dunkelheit rechts von mir eine Bewegung wahrzunehmen. Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Doch da war nichts. Nur ein Schatten.

Verwirrt wich ich zurück, stolperte in jemanden hinein, murmelte eine Entschuldigung. In meinen Ohren summte es. Ich sollte von hier verschwinden. Jetzt. Es war ohnehin sinnlos. Ich sollte … ich sollte … Wieder blickte ich zu dem Schatten.

Durch die bunten Lichter auf der Straße wirkte die Nische zwischen den Häusern tiefschwarz, wie in Pech getaucht. Unwillkürlich umklammerte ich die Münze fester. Hornbrille hatte etwas von einer Seitengasse gesagt, oder? Vielleicht ging es dort weiter, und es war nur zu dunkel, um etwas zu erkennen?

Zögerlich machte ich erst einen Schritt darauf zu und dann einen zweiten, diesmal entschlossener. Hinter dem Schatten bewegte sich etwas. Ein Mann, der an der Wand lehnte, sprach mich an, doch ich hörte überhaupt nicht zu. Ich trat in die Dunkelheit – und prallte gegen eine Mauer.

»Verdammt.« Ich stieß den Atem aus und hätte mir selbst in den Hintern treten können. Das hier war keine Gasse. Nur eine Nische, die …

Mir wurde schwarz vor Augen. Das Stimmengewirr verstummte. Der Schatten verschluckte mich.

Ein Wummern durchdrang die Schwärze. Es vibrierte in meinem ganzen Körper. Selbst meine Knochen bebten. Grelles Licht flammte auf und blendete mich. Ich taumelte und stieß gegen etwas Weiches – oder jemanden?

Blinzelnd hob ich die Hand und schirmte mein Gesicht ab. Überall um mich herum drängten sich Menschen. Ich bekam einen Ellbogen in die Rippen, ein Absatz landete auf meinem Fuß, fremde Haare peitschten gegen meine Wange. Wie ein Flipperball wurde ich hin und her geschubst. Kurz stieg Panik in mir hoch, aber dann gewöhnten meine Augen sich endlich an das Licht.

Ich stand in einem Club.

Um mich herum tanzten Menschen, und das Wummern war der Beat der Musik, die so laut war, dass man nichts anderes mehr hörte. Der Geruch von Alkohol stach in meiner Nase. Glitter und Konfetti regneten von der Decke, bedeckten den Fußboden, die Haare und Schultern der Tanzenden.

Über der Bar auf der anderen Seite des Raumes leuchteten rot blinkende Neonbuchstaben. Le Miracle.

Ich schnappte nach Luft.

Wie … wie war das möglich? Ich hatte gerade noch auf der Straße gestanden. Oder? Meine Schläfen pochten wieder, sobald ich darüber nachdachte. Verwirrt drehte ich mich um. Dort war eine Tür. Ich musste hindurchgegangen sein.

Nein. Nein, bin ich nicht.

Ich schüttelte den Kopf und kämpfte gegen das Pochen an. Da war keine Tür gewesen. Ich war gegen eine Wand geprallt, ganz sicher. Aber das war unmöglich. Das Pochen wurde zu einem schmerzhaften Stechen. Ich keuchte auf und hob die Hand an die Stirn.

Egal, sagte ich mir, und seltsamerweise ließ der Schmerz sofort nach. Ich war hier, um Claire zu finden. Ob da nun eine verdammte Tür gewesen war oder nicht, das hier war eindeutig das Le Miracle. Der Ort, den ich gesucht hatte.

Ich steckte die Münze weg, setzte mich in Bewegung und schlängelte mich durch die tanzenden Clubbesucher. Wenn man selbst nicht betrunken war, wirkte das Rumgehopse recht albern, und die laute Musik zehrte an meinen Nerven. Doch ich bemühte mich, das alles auszublenden und mich so schnell wie möglich zur Bar durchzukämpfen. Leider sah ich mich dort konfrontiert mit einem umso dichteren Gedränge aus Leuten, die bestellen wollten.

Ich fluchte und warf mich in die Menge. Wenn Claire hier arbeitete, würde der Barkeeper es wissen. Dieser bemerkte mich jedoch erst nach mehreren Anläufen. Über seiner breiten Brust spannte sich die gleiche Schürze wie diejenige, die ich in Claires Zimmer gefunden hatte – bloß etliche Größen größer, wie ich einfach mal annahm. Darunter trug er ein weißes Hemd, das sich gegen seine hellbraune Haut abhob.

»Was möchtest du?«, fragte er. Oder vielmehr brüllte er es über den donnernden Bass hinweg.

Ich legte die Hände auf die Theke, um mich zu ihm hinüberzulehnen, und bereute es sofort. Sie klebte unfassbar. »Ich suche Claire«, schrie ich.

Er machte ein verständnisloses Gesicht.

»Claire Dumont!«, versuchte ich es noch einmal, obwohl bereits Enttäuschung in mir hochstieg. »Sie arbeitet hier!«

Seine Augen weiteten sich, bevor er mich kurz musterte und mich dann an den Rand der Bar winkte, was hinter uns empörte Rufe auslöste. Mein Mund war vor Aufregung wie ausgetrocknet. Wusste er tatsächlich etwas über Claire? Hatte ich endlich eine Spur?

Doch als ich neben ihm stand, packte er plötzlich meinen Arm und stieß mich durch eine Tür. Überrumpelt stolperte ich vorwärts, fing mich jedoch wieder. Kampfbereit wirbelte ich herum, die offenen Hände zur Verteidigung erhoben, wie wir es so oft trainiert hatten. Adrenalin rauschte durch meine Adern.

Mit einem schweren Rums fiel die Tür hinter dem Barkeeper ins Schloss. Er kam auf mich zu, und ich wich zurück, blickte mich möglichst unauffällig um, auf der Suche nach einem Fluchtweg. Ich stand in einem Vorratsraum voller Kisten und Regale. Dort! Links von mir war eine Tür. Wenn ich schnell genug …

»He, ganz ruhig, Mädchen.« Der Barkeeper lachte glucksend. »Ich tu dir nichts, hier drin ist es bloß ruhiger.«

Mit seinem Bart, der Glatze und der kräftigen Statur erinnerte er mich an einen Wikinger. Einen Hipster-Wikinger, ergänzte ich gedanklich mit Blick auf die bunte Fliege und die Hosenträger unter der Schürze.

Seine Haltung wirkte entspannt, und ich ließ halbwegs überzeugt meine Hände sinken. Nur meine Muskeln zitterten noch immer vor Anspannung. »Wo ist Claire?«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor. »Ich will sie sehen!«

»Hör zu, ich muss jetzt zurück an die Bar.« Er fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Sobald ich Ersatz organisiert habe, komme ich wieder. Aber in der Zwischenzeit pflanzt du deinen Arsch auf diese Kisten hier und wartest, okay?«

Ich zögerte. Verflucht, ich wollte jetzt reden und ganz sicher nicht allein in dieser Kammer herumsitzen, bis der Barkeeper zurückkam. Doch es leuchtete mir ein, dass er nicht mitten in seiner Schicht abhauen konnte. Ich seufzte und nickte widerwillig.

Er starrte mich so lange mit hochgezogenen Augenbrauen an, bis ich mich mit dem Hintern auf eine der Holzkisten sinken ließ. Er brummte zufrieden und verschwand wieder durch die Tür.

Sobald er weg war, sprang ich auf. Zumindest war ich nicht eingesperrt, das Schloss hatte nicht geknackt. Trotzdem stand ich einfach da und wusste nicht, wohin mit mir. »Großartig«, sagte ich. »Wirklich toll gemacht, Tess.« Leider fühlte ich mich durch den Sarkasmus nicht besser, sondern wie jemand, der mit Regalen voller Alkoholflaschen sprach. In was war ich hier bloß hineingeraten?

Dabei musste die Frage eigentlich lauten: In was war Claire hineingeraten, und warum arbeitete sie in diesem Club, der nicht nur beinahe unmöglich zu finden war, sondern nicht einmal eine verdammte Tür hatte?

Frustriert zupfte ich Konfetti aus meinen Haaren und von meiner Jacke, einfach um mich mit irgendetwas zu beschäftigen. Doch meine Finger zitterten dabei, und meine Gedanken wanderten hartnäckig zurück zu der Tür. Der Tür, die nicht da gewesen war. Wie auf Kommando pochten meine Schläfen wieder, und Schmerz durchzuckte mich. Ich stöhnte, senkte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Wenn da keine Tür gewesen war, wie war ich dann hergekommen? Mein Blick zuckte wie von selbst zum anderen Ende der Vorratskammer. Der Ausgang, durch den ich hatte fliehen wollen.

Wo war hier?

Mein Verstand sagte mir, dass die Frage völlig sinnlos war. Dass ich diese Tür öffnen könnte und in irgendeiner Gasse neben der Rue de Lappe landen würde. Wahrscheinlich nicht einmal das. Ich würde bloß in einem Flur oder einer weiteren Kammer stehen.

Nur schien das mein Herz nicht zu interessieren. Sein Klopfen dröhnte durch meinen ganzen Körper wie ein Presslufthammer. Ich musste wissen, wo ich war, musste mich davon überzeugen. Viel zu langsam durchquerte ich den Raum. Ich fühlte mich, als wäre ich fünf und würde fest daran glauben, dass in meinem Kleiderschrank ein Monster lauerte. Und leider musste ich die Tür öffnen, um mir das Gegenteil zu beweisen. Also schlich ich näher. Meine Hände waren schweißnass, und ich wischte sie an meiner Jeans ab, bevor ich die Klinke hinunterdrückte.

Die Scharniere knarzten, und dann schlug mir tatsächlich frische Luft entgegen. Ich trat in eine Gasse und fühlte direkt, wie sich meine Anspannung löste. Gleichzeitig kam ich mir furchtbar albern vor, weil ich so unvernünftig gewesen war. Siehst du? Kein Monster.

Dann knirschte etwas unter meinen Schuhsohlen. Ich blickte zu Boden. Feiner Sand, grau wie Asche. Mein Kopf ruckte hoch, und ich sah mich um. Diesmal richtig.

Der Himmel war falsch.

Das fiel mir als Erstes auf. Im Grunde war da gar kein … Himmel. Eher so etwas wie eine Decke. Eine flach gewölbte Kuppel aus schwarzer Membran, die sich direkt über den Dächern der Häuser spannte. Manche Dachgiebel stießen sogar dagegen. Hektisch prüfte ich, ob die Tür hinter mir noch offen stand – tat sie. Dann stolperte ich ein paar Schritte nach links, wo die Gasse in eine Straße mündete. Die Gebäude selbst unterschieden sich nicht groß von denen in der Rue de Lappe, waren vielleicht ein wenig heruntergekommener, aber das ließ sich im Dunkeln schwer sagen. Neonschilder und Leuchtröhren tauchten die Fassaden in bunte Farbkleckse. Beats tönten durch den Abend, und vor den Türen lungerten Gestalten herum, glimmende Zigarettenstummel in den Händen. Ein Pärchen befummelte sich gegen eine Hauswand gelehnt, keine drei Meter weiter übergab sich jemand in den grauen Sand. Beinahe hätte man glauben können, in der Rue de Lappe zu stehen – wären da nicht der Sand und der falsche Himmel gewesen. Zwar verdeckten die Häuser meine Sicht, aber die gewölbte Decke vermittelte mir das Gefühl, in einer Art riesiger Halle zu stehen, die aus dieser seltsamen Membran bestand.

Ich drehte mich um und blickte in die andere Richtung der Gasse. Sie endete nicht in einer Mauer, wie ich zunächst angenommen hatte. Nein, diese »Mauer« zwischen dem Le Miracle und dem gegenüberliegenden Gebäude – das war die Seite der Kuppel, die sich hier herabneigte und auf den grauen Sand traf.

Wie ferngesteuert hielt ich direkt darauf zu und drückte die Hand gegen die schwarze Fläche. Unter meinen Fingerspitzen gab sie nach wie Gummi, doch nur wenige Zentimeter. Sie fühlte sich überraschend warm an, und je länger ich sie berührte, desto deutlicher meinte ich, ein Pulsieren zu spüren. Ich runzelte die Stirn. Auch das Schwarz der Membran wirkte nicht mehr ganz so undurchdringlich. Dahinter schwebten schattenhafte Figuren, wie Fische unter der Meeresoberfläche.

Unmöglich.

Von einer Sekunde auf die andere überfiel mich Panik. Ich riss meine Hand von der Wand weg, als hätte ich mich daran verbrannt, und stolperte rückwärts. Meine Füße waren so taub, dass sie wegrutschten und ich mit dem Hintern im Sand landete. Ich atmete tief ein und dann noch einmal, weil nichts von dem Sauerstoff in meinen Lungen ankam, geschweige denn in meinem Gehirn. Immer hektischer schnappte ich nach Luft, immer schneller hob und senkte sich meine Brust – und doch erstickte ich. Ich hatte keinen Atem übrig für den Schrei, der sich in meinem Innern zusammenballte. Mein Kopf explodierte vor Schmerzen.

Rückwärts krabbelte ich von der Wand fort, rutschte noch zweimal weg, bis ich es auf die Füße schaffte und zurück zum Le Miracle rannte. Ich wollte zurück durch die Tür, zurück nach Hause, zurück, zurück, zurück. Blind vor Grauen stürzte ich in die Vorratskammer, lief weiter – und prallte gegen die Brust des Barkeepers.

»Hier, trink.«

Der Barkeeper, der sich als Davide vorgestellt hatte, reichte mir ein Schnapsglas mit einer goldgelben Flüssigkeit. Nach unserem Zusammenstoß hatte er nur einen Blick auf mein Gesicht geworfen, mich auf eine der Holzkisten bugsiert und war wenige Sekunden später mit dem Glas vor mir erschienen. Mich interessierte nicht einmal, was genau darin war. Ich kippte den Inhalt einfach herunter und genoss die Wärme des Alkohols, die sich erst in meinem Magen und dann in meinen Gliedern ausbreitete. Noch immer zitterte ich, doch die Panik war abgeklungen.

»Wo sind wir hier?« Mein Hals kratzte, und meine Stimme hörte sich dünner an, als mir lieb war.

»Willst du vorher einen zweiten?« Davide hob die Flasche in seiner Hand. Jetzt sah ich, dass es Tequila war.

Ich schüttelte den Kopf und stellte das Glas neben mir auf der Kiste ab. »Nein danke.« Ein klarer Verstand war mir gerade lieber.

»Sicher? Alkohol hilft gegen die Dimensionsschmerzen. Er schaltet das rationale Denken aus, dann wehrt der Verstand sich nicht so sehr.«

»Dimensions-was?«, wiederholte ich perplex.

Davide ging nicht darauf ein. »Hol dein Handy raus«, befahl er stattdessen, während er die Flasche verschloss und im Regal neben sich abstellte.

Verwirrter als zuvor folgte ich der Aufforderung und zog das Handy aus meiner Jackentasche. »Und jetzt?«, fragte ich, aber da sah ich es auch schon. Kein Netz. Weder Telefon noch Internet. »Hier gibt es keinen Empfang«, stellte ich fest. War es das, worauf er hinauswollte? Und war das der Grund, weshalb Claire so häufig offline gewesen war?

Davide nickte. »Mach ein Foto.«

»Wovon denn?«

»Scheißegal.«

Ich runzelte die Stirn, öffnete jedoch die Kamera-App und hielt das Handy hoch. Der Bildschirm blieb schwarz. »Es … muss kaputt sein«, murmelte ich, schloss die App und tippte sie erneut an. Meine alten Fotos wurden ganz normal abgebildet, aber die Kamera zeigte nur Schwärze.

Ratlos blickte ich auf und merkte, dass Davide in sich hinein grinste, als hätte er mir gerade einen grandiosen Streich gespielt. Ich fuhr von der Kiste hoch und deutete auf das Handy. »Was soll das?«

»Nicht so ungeduldig, das gehört alles zur Erklärung. Die Kamera hat sozusagen auch Dimensionsschmerzen, genau wie dein Hirn. Der Bildschirm ist schwarz, weil die Sensoren hier drin nichts aufzeichnen können. Die Verbindung zu den Satelliten ist auch tot, deshalb ist der Empfang weg.«

»Hier drin?« Ich kam mir vor wie ein Papagei, der sinnlos Wörter wiederholte.

»In den Schattenräumen.«

»In den Schattenräumen?«

Davide verschränkte die beeindruckend breiten Arme, eine Spur von Ungeduld in der Miene. »Wie bist du denn hergekommen?«

Es klang wie eine Fangfrage, und ich dachte einen Moment darüber nach. »Da war dieser Schatten in der Nische, und ich dachte, darin hätte sich etwas bewegt. Aber dort war nichts. Und dann …« Ich stockte. Und dann war ich gegen die Mauer geprallt. Oder? Prompt schmerzte mein Kopf, und ich verzog das Gesicht.

»Ignorier die Dimensionsschmerzen«, sagte Davide. »Dein Verstand will nicht wahrhaben, was passiert ist, aber du weißt es.«

Ich versuchte, das Pochen nicht zu beachten. »Ich … der Schatten hat mich verschluckt. Und dann war ich hier.«

»Na, siehst du. Du bist in den Schatten hineingegangen.«

»Also sind wir … in einem Schatten?« Das war absurd. Vollkommen ausgeschlossen. Man konnte nicht in einem Schatten sein, nicht wortwörtlich. »Wie ist das möglich?«

Davide fuchtelte vage mit einer Hand herum. »Ist es halt. Denk nicht zu viel darüber nach, dann haste weniger Kopfschmerzen.«

»Und wissen die alle davon?« Ich deutete zur Tür, hinter der die Clubbesucher weiter ihre Party feierten.

Davide schnaubte. »All diese tanzenden Vollpfosten haben keine Ahnung. Selbst wenn sie vor die Tür gingen, würden ihre Augen ihnen einen Nachthimmel vorgaukeln.«

»Und warum mir nicht?« Ich hatte eindeutig keinen Nachthimmel gesehen. Und warum erzählte er mir das alles überhaupt so bereitwillig? Müsste das nicht … geheim sein oder so, wenn keiner der Besucher Ahnung davon hatte?

Davide griff in die Brusttasche seiner Schürze und zog etwas heraus. »Du musst so eine hier haben.« Zwischen den Fingern hielt er eine schwarze Münze.

Ich zuckte zusammen, steckte mein Handy zurück in die Jackentasche und tastete nach der Münze, die ich ebenfalls darin verstaut hatte. Sie war noch da, und ich holte sie hervor.

»Das ist Schwarzgold. Es stammt von hier, und nur wenn du es bei dir trägst, kann dein Verstand die Wahrheit verarbeiten. Nur damit kannst du die Schattenräume überhaupt betreten. Und nur damit kannst du dich an sie erinnern.«

Ich betrachtete das schwarz schimmernde Metallstück und blickte dann hoch zu Davide. »Ohne sie würde ich alles vergessen, was hier geschehen ist?«

»Hm, na ja, nein.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Also, du würdest dich schon noch daran erinnern, dass du feiern warst und Spaß hattest. Nur nicht daran, dass irgendetwas ungewöhnlich war.«

»Oh.« Plötzlich musste ich an Claires Mitbewohner denken. Kein Wunder, dass sie sich nicht an das Le Miracle erinnert hatten oder daran, wo es lag. Kein Wunder, dass Hornbrille der Standort erst eingefallen war, als er die Münze in die Hand genommen hatte. »Aber wie kommen die Besucher dann hier rein? Wenn sie keine Münzen haben?«

»Wir haben Schleuser draußen«, erklärte Davide. »Sie lotsen Gäste rein und berühren sie dabei mit einer Münze.«

Ich erinnerte mich an den Kerl, der in der Nische herumgelungert und mich angesprochen hatte. Das musste einer der Schleuser gewesen sein. Und obwohl ich ungefähr eine Million weitere Fragen zu Schattenräumen und Dimensionsschmerzen hatte, schob ich sie beiseite. Momentan war meine Schwester das Wichtigste. »Nur … das ist Claires Münze, oder nicht?«, drängte ich. »Wo ist sie dann? Ist sie nicht hier?« Der Gedanke erschien mir lächerlich. Ich suchte doch nicht in einem verdammten Schatten nach meiner Schwester, bloß damit sie nicht dort war.

Davide schnippte seine Münze in die Luft, fing sie wieder auf und steckte sie weg. »Tja, das ist die Frage. Hör zu, Kleine, ich erzähl dir das alles, weil ich Claire mag. Sie ist ein nettes Mädchen. Und ich bin kein verfickter Chevalier. Mir ist es also egal, ob du hier bist oder nicht. Mir ist es egal, ob du Dinge weißt, die du nicht wissen solltest. Aber ich will keinen Ärger mit Madame du Sang. Darauf kann ich gut verzichten.«

»Mit wem?« Langsam wurde ich es wirklich leid, Dinge zu wiederholen. Und mal ernsthaft … Herrin des Blutes, wer nannte sich denn selbst so?

»Madame du Sang. Sie ist eines der ganz hohen Tiere hier drin. Einer ihrer Männer hat Claire das Lullaby verkauft. Ist der neueste Shit in den Schattenräumen. LullaBye mit großem B und E am Ende, wer auch immer sich diesen Scheiß ausgedacht hat. Na ja, das arme Mädel hatte keine Ahnung, worauf sie sich einlässt. Eine Dosis oder maximal zwei – und peng! Du kommst nicht mehr davon weg. Hab’s ihr ja gesagt, bloß wollte sie nicht hören. Eine Weile hat sie’s ganz gut weggesteckt, aber irgendwann nicht mehr. Sah aus wie ein Geist. Kam zu ihrer Schicht immer viel zu spät oder auch gar nicht. Das letzte Mal habe ich sie gesehen vor … etwa einer Woche.« Davide zuckte mit den Schultern.

Ich blinzelte und starrte ihn an. »Ähm, ich habe ungefähr fünf Prozent von dem verstanden, was du gerade gesagt hast.« Hm, nein, Sarkasmus half noch immer nicht so richtig.

Ich sank zurück auf meine provisorische Sitzgelegenheit. Okay, zumindest drei Dinge hatte ich dem Ganzen entnommen. Erstens: Claire hatte diese LullaBye-Droge genommen – was auch immer genau das war, ich wollte es gar nicht wissen – und es mir verschwiegen. Zweitens: Sie war regelmäßig in diese Schattenräume gegangen, ohne mir davon zu erzählen. Okay, ich wusste auch nicht, ob ich Léa oder Hayley von geheimen Clubs in den Schatten von Paris berichten würde. Es klang schon ziemlich abgedreht. Was mich vor allem dabei störte, war, dass sie getan hatte, als wäre alles in bester Ordnung. Und ich naiv genug gewesen war, ihr zu glauben.

Hatte Claire gelogen, als sie mir geschrieben hatte, wie sehr sie sich auf meinen Besuch freute? Hatte sie sich mit diesem LullaBye zugedröhnt, während sie mir erzählt hatte, wie toll ihr neuer Job war? Verdammt noch mal, sie hatte mich sogar drei Tage lang zugetextet, um mich davon zu überzeugen, zur Infoveranstaltung für das Medizinstudium an der Sorbonne zu gehen, wenn ich hier war. Dabei musste sie die ganze Zeit geplant haben, den Besuch in letzter Sekunde abzublasen. Ganz gewiss hatte sie nicht gewollt, dass ich herkam, solange sie von diesem LullaBye abhängig war und wie ein Geist durch die Gegend lief. Aber alles, was ich bekommen hatte, war eine lächerliche Nachricht.

Was hast du erwartet?, flüsterte Mamans Stimme in meinem Kopf. Sie hat uns belogen und verlassen. Genau wie er. Sie bringt sich in Schwierigkeiten, und dann reißt sie alle um sich herum mit in den Abgrund.

Doch das alles war im Augenblick gar nicht so wichtig. Denn es gab ein Drittens: Claire war nicht hier. Was, wenn sie jetzt gerade mehr von diesem LullaBye nahm? Was, wenn sie halbtot unter irgendeiner Autobahnbrücke lag? Was, wenn sie schon … Ich brach den Gedanken ab, bevor mir richtig schlecht werden konnte.

Stattdessen blickte ich zu Davide. »Und du hast keine Idee, wo sie sonst sein könnte? Wenn sie nicht hier ist?«

»Sorry.« Er hob erneut die Schultern. »Ich sag ja, ich will keinen Ärger mit Madame du Sang. Könnte sein, dass du dich ansonsten mit Messern an Stellen wiederfindest, an denen du eindeutig keine haben möchtest. Die Madame wirft damit schneller um sich, als du blinzeln kannst.«

Ich erschauderte, ignorierte jedoch das mulmige Gefühl, das mich erfasste. »Was hat das mit Claire zu tun? Oder ihrem Verschwinden?«

»Ich bin mir nicht sicher. Also, Claire hat die Drogen von einem ihrer Männer gekauft, aber da muss noch mehr gewesen sein. Claire hatte irgendwas mit ihr zu schaffen, und ich will lieber gar nicht erst wissen, was. Die Madame war öfter hier, wenn Claire auf der Bühne gesungen hat. Vielleicht hatte sie ja Schulden bei ihr. Claire war immer knapp bei Kasse.« Er grunzte. »Ich war einmal so unvernünftig, ihr Geld zu leihen. Hab keinen Cent wiedergesehen.«

Beinahe hätte ich ebenfalls gegrunzt. Grandios, zu den Drogen kamen nun auch noch dubiose Machenschaften mit einer Unterwelt-Bossin und möglicherweise ein Berg Schulden. O Claire, wie hast du das bloß angestellt?

»Mehr kann ich wirklich nicht sagen«, fügte Davide hinzu und blickte auf seine Uhr. »Sorry, ich muss jetzt zurück an die Bar. Ich kann dir den Kerl zeigen, der das LullaBye hier vertickt. Aber wenn du klug bist, wirfst du diese Münze weg, verpisst dich von hier und vergisst, was passiert ist, alles klar?«

»Zeig ihn mir«, sagte ich, noch bevor mein Gehirn die Alternative abwägen konnte. Oder bevor ich auch nur wusste, was genau ich mit dieser Info anfangen wollte.

Der Barkeeper nickte und führte mich zurück in den Partyraum. Sofort überlagerte das Wummern der Musik wieder alles andere und mischte sich in das Dröhnen meines Herzschlags. Buntes Licht und Glitter von der Decke vermischten sich zu einem Kaleidoskop aus funkelnden Farben. In der Mitte tanzten noch immer Leute, doch Davide deutete auf einige Stehtische am Rand.

»Da. Der Typ mit der roten Jacke.«

An einem der Tische stand ein mittelalter Kerl mit krummer Nase und einer potthässlichen roten Lederjacke, die seine weiße Haut kränklich bleich wirken ließ. Er unterhielt sich mit einem Mann in Kapuzenpullover.

»Der hat Claire dieses … dieses LullaBye verkauft?«

»Jap. Hab die beiden ein paarmal zusammen gesehen.« Davide schnaubte. »Scheint, als hätte er schon den nächsten armen Tropf gefunden, den er über den Tisch ziehen kann.«

»Warum werft ihr ihn nicht raus?«, fragte ich, während ich zu dem Typen neben dem Dealer schaute.

»Wie bitte?«, ächzte Davide. »Ich schmeiß doch niemanden raus, der von der Madame kommt.«

Allerdings hörte ich ihm gar nicht mehr richtig zu. Mein Gehirn war vollkommen damit beschäftigt, den Mann im Kapuzenpulli anzustarren, der sich in meine Richtung gedreht hatte.

Sein Gesicht gehörte auf eine Statue. Es war wie gemeißelt, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Selbst seine braune Haut schimmerte wie polierte Bronze, über die immer wieder bunte Sprenkel von den tanzenden Lichtern der Scheinwerfer flackerten. Ausdrucksvolle Augenbrauen und eine gerade Nase verliehen seiner Miene eine Spur von Schroffheit. Sein schwarzes Haar war an den Seiten kurz geschoren und oben gerade lang genug, dass man die Locken erahnen konnte. Er trug eine Jeans zu dem schwarzen Kapuzenpulli, aber die Kleidung wirkte an ihm irgendwie zu leger. Vielleicht war er eher der Typ für Anzüge.

Und seine Augen … sie wirkten im schummrigen Licht schwarz wie zwei Onyxe.

Als hätte er meinen Blick bemerkt, wandte er plötzlich den Kopf und sah mich an. Ich zuckte zusammen, und Hitze stieg in meine Wangen. Selbst schuld. Was starrte ich ihn auch an wie eine Närrin?

Um die Situation zu retten und nicht wie ertappt dazustehen, setzte ich ein Lächeln auf, obwohl mir momentan kaum danach zumute war. Er erwiderte es mit einem Grinsen und hob fragend eine Augenbraue.

Und jetzt? Ich könnte zu ihm rübergehen, ihm zur Tarnung schöne Augen machen und dabei den Typen mit dem LullaBye abchecken. Nur würde mir das etwas bringen? Oder war es besser, den Rückzug anzutreten? Ich entschied mich für Letzteres. Lieber machte ich mir erst einen Plan, statt mich mehr oder weniger blind in diese Sache zu stürzen.

»Tu nichts Unüberlegtes«, sagte Davide, als hätte er meine Gedanken gelesen, und klopfte mir auf die Schulter. »Denk an die Messer.« Damit drehte er sich zur Bar um, kam jedoch nicht weit.

Die Musik ging aus und das Licht an. Ich kniff die Augen zusammen. Ein schrilles Heulen erklang, fuhr mir durch Mark und Bein und zerriss mein Trommelfell. Ich zog die Schultern hoch und presste die Hände auf die Ohren. Der Ton schwoll an und ab wie … eine Sirene? Was zur Hölle? Was war hier los? Schauer von Energie jagten durch meinen Körper. Ich blickte zu Davide. Er war so bleich, wie sein Hautton es zuließ.

Seine Gesichtszüge entgleisten, und seine Lippen formten ein Wort, das ich selbst ohne Ton verstand.

»Fuck.«

»Beweg deinen Hintern«, brüllte Davide mir ins Ohr und stieß mich so kräftig vorwärts, dass ich einen Schritt nach vorne stolperte. »Nach draußen mit dir.«

Weitere Angestellte in schwarzen Schürzen tauchten auf und umkreisten die verwirrten Gäste wie Hütehunde eine Herde von Schafen. Einer von ihnen hielt ein Megafon in den Händen. »Mesdames et Messieurs, wir schließen für heute. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang.« Im grellen Licht der angeschalteten Deckenbeleuchtung wirkte der Raum merkwürdig entzaubert. Das Konfetti war bloß noch glänzendes Plastik und die Tänzer Frauen in zu kurzen Kleidern und Männer in zu engen Hemden.

Protest kam auf, die Menge buhte und johlte, und einige Ausreißer mussten von den Angestellten zurück in die Reihe geschoben werden – manchmal mehr, manchmal weniger sanft. Der Mann mit dem Megafon wiederholte seine Ansage stoisch. Die ersten Gäste wurden durch die Tür nach draußen bugsiert, zurück auf die Straßen von Paris, raus aus dem Schattenraum.

Nur wieso?

Ich blickte mich nach Davide um, doch ich stieß beinahe mit einem Türsteher zusammen, der mich weiter Richtung Ausgang drängte. »Wir schließen, Mademoiselle, bitte begeben Sie sich nach draußen.«

»Nein, ich muss …«, stammelte ich, aber er hörte mir gar nicht zu. Ich landete in der Menge und wurde mitgerissen. Körper drängten sich um mich und schoben mich vorwärts. Ich reckte den Hals, stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte über die Köpfe hinweg, auf der Suche nach dem Mann mit der roten Lederjacke. Doch der Stehtisch war leer. Wenn ich jetzt ging, würde ich ihn dann hier wiederfinden? Oder wäre damit meine einzige Spur zu Claire verschwunden?